3. JUNI’78

Erneut Maja Glumowa

Ich hatte das Videofon eindeutig zu laut eingestellt, denn der Apparat dröhnte, zwar melodiös, aber direkt neben meinem Ohr los wie der Unbekannte in den kurzen Hosen auf dem Höhepunkt der Werbung um Mrs. Nickleby. Wie eine Rakete schoss ich aus dem Sessel und streifte dabei en passant die Empfangstaste. Der Anrufer war Seine Exzellenz. 7:03 Uhr.

»Genug geschlafen«, sagte er ziemlich gutmütig. »In deinem Alter pflegte ich überhaupt nicht zu schlafen.«

Wie lange wird er mir wohl noch mein Alter vorhalten? Ich bin schon fünfundvierzig. Und außerdem hatte er in meinem Alter durchaus geschlafen. Er hatte auch heute noch etwas fürs Schlafen übrig.

»Ich habe nicht geschlafen«, schwindelte ich.

»Umso besser«, sagte er. »Also kannst du unverzüglich an die Arbeit gehen. Mach diese Glumowa ausfindig. Bringe bei ihr Folgendes in Erfahrung: Ob sie sich seit gestern mit Lew Abalkin getroffen hat. Ob Abalkin mit ihr über ihre Arbeit gesprochen hat. Wenn ja, was genau ihn daran interessiert hat. Ob er nicht den Wunsch geäußert hat, sie im Museum zu besuchen. Das ist alles. Nicht mehr und nicht weniger.«

Ich reagierte prompt: »Bei der Glumowa in Erfahrung bringen, ob sie sich mit ihm noch einmal getroffen hat, ob sie über die Arbeit gesprochen haben, wenn ja, was ihn interessiert hat, ob er nicht das Museum besuchen wollte.«

»Jawohl! Du hast vorgeschlagen, die Legende zu ändern. Ich habe nichts dagegen. Die KomKon fahndet nach dem Progressor Abalkin, um von ihm Angaben über einen Unglücksfall zu erhalten. Die Untersuchung hängt mit einem Persönlichkeitsgeheimnis zusammen und wird deshalb nicht in der Öffentlichkeit geführt. Keine Einwände. Hast du Fragen?«

»Ich möchte gern wissen, was dieses Museum damit zu tun hat …«, murmelte ich leise vor mich hin.

»Hast du etwas gesagt?«, erkundigte sich Seine Exzellenz.

»Angenommen, sie haben nicht von diesem Museum gesprochen. Soll ich dann versuchen herauszubekommen, was sich bei der ersten Begegnung zwischen den beiden ereignet hat?«

»Findest du das wichtig?«

»Sie nicht?«

»Ich nicht.«

»Seltsam«, sagte ich und blickte zur Seite. »Wir wissen, was Abalkin von mir erfahren wollte. Wir wissen, was er von Fedossejew erfahren wollte. Aber wir haben nicht die leiseste Ahnung, was er von Maja Glumowa wollte!«

Seine Exzellenz sagte: »Gut. Finde es heraus. Aber so, dass es die Klärung der Hauptfragen nicht stört. Und vergiss nicht, den Armbandsender anzulegen. Mach es am besten gleich, dass ich es sehe.«

Seufzend nahm ich den Sender aus dem Tischkasten und streifte ihn über das linke Handgelenk. Der Sender drückte.

»Gut«, sagte Seine Exzellenz und legte auf.

Ich ging unter die Dusche. Aus der Küche hörte ich ein Krachen und Scheppern - Aljonna machte sich am Müllschlucker zu schaffen. Es roch nach Kaffee. Ich duschte mich, dann frühstückten wir. Aljonna saß mir in meinem Morgenmantel gegenüber und ähnelte einer kleinen chinesischen Gottheit. Sie erklärte, sie müsse heute einen Vortrag halten, und wollte ihn mir zur Übung vortragen. Ich lehnte ab und berief mich auf die Umstände. »Schon wieder?«, fragte sie mitfühlend und aggressiv zugleich. »Schon wieder«, gestand ich ein wenig provokant. »Verdammt«, sagte sie. »Stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Dauert es lange?«, wollte sie wissen. »Ich habe noch drei Tage Zeit«, sagte ich. »Und wenn du es nicht schaffst?«, fragte sie. »Dann ist alles aus«, antwortete ich. Sie warf mir einen Blick zu, und ich begriff, dass sie sich wieder furchtbare Dinge ausmalte. »Langweilige Sache«, sagte ich, »mir reicht es. Ich bring diesen Fall zu Ende, und dann fahren wir beide irgendwohin, möglichst weit weg.« - »Ich kann nicht«, sagte sie traurig. »Du hast es immer noch nicht satt?«, fragte ich. »Gibst dich doch bloß mit Unsinn ab …« Das war genau das, was ich sagen musste. Augenblicklich wurde sie kratzbürstig und wollte mir beweisen, dass sie sich nicht mit Unsinn abgab, sondern mit sehr interessanten und sehr wichtigen Dingen. Letzten Endes einigten wir uns darauf, in einem

Wieder im Arbeitszimmer, wählte ich im Stehen die Nummer der Wohnung Glumowas. Niemand meldete sich. Es war 7:51 Uhr. Ein strahlend sonniger Morgen. Bei diesem Wetter konnte höchstens unser »Turm« bis acht Uhr schlafen. Maja Glumowa war gewiss schon zur Arbeit gegangen und der sommersprossige Toivo in sein Internat zurückgekehrt.

Ich plante in Gedanken mein Tagesprogramm. In Kanada war es jetzt spät am Abend. Soviel ich weiß, haben die Kopfler eine überwiegend nächtliche Lebensweise, so dass es nichts ausmachte, wenn ich in drei, vier Stunden dorthin aufbräche … Übrigens, wie stand es heute um den Null-T? Ich verlangte die Auskunft. Der Null-Transport hatte seit vier Uhr morgens seine normale Funktion wiederaufgenommen. Ich würde heute also sowohl Wepl als auch Kornej Jašmaa aufsuchen können.

Ich ging in die Küche, trank noch eine Tasse Kaffee und begleitete Aljonna auf das Dach zum Gleiter. Wir verabschiedeten uns mit übertriebener Herzlichkeit: Bei ihr fing das Vortragsfieber an. Ich winkte ihr eifrig nach, bis sie außer Sicht war, und kehrte ins Arbeitszimmer zurück.

Was mochte Seine Exzellenz so an diesem Museum interessieren? Es war ein Museum wie jedes andere auch. Eine gewisse Beziehung zur Arbeit der Progressoren, insbesondere auf dem Saraksch, hatte es natürlich schon … Da fielen mir auf einmal wieder die über die ganze Iris geweiteten Pupillen Seiner Exzellenz ein. War er etwa damals wirklich erschrocken? War es mir etwa gelungen, Seiner Exzellenz einen Schrecken einzujagen? Und womit? Mit der ganz alltäglichen und sogar zufälligen Mitteilung, dass die Freundin Abalkins im Museum für Außerirdische Kulturen arbeitet. In der Spezialabteilung für Objekte ungeklärter Bestimmung. Moment!

Ich wählte die Nummer von Glumowas Arbeitszimmer und war äußerst erstaunt, denn vom Bildschirm lächelte mich das freundliche Gesicht Grischa Serossowins an, genannt Wassermann, aus der vierten Untergruppe meiner Abteilung. Ein paar Sekunden lang beobachtete ich, wie sich der Ausdruck in Grischas rotwangigem Gesicht langsam veränderte. Freundliches Lächeln, Verwirrung, die dienstliche Bereitschaft, eine Anweisung entgegenzunehmen, und schließlich wieder freundliches Lächeln. Jetzt etwas steif. Ich konnte den Jungen verstehen. Wenn ich schon höchst erstaunt war, dann musste er gerade die Fassung verloren haben. Natürlich hatte er alles andere erwartet, als auf dem Bildschirm seinen Abteilungsleiter zu sehen, aber im Großen und Ganzen schlug er sich tapfer.

»Guten Tag«, sagte ich. »Rufen Sie doch bitte Maja Toivowna an den Apparat.«

»Maja Toivowna …« Grischa schaute sich um. »Wissen Sie, sie ist nicht da. Ich glaube, sie ist heute noch nicht gekommen. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Bestellen Sie ihr, dass Kammerer angerufen hat, der Journalist. Sie müsste sich meiner erinnern. Aber Sie - sind Sie neu in der Abteilung? Irgendwie habe ich Sie …«

»Ja, ich bin erst seit gestern hier. Eigentlich gehöre ich nicht dazu, ich arbeite an den Exponaten …«

»Aha …«, sagte ich. »Nun denn. Danke. Ich rufe wieder an.«

Soso. Seine Exzellenz ergreift Maßnahmen. Sieht so aus, als wäre er absolut sicher, dass Lew Abalkin im Museum auftaucht. Und zwar in der Abteilung für diese Objekte. Versuchen wir zu verstehen, warum er ausgerechnet Grischa ausgewählt hat. Grischa ist bei uns noch ziemlich neu und unerfahren. Aber intelligent, reaktionsschnell. Als Exobiologe ausgebildet. Vielleicht ist es das. Ein junger Exobiologe nimmt die erste selbstständige Forschungsarbeit in Angriff. Etwas wie »Die Abhängigkeit zwischen der Topologie des Artefakts und der Biostruktur eines vernunftbegabten Wesens«. Alles läuft still, friedlich, elegant, anständig. Außerdem ist Grischa Meister in der Disziplin Subaks …

Schön. Das habe ich, wie es scheint, verstanden. Die Glumowa ist wahrscheinlich unterwegs aufgehalten worden. Zum Beispiel könnte sie sich gerade irgendwo mit Lew Abalkin unterhalten. Apropos, wir haben ja für heute um zehn Uhr ein Treffen vereinbart. Hat sicherlich gelogen. Aber wenn ich wirklich zu diesem Treffen fliegen muss, ist es jetzt an der Zeit, ihn anzurufen und mich zu erkundigen, ob seine Pläne unverändert sind. Ohne Zeit zu verlieren, rief ich in »Ossinuschka« an.

Der Bungalow Nummer sechs meldete sich gleich, und ich erblickte auf dem Bildschirm Maja Glumowa.

»Ach, Sie sind es«, sagte sie voller Abneigung.

Ich kann unmöglich beschreiben, welche Kränkung, welche Enttäuschung in ihrem Gesicht lagen. Sie sah merklich schlechter aus als am Tag zuvor. Die Wangen wirkten hohl. Um die Augen lagen Schatten; sie schienen kränklich und allzu groß. Die Lippen waren fiebrig. Und erst eine Sekunde später, als sie sich langsam vom Bildschirm zurücklehnte, bemerkte ich, dass ihr schönes Haar sorgsam und nicht ohne Koketterie frisiert war. Sie trug ein hochgeschlossenes graues Kleid von strenger Eleganz - und darüber die bewusste Bernsteinkette.

»Ja, ich bin es«, sagte der Journalist Kammerer etwas ratlos. »Guten Morgen. Ich wollte eigentlich … Also, ist Lew zu Hause?«

»Nein«, sagte sie.

»Er hat nämlich ein Treffen mit mir vereinbart. Ich wollte …«

»Hier?«, erkundigte sie sich lebhaft und rückte wieder näher an den Bildschirm. »Wann?«

»Um zehn. Ich wollte mich einfach vergewissern, für alle Fälle. Aber nun ist er nicht da …«

»Und er hatte sich sicher mit Ihnen verabredet? Was hat er genau gesagt?«, fragte sie irgendwie fast kindlich und sah mich erwartungsvoll an.

»Was hat er gesagt?«, wiederholte der Journalist Kammerer langsam. Das heißt, nun schon nicht mehr der Journalist Kammerer, sondern ich. »Also, Maja Toivowna. Machen wir uns keine falschen Hoffnungen. Höchstwahrscheinlich wird er nicht kommen.«

Jetzt blickte sie mich an, als traute sie ihren Augen nicht. »Wie das … Woher wissen Sie?«

»Warten Sie auf mich«, sagte ich. »Ich erzähle Ihnen alles. In ein paar Minuten bin ich da.«

»Was ist mit ihm passiert?«, schrie sie durchdringend und voller Angst auf.

»Ihm fehlt nichts. Machen Sie sich keine Sorgen. Warten Sie, ich komme gleich.«

Zwei Minuten fürs Anziehen. Drei Minuten bis zur nächsten Null-T-Kabine. Verdammt, eine Schlange vor der Kabine … Freunde, ich bitte Sie, lassen Sie mich vor, es ist sehr wichtig. Danke, vielen Dank! … So. Eine Minute für die Suche nach dem Index. Was die dort in der Provinz für Indexzahlen haben! Fünf Sekunden, um den Index zu wählen. Und ich trete aus der Kabine hinaus in das leere, mit Holzbalken verkleidete Klubhaus-Vestibül des Kurorts. Stehe noch eine Minute lang auf der breiten Vortreppe und blicke mich um.

Maja Glumowa erwartete mich im Eingangsbereich - sie saß an dem niedrigen kleinen Tisch mit dem Bärchen und hielt das Videofon auf den Knien. Als ich eintraf, sah ich unwillkürlich zu der angelehnten Wohnzimmertür hin, und sofort beeilte sie sich zu sagen: »Wir werden uns hier unterhalten.«

»Ganz wie Sie möchten«, antwortete ich.

Betont gelassen schaute ich mir Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer an. Überall war sauber aufgeräumt, und natürlich war niemand darin. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie reglos dasaß, die Hände aufs Videofon gelegt, und vor sich hin starrte.

»Wen haben Sie da gesucht?«, fragte sie kühl.

»Ich weiß nicht«, gestand ich aufrichtig. »Unser Gespräch ist ein wenig heikel, und ich wollte mich vergewissern, dass wir alleine sind.«

»Wer sind Sie?«, wollte sie wissen. »Aber lügen Sie nicht wieder.«

Ich präsentierte ihr die Legende Nummer zwei, gab die Erklärung über das Persönlichkeitsgeheimnis ab und fügte hinzu, dass ich mich für die Lügen nicht zu entschuldigen gedachte - ich hatte einfach versucht, meine Angelegenheit zu erledigen, ohne sie in unnötige Aufregung zu versetzen.

»Und jetzt haben Sie also beschlossen, nicht weiter Rücksicht auf mich zu nehmen?«

»Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?«

Sie gab keine Antwort.

»Jetzt sitzen Sie hier und warten«, sagte ich. »Aber er kommt nicht. Er führt Sie an der Nase herum. Uns alle führt er an der Nase herum; ein Ende ist nicht abzusehen. Aber die Zeit vergeht.«

»Warum glauben Sie, dass er nicht hierher zurückkehren wird?«

»Weil er sich versteckt hält«, erklärte ich. »Und weil er alle belügt, mit denen er zu sprechen hat.«

»Wozu haben Sie dann hier angerufen?«

»Weil ich ihn partout nicht finden kann!«, sagte ich verärgert. »Ich muss jede Gelegenheit ergreifen, selbst die idiotischste.«

»Was hat er getan?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht, was er getan hat. Vielleicht nichts. Ich suche ihn nicht, weil er etwas getan hat. Ich suche ihn, weil er der einzige Zeuge eines großen Unglücks ist. Und wenn wir ihn nicht ausfindig machen, werden wir nie erfahren, was sich dort zugetragen hat.«

»Wo - dort?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte ich ungeduldig. »Dort, wo er im Einsatz war. Nicht auf der Erde. Auf dem Planeten Saraksch.«

Es war ihr anzusehen, dass sie zum ersten Mal etwas von dem Planeten Saraksch hörte. »Warum verbirgt er sich denn?«, fragte sie leise.

»Das wissen wir nicht. Er befindet sich am Rande eines psychischen Zusammenbruchs. Man kann sagen, dass er krank ist. Vielleicht leidet er unter Wahnvorstellungen, vielleicht unter einer fixen Idee.«

»Krank …«, sagte sie und schüttelte still den Kopf.

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Was wollen Sie von mir?«

»Haben Sie ihn noch einmal gesehen?«

»Nein«, sagte sie. »Er hat versprochen anzurufen, hat es aber nicht getan.«

»Warum warten Sie dann hier auf ihn?«

»Ja, wo soll ich denn sonst auf ihn warten?«

In ihrer Stimme lag so viel Leid, dass ich den Blick abwandte und eine Weile schwieg. Dann fragte ich: »Und wo wollte er Sie anrufen? Im Büro?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Beim ersten Mal hat er mich im Büro angerufen.«

»Er hat Sie im Museum angerufen und gesagt, dass er zu Ihnen kommt?«

»Nein. Er hat mich gleich zu sich bestellt. Hierher. Ich habe einen Gleiter genommen und bin losgeflogen.«

»Maja Toivowna«, sagte ich. »Mich interessieren alle Einzelheiten Ihrer Begegnung. Sie haben ihm von sich erzählt, von Ihrer Arbeit. Er hat Ihnen von seiner berichtet. Versuchen Sie sich zu erinnern, was genau gewesen ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben über nichts dergleichen gesprochen. Das mutet sicher seltsam an … Wissen Sie, wir hatten uns so viele Jahre nicht gesehen … Erst später, schon zu Hause, ist mir aufgefallen, dass ich gar nichts über ihn erfahren habe. Ich hatte ihn zwar gefragt: Wo warst du, was hast du gemacht, aber er hat nur abgewinkt und gebrüllt, das sei alles Mist, alles Unsinn …«

»Also hat er Sie ausgefragt?«

»Aber nicht doch! Das hat ihn alles nicht interessiert … Wer ich bin, wie ich lebe - allein oder mit jemandem zusammen. Wofür ich lebe … Er war wie ein kleiner Junge. Ich will nicht darüber sprechen.«

»Maja Toivowna, Sie sollen nicht darüber sprechen, worüber Sie nicht sprechen wollen.«

»Ich will über gar nichts sprechen!«

Ich stand auf, ging in die Küche und brachte ihr Wasser. Schnell trank sie das Glas aus und verschüttete etwas Wasser auf ihrem grauen Kleid.

»Das geht niemanden etwas an«, sagte sie, als sie mir das Glas zurückreichte.

»Sprechen Sie nicht darüber, was niemanden etwas angeht«, sagte ich und setzte mich wieder. »Wonach hat er Sie ausgefragt?«

»Ich sage Ihnen doch: Er hat mich überhaupt nicht ausgefragt! Er hat erzählt, Erinnerungen ausgegraben, gezeichnet, sich mit mir gestritten … wie ein kleiner Junge. Stellen Sie sich vor, er kann sich an alles erinnern! Fast an jeden einzelnen Tag! Wo er stand, wo ich stand, was Rex gesagt hat, wie Wolf dreinblickte. Ich konnte mich an nichts erinnern, er aber schrie mich an und zwang mich, mein Gedächtnis anzustrengen, und dann erinnerte ich mich. Und wie er sich freute, wenn mir etwas einfiel, was er selbst vergessen hatte.«

Sie verstummte.

»Das alles betraf die Kindheit?«, erkundigte ich mich, nachdem ich eine Weile gewartet hatte.

»Ja gewiss! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass das niemanden etwas angeht, nur ihn und mich! Aber er war in der Tat wie von Sinnen. Ich hatte schon keine Kraft mehr, schlief ein, er aber weckte mich und schrie mir ins Ohr: Und wer ist damals von der Wippe gefallen! Und wenn ich mich erinnerte, umschlang er mich mit den Armen, lief mit mir durchs Haus und brüllte: Richtig, genauso ist es gewesen, richtig!«

»Und er hat Sie nicht gefragt, was jetzt mit dem Lehrer ist, mit den Schulfreunden?«

»Ich erkläre Ihnen doch in einem fort: Er hat mich nach nichts und nach niemandem etwas gefragt! Sind Sie nicht imstande, das zu begreifen? Er hat erzählt, Erinnerungen hervorgeholt und verlangt, dass auch ich mich erinnerte.«

»Ja, ich verstehe, ich verstehe«, sagte ich. »Und was meinen Sie, was hatte er weiter vor?«

Sie schaute mich an wie den Journalisten Kammerer. »Gar nichts, begreifen Sie doch«, sagte sie.

Und im Allgemeinen hatte sie natürlich Recht. Die Antworten auf die Fragen Seiner Exzellenz hatte ich erhalten: Abalkin interessierte sich nicht für die Arbeit der Glumowa, Abalkin beabsichtigte nicht, sich ihrer zum Eindringen ins Museum zu bedienen. Aber ich verstand überhaupt nicht,

Und noch eine Frage blieb mir zu klären. Gut, sie hatten sich Erinnerungen hingegeben, sich geliebt, getrunken, sich wieder erinnert, waren eingeschlafen, aufgewacht, hatten sich wieder geliebt und waren wieder eingeschlafen. Was aber hatte Maja Glumowa in solche Verzweiflung getrieben, an den Rand der Hysterie? Hier tat sich natürlich ein weites Feld für unterschiedlichste Mutmaßungen auf. Etwa, was die Gewohnheiten eines Stabsoffiziers des Inselimperiums anging. Aber es konnte auch etwas anderes sein. Und dieses andere konnte sich für mich als durchaus wertvoll erweisen. Einen Moment lang war ich unentschlossen: Entweder ich ließ etwas im Unklaren, was vielleicht sehr wichtig war, oder ich entschloss mich zu einer furchtbaren Taktlosigkeit, auf die Gefahr hin, im Resultat doch nichts Wesentliches herauszufinden …

Ich fasste einen Entschluss.

»Maja Toivowna«, sagte ich, nach Kräften bemüht, die Worte mit fester Stimme auszusprechen.

»Sagen Sie, was war die Ursache für Ihre Verzweiflung, deren unfreiwilliger Zeuge ich bei unserer ersten Begegnung geworden bin?«

Während ich diese Frage formulierte, wagte ich nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie mich auf der Stelle zum Teufel gejagt oder mir das Videofon auf den Kopf geschlagen hätte. Doch sie tat weder das eine noch das andere.

»Ich war dumm«, sagte sie ziemlich ruhig. »Eine dumme hysterische Gans. Ich hatte das Gefühl, als hätte er mich ausgequetscht wie eine Zitrone und dann einfach weggeworfen. Aber jetzt ist mir klar: Er hat im Moment andere Sorgen. Für Takt und Feingefühl hat er weder Zeit noch Kraft. Ich habe ständig Erklärungen von ihm verlangt, aber er konnte mir nichts erklären … Er weiß ja sicher, dass Sie nach ihm suchen …«

Ich stand auf.

»Vielen Dank, Maja Toivowna«, sagte ich. »Aber ich habe den Eindruck, Sie haben unsere Absichten missverstanden. Niemand will ihm etwas Böses. Wenn Sie ihm begegnen sollten, versuchen Sie bitte, ihm diesen Gedanken begreiflich zu machen.« Sie gab keine Antwort.

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