2. JUNI’78
Maja Glumowa und der Journalist Kammerer
Sie verstummte, als sei sie zur Besinnung gekommen, und auch ich kam wieder zu mir - nur ein paar Sekunden früher. Denn ich war im Dienst. Ich hatte zu arbeiten, hatte Pflichten. Und besaß Pflichtgefühl. Jeder muss seine Pflicht erfüllen. Diese stumpfen, abgedroschenen Phrasen. Nach alldem, was ich gehört hatte, hätte ich auf die Pflicht pfeifen und etwas tun müssen, um dieser unglücklichen Frau aus ihrer Verzweiflung herauszuhelfen. Vielleicht war das meine Pflicht?
Aber ich wusste, dass dem nicht so war. Und zwar aus vielen Gründen. Zum einen, weil ich gar nicht weiß, wie ich jemandem aus seiner Verzweiflung heraushelfen könnte. Ich hätte nicht einmal gewusst, wie und womit beginnen. Deshalb wäre ich am liebsten aufgestanden, hätte mich entschuldigt und wäre gegangen. Aber auch das konnte ich nicht tun, weil ich ja unbedingt herausfinden musste, wo sie sich getroffen hatten und wo sich Abalkin jetzt aufhielt.
Plötzlich fragte sie noch einmal: »Wer sind Sie?«
Maria Glumowa sprach mit tonloser, spröder Stimme; ihre Augen waren zwar getrocknet und glänzten wieder, wirkten aber ganz krank.
Bevor ich eingetreten war, hatte sie alleine in ihrem Büro gesessen, obwohl sich eine Menge Kollegen und wohl auch viele Freunde um sie herum aufhielten. Vielleicht war sogar jemand zu ihr gekommen und hatte das Gespräch gesucht. Aber Maja Glumowa war für sich geblieben, weil niemand hier etwas wusste von dem Menschen, der sie in eine so tiefe Verzweiflung gestürzt hatte, in so brennende Enttäuschung, der so viele Gefühle in ihr ausgelöst hatte in dieser Nacht. Sie hatten sich angestaut, keinen Weg nach außen gefunden, und da war ich erschienen und hatte Lew Abalkins Namen genannt
»Wer … sind Sie?«, fragte sie wieder mit tonloser Stimme.
»Ich heiße Maxim Kammerer«, antwortete ich zum dritten Mal und versuchte, dabei einen besonders verwirrten und ratlosen Eindruck zu machen. »Ich bin so etwas wie ein Journalist. Aber um Himmels willen: Ich komme offenbar sehr ungelegen. Wissen Sie, ich sammle Material zu einem Buch über Lew Abalkin.«
»Was tun Sie hier?«
Sie glaubte mir nicht. Vielleicht fühlte sie, dass ich kein Material über Lew Abalkin suchte, sondern ihn selbst. Ich musste mich darauf einstellen. Und das ziemlich schnell. Und selbstverständlich stellte ich mich darauf ein:
»In welchem Sinne?«, erkundigte sich der Journalist Kammerer verblüfft und ein wenig beunruhigt.
»Haben Sie hier einen Auftrag?«
Der Journalist Kammerer tat jetzt sehr erstaunt. »Einen … Auftrag? Äh … Ich verstehe nicht ganz …« Der Journalist Kammerer wirkte ziemlich erbärmlich. Kein Zweifel, auf solch eine Begegnung war er nicht vorbereitet gewesen, war, ohne es zu wollen, in eine dumme Situation geraten und hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er wieder herauskommen sollte. Nichts auf der Welt wollte der Journalist Kammerer jetzt lieber als davonlaufen. »Maja Toivowna, ich bin doch … Um Himmels willen, denken Sie bloß nicht … Nehmen Sie an, ich hätte gar nichts gehört. Ich habe schon alles vergessen. Ich bin überhaupt nicht hier gewesen! … Aber wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …«
Der Journalist Kammerer stotterte, faselte sinnloses Zeug und war vor Verlegenheit ganz rot geworden. Er saß nicht mehr, sondern stand in gespannter, höchst unbequemer Haltung über den Tisch gebeugt und versuchte, Maja Toivowna aufmunternd am Ellenbogen zu fassen. Er war wohl recht widerlich anzuschauen und etwas dümmlich, aber ganz gewiss war er völlig harmlos.
»Ich habe, wissen Sie, so eine Arbeitsmethode …«, murmelte er in einem lausigen Versuch, sich zu rechtfertigen. »Vielleicht ist sie umstritten, ich weiß nicht, aber früher ist es mir immer gelungen. Ich beginne an der Peripherie: Kollegen, Freunde, die Lehrer, versteht sich … Ausbilder … Und erst danach, völlig gewappnet sozusagen, wende ich mich dem eigentlichen Objekt der Untersuchung zu. Ich habe mich bei der KomKon erkundigt und erfahren, dass Abalkin jeden Tag auf die Erde zurückkehren muss. Mit dem Lehrer habe ich schon gesprochen. Mit der Ärztin. Dann habe ich beschlossen, mit Ihnen … Aber der Zeitpunkt war ungünstig. Entschuldigen Sie bitte vielmals. Ich bin nicht blind, ich sehe, dass hier ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen …«
Und so gelang es ihm, diesem dümmlichen, tölpelhaften Journalisten Kammerer, Maja Glumowa zu beruhigen. Sie
»Ja«, sagte sie. »Ein Zusammentreffen von Umständen …«
Jetzt war es an dem Journalisten Kammerer, kehrtzumachen und sich auf Zehenspitzen zu entfernen. Aber so einer war er nicht, der Journalist Kammerer. Er konnte eine so niedergeschlagene, gequälte Frau nicht einfach sich selbst überlassen. Sie brauchte Hilfe und Beistand.
»Selbstverständlich, ein Zusammentreffen und weiter nichts …«, murmelte er. »Schon vergessen, und nichts ist gewesen. Später, irgendwann, wenn es Ihnen recht ist … passt … wäre ich Ihnen sehr verbunden, versteht sich … Gewiss, das passiert mir nicht zum ersten Mal, dass ich zu Beginn mit dem eigentlichen Objekt spreche, und dann erst … Maja Toivowna, soll ich vielleicht jemanden rufen? Ich werde sofort …«
Sie schwieg.
»Ist wohl auch nicht nötig, Sie haben Recht. Wozu auch? Ich bleibe noch eine Weile hier bei Ihnen … für alle Fälle.«
Sie nahm endlich die Hand von den Augen. »Sie brauchen nicht bei mir zu bleiben«, sagte sie müde. »Gehen Sie lieber zu Ihrem Untersuchungsobjekt …«
»Kommt nicht infrage!«, protestierte der Journalist Kammerer. »Das hat Zeit. Das Objekt, hm, das Objekt … Aber ich möchte Sie nicht allein lassen. Ich habe jede Menge Zeit …« Er schaute mit leichter Unruhe auf die Uhr. »Das Objekt läuft mir nicht mehr davon! Jetzt werde ich ihn finden. Und überhaupt wird er momentan wohl kaum zu Hause sein. Ich kenne doch die Progressoren auf Urlaub. Sicher schlendert er durch die Stadt und hängt sentimentalen Erinnerungen nach.«
»Er ist nicht in der Stadt«, sagte Maja Toivowna, noch immer beherrscht. »Sie brauchen zwei Stunden Flug bis zu ihm.«
»Zwei Stunden Flug?« Der Journalist Kammerer war unangenehm überrascht. »Verzeihung, aber ich hatte den Eindruck …«
»Er ist auf den Waldaihöhen! Kurort ›Ossinuschka‹! Am Welje-See. Und denken Sie daran, dass der Null-Transport nicht funktioniert!«
»Hm!«, ließ sich der Journalist Kammerer laut vernehmen. Eine zweistündige Flugreise war in seinem heutigen Tagesplan gewiss nicht vorgesehen. Man konnte sogar vermuten, dass er überhaupt gegen Flugreisen war.
»Zwei Stunden«, murmelte er. »Aha, irgendwie hatte ich mir das ganz anders vorgestellt. Entschuldigen Sie bitte, Maja Toivowna, aber vielleicht ist er irgendwie von hier aus zu erreichen?«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Maja Toivowna mit nun schon fast erloschener Stimme. »Ich weiß aber seine Nummer nicht. Hören Sie, Kammerer, lassen Sie mich allein. Ich kann Ihnen im Moment ja doch nicht weiterhelfen.«
Erst jetzt erkannte der Journalist Kammerer vollends die Peinlichkeit seiner Lage. Er sprang auf und stürzte zur Tür. Hielt inne, kehrte noch einmal zum Tisch zurück. Murmelte unverständliche Entschuldigungen. Stürzte wieder zur Tür und warf dabei einen Sessel um. Hob ihn unter weiterem, sich entschuldigendem Gemurmel wieder auf und stellte ihn mit übergroßer Vorsicht an seinen Platz, als wäre er aus Kristall und Porzellan. Dann ging er unter zahlreichen Verbeugungen rückwärts zur Tür, schob sie mit dem Hintern auf und verschwand schließlich draußen im Gang.
Ich schloss vorsichtig die Tür, blieb noch eine Weile stehen und rieb mir mit dem Handrücken über die verkrampften Gesichtsmuskeln. Aus Scham und Ekel vor mir selbst war mir übel.