DIE BEWOHNTE INSEL

ERSTER TEIL Robinson


1

Maxim öffnete einen Spaltbreit die Luke, lehnte sich hinaus und blickte misstrauisch nach oben. Der Himmel hing hier tief und schien sonderbar schwer; er hatte nicht jene heitere Transparenz, die von der Unendlichkeit des Universums zeugt und von der Vielzahl seiner bewohnten Welten. Es war ein geradezu biblisches Firmament, still und undurchdringlich. Und gleichmäßig phosphoreszierend. Gewiss ruhte dieses Himmelsgewölbe auf den mächtigen Schultern eines hiesigen Atlas. Maxim suchte am Himmel nach dem Loch, das sein Raumschiff beim Durchbrechen geschlagen haben musste, doch es war keines da. Er entdeckte lediglich zwei große schwarze Kleckse, die allmählich zerliefen, wie Tuschetropfen in einem Wasserglas. Maxim stieß die Luke ganz auf und sprang hinaus in das hohe trockene Gras.

Die Luft war heiß und schwül. Es roch nach Staub und altem Eisen, nach zerdrücktem Grün, nach Leben. Nach Tod roch es auch, einem lange vergangenen, nicht mehr fassbaren … Das Gras reichte Maxim bis zum Gürtel; in der Nähe sah er die dunklen Umrisse verwilderten Gebüschs und trostlose, verkrüppelte Bäume. Es war beinahe hell - wie in einer lichten Mondnacht auf der Erde, doch es fehlten die Schatten und der zartblaue Schein des irdischen Mondlichts. Alles

Maxim ging um das Raumschiff herum und strich mit der Hand über die kühle, etwas feuchte Oberfläche. Die Spuren der Einschläge fand er exakt an den Stellen, wo er sie erwartet hatte: Eine unangenehm tiefe Beule unter dem Indikatorring; sie war entstanden, als das Schiff erst jäh nach oben gerissen und dann zur Seite geworfen wurde. Dadurch fiel der Kyberpilot aus und Maxim musste die Steuerung kurzerhand selbst übernehmen. Die Kerbe neben dem rechten Sensorenblock, einem der »Augen« seines Schiffs, entstand zehn Sekunden später, als das Schiff kopfüber nach unten stürzte und dann sozusagen auf einem Auge blind wurde. Wieder sah Maxim zum Himmel. Die schwarzen Flecken waren jetzt kaum noch zu sehen. Ein Meteoriteneinschlag in der Stratosphäre: ein Ereignis mit einer Wahrscheinlichkeit von null Komma null null … Aber jedes potenziell mögliche Ereignis, scheint es auch noch so unwahrscheinlich, muss wohl irgendwann einmal eintreten.

Maxim zwängte sich in die Kabine, schaltete die Steuerung auf automatische Reparatur und setzte das Expresslabor in Gang. Dann machte er sich auf den Weg zum Fluss. Sicher, dachte er bei sich, eine abenteuerliche Geschichte das Ganze - und dennoch irgendwie Routine, langweilig. Bei uns in der GFS sind sogar die Abenteuer alltäglich: Meteoritenattacke, Strahlenbeschuss, Havarie bei der Landung; Havarie bei der Landung, Meteoritenattacke, Strahlenbeschuss - das sind die Abenteuer dieses Metiers, physischer Nervenkitzel, nichts weiter.

Das trockene hohe Gras knisterte unter Maxims Füßen, stachlige Samen bohrten sich durch seine Shorts. Mit lautem Gruppe für Freie Suche gehen. Sie befassen sich mit erwachsenen, ernstzunehmenden Dingen und wissen, dass all die unerforschten Planeten im Grunde ziemlich gleich sind. Ermüdend gleich. Gleich ermüdend. Sicher, wenn man zwanzig ist, nichts richtig kann und nicht einmal weiß, was man gerne können würde, wenn man das kostbarste Gut, die Zeit, noch nicht zu schätzen weiß und besondere Talente weder vorhanden noch zu erhoffen sind, wenn man mit seinen zwanzig Jahren immer noch Hände und Füße einsetzt anstatt seinen Kopf, und wenn man zudem noch so dumm ist zu glauben, auf fremden Planeten könne man ganz Phantastisches entdecken, etwas, das es auf der Erde nicht gibt, wenn, wenn, wenn - ja, dann, natürlich. Dann nimm den Katalog der GFS zur Hand, schlag eine beliebige Seite auf, tippe mit dem Finger auf eine beliebige Zeile und fliege los. Entdecke einen Planeten, benenne ihn nach deinem Namen und bestimme seine physikalischen Eigenschaften. Kämpfe mit Ungeheuern, sofern vorhanden. Tritt mit Fremden in Kontakt, falls solche zu finden. Oder spiele ein bisschen Robinson. Es ist auch nicht alles vergebens: Nein, man wird dir danken und sagen, du hättest einen großen Beitrag geleistet. Irgendein bedeutender Spezialist wird dich zum ausführlichen Gespräch einladen. Schüler, vor allem die weniger begabten und die aus den unteren Klassen, werden voller Ehrfurcht zu dir aufschauen. Triffst du aber den Lehrer, fragt er nur: »Du bist immer noch bei der GFS?«, und dann wechselt er rasch das Thema. Sein Gesicht wirkt schuldbewusst und traurig, denn die Verantwortung dafür, dass du noch immer bei der GFS bist, übernimmt er. Und dein Vater knurrt ratlos: »Hmmm …«, und erwähnt unsicher eine freie Stelle im Labor. Und die Mutter meint: »Maxim, du konntest doch als Kind so schön

Bevor er den Steilhang zum Fluss hinunterstieg, blickte Maxim noch einmal zurück. Hinter ihm richtete sich das niedergetretene Gras Halm um Halm wieder auf, und vor dem bleigrauen Himmel sah er die schwarzen Silhouetten der verkrüppelten Bäume. Da leuchtete ein kleiner runder Fleck - die offene Luke seines Schiffs. Alles war wie immer. Na gut, sagte er sich, von mir aus … Vielleicht stoße ich ja hier auf eine Zivilisation. Mächtig sollte sie sein, alt und weise. Und menschlich … Er kletterte die Böschung hinab zum Wasser.

Der Fluss war tatsächlich breit und floss langsam. Mit bloßem Auge konnte man sehen, wie er von Osten herab - und nach Westen wieder hinauffloss. (Allerdings gab es hier eine ganz enorme Lichtbrechung.) Das gegenüberliegende Ufer war flach und mit einem dichten Schilfgürtel bewachsen. Etwa einen Kilometer weiter flussaufwärts ragten eigenartige Pfeiler und schiefe Balken aus dem Wasser, verzogenes Gitterwerk sowie eine halb verfallene, von Pflanzen überwucherte Trägerkonstruktion. Die Zivilisation, dachte Maxim leidenschaftslos. Er spürte, dass es in der Umgebung viel Eisen gab, und noch etwas spürte er, etwas sehr Unangenehmes, Beklemmendes. Als er eine Handvoll Wasser schöpfte, begriff er: Das war Strahlung, starke, schädliche Strahlung. Der Fluss führte von Osten her radioaktive Substanzen mit sich. Maxim verstand gleich, dass ihm eine Zivilisation, die Flüsse verseuchte, wohl kaum von Nutzen sein konnte. Und die Expedition würde, wie alle anderen zuvor, als Fehlschlag enden. Es

Angewidert schüttelte Maxim das Wasser von seinen Händen, trocknete sie im Ufersand und versank in Gedanken - düsteren Phantasien über die Bewohner dieses maroden Planeten. Irgendwo hinter den Wäldern lag sicher auch eine marode Stadt: verkommene Fabriken und altersschwache Atommeiler, die radioaktiv verseuchtes Wasser in den Fluss schwemmten; hässliche Wohnhäuser mit flachen Eisendächern; viele Mauern und wenig Fenster; verdreckte schmale Gassen, in denen sich Abfall und Unrat türmten und Haustierkadaver verwesten; ein großer Graben, der die Stadt umgab; Zugbrücken - obwohl, nein, das war vor dieser Zeit. Und die Menschen? Maxim konnte sich kein Bild von ihnen machen; er wusste nur, dass sie viele Kleidungsstücke übereinandertrugen, eingepackt waren in dicken, groben Stoff, und ihre Hälse in hohen, weißen Stehkragen steckten, die am Kinn scheuerten …

Aber da entdeckte Maxim Spuren.

Im Sand waren Abdrücke nackter Füße zu sehen. Jemand war die Böschung hinuntergeklettert und in den Fluss gestiegen. Eine schwere, plumpe Kreatur mit großen, breiten Füßen - sicher ein Humanoid, wenn auch mit sechs Zehen. Ächzend war er durch den tiefen Sand gestapft, mitsamt Kleidung und Stehkragen in das radioaktive Wasser marschiert, unter Prusten und Schnauben ans andere Ufer geschwommen und dort im Schilf wieder …

Als habe ein Blitz eingeschlagen, flammte plötzlich grellblaues Licht auf und erhellte die gesamte Umgebung. Dann ein ohrenbetäubender Knall und das Zischen und Knistern

Maxim rannte den Hang hinauf. Er wusste schon, was geschehen war, wusste nur nicht, warum. Und so wunderte es ihn auch nicht, als er dort, wo eben noch das Schiff gestanden hatte, einen lodernden Feuerball erblickte, über dem eine gigantische, rußschwarze Rauchsäule in den phosphoreszierenden Himmel stieg. Das Schiff war explodiert. Seine Keramithülle stand in gleißenden helllila Flammen, und das trockene Gras ringsum brannte lichterloh. Auch die Büsche brannten, selbst an den verkrüppelten Bäumen züngelten qualmende Flammen.

Wütende, sengende Hitze schlug Maxim entgegen, und er hielt sich schützend die Hand vors Gesicht. Schritt um Schritt wich er zurück, ohne aber die tränenden Augen abzuwenden von diesem bizarr schönen Flammenmeer, aus dem purpurrote und grüne Funken sprühten, von diesem sinnlosen Toben entfesselter Energie.

Aber, das ist … wie ist das passiert?, fragte er sich fassungslos. Ist da vielleicht ein riesiger Affe gekommen und hat gesehen, ich bin nicht da … Kletterte hinein, hob das Deck hoch - nicht einmal ich weiß, wie das geht, aber er hat es geschafft. Muss ein sehr schlauer Affe gewesen sein, einer mit sechs Zehen - er hob also das Deck … Was ist denn bei Raumschiffen unter dem Deck? Egal, er jedenfalls fand die Akkumulatoren, nahm einen großen Felsbrocken und wumm! … Einen sehr großen Felsbrocken übrigens, mindestens drei Tonnen schwer, und den schlug er mit voller Wucht … Muss ein sehr starker Affe gewesen sein … Jedenfalls hat er mit seinem Felsbrocken mein Schiff erledigt. Zweimal in der Stratosphäre und jetzt das hier! Erstaunliche Geschichte, gab es

Maxim wandte sich um und kehrte dem Feuer den Rücken zu. Raschen Schrittes ging er davon, immer am Fluss entlang. Ringsumher glühte alles im roten Schein des Feuers, und vor sich sah er, wie sein Schatten über die hohen Halme zuckte. Rechts ging nun die Wiese in einen lichten Wald über, aus dem ein fauliger Geruch herüberwehte. Das Gras war jetzt weich und etwas feucht. Maxim erschrak, als unmittelbar vor ihm zwei große Nachtvögel aufflogen und mit gellendem Kreischen dicht über das Wasser zogen bis ans andere Ufer. Einen Moment lang fürchtete er, dass ihn das Feuer einholen könnte. Um sich zu retten, bliebe ihm dann nichts anderes übrig, als durch den verseuchten Fluss zu schwimmen - eine furchtbare Vorstellung. Doch auf einmal verblasste der Feuerschein und erlosch wenig später ganz. Anscheinend hatten die Löschsysteme seines Schiffs jetzt den Ernst der Lage erkannt und ihre Aufgabe mit der nötigen Sorgfalt erfüllt. Lebhaft stellte sich Maxim die verrußten, angeschmolzenen Druckflaschen vor, wie sie albern inmitten von glühenden Trümmern standen, dicke Fontänen weißen Löschschaums versprühten und sehr zufrieden mit sich waren.

Ruhig, sagte er sich. Ruhe bewahren, nur nicht die Nerven verlieren. Ich habe Zeit. Jede Menge Zeit. Es kann sein, dass sie lange nach mir suchen werden: Das Schiff existiert nicht mehr, und mich zu finden ist unmöglich. Aber solange sie nicht wissen, was passiert ist, solange sie keine Gewissheit haben, werden sie Mama nichts sagen. Und in der Zwischenzeit wird mir hier schon etwas einfallen.

Maxim ging an einem kleinen Sumpf vorbei, schlug sich durch Gestrüpp und fand sich unverhofft auf einer Straße wieder - einer alten, rissigen Betonstraße, die in den Wald

Das Wichtigste habe ich gefunden: eine Straße. Sie ist uralt, grob hingeschustert und in schlechtem Zustand, aber immerhin eine Straße. Und auf allen bewohnten Planeten führen die Straßen zu denen, die sie gebaut haben. Was fehlt mir? Zu essen brauche ich nichts. Ein bisschen Hunger habe ich zwar, doch das sind die niederen Instinkte, die kann ich unterdrücken. Wasser brauche ich frühestens in vierundzwanzig Stunden. Luft zum Atmen gibt es hier genug, wenn man einmal vom hohen Kohlendioxidgehalt und der radioaktiven Verschmutzung absieht. Im Augenblick fehlt es mir also an nichts Lebensnotwendigem. Was ich dagegen wirklich bräuchte, wäre ein kleiner, primitiver Nullsender mit Spiralgang. Kann man sich etwas Simpleres vorstellen als einen primitiven Nullsender? Höchstens einen primitiven Nullakkumulator … Maxim schloss die Augen und rief sich den Bauplan eines Positronenemitter-Senders ins Gedächtnis. Ganz einfach! Hätte er die Bauteile zur Hand, könnte er das Gerät auf der Stelle und mit verbundenen Augen zusammenbauen. Einige Male spielte er die Handgriffe durch, doch als er die Augen öffnete, war kein Sender da. Nichts war da. Robinson, dachte er, und dieser Gedanke faszinierte ihn. Maxim Crusoe. Ich habe tatsächlich gar nichts. Nur Shorts ohne Taschen und ein paar Turnschuhe. Dafür aber ist meine Insel bewohnt. Und da die Insel bewohnt nicht daran zu denken. Schluss. Er erhob sich, drehte dem Fluss den Rücken zu und folgte der Straße in die andere Richtung.

Hatten die Bäume anfangs nur vereinzelt und etwas entfernt vom Straßenrand gestanden, so rückte der Wald allmählich immer dichter an die Straße heran. Ein paar junge Bäumchen hatten sogar den Beton durchbrochen und wuchsen mitten auf der Fahrbahn. Die Straße musste jahrzehntealt sein, jedenfalls hatte man sie jahrzehntelang nicht mehr benutzt. Je länger Maxim marschierte, desto höher, dichter und finsterer wurde der Wald. An manchen Stellen schloss sich bereits das Blätterdach über seinem Kopf. Die unheimliche Stille darin wurde von noch unheimlicheren, kehligen Lauten durchbrochen, die - mal links, mal rechts - aus dem Dickicht kamen. Hatte sich dort nicht etwas bewegt? Ein Rascheln, ein Trappeln, und dann - wieder Stille. Etwa zwanzig Schritte vor ihm huschte eine dunkle, gebückte Gestalt über die Straße. Maxim lauschte - nichts, nur das Surren von Mücken. Ihm kam in den Sinn, dass womöglich niemand in der Nähe wohnte. Der traurige Zustand der Straße und die vollkommen verwilderte Umgebung ließen befürchten, dass es noch Tage dauern konnte, bis er auf zivilisierte Wesen stoßen würde. Als seine niederen Instinkte sich wieder meldeten, beruhigte

Maxim blieb stehen und horchte. Aus der Tiefe des Waldes drang ein monotones, dumpfes Dröhnen. Er erinnerte sich, dass er es schon früher gehört hatte, aber erst jetzt schenkte er ihm Aufmerksamkeit. Das war kein Tier und auch kein Wasserfall, sondern etwas Mechanisches, eine riesengroße, monströse Maschine. Sie schnaubte und brüllte, rasselte und verbreitete den Gestank von heißem Eisen. Und sie kam näher.

Geduckt, lautlos und ganz dicht am Straßenrand lief Maxim dem dröhnenden Geräusch entgegen. Dann stoppte er. Fast

Und eine Minute später war es da: groß, heiß und stinkend, ein Monster aus vernietetem Metall, das sich mit seinen riesigen, dreckverschmierten Ketten durch die Straße fraß und dabei knirschend den Beton zermalmte. Es raste nicht, es rollte nicht einmal, sondern quälte sich die Straße entlang - verbeult, mit losen, scheppernden Eisenplatten, vollgepumpt mit Plutonium und Lanthanoiden, unbemannt, dumm und gefährlich. Fauchend donnerte es über die Kreuzung und verschwand langsam aus Maxims Sichtfeld. Das Rasseln der Ketten und das Dröhnen des Motors wurden allmählich leiser, doch waberte über der Kreuzung noch immer eine flimmernde Hitze und ein stechender, metallischer Gestank.

Maxim holte tief Luft und verscheuchte die Mücken. Er war fassungslos - nie in seinem Leben hatte er etwas so Absurdes und Erbärmliches gesehen. Na ja, dachte er, mit den Positronenemittern könnte es hier schwierig werden. Er blickte in die Richtung, in die das Monster verschwunden war, und bemerkte, dass die querende Straße eine Schneise durch den Wald schlug. Über ihr befand sich freier Himmel, kein geschlossenes Blätterdach. Vielleicht sollte ich hinterherlaufen?, fragte er sich. Es anhalten, den Reaktor abschalten … Er horchte: immer noch Krachen und lautes Maschinengetöse. Das Ungetüm schien im Wald zu toben wie ein Nilpferd im Morast. Kurze Zeit später wurde das Rumoren des Motors wieder lauter - der Koloss kam zurück. Abermals knirschender Beton, schepperndes Eisen, rasselnde Ketten,

Eine Zeit lang setzte er seinen Weg im Laufschritt fort und atmete tief ein, um den giftigen Qualm des Eisenkolosses aus den Lungen zu pumpen. Danach verfiel er in Marschtempo und sann darüber nach, was ihm in den ersten beiden Stunden auf seiner bewohnten Insel begegnet war. Er versuchte, all die Ungereimtheiten und Zufälle zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzufügen, aber das erwies sich als unmöglich. Denn das Bild, das dabei herauskam, trug eher märchenhafte als realistische Züge. Märchenhaft war zum Beispiel dieser Wald, der voll war von altem Eisen, wo unbekannte Fabelwesen mit beinahe menschlichen Stimmen einander zuriefen. Und wie im Märchen führte die alte, verlassene Straße gewiss zu einem verwunschenen Schloss. Unsichtbare, böse Zauberer versuchten, ihm, dem Menschen, der in dieses fremde Land gekommen war, Steine in den Weg zu legen. Schon im Landeanflug schleuderten sie ihm Meteoriten entgegen, und als das nichts half, steckten sie sein Schiff in Brand. Nun saß der Mensch in der Falle. Sogleich hetzten sie einen eisernen Drachen auf ihn, doch der erwies sich als zu alt und zu dumm. Sicher hatten die Zauberer ihren Fehlschlag längst bemerkt und rüsteten schon zu einem neuen Angriff, diesmal allerdings mit moderneren Waffen.

»Hört mal«, sagte Maxim, »ich habe gar nicht vor, eure Schlösser zu entzaubern und eure schlafenden Schönheiten zu wecken. Ich bin lediglich auf der Suche nach jemandem, der ein bisschen Grips im Kopf hat und mir mit den Positronenemittern weiterhilft.«

Die Zauberer aber stellten sich taub. Zuerst versperrten sie Maxim mit einem meterdicken, morschen Baumstamm den Weg, dann rissen sie die Betondecke auf, hoben eine gewaltige Grube aus und füllten sie mit fauligem, radioaktivem Schlamm. Als selbst das nichts half und auch die blutrünstigen Mückenschwärme ihre Stechattacken irgendwann einstellten, tauchten die Zauberer zum Ende der Nacht den Wald in dicken, eisigen Nebel. Maxim begann zu frieren und schlug einen Laufschritt an, um sich aufzuwärmen. Die ölige Nebelsuppe roch nach Fäulnis und feuchtem Metall; aber bald mischte sich Rauchgeruch hinein, und Maxim begriff, dass irgendwo in der Nähe ein Feuer brannte.

Der Tag brach an, und im fahlen Licht der Morgendämmerung entdeckte Maxim etwas abseits der Straße eine Feuerstelle. Daneben stand eine niedrige, mit Moos bewachsene Steinhütte; das Dach war eingestürzt, die Fenster unverglast. Menschen waren nirgendwo zu sehen, doch Maxim hatte das Gefühl, dass sie ganz in der Nähe waren und sicher bald zurückkehrten. Er sprang über den Straßengraben und ging, bis zu den Knöcheln im modrigen Laub versinkend, auf direktem Weg zur Feuerstelle.

Sehr zur Freude seiner niederen Instinkte, strahlte das Feuer eine wohlige, archaische Wärme ab. Alles war so einfach: Man hockte sich hin, wärmte sich die Hände am Feuer und wartete schweigend darauf, dass einem der Hausherr einen Teller heißer Suppe und ein Getränk reichte. Der Hausherr war zwar nicht da, aber über dem Feuer hing ein rußiger Kessel, in dem eine dicke, scharf riechende Suppe köchelte. Neben der Feuerstelle stand ein schmutziger, halbleerer Sack mit Tragegurten. Auf dem Boden, etwas weiter entfernt, lagen zwei Kittel aus grobem Stoff, zwei große Becher aus verbeultem Blech sowie ein paar sehr merkwürdige Gegenstände aus Eisen.

Maxim blieb eine Weile am Feuer sitzen, starrte in die Flammen und wärmte sich. Dann stand er auf und betrat das

Maxim kehrte zur Kochstelle zurück, warf ein paar trockene Zweige ins Feuer und schaute in den Kessel. Die dicke Suppe brodelte. Er sah sich um, entdeckte eine Art Schöpflöffel, roch misstrauisch daran, wischte ihn sorgfältig am frischen Gras ab und prüfte noch einmal den Geruch. Vorsichtig schöpfte er den grauen Schaum von der Suppe und kippte ihn in die Glut. Er rührte um, nahm einen Löffel voll Suppe heraus, blies und probierte sie mit gespitzten Lippen. Gar nicht übel, dachte er, schmeckt so ähnlich wie Tachorg-Lebereintopf, nur schärfer. Maxim legte den Schöpflöffel beiseite, nahm den Kessel vorsichtig und mit beiden Händen vom Haken und stellte ihn im Gras ab. Er sah sich noch einmal um und rief: »Frühstück ist fertig!« Nach wie vor hatte er das Gefühl, dass der Herr des Hauses sich in unmittelbarer Nähe aufhielt, aber weder im nebelnassen Gebüsch noch auf der Straße regte sich etwas, und außer geschäftigem Vogelgezwitscher und dem Prasseln des Feuers war nichts zu hören.

»Dann eben nicht!«, sagte er laut. »Wie ihr wollt. Ich fange jedenfalls an.«

Maxim gewöhnte sich sehr schnell an den Geschmack. Entweder lag es an dem übergroßen Löffel oder an den niederen Instinkten - auf jeden Fall verging keine Minute, und Maxim hatte sich ein Drittel der Suppe einverleibt. Mit Bedauern rückte er den Kessel zur Seite, spürte dem fremden Geschmack im Mund ein wenig nach und säuberte dann den Schöpflöffel sorgfältig mit Gras. Aber er konnte sich nicht beherrschen, tauchte ihn nochmals ein und fischte sich vom Grund des Kessels noch ein paar von den leckeren, braunen Scheibchen heraus, die auf der Zunge zergingen und ihn an Seegurken erinnerten. Abermals säuberte er den Löffel und legte ihn quer über den Kessel. Jetzt war es an der Zeit, seiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen.

Er sprang auf, brach sich einen frischen, dünnen Zweig ab und ging zurück ins Haus. Vorsichtig trat er auf die morschen Bodenbretter und bemühte sich dabei, nicht zu dem Skelett in der Ecke hinüberzusehen. Dann riss er die Pilze ab und spießte die größten der himbeerfarbenen Hüte auf den Zweig. Ein bisschen Salz und Pfeffer würden nicht schaden, dachte er, doch für die erste Kontaktaufnahme wird es auch ohne gehen. Ich hänge euch jetzt über das Feuer, bis die Giftstoffe verdampft sind und dann werdet ihr ein vorzügliches Begrüßungsmahl abgeben. Ihr seid mein erster Beitrag zur Kultur dieser bewohnten Insel - mein zweiter werden dann die Positronenemitter sein.

Plötzlich wurde es im Haus dunkler, nur eine kleine Nuance, aber Maxim spürte sofort, dass man ihn beobachtete. Er unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen, und zählte bis zehn, dann erhob er sich langsam, setzte ein Lächeln auf und wandte sich um.

Vor dem Fenster stand ein Mann mit langem, dunklem Gesicht, großen, schwermütigen Augen und hängenden Mundwinkeln.

Dort stand, mit gespreizten, stämmigen Beinen, ein rothaariger Kerl, dessen Schultern so breit waren, dass sie den gesamten Türrahmen ausfüllten. Der Mann war untersetzt und trug einen karierten, unglaublich hässlichen Overall. Ein wildes, rotblondes Gestrüpp von Haaren überwucherte sein Gesicht, und durch dieses Gestrüpp hindurch sah er Maxim mit kleinen, stechend blauen Augen an. Sein Blick war durchbohrend und alles andere als freundlich, aber trotzdem irgendwie heiter - möglicherweise im Kontrast zu der Melancholie, die noch immer zum Fenster hereinschaute. Es war offenbar nicht das erste Mal, dass der Rothaarige einem Fremdplanetarier begegnete, und es sah ganz so aus, als mache er mit seinen ungebetenen Gästen einfach kurzen Prozess, ohne Kontaktaufnahme und sonstiges Prozedere. Um seinen Hals trug er einen Lederriemen, und daran hing ein furchterregender Schießprügel, dessen Mündung er mit seiner schmutzigen Pranke genau auf Maxims Bauch gerichtet hielt. Es war klar, dass dieser grobschlächtige Kerl noch nie etwas vom Wert des menschlichen Lebens gehört hatte, ebenso wenig von der Menschenrechtsdeklaration, von den Errungenschaften

Maxim aber hatte keine Wahl. Er wedelte mit seinem Pilzspieß, lächelte noch ein wenig breiter und artikulierte laut und überdeutlich: »Friede! Freundschaft!« Der Melancholiker vor dem Fenster reagierte auf diese Losung, indem er eine lange, unverständliche Phrase von sich gab und das Kontaktfeld räumte; den Geräuschen nach zu urteilen, begann er gerade, trockenes Holz ins Feuer zu werfen. Jetzt sah Maxim, wie der wilde Bart des Rothaarigen in Bewegung geriet, und kurz darauf dröhnten aus dem roten Gestrüpp donnernde, rasselnde Laute, die Maxim lebhaft an den Eisendrachen auf der Kreuzung erinnerten.

»Ja!«, erwiderte Maxim und nickte eifrig. »Erde! Weltraum!« Er deutete mit seinem Pilzspieß zum Himmel, und der Rotbart blickte brav hinauf zu der nicht mehr vorhandenen Decke. »Maxim!«, setzte Maxim unbeirrt fort. »Maxim! Ich heiße Maxim!« Um den Sinn seiner Worte zu verdeutlichen, schlug er sich mit der Faust gegen die Brust wie ein wütender Gorilla. »Maxim!«

»Mach-sim!«, krakeelte der Rotbart mit eigenartigem Akzent und ließ eine Serie krachender, schnalzender Laute folgen, in denen das Wort »Mach-sim« mehrfach vorkam. Der Melancholiker vor dem Haus kommentierte diese Äußerungen mit den denkbar trübseligsten Lautfolgen. Dann quollen die blauen Augen des Rotbarts hervor, er öffnete den Mund, die gelben Zahnstummel wurden sichtbar - und er brach in dröhnendes Gelächter aus. Hatte der Melancholiker etwa einen Witz gemacht? Als der Lachanfall vorbei war, wischte sich der Rothaarige mit der freien Hand die Tränen aus den Augen, ließ seine Büchse sinken und gab Maxim einen Wink, der ihm bedeutete: »Los, komm schon!«

Maxim ließ sich nicht lange bitten. Er folgte dem Rotbart ins Freie und hielt ihm abermals den Pilzspieß unter die Nase.

»Nicht doch!«, protestierte Maxim. »Ihr werdet euch noch die Finger danach lecken.«

Er bückte sich und hob den Spieß auf. Der Rotbart ließ ihn gewähren, dann schlug er ihm ein paarmal mit der Pranke auf den Rücken und schob Maxim zur Feuerstelle. Dort drückte er ihn an den Schultern herab, bis er auf dem Boden saß. Dann setzte sich der Rotbart daneben und begann auf Maxim einzureden. Aber der hörte gar nicht zu und musterte stattdessen den Melancholiker, der ihnen gegenübersaß und einen großen, schmutzigen Lappen am Feuer trocknete. Einer seiner Füße war nackt und es entging Maxims Aufmerksamkeit nicht, dass er fünf Zehen hatte - fünf, nicht sechs.



2

Gai saß auf dem Rand der Fensterbank, polierte mit dem Ärmel die Kokarde seines Baretts und sah zu, wie Korporal Waribobu die Reisepapiere für ihn ausschrieb. Der Korporal hatte den Kopf schief gelegt und die Augen aufgerissen, mit der Linken hielt er das Formular mit dem rotem Rand fest und mit der Rechten malte er in Schönschrift seine Buchstaben darauf. Großartig macht er das, dachte Gai, nicht ganz ohne Neid. Dieser alte Tintenfisch: zwanzig Jahre in der Garde, und immer noch Schreiber. Aber warum er die Augen immer so aufreißt … der Stolz der Brigade … Gleich streckt er noch die Zunge heraus … Na bitte, da ist sie schon. Sogar sie ist voller Tinte. Bleib gesund, Waribobu, altes Tintenfass, wir werden uns nicht wiedersehen. Der Abschied fällt mir schwer. Gute Kameraden hatte ich hier, auch die Offiziere sind in

Draußen blies der Wind weißen Staub über die breite Straße, die mit alten Sechseckplatten gepflastert war und keinen Bürgersteig hatte. Gegenüber sah Gai die weißen, einförmigen und langgezogenen Gebäude der Administration und des technischen Personals. Und auf der Straße ging Frau Idoja, die mit der einen Hand ihr Gesicht vor dem umherfliegenden Staub schützte und mit der anderen den im Wind flatternden Rock festhielt. Frau Idoja war eine füllige, stattliche Dame, die dem Herrn Brigadegeneral zusammen mit ihren Kindern in diese gefährliche Gegend gefolgt war. Der Wachposten an der Kommandantur präsentierte ihr das Gewehr; es war ein Neuer, mit noch unzerknittertem Staubmantel und aufs Ohr gezogenem Barett. Dann sah Gai zwei Lastwagen mit Zöglingen vorbeifahren - wahrscheinlich zum Impfen. Richtig so, der da kriegt einen Hieb ins Kreuz, was lehnt er sich auch über die Bordwand, ist hier schließlich kein Boulevard …

»Wie schreibst du dich eigentlich?«, fragte Waribobu. »Gaal? Oder kann ich einfach Gal schreiben?«

»Nein«, sagte Gai. »Mein Familienname ist Gaal.«

»Schade«, sagte Waribobu und lutschte nachdenklich an seiner Feder. »Gal hätte gerade noch in die Zeile gepasst.«

Schreibe nur, Tintenfass, schreibe, dachte Gai. Musst nicht auch noch Zeilen sparen! So was nennt sich Korporal. Die Knöpfe stumpf vom Grünspan, ein feiner Korporal! Trägt zwei Medaillen, und kann nicht einmal vernünftig schießen, das weiß jeder.

Die Tür wurde aufgerissen und Rittmeister Toot stürmte herein, am Arm die goldene Binde des Diensthabenden. Gai sprang auf und knallte die Hacken zusammen. Waribobu aber erhob sich nur andeutungsweise, ja, er hörte nicht einmal auf zu schreiben, der alte Sargnagel! Und so was nennt sich Korporal.

»Aah«, näselte der Rittmeister und zog sich angewidert die Staubmaske vom Kopf. »Soldat Gaal. Ich weiß, ich weiß, Sie verlassen uns. Bedauerlich. Aber ich freue mich für Sie. Ich hoffe, Sie zeigen in der Hauptstadt ebenso viel Eifer wie hier.«

»Jawohl, Herr Rittmeister!«, rief Gai dienstfertig. Vor Begeisterung kribbelte ihm sogar die Nase. Er verehrte Rittmeister Toot; er war gebildet und hatte früher in einem Gymnasium unterrichtet. Wie sich zeigte, war Gai auch dem Herrn Rittmeister vorteilhaft aufgefallen.

»Sie können sich setzen«, murmelte Rittmeister Toot, während er an der Barriere vorbei zu seinem Tisch ging. Ohne Platz zu nehmen, sah er flüchtig einige Papiere durch und griff dann zum Telefon.

Taktvoll wandte sich Gai zum Fenster. Auf der Straße war noch alles unverändert. In geschlossener Formation sah er seine Korporalschaft zum Mittagessen marschieren. Er blickte ihr wehmütig nach: Sie war ihm zur zweiten Heimat geworden. Jetzt werden die Jungs die Kantine betreten, dachte er, dann erteilt Korporal Serembesch ihnen das Kommando zum Barett-Abnehmen und aus dreißig Kehlen erschallt das »Dankeswort«; Töpfe dampfen, Schüsseln blinken und der alte Doga erzählt zum hundertsten Mal seinen Lieblingswitz vom Soldaten und der Köchin. Gai verließ sie wirklich ungern. Zwar war der Dienst gefährlich und das Klima schädlich, und zu essen gab es immer dasselbe, Konserven - aber trotzdem … Hier wusste man wenigstens, dass man gebraucht wurde, dass es ohne einen nicht ging. Tapfer stellte man sich dem unheilvollen Ansturm von Süden entgegen - und bekam ihn auch zu spüren: Allein die vielen Freunde, die er hatte begraben müssen; hinter der Siedlung befand sich ein ganzes Wäldchen von Stangen mit verrosteten Helmen. Andererseits - die Hauptstadt. Dorthin wurde nicht jeder berufen, und wenn, dann sicher nicht zur Erholung. Es hieß, vom Palast der Väter würden sämtliche Exerzierplätze überwacht, jeder Appell beobachtet

Gai blickte abermals aus dem Fenster und sah etwas, das ihn sehr erstaunte: Der Kommandantur näherten sich zwei Männer, von denen er den einen an seiner rotbärtigen Visage erkannte. Das war Sef, einer von den Schlimmsten, Feldwebel der hundertvierunddreißigsten Pionierabteilung, ein zum Tode Verurteilter, der sich sein Leben mit Trassensäuberung verdiente. Der andere sah abscheulich aus und schien eine wenig vertrauenerweckende Kreatur. Zuerst hielt ihn Gai für eine Missgeburt, einen der Entarteten, doch dann fiel ihm ein, dass Sef wohl kaum einen Entarteten zur Kommandantur schleppen würde. Der Bursche war halb nackt, jung, braungebrannt und kraftstrotzend wie ein Stier. Er war nur mit einer kurzen Hose aus einem seltsamen, glänzenden Stoff bekleidet. Sef trug zwar sein Gewehr bei sich, aber es hatte nicht den Anschein, als führe er den Fremden unter Androhung von Waffengewalt ab. Die beiden gingen nebeneinander, und der Halbnackte gestikulierte unbeholfen - offenbar versuchte er, Sef etwas zu erklären. Doch der keuchte nur und wirkte völlig benommen. Vielleicht ein Wilder, dachte Gai, als er den Unbekannten nochmals betrachtete. Nur - wie hat es ihn auf die Trasse verschlagen? Wurde er von Bären aufgezogen? So

Inzwischen waren die zwei Männer beim Wachposten angelangt. Sef wischte sich den Schweiß von der Stirn und begann, auf den Soldaten einzureden. Der Neue jedoch schien Sef nicht zu kennen und hielt ihm die Maschinenpistole vor die Brust. Offenbar forderte er ihn auf, den vorgeschriebenen Abstand einzuhalten. Jetzt mischte sich der Bursche ins Gespräch ein. Er fuchtelte wild mit den Händen, schnitt Grimassen und rollte mit seinen dunklen Augen wild hin und her. Na bitte, jetzt war auch der Wachposten sprachlos. Gleich würde er Alarm schlagen.

Gai drehte sich um. »Herr Rittmeister«, schnarrte er. »Gestatten zu melden: Der Feldwebel der Hundertvierunddreißigsten bringt jemanden, doch die Wache scheint ihn nicht passieren zu lassen. Möchten Sie ihn in Augenschein nehmen?«

Rittmeister Toot trat ans Fenster. Er runzelte die Stirn, stieß einen Flügel auf, lehnte sich hinaus, würgte am eindringenden Staub und rief: »Posten! Durchlassen!«

Während Gai das Fenster schloss, polterten Schritte durch den Flur. Kurz darauf betraten Sef und sein sonderbarer Begleiter die Amtsstube. Hinter den beiden drängte der Wachoffizier herein, gefolgt von zwei Mann aus seiner Schicht. Sef legte die Hände an die Hosennaht, räusperte sich, fixierte den Herrn Rittmeister mit seinen unverfrorenen blauen Augen und krächzte: »Es meldet der Feldwebel der hundertvierunddreißigsten Pionierabteilung, Zögling Sef. Dieser Mann wurde auf der Trasse aufgegriffen. Anscheinend ein Verrückter. Er frisst Giftpilze, plappert Kauderwelsch, versteht kein Wort und läuft, wie Sie zu sehen belieben, nackt herum.«

Während Sef redete, ließ der Festgenommene seine Blicke durch den Raum schweifen und bleckte seine ebenmäßigen, zuckerweißen Zähne. Den Anwesenden lächelte er eigenartig,

»Wer sind Sie?«, fragte er.

Der Bursche grinste noch unheimlicher, hämmerte sich mit der Faust an die Brust und bellte so etwas wie »Mach-sim«. Der Wachoffizier brach in lautes Gelächter aus, seine Leute kicherten, und selbst der Herr Rittmeister verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. Gai begriff nicht gleich, weshalb, doch dann erinnerte er sich: »Mach-sim« bedeutete im Gaunerjargon »Messer abgekriegt«.

»Anscheinend einer Ihrer Leute«, wandte sich der Rittmeister an Sef.

Sef schüttelte den Kopf, und dabei stob aus seinem Bart eine Staubwolke. »Ausgeschlossen«, sagte er. »›Machsim‹ nennt er sich nur, die Gaunersprache versteht er jedoch nicht. Also ist er auch keiner von uns.«

»Sicher ein Entarteter«, mutmaßte der Wachoffizier, worauf ihn der Rittmeister mit einem eisigen Blick bedachte. »Er ist nackt!«, fügte der Wachoffizier eindringlich hinzu, zog sich jedoch bereits zur Tür zurück. »Gestatten Sie wegzutreten, Herr Rittmeister?«, schnarrte er.

»Gehen Sie«, sagte Rittmeister Toot. »Schicken Sie jemanden nach Herrn Stabsarzt Sogu. Wo haben Sie ihn gefasst?«, erkundigte er sich bei Sef.

Sef berichtete, seine Abteilung habe in dieser Nacht das Planquadrat 23/07 durchkämmt, vier Selbstfahrlafetten und eine Anlage mit unbekannter Funktion vernichtet sowie zwei Männer bei der Explosion verloren; alles sei normal verlaufen. Gegen sieben Uhr morgens habe sich dieser Unbekannte ihrer Feuerstelle im Wald genähert. Sie hätten ihn schon von fern bemerkt, aus dem Gebüsch beobachtet und im passenden Moment gefasst. Er, Sef, habe den Halbnackten anfangs für einen flüchtigen Sträfling gehalten, sei dann jedoch zu dem

»Wieso wurde Ihnen das klar?«, fragte der Rittmeister. Der Festgenommene stand währenddessen mit auf der Brust verschränkten Armen reglos da und sah ihn und Sef abwechselnd an.

Sef murmelte, das sei schwer zu erklären, versuchte es dann aber doch: »Erstens, dieser Mensch hatte und hat vor nichts Angst. Weiter: Er hat die Suppe vom Feuer genommen und genau ein Drittel gegessen, ganz kameradschaftlich, und vorher in den Wald gerufen, offenbar nach uns, weil er spürte, dass wir in der Nähe waren. Außerdem hat er uns Pilze angeboten. Sie waren zwar giftig, wir haben sie weggeworfen und auch ihn gehindert, sie zu essen, doch immerhin wollte er uns bewirten - wahrscheinlich aus Dankbarkeit. Des Weiteren: Entartete sind bekanntlich allen, selbst schwächlichen normalen Menschen physisch weit unterlegen. Dieser Fremde aber hat mich auf dem Weg hierher gejagt wie einen kleinen Jungen. Er ist durch einen Windbruch gelaufen, als wäre es ebenes Gelände, hat breite Gräben übersprungen und auf der anderen Seite gewartet, obendrein hat er mich ab und zu - vielleicht aus Übermut - ein paar Hundert Schritte weit getragen.«

Der Rittmeister, bis dahin gespannteste Aufmerksamkeit, drehte sich abrupt zu dem Festgenommenen um und schnauzte ihn auf Honti an: »Ihr Name? Dienstgrad? Auftrag?«

Gai war von der Überrumpelungstaktik begeistert, doch es war offensichtlich, dass der Kerl kein Wort Honti verstand. Er entblößte lediglich wieder seine blendend weißen Zähne und klopfte sich an die Brust: »Machsim!«, dann stippte er den Finger in die Seite des Zöglings: »Sef!« - und begann zu

Nachdem der Fremde verstummt war, ließ sich Korporal Waribobu vernehmen. »Meines Erachtens ist das ein ganz gerissener Spion«, verkündete das alte Tintenfass. »Man sollte es dem Herrn Brigadegeneral melden.«

Doch der Herr Rittmeister beachtete ihn nicht. »Sie können gehen, Sef«, sagte er. »Sie haben Diensteifer bewiesen, das wird Ihnen angerechnet.«

»Ergebensten Dank, Herr Rittmeister«, rief Sef und wollte sich schon zum Gehen wenden, als der Verhaftete plötzlich aufschrie, sich über die Barriere beugte und einen Stapel ungebrauchter Formulare vom Tisch des Korporals raffte.

Waribobu erschrak zu Tode - ein feiner Korporal! -, tat dann einen Schritt zurück und warf seine Feder nach dem Wilden. Der aber fing sie geschickt im Fluge auf, lehnte sich an die Barriere und beschrieb damit gleich eines der Formulare. Dabei achtete er überhaupt nicht auf Gai und Sef, die ihn an den Schultern gepackt hielten.

»Loslassen!«, kommandierte Rittmeister Toot, und Gai gehorchte nur zu gern - denn diesen Riesenkerl bändigen zu wollen erschien ihm ebenso aussichtslos, wie einen Panzer durch bloßes Dagegenstemmen zu bremsen.

Der Herr Rittmeister und Sef stellten sich rechts und links neben den Gefangenen und inspizierten, was er zu Papier brachte.

»Sieht aus wie eine Skizze der Welt«, spekulierte Sef.

»Hm«, brummte der Rittmeister.

»Aber natürlich! Das in der Mitte ist das Weltlicht, und das hier ist die Welt. Und hier sind seiner Meinung nach wir.«

»Aber warum zeichnet er alles auf einer Ebene?«, fragte Rittmeister Toot ungläubig.

Sef zuckte mit den Schultern. »Kindliche Wahrnehmung … Infantilismus … Schauen Sie! Jetzt zeigt er, wie er hergekommen ist.«

»Ja, möglich. Ich habe von solcherart Wahnsinn gehört.«

Gai zwängte sich zwischen Sefs stacheligem Bartgestrüpp und der mächtigen, nackten Schulter des Verhafteten durch. Die Zeichnung schien ihm lächerlich. So stellten Schulanfänger die Welt dar: in der Mitte ein kleiner Kreis, das Weltlicht, um ihn herum als großer Kreis die Weltkugel, und auf diesem Kreis ein dicker Punkt, dem man nur noch Arme und Beine hinzuzufügen brauchte, schon hätte man: Das ist die Welt, und das bin ich. Und dieser arme Irre hatte nicht einmal einen richtigen Kreis zustande gebracht, bei ihm war es ein Oval. Ohne Zweifel ein Verrückter … Er strichelte noch eine Linie, die aus der Erde heraus zu dem Punkt führte. So, hieß das wohl, bin ich hierhergekommen. Dann griff er nach einem neuen Formular und skizzierte schnell in zwei diagonal entgegengesetzten Ecken je eine kleine Welt, verband auch sie mit einer punktierten Linie und fügte noch einige Schnörkel hinzu. Sef pfiff ratlos durch seine Zähne.

»Gestatten Sie wegzutreten?«, fragte er den Herrn Rittmeister.

Rittmeister Toot gestattete es nicht. »Sef … äh«, sagte er, »ich erinnere mich, Sie arbeiteten doch früher auf dem Gebiet der … äh …« Er tippte sich mit leicht gekrümmtem Zeigefinger an die Stirn.

»Jawohl!«, erwiderte Sef nach kurzem Zaudern.

Der Rittmeister schritt im Zimmer auf und ab. »Könnten Sie nicht … äh … Ihre Meinung hinsichtlich dieses Subjekts formulieren? Als Fachmann, wenn ich es so ausdrücken darf …«

»Dazu kann ich nichts sagen«, entgegnete Sef. »Laut Urteil ist es mir untersagt, meiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen.«

»Ich verstehe«, sagte der Rittmeister. »Das ist alles richtig. Lobenswert. Jedoch …«

Sef hatte die blauen Augen aufgerissen und stand stramm. Der Herr Rittmeister steckte in der Klemme. Gai konnte es ihm nachfühlen: Es handelte sich um einen ernstzunehmenden, staatsbedeutenden Vorfall. Womöglich würde sich der Wilde doch als Spion erweisen! Und der Herr Stabsarzt Sogu war, obzwar ein guter, ja glänzender Gardist, eben doch nur Stabsarzt. Wohingegen der rotbärtige Sef, bevor er zum Verbrecher wurde, als Kapazität auf seinem Gebiet galt. Aber jeder, sogar ein Verbrecher, und dazu einer, der sich seines Verbrechens bewusst geworden ist, will ja leben. Und den zum Tode Verurteilten gegenüber kennt das Gesetz keine Gnade: die kleinste Verfehlung und - Exekution. Auf der Stelle. So muss es sein, so ist die Zeit: Aus dem Erbarmen wird Grausamkeit, und nur in der Grausamkeit liegt wahres Erbarmen. Das Gesetz ist unerbittlich und doch weise.

»Na schön«, sagte der Herr Rittmeister. »Kann man nichts machen … Aber als Mensch …« Er blieb vor Sef stehen. »Begreifen Sie? Nicht als Fachmann, sondern als Mensch. Halten Sie ihn wirklich für verrückt?«

Sef zögerte. Dann sagte er: »Als Mensch? Hm, als Mensch - und irren ist schließlich menschlich. Also Folgendes: Ich vermute, es ist ein ausgeprägter Fall von Persönlichkeitsspaltung, mit Verdrängung und Ersetzung des eigentlichen Ich durch ein imaginäres. Als Mensch würde ich, nach meiner Lebenserfahrung, zu Phleopräparaten und Elektroschocks raten.«

Waribobu hatte heimlich mitgeschrieben, doch den Herrn Rittmeister konnte man nicht hinters Licht führen. Er nahm dem Korporal die Notizen weg und verstaute sie in einer Tasche seiner Uniformjacke. Mach-sim plapperte indessen erneut darauflos, mal an den Herrn Rittmeister, mal an Sef gewandt

»Ich grüße Sie, Toot«, schnarrte er mürrisch. »Worum geht’s? Sie sind gesund und munter, wie ich sehe, und das beruhigt mich … Wer ist dieser Kerl?«

»Zöglinge haben ihn im Wald aufgegriffen«, erklärte der Rittmeister. »Ich glaube, er ist verrückt.«

»Ein Simulant ist das, kein Verrückter«, knurrte der Stabsarzt und bediente sich aus der Wasserkaraffe. »Schickt ihn zurück in den Busch. Soll er arbeiten.«

»Er gehört nicht zu uns«, widersprach der Rittmeister. »Und wir wissen nicht, woher er kommt. Vielleicht wurde er von den Entarteten entführt, hat bei ihnen den Verstand verloren und ist jetzt zu uns übergelaufen.«

»Sie haben Recht«, brummte Sogu. »Man muss schon wahnsinnig sein, um zu uns überzulaufen.« Er trat an den Verhafteten heran und wollte nach dessen Augenlidern fassen. Doch der setzte wieder dieses schaurige Grinsen auf und stieß Sogu leicht zurück. »Aber, aber«, brummte der Stabsarzt und packte ihn geschickt am Ohr. »Steh still!«

Mach-sim gehorchte. Der Herr Stabsarzt zog ihm die Lider hoch, befühlte Nacken und Hals, pfiff dabei voller Bewunderung, beugte und streckte die Arme, bückte sich dann ächzend, um auf die Kniescheiben des Burschen zu schlagen, kehrte schließlich zur Karaffe zurück und genehmigte sich noch ein Glas Wasser.

»Sodbrennen«, sagte er.

Gai blickte zu Sef hinüber. Der stand etwas abseits, hatte das Gewehr gegen sein Bein gelehnt und sah betont gleichgültig zur Wand. Der Stabsarzt trank noch ein Glas Wasser und ging dann zu seinem Patienten zurück. Noch einmal tastete er und klopfte ihn ab, kontrollierte seine Zähne und boxte

»So …«, ächzte er, während er das Kabel einrollte. »Stumm ist er wohl auch noch?«

»Nein«, antwortete der Rittmeister. »Er redet, aber in irgendeiner Tiersprache. Uns versteht er nicht. Das hier hat er gezeichnet.«

Der Stabsarzt begutachtete die Bilder. »Aha«, sagte er. »Sehr amüsant …« Dann griff er sich den Stift des Korporals, dazu ein Formular und zeichnete eine Katze, wie Kinder das tun: aus Strichen und Kreisen. »Was sagst du dazu, Freundchen?«, fragte er den Irren und reichte ihm das Blatt.

Ohne eine Sekunde zu zögern, ließ dieser die Feder über das Papier kratzen und neben der Katze entstand ein merkwürdiges, dicht behaartes Tier mit einem furchterregenden, bösen Blick. Obwohl Gai nie so eines gesehen hatte, begriff er: Das war keine Kinderzeichnung. Sie war zu gut, einfach hervorragend. Vom bloßen Hinsehen bekam man Angst! Der Herr Stabsarzt streckte die Hand nach der Feder aus, der Verrückte aber wich zurück und zeichnete noch ein Tier - diesmal ein sehr merkwürdiges, mit faltiger Haut und einem dicken Schwanz anstelle einer Nase.

»Wunderbar«, rief Stabsarzt Sogu und schlug sich auf die Schenkel.

Und der Irre kam in Fahrt: Diesmal wurde es kein Lebewesen, sondern ein Apparat, ähnlich einer großen, durchsichtigen Granate. In die Granate setzte er einen Menschen, tippte auf ihn, pochte sich mit demselben Finger an die Brust und krächzte: »Machch-ssim.«

»Dieses Ding kann er am Fluss gesehen haben«, flüsterte Sef, der hinzugetreten war. »Wir haben so eins in der Nacht gesprengt. Diese Untiere …« Er schüttelte den Kopf.

Der Herr Stabsarzt tat, als bemerkte er ihn erst jetzt. »Ah, der Herr Professor!«, rief er übertrieben freudig. »Ich denke mir schon die ganze Zeit - hier stinkt’s doch irgendwie. Wären Sie wohl so liebenswürdig, Kollege, Ihre weisen Ansichten aus der Ecke dort hinten zu äußern? Ich wäre Ihnen sehr verbunden.«

Waribobu kicherte, und der Herr Rittmeister sagte streng: »Stellen Sie sich neben die Tür, Sef, und vergessen Sie sich nicht.«

»Also gut«, fuhr der Stabsarzt fort. »Und was gedenken Sie mit ihm anzufangen, Toot?«

»Das hängt von Ihrer Diagnose ab, Sogu«, erwiderte der Rittmeister. »Ist er ein Simulant, übergebe ich ihn dem Staatsanwalt - der wird die Sache klären. Ist er allerdings verrückt …«

»Er ist kein Simulant, Toot!«, verkündete der Stabsarzt energisch. »In der Staatsanwaltschaft hat er absolut nichts zu suchen. Aber ich kenne eine Stelle, die sich sehr für ihn interessieren dürfte. Wo ist der Brigadegeneral?«

»Auf der Trasse.«

»Ist auch nicht so wichtig. Diensthabender sind schließlich Sie, nicht wahr, Toot? Also schicken Sie diesen hochinteressanten Burschen an folgende Adresse …« Der Stabsarzt lehnte sich gegen die Barriere und schrieb, das Blatt mit Schultern und Ellenbogen abschirmend, einige Zeilen auf die Rückseite der letzten Zeichnung.

»Und was ist das?«, fragte der Rittmeister.

»Das? Das ist eine Einrichtung, Toot, die uns für den Psychopathen sehr dankbar sein wird. Das garantiere ich Ihnen.«

Der Rittmeister starrte unschlüssig auf das Formular, ging dann in die entlegenste Ecke der Amtsstube und winkte den Herrn Stabsarzt zu sich. Einige Zeit redeten sie miteinander, halblaut, so dass man nur einzelne Wörter von Sogu verstehen konnte: »… Propagandaabteilung … Schicken Sie ihn

»Gut«, stimmte der Herr Rittmeister endlich zu. »Schreiben Sie Ihren Begleitbrief.« Dann rief er: »Korporal Waribobu!«

Waribobu erhob sich.

»Sind die Reisedokumente für den Soldaten Gaal fertig?«

»Jawohl.«

»Ergänzen Sie sie um den unter Bewachung stehenden Machsim. Soldat Gaal!«

Gai knallte die Absätze zusammen und nahm Haltung an. »Hier, Herr Rittmeister!«

»Ehe Sie sich bei Ihrer neuen Dienststelle in der Hauptstadt melden, überstellen Sie den Gefangenen an die auf diesem Zettel vermerkte Adresse. Nach Ausführung des Befehls übergeben Sie den Zettel dem diensthabenden Offizier am neuen Einsatzort. Die Adresse vergessen Sie. Das ist mein letzter Auftrag an Sie, Gaal, und Sie werden ihn erfüllen, wie es sich für einen tüchtigen Gardisten gehört.«

»Zu Befehl!«, rief Gai, von ungeheurer Begeisterung erfasst. Eine heiße Welle benebelnden Rausches überflutete ihn, riss ihn fort und trug ihn schier zum Himmel. Oh, diese süßen, diese unvergesslichen Minuten der Begeisterung; Minuten, die dein ganzes Wesen durchdringen; Minuten, da dir Flügel wachsen; Minuten sanfter Verachtung für alles Grobe, Materielle; Minuten, in denen du danach lechzt, durch einen Befehl mit dem Feuer vereint sein, ins Feuer geschleudert zu werden, Tausenden von Feinden, Millionen von Kugeln entgegen, mitten unter wilde Horden - und das ist nicht alles, es kommt noch besser, das Entzücken brennt und betört … O Feuer! O Flamme! O Zorn! Und da ist es, da … Da erhebt er sich, stark, schön und hochgewachsen, der Stolz der Brigade, unser Korporal Waribobu, eine feurige Fackel, ein Denkmal

Gardisten, voran, alle Feinde bezwungen,

Voran, wider Festungen, in den Augen Glut!

Es funkeln die Orden, im Kampfe errungen, So funkelt noch frisch auf den Schwertern das Blut …

Alle sangen: Der wunderbare Herr Rittmeister Toot, dieses Bild von einem Gardeoffizier, das vorbildlichste aller Vorbilder, für den man mit Freuden, sofort, unter den Klängen dieses Marsches, sein Leben, die Seele und alles gäbe … Der Herr Stabsarzt Sogu, ein barmherziger Bruder, wie er im Buche steht, rau, wie ein Soldat sein muss, und zärtlich wie Mutterhände … Und unser Korporal Waribobu, bis ins Mark einer von uns, dieser alte Haudegen, in Kämpfen ergraute Veteran. Oh, es blitzen die Knöpfe und Tressen an seiner abgetragenen, ehrenvollen Uniformjacke, für ihn zählt nur das Dienen, nichts als der Dienst … Seht ihr uns, Unbekannte Väter? Hebt die Gesichter empor und schaut uns an! Ihr seht doch alles, so seht auch, dass wir hier, im fernen, unheilvollen Grenzgebiet unseres Landes, voller Begeisterung auch unter Qualen für das Glück unserer Heimat zu sterben bereit sind!

Unsre Eisenfäuste bezwingen jede Schranke.

Die Unbekannten Väter bewahrn uns ihre Gunst.

Oh, wie heult der Feind! Doch an Gnade kein Gedanke.

Drum voran, Gardisten! Prächtige Jungs!


Kämpfende Gardisten, des Gesetzes Klingen!

Festen Schritts zerstampfen wir der Feinde Brut!

Wenn wir treu und tüchtig jeden Feind bezwingen,

Sind die Unbekannten Väter frohgemut!

Doch was ist das? Er singt nicht! Steht breitbeinig da, die Hände auf die Barriere gestützt, und wiegt sein idiotisches braunes Gesicht hin und her, seine Blicke wandern, und er grinst die ganze Zeit, bleckt seine Zähne … Wen fletschst du an, du Schuft? Oh, wie gern würde ich hingehen und mit voller Wucht dreinschlagen, die Eisenfaust in diesen abscheulichen weißen Rachen stoßen … Aber nein, das darf ich nicht, es wäre eines Gardesoldaten unwürdig; er ist doch nur ein Psychopath, ein bedauernswerter Krüppel, wahres Glück ist ihm unerreichbar, er ist blind, ein Nichts, ein erbärmlicher menschlicher Torso … Und dieser rothaarige Bandit krümmt sich dagegen in seiner Ecke vor unerträglichem Schmerz … Zuchthäusler, Verbrechervisage - am Schlafittchen pack ich dich, an deinem abscheulichen Bart! Steh auf, Mistkerl! Du hast strammzustehen, wenn die Gardisten ihren Marsch singen! Und dann eins übergezogen, und noch einmal, und auf das dreckige Maul, die gemeinen Augen … Da hast du, und da …

Dann schleuderte Gai den Zögling Sef beiseite und drehte sich, die Hacken zusammenschlagend, zum Herrn Rittmeister. Wie jedes Mal nach so einem Ausbruch begeisterter Erregung klangen ihm die Ohren, die Welt schwankte und verschwamm süß und mild vor seinen Augen.

Korporal Waribobu, die Hand gegen die Brust gepresst und vor lauter Anstrengung blau im Gesicht, hustete schwach. Der Herr Stabsarzt trank gierig Wasser, direkt aus der Karaffe, und nestelte dabei sein Taschentuch hervor. Er war purpurrot und schweißnass im Gesicht. Finster und abwesend stierte der Herr Rittmeister, als versuche er sich an etwas zu erinnern. Und auf der Schwelle wälzte sich, ein schmutziger Haufen karierter Lumpen, der rothaarige Sef. Das Gesicht zerschlagen, schluckte er glucksend Blut und stöhnte schwach durch seine Zähne. Mach-sim lachte nicht mehr. Seine Miene war jetzt starr wie bei einem normalen Menschen, der Mund stand halb offen, und sein Blick war auf Gai gerichtet.

»Soldat Gaal«, krächzte der Herr Rittmeister mit brüchiger Stimme. »Äh … Ich wollte Ihnen etwas sagen … Oder habe ich das schon? … Warten Sie, Sogu, lassen Sie mir wenigstens ein Schlückchen Wasser übrig.«



3

Maxim erwachte mit schwerem Kopf. Im Zimmer war es stickig; man hatte nachts wieder das Fenster geschlossen. Aber auch ein offenes Fenster hätte wenig genützt - die Stadt lag zu nahe, und über ihr hing, wie man am Tage deutlich sah, eine dicke, braune Dunstglocke. Und der Wind trug die widerlichen Abgase von der Stadt hierher; da halfen weder die Entfernung noch die fünfte Etage noch der Park. Jetzt wäre eine Ionendusche recht, dachte Maxim. Und dann nackt in die Natur hinaus - nicht in diesen halb verrotteten Park, sondern in eine irdische Landschaft, irgendwo bei Leningrad, in der Karelischen Landenge. Fünfzehn Kilometer in vollem Tempo um einen See laufen, durch den See schwimmen und dann zwanzig Minuten zwischen den glitschigen Unterwassersteinen umhertauchen, um die Lunge zu trainieren … Er sprang aus dem Bett, öffnete das Fenster, beugte sich in den Nieselregen hinaus, atmete die feuchte Luft tief ein und - musste husten, zu viel Dreck in der Luft, und die Regentropfen hinterließen einen metallischen Geschmack im Mund. Mit heulenden Motoren sausten Autos über die Schnellstraße. Unten vor dem Fenster glänzte das nasse Laub, und auf der hohen gemauerten Einfriedung glitzerten Scherben. Im Park kehrte eine Gestalt in langem, triefendem Umhang das herabgefallene Laub zusammen. Durch den Regenschleier hindurch konnte Maxim die Backsteingebäude einer am Stadtrand gelegenen

Eine bedrückende, kranke Welt, unbehaglich und deprimierend - wie jene Amtsstube, in der Menschen mit hellen Knöpfen und schlechten Zähnen ohne erkennbaren Grund plötzlich zu singen begonnen hatten, ja, sich geradezu heiser schrien, und Gai, dieser angenehme, sympathische Bursche, aus heiterem Himmel über den rotbärtigen Sef herfiel und ihn brutal zusammenschlug. Und der hatte sich nicht einmal zur Wehr gesetzt! Eine unselige Welt. Der radioaktive Fluss, das absurde Eisengefährt, die verpestete Luft und diese schmuddeligen Reisenden in dem klobigen, dreistöckigen Metallkasten auf Rädern, der graublauen Rauch in die Luft ausstieß. Und was war das für eine hässliche Szene im Waggon, als ein paar nach Fuselöl stinkende Grobiane mit ihrem Gegröle und unflätigen Gesten eine ältere Frau zum Weinen brachten? Obwohl der Waggon voller Leute war, trat niemand für sie ein. Alle schauten weg, nur Gai sprang plötzlich auf, blass vor Zorn - oder auch vor Angst, schrie ihnen etwas zu, und sie verschwanden. Eine Welt voller Bosheit, Angst und Aggression. Alle hier waren entweder sehr gereizt oder niedergeschlagen, mal das eine, mal das andere. Selbst Gai, allem Anschein nach ein gutherziger Mensch, geriet mitunter in eine plötzliche, unerklärbare Wut, stritt heftig mit den anderen Passagieren, sah mich böse an und verfiel dann wieder unvermittelt in einen Zustand vollkommener Erschöpfung. Die übrigen Reisenden benahmen sich nicht besser. Stundenlang saßen oder lagen sie friedlich auf den Bänken, unterhielten sich leise, lächelten einander sogar zu. Auf einmal aber fauchte jemand seinen Nachbarn an, der fauchte böse zurück; die Umsitzenden, anstatt sie zu beruhigen, mischten sich ein, und schon hatte der Tumult den ganzen Waggon erfasst: Alle schrien sich gegenseitig an, drohten einander, schubsten sich

Maxim trat vom Fenster zurück, stand noch eine Weile apathisch da und fühlte sich innerlich leer und völlig erschöpft. Aber dann riss er sich zusammen, machte Morgengymnastik, wobei er den klobigen Holztisch als Turngerät benutzte. So schnell geht man vor die Hunde, dachte er besorgt. Noch ein, zwei Tage halte ich das aus, dann muss ich hier weg, laufen, durch die Wälder streifen. Vielleicht setze ich mich ins Gebirge ab, die Berge hier sehen herrlich aus, wild. Allerdings sind sie ziemlich weit weg, in einer Nacht schaffe ich es nicht bis dorthin. Wie nannte Gai sie? Sartak. Ist das nun ein Eigenname oder steht das Wort für Gebirge im Allgemeinen? Egal. Aber was soll ich überhaupt in den Bergen? Zehn Tage bin ich schon hier und noch keinen Schritt weitergekommen.

Maxim zwängte sich in die Duschkabine und rieb sich ein paar Minuten lang prustend ab. Dieser stramme, künstliche Regen war zwar etwas kühler, doch ansonsten genauso widerwärtig wie der Regen vor dem Fenster - hart und kalkig, zudem gechlort und durch rostige Rohre geschleust.

Er trocknete sich mit einem desinfizierten Handtuch ab, zog die Shorts an und kehrte in das kleine Zimmer zurück - unzufrieden mit sich und der ganzen Welt, mit dem trüben Morgen, diesem stickigen Planeten, seiner idiotischen Situation und dem entsetzlich fetten Frühstück, das er gleich würde essen müssen. Dann machte er sein Bett - ein hässliches Metallgestell mit Gitterrost, darauf eine gestreifte Matratze, so widerwärtig und schmierig, dass sie Maxim an einen alten, fettigen Pfannkuchen erinnerte.

Das Frühstück stand bereits auf dem Tisch, es dampfte und stank. Fischi machte schon wieder das Fenster zu.

»Guten Tag«, sagte Maxim zu ihr in der Landessprache. »Nicht nötig, das Fenster.«

»Guten Tag«, erwiderte sie und schob die zahlreichen Riegel vor. »Nötig. Es regnet. Ungesund.«

»Fischi«, sagte Maxim auf Russisch. Eigentlich hieß sie Nolu, doch Maxim hatte sie gleich zu Anfang »Fischi« getauft, wegen ihres Gesichtsausdrucks und ihres unerschütterlichen Gleichmuts.

Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn an. Zum hundertsten Mal schon legte sie den Finger an ihre Nasenspitze und sagte: »Frau!«, danach deutete sie auf Maxim: »Mann!«, dann zeigte sie auf den über der Stuhllehne hängenden sackartigen Kittel, den Maxim hasste, und dozierte: »Kleidung. Muss sein!« Aus welchen Gründen auch immer, sie konnte keinen Mann in kurzen Hosen sehen. Für sie hatte sich ein Mann anzuziehen, und zwar vom Hals bis zu den Füßen.

Während er den Kittel anzog, richtete sie sein Bett, obwohl er ihr jedes Mal sagte, er mache das selbst. Sie schob den Tisch in die Zimmermitte, den Maxim immer wieder an die Wand rückte und drehte entschlossen die Heizung auf, die er später wieder bis zum Anschlag zuschrauben würde. Und alle seine »nicht nötig« zerschellten an ihren nicht weniger stereotypen »muss sein«.

Nachdem er den einzigen, zerbrochenen Knopf seines Kittels geschlossen hatte, setzte er sich an den Tisch und stocherte mit der zweizinkigen Gabel lustlos in seinem Frühstück. Dabei führte er mit Fischi den üblichen Dialog.

»Ich will nicht. Nicht nötig.«

»Muss sein. Essen. Frühstück.«

»Ich will nicht Frühstück. Schmeckt nicht.«

»Frühstück muss sein. Schmeckt gut.«

»Fischi«, sagte Maxim eindringlich, »Sie sind ein mitleidloser Mensch. Kämen Sie zu mir auf die Erde, würde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Ihnen etwas nach Ihrem Geschmack vorzusetzen.«

»Ich verstehe nicht«, sagte sie bedauernd, »was bedeutet ›Fischi‹?«

Während er angewidert auf einem fetten Bissen kaute, griff Maxim nach einem Blatt Papier und skizzierte einen Karpfen von vorne. Sie sah das Bild aufmerksam an und steckte es in die Tasche ihres Kittels. Alle Zeichnungen Maxims nahm sie an sich und trug sie irgendwohin. Maxim zeichnete viel und gern; in seiner Freizeit und nachts, wenn er nicht schlafen konnte, gab es nichts anderes zu tun. Er zeichnete Menschen und Tiere, Tabellen, Diagramme und anatomische Schnittbilder. Professor Megu zeichnete er so, dass er aussah wie ein Nilpferd, und er zeichnete Nilpferde, die aussahen wie Professor Megu. Er entwarf universelle Lincos-Tabellen, schematische Darstellungen von Maschinen und Diagramme historischer Abläufe. Auf diese Weise verschwanden Unmengen von Papier in Fischis Tasche, allerdings ohne jegliche Auswirkung auf die Prozedur der Kontaktaufnahme: Professor Megu, eben das Nilpferd, hatte seine eigenen Methoden, und er hatte nicht vor, sie aufgrund von Zeichnungen, Tabellen und Skizzen zu verändern.

Die universelle Lincos-Tabelle, die man zu Beginn jeder interplanetaren Kommunikation studieren sollte, interessierte

Immerhin stand dem Professor eine ziemlich leistungsstarke Analysetechnik zur Verfügung, eine Mentoskopanlage, auf deren Untersuchungsstuhl Maxim jeden Tag zwischen vierzehn und sechzehn Stunden zubrachte. Nilpferds Mentoskop gestattete es, tief in die Erinnerung einzudringen, und lieferte dabei eine außerordentlich hohe Auflösung. Möglich, dass man mit so einem Gerät auf Sprachkenntnisse verzichten konnte. Nilpferds Vorstellungen von der Nutzung des Mentoskops waren indes recht eigenartig. Er weigerte sich kategorisch, ja, sogar mit einer gewissen Entrüstung, Mentogramme von sich selbst zu demonstrieren, und seine Reaktionen auf Maxims Mentogramme waren ebenso sonderbar. Maxim hatte sich extra ein ganzes Programm von Erinnerungen zurechtgelegt, um den Einheimischen eine möglichst umfassende Vorstellung vom sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben auf der Erde zu vermitteln. Auf Mentogramme dieser Art reagierte Professor Megu jedoch ausgesprochen gelangweilt. Er verzog das Gesicht und brummte vor sich hin, entfernte sich zwischendurch, telefonierte oder setzte sich an den Tisch und nörgelte an seinem Assistenten herum; dabei wiederholte er immer wieder den Ausdruck »Massaraksch«. Sprengte aber Maxim auf dem Bildschirm einen Eisberg in die Luft, der ein Schiff eingeklemmt hatte, zerfetzte er mit dem Scorcher einen Panzerwolf oder entriss einem gigantischen Pseudokraken sein Expresslabor, war Nilpferd total fasziniert und wich keinen Meter vom Mentoskop. Er quietschte vor Vergnügen, schlug sich begeistert auf die

Nilpferds abstruse Reaktionen auf die Mentogramme brachten Maxim auf trübe Gedanken: Vielleicht war dieser Mann gar kein Professor, sondern nur ein Mentoskop-Ingenieur, der das Material für die eigentliche Kontaktkommission aufbereitete. Das Treffen mit den entscheidenden Leuten stünde Maxim also noch bevor, und es wäre völlig ungewiss, wann es stattfände. So gesehen wäre Megu eine recht einfältige, kindische Person - wie ein kleiner Junge, der sich in »Krieg und Frieden« nur für die Schlachtenschilderungen interessierte. Dieser Gedanke aber war demütigend: Immerhin vertrat Maxim die Erde und hatte damit das Anrecht auf einen ernsthafteren Kontaktpartner.

Möglicherweise lag der Planet aber auch am Schnittpunkt ihm unbekannter interstellarer Trassen, und das Auftauchen von Fremdplanetariern war hier etwas Alltägliches. So alltäglich, dass man nicht für jeden einzelnen Neuankömmling hochrangige Spezialkommissionen einberief, sondern einfach die wichtigsten Informationen aus ihm herauszog und es dabei bewenden ließ. Für diese Möglichkeit sprach das routinierte Vorgehen der Leute mit den hellen Knöpfen, die ja offenbar keine Spezialisten waren und den Ankömmling ohne großes Brimborium zu der für ihn zuständigen Stelle geschickt hatten. Oder aber es waren früher einmal Nichthumanoide hier aufgetaucht, die einen so schlimmen Eindruck hinterlassen hatten, dass man nun allen Fremdplanetariern gehöriges Misstrauen entgegenbrachte. In diesem Fall wäre

So oder so sitze ich in der Tinte, dachte Maxim, während er den letzten Bissen hinunterwürgte. Ich muss schnellstens die Sprache lernen, dann werde ich bald wissen, woran ich bin.

»Gut«, lobte Fischi und räumte den Teller ab. »Gehen wir.«

Maxim seufzte und stand auf. Sie traten in den langen, schmutzig blauen Gang hinaus. Rechts und links reihten sich verschlossene Türen aneinander, genau solche wie die zu Maxims Zimmer. Nie hatte er hier jemanden getroffen, zweimal allerdings seltsame, erregte Stimmen durch die Türen gehört. Womöglich saßen dort auch Fremdplanetarier, die darauf warteten, dass über ihr Schicksal entschieden würde?

Mit langen Männerschritten und steif wie ein Stock ging Fischi ihm voraus, und Maxim hatte plötzlich Mitleid mit ihr. Anscheinend gab es hierzulande keine Kosmetikindustrie, und so musste sich die arme Fischi mit ihrem Äußeren abfinden. Mit diesen fettigen, farblosen Haaren, die unter der weißen Haube hervorschauten, den hässlich dürren Beinen und den großen, eckigen Schulterblättern, die sich deutlich unter dem Kittel abzeichneten, konnte sie sich unmöglich wohlfühlen - höchstens bei Fremdplanetariern, und auch da nur bei den nichthumanoiden. Der Assistent des Professors behandelte Fischi von oben herab, und Nilpferd beachtete sie gar nicht und sprach sie nie anders an als mit »Yyyj …« - sicher eine Variante des interkosmischen »Ey …« Maxim fiel ein, dass er sie allerdings auch nicht gerade vorbildlich behandelte, und verspürte Gewissensbisse. Er holte Fischi ein, streichelte ihr über die knochige Schulter und sagte: »Nolu ist prima Mädchen. Gut.«

Als sie ihm nun das hagere Gesicht zuwandte, ähnelte sie mehr denn je einem erstaunten Karpfen von vorn. Sie schob

Verlegen blieb Maxim wieder ein Stück zurück. So erreichten sie das Ende des Flurs. Fischi stieß eine Tür auf und sie betraten einen großen hellen Raum - Maxim nannte ihn das Wartezimmer. Vor den Fenstern hingen geschmacklose Gitter aus dicken Eisenstäben; eine hohe, lederbezogene Tür führte in Nilpferds Labor, und neben der Türe hockten - warum auch immer - zwei groß gewachsene Einheimische, die nicht reagierten, wenn man sie ansprach, und den Eindruck machten, als befänden sie sich in fortwährender Trance.

Wie immer begab sich Fischi sofort zu Nilpferd und ließ Maxim im Wartezimmer zurück. Und wie immer grüßte er die beiden an der Tür, bekam aber - wie immer - keine Antwort. Die Tür zum Labor blieb halb offen; so konnte Maxim die dröhnende, zornige Stimme Professor Megus hören und das helle Knacken des eingeschalteten Mentoskops. Er trat ans Fenster und betrachtete die trübe, regennasse Landschaft, sah die bewaldete, von der Autobahn zerschnittene Ebene, den hohen, im Nebel kaum zu erkennenden Metallturm. Doch bald wurde ihm langweilig. Und ohne abzuwarten, dass man ihn rief, ging er ins Labor.

Hier roch es wie gewohnt angenehm nach Ozon, die Synchronbildschirme flimmerten. Der abgekämpfte, kahlköpfige Assistent mit dem unaussprechlichen Namen, den Maxim immer »Stehlampe« nannte, tat so, als stellte er die Geräte ein; in Wirklichkeit aber lauschte er neugierig. Denn im Labor tobte ein Streit.

An Nilpferds Tisch, in Nilpferds Sessel saß ein unbekannter Mann mit quadratischem, schuppigem Gesicht und roten, verquollenen Augen. Nilpferd stand vor ihm, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt und leicht vornübergebeugt.

Maxim wollte keine Aufmerksamkeit erregen, schlich an seinen Platz und begrüßte halblaut den Assistenten. Stehlampe, ein nervöser und schreckhafter Typ, sprang entsetzt zur Seite und stolperte dabei über ein dickes Kabel. In letzter Sekunde fing Maxim ihn an den Schultern auf, aber Stehlampe verdrehte die Augen und klappte zusammen. Kein Tröpfchen Blut war mehr in seinem Gesicht. Was für ein seltsamer Mensch: Er hatte panische Angst vor Maxim. Schon eilte Fischi herbei, mit einem geöffneten Fläschchen in der Hand, das sie Stehlampe sofort unter die Nase hielt. Er erwachte langsam wieder zum Leben, und bevor er noch einmal das Bewusstsein verlieren konnte, lehnte Maxim ihn an einen Eisenschrank und entfernte sich.

Er ging zu seinem Platz, setzte sich auf den Stuhl der Mentoskopanlage und bemerkte plötzlich, dass der Unbekannte Professor Megu gar nicht mehr zuhörte, sondern ihn, Maxim, musterte. Maxim lächelte freundlich. Der Unbekannte neigte leicht den Kopf. In diesem Augenblick donnerte Nilpferd mit der Faust auf den Tisch und griff nach dem Telefon. Der Unbekannte nutzte die eingetretene Pause für einige Worte, von denen Maxim aber nur »muss sein« und »nicht nötig« verstand, nahm dann ein hellblaues Papier mit grünem Rand vom Tisch und wedelte damit vor Nilpferds Gesicht. Der winkte ärgerlich ab und blaffte gleich darauf ins Telefon. »Muss sein«, »nicht nötig« und das nicht entschlüsselbare »Massaraksch« sprudelten aus seinem Mund, außerdem verstand Maxim das Wort »Fenster«. Alles endete damit, dass Nilpferd wütend den Hörer hinwarf, den Unbekannten noch einige Male anschnauzte, ihn dabei von Kopf bis Fuß mit Spucke bespritzte, völlig außer sich aus dem Zimmer rannte und die Tür hinter sich zuschlug.

Der Fremde wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht ab, stand auf, öffnete eine große flache Schachtel, die auf dem Fensterbrett lag, und holte einige dunkle Kleidungsstücke heraus.

»Kommen Sie her«, wandte er sich an Maxim. »Ziehen Sie das an.«

Maxim blickte zu Fischi hinüber.

»Ziehen Sie es an«, sagte sie. »Muss sein.«

Maxim begriff: Das war die langersehnte Schicksalswende. Endlich hatte irgendwer irgendwo irgendetwas entschieden. Fischis Belehrungen vergessend, warf Maxim an Ort und Stelle den unförmigen Kittel ab und zog sich das neue Gewand an. Es war weder schön noch bequem, aber immerhin genauso wie das des Fremden. Man hätte sogar glauben können, dass dieser seine eigenen Wechselsachen geopfert hatte, denn die Ärmel der Jacke waren zu kurz, die Hose rutschte und hing hinten weit herunter. Den Anwesenden aber schien Maxims neuer Aufzug zu gefallen: Der Unbekannte nickte zufrieden mit dem Kopf; Fischi, deren Gesichtszüge sich in einem milden Lächeln entspannten - soweit das bei einem Karpfen möglich ist -, zupfte Maxims Jacke zurecht, und sogar Stehlampe, der sich hinter dem Pult verschanzt hatte, verzog den Mund zu einem Grinsen.

»Kommen Sie«, sagte der Fremde und ging zu der Tür, durch die Nilpferd soeben davongestürmt war.

»Auf Wiedersehen«, verabschiedete sich Maxim von Fischi. »Danke«, fügte er auf Russisch hinzu.

»Auf Wiedersehen«, erwiderte Fischi. »Maxim gut. Maxim groß. Muss sein.«

Sie war wohl gerührt. Vielleicht aber auch besorgt, weil der Anzug schlecht saß. Maxim winkte der bleichen Stehlampe zu und eilte dem Fremden hinterher.

Sie durchschritten mehrere Räume, in denen große, altertümliche Apparaturen standen und fuhren dann in einem

Das Auto rollte sanft an, schlängelte sich durch die blecherne Herde geparkter Wagen und fuhr über den großen

»Massaraksch!«, fauchte der Rotäugige und schaltete den Motor aus.

Auf der Straße wälzte sich eine endlose Kolonne vollkommen gleich aussehender Militärlaster vorwärts, deren Führerhäuser aus verbogenen Blechen zusammengenietet waren. Über ihren eisernen Aufbauten befanden sich merkwürdige rundliche Gebilde, die in festen Reihen angeordnet waren und metallisch glänzten. Die Lastwagen fuhren langsam und in gebührlichem Abstand, ihre Motoren tuckerten im Takt und verbreiteten bestialischen Gestank.

Maxim inspizierte die Beifahrertür, um herauszufinden, was wozu diente, und schloss das Seitenfenster. Ohne ihn dabei anzusehen, gab sein Nachbar einige Sätze von sich, von denen Maxim kein Wort verstand.

»Ich verstehe nicht«, sagte Maxim.

Der Rotäugige wandte sich verwundert zu ihm und stellte, der Intonation nach zu urteilen, eine Frage. Maxim schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe nicht«, wiederholte er.

Der Rotäugige schien sich noch mehr zu wundern, griff in seine Seitentasche und zog eine flache, mit langen weißen Stäbchen gefüllte Schachtel hervor. Eines davon steckte er sich in den Mund, die übrigen reichte er Maxim. Maxim nahm die Schachtel aus Höflichkeit und betrachtete sie. Es war eine einfache Papierschachtel und ihr Inhalt roch scharf nach getrockneten Pflanzen. Maxim nahm eines der Stäbchen, biss davon ab und kaute. Dann öffnete er hastig das Fenster, lehnte sich vornüber und spuckte aus. Das Zeug war ungenießbar.

»Nicht nötig«, sagte er, als er seinem Begleiter die Schachtel zurückgab. »Schmeckt nicht.«

Der Rotäugige starrte ihn mit offenem Mund an. Das weiße Stäbchen klebte in seinem Mundwinkel. Maxim tippte, den regionalen Gepflogenheiten entsprechend, an seine Nasenspitze und stellte sich vor: »Maxim.«

Der Rotäugige murmelte etwas, hielt plötzlich ein Flämmchen in der Hand, tauchte das Ende des Stäbchens hinein und schon füllte sich der Innenraum des Wagens mit abscheulichem Qualm.

»Massaraksch!«, schrie Maxim empört und stieß die Tür auf. »Nicht nötig!«

Er wusste jetzt, was es für Stäbchen waren. Als er mit Gai hierhergefahren war, hatten fast alle Männer die Luft im Waggon mit solchem Qualm verpestet, dazu jedoch keine weißen Stäbchen benutzt, sondern längliche Holzgegenstände, die an altertümliche Kinderpfeifen erinnerten. Sie inhalierten auf diese Weise eine Droge - zweifellos eine sehr gesundheitsschädliche Angewohnheit. Damals im Zug hatte Maxim sich damit getröstet, dass auch der ihm so sympathische Gai diese Unsitte kategorisch ablehnte.

Der Fremde warf sein Drogenstäbchen aus dem Fenster und wedelte mit der flachen Hand vor seinem Gesicht, was auch immer das bedeuten mochte. Für alle Fälle wedelte auch Maxim mit der Hand vor seinem Gesicht und nannte noch einmal seinen Namen. Wie sich erwies, hieß der Rotäugige Fank, und damit war ihr Gespräch beendet. Etwa fünf Minuten lang tauschten sie freundliche Blicke aus, zeigten abwechselnd auf die Lastwagenkolonne und sagten »Massaraksch!«. Dann war die endlose Kolonne zu Ende und Fank bog in die große Chaussee ein.

Wahrscheinlich hatte er es sehr eilig - zumindest beschleunigte er den Wagen mit dröhnendem Motor, schaltete ein markerschütternd lautes, heulendes Gerät ein und raste wie

Als Nächstes überholten sie - am linken Randstreifen entlangschlingernd - einen breiten roten Kutschwagen, dessen Fahrer einsam und vom Regen völlig durchnässt war; passierten ein hölzernes Fuhrwerk mit eiernden Speichenrädern, das von einem seltsamen, urzeitlichen Tier gezogen wurde; trieben mit ihrer Sirene in Regenmäntel gehüllte Fußgänger in den Straßengraben und flogen unter dem tief hängenden Blätterdach einer ausladenden Allee hindurch. Fank erhöhte weiter die Geschwindigkeit, und immer lauter pfiff der Fahrtwind um die Karosserie. Aufgeschreckt vom Sirenengeheul flüchteten die Fahrzeuge vor ihnen auf den Randstreifen, um den Weg freizumachen. Maxim hatte den Eindruck, dass sich der Wagen nicht für dieses Tempo eignete und auf der Straße zu schwimmen begann; er bekam ein flaues Gefühl im Magen.

Endlich tauchten links und rechts der Straße Häuser auf. Sie hatten die Stadt erreicht, und Fank war gezwungen, langsamer zu fahren. Bei seiner Ankunft in der Stadt vor ein paar Tagen waren Maxim und Gai am Bahnhof in einen öffentlichen, völlig überfüllten Bus umgestiegen. Er war mit dem Kopf an die niedrige Decke gestoßen, ringsum wurde geflucht und geraucht, die Nachbarn traten ihm rücksichtslos auf die Füße und stießen ihm die Ellenbogen in die Seiten. Es war spät am Abend, die Fenster des Busses waren verdreckt und verstaubt. Zudem spiegelte sich in ihnen das trübe Licht der Innenbeleuchtung, und so hatte Maxim nichts von der Stadt zu sehen bekommen. Nun aber bekam er Gelegenheit dazu.

Die Straßen waren unverhältnismäßig eng und verstopft vom dichten Verkehr. Eingezwängt zwischen den unterschiedlichsten Fahrzeugen - Autos, Lastwagen, Kutschen und Fuhrwerken

Doch plötzlich änderte sich etwas auf der Straße. Erregte Rufe erschallten. Ein Mann kletterte auf einen Laternenmast, hängte sich daran und brüllte etwas auf die Straße herab, dabei fuchtelte er wild mit der freien Hand. Die Menschen auf dem Gehweg fingen an zu singen. Sie blieben stehen, rissen sich die Kopfbedeckungen herunter, verdrehten die Augen und sangen, ja, schrien sich die Kehlen heiser. Dabei erhoben sie ihre schmalen Gesichter zu den riesigen bunten Schriftzügen, die quer über der Straße aufgeleuchtet waren.

»Massaraksch …«, zischte Fank und sein Wagen kam ins Schleudern.

Maxim sah ihn an. Fank war totenbleich. Seine Züge hatten sich verzerrt. Kopfschüttelnd nahm er eine Hand vom Lenkrad und starrte auf seine Uhr. »Massaraksch …«, stöhnte er, dann noch einige Worte, von denen Maxim nur »verstehe ich nicht« kannte.

Fank schaute über seine Schulter nach hinten und sein Gesicht verkrampfte sich noch mehr. Maxim blickte sich ebenfalls um, entdeckte jedoch nichts Besonderes, nur einen grellgelben, geschlossenen Kastenwagen.

Das Geschrei auf der Straße war unerträglich geworden, doch Maxim achtete nicht weiter darauf. Fank verlor offensichtlich gerade das Bewusstsein, der Wagen aber fuhr weiter. Dann bremste der Laster vor ihnen, seine Bremslichter leuchteten auf, die beschmierte Rückwand rauschte heran, dann ein abscheuliches Knirschen, ein dumpfer Schlag, und die verbeulte Motorhaube von Fanks Wagen stand senkrecht nach oben.

»Fank!«, rief Maxim. »Fank! Nicht nötig!«

Fank war zusammengesunken, hatte Arme und Kopf auf das ovale Lenkrad gestützt und stöhnte laut. Ringsum kreischende Bremsen und wildes Hupen - der Verkehr kam zum

Neben ihrem Wagen sammelte sich nun eine laut singende Menge. Die Herandrängenden gestikulierten wild mit den Händen, ballten die emporgereckten Fäuste, und ihre nach oben verdrehten, blutunterlaufenen Augen schienen aus den Höhlen hervorzuquellen. Maxim wusste nicht, was er davon zu halten hatte. Regten sich die Leute über den Unfall auf? Gaben sie sich besinnungsloser Freude hin? Oder drohten sie jemandem? Es war sinnlos, ihnen etwas zuzurufen, denn man verstand sein eigenes Wort nicht, und so wandte sich Maxim wieder Fank zu. Der hatte sich inzwischen zurückgelehnt, den Kopf in den Nacken gelegt und massierte sich mit aller Kraft Schläfen, Wangen und Schädel. Auf seinen Lippen schäumte Speichel. Ihn müssen unerträgliche Schmerzen quälen, dachte Maxim, packte Fank fest an den Ellenbogen, spannte den eigenen Körper an und versuchte, den Schmerz zu sich überzuleiten. Er war nicht sicher, ob das bei einem außerirdischen Wesen gelingen würde. Er suchte nach Nervenkontakt, aber er fand keinen. Zudem nahm jetzt Fank seine Hände von den Schläfen und versuchte ihn wegzustoßen, obwohl er dazu viel zu schwach war. Dabei murmelte er weinerlich und verzweifelt vor sich hin. Maxim verstand nur: »Gehen Sie, gehen Sie …« Fank war ganz offensichtlich nicht mehr Herr seiner Sinne.

In dem Moment wurde die Fahrertür aufgerissen, und Maxim sah zwei erhitzte Gesichter unter schwarzen Baretten, die sich in den Innenraum schoben; Reihen metallener Knöpfe blitzten auf … Und im selben Moment packten andere, harte und kräftige Hände Maxim an der Schulter, an Arm und Hals und zerrten ihn von Fank weg aus dem Wagen. Maxim sträubte sich nicht, denn er fühlte sich weder aggressiv noch bösartig behandelt - im Gegenteil. Er wurde abgedrängt in

Maxim wurde immer weiter abgedrängt, bis zu einer Hauswand, wo man ihn rücklings gegen eine nasse Schaufensterscheibe drückte. Er reckte den Hals und beobachtete über die Köpfe hinweg, wie sich der gelbe Kastenwagen in Bewegung setzte. Mit Sirenengeheul und einer Batterie gleißend heller Lichter auf dem Dach bahnte er sich einen Weg durch das Gewimmel von Menschen und Fahrzeugen und verschwand allmählich aus dem Blickfeld.



4

Am späten Abend hatte Maxim genug von dieser Stadt. Er wollte nirgendwo mehr hingehen, sich nichts mehr ansehen. Er hatte Hunger. Den ganzen Tag war er unterwegs gewesen, hatte ungewöhnlich viel zu sehen bekommen und kaum etwas verstanden, durch bloßes Zuhören einige neue Wörter gelernt und sich ein paar der hiesigen Buchstaben durch Schilder und Plakate erschlossen. Fanks Unfall wunderte und verwirrte ihn noch immer, aber er war froh, wieder sein eigener Herr zu sein. Er liebte seine Selbstständigkeit. Sie hatte ihm sehr gefehlt, als er in Nilpferds vierstöckigem Termitenbau

Die Stadt befremdete ihn. Alles schien sich hier auf dem Boden abzuspielen: Der gesamte Verkehr lief entweder auf oder unter der Erde ab; die gigantischen Räume zwischen und über den Häusern aber blieben leer und ungenutzt - verschenkt an Rauch, Regen und Nebel. Die Stadt war grau, farblos und voller Qualm. Sie war monoton - nicht, was ihre Gebäude betraf, es gab auch schöne darunter; nicht wegen des eintönigen Menschengewimmels auf den Straßen, der unendlichen Nässe oder dem nahezu flächendeckend verlegten Asphalt - nein, die Monotonie war überall und allgegenwärtig. Die Stadt wirkte auf Maxim wie ein riesiges Uhrwerk, in dem sich zwar kein Teilchen wiederholt, aber alle einem stets gleichen, monotonen Rhythmus folgen, sich in ihm bewegen, kreisen, ineinandergreifen und sich wieder lösen. Jede Veränderung dieses Rhythmus würde nur eins bedeuten: Störung, Bruch und Stillstand. Straßen mit hohen steinernen Gebäuden wechselten sich ab mit kleinen Gassen, in denen Holzhäuschen standen; die pulsierenden Menschenmassen mit der Leere weitläufiger Plätze; graue, braune und schwarze Anzüge unter eleganten Capes wechselten mit schäbiger Kleidung unter abgewetzten Mänteln - ebenfalls in grau, braun oder schwarz; der gleichmäßige, dumpfe Lärm wechselte sich ab mit plötzlich einsetzendem wilden und triumphierenden Hupen, mit Rufen und Gesang. All das hing irgendwie zusammen, war fest verzahnt und seit langem durch unbekannte Fäden miteinander verwoben und vorgegeben; nichts hatte an sich eine Bedeutung. Alle Leute sahen gleich aus und handelten gleich. Man musste nur achtgeben und verstehen, nach

Manchmal sah er Leute, die sich nicht so verhielten wie die Menge, und diese Leute erregten heftigen Widerwillen in ihm: Sie drängten sich gegen den Strom, torkelten, klammerten sich an Passanten fest, stolperten und fielen. Es ging ein unerwarteter, widerlicher Geruch von ihnen aus; manche blieben einfach der Länge nach an einer Wand im Regen liegen. Die Passanten machten einen Bogen um sie und rührten sie nicht an.

Und Maxim verhielt sich wie alle anderen. Mit der Menge stürzte er in die großen öffentlichen Warenlager, die sich unter schmutzigen Glasdächern befanden, und mit der Menge verließ er sie wieder. Wie alle übrigen fuhr er unter die Erde, um sich in überfüllte, laut polternde Elektrozüge zu zwängen, fuhr irgendwohin und wurde dann wieder vom Menschenstrom bis an die Oberfläche getrieben, auf andere Straßen, die aber den vorherigen aufs Haar glichen. Wenn sich die Menschenströme teilten, entschied sich Maxim für einen und ließ sich mittragen.

Dann kam der Abend. Die Straßenlampen erglommen, aber sie hingen hoch und leuchteten nur schwach; ihr Schein verlor sich nahezu in der Dunkelheit. Auf den großen Straßen wurde es plötzlich noch enger. Maxim floh vor dem Gedränge und fand sich schließlich in einer halbleeren, halbdunklen Nebenstraße wieder. Hier nun wurde ihm klar, dass er für diesen Tag genug hatte, und er blieb stehen.

Er sah drei gold schimmernde Kugeln, eine flackernde blaue Schrift aus Leuchtstoffröhren und eine Tür, die in ein Souterrain führte. Er wusste schon, dass drei goldfarbene Kugeln auf einen Ort hinwiesen, an dem es zu essen gab. Also ging er die ausgetretenen Stufen hinunter und blickte von der Schwelle aus in einen kleinen, niedrigen Raum: Es standen etwa zehn leere Tischchen darin und ein gläsernes, vom Licht angestrahltes Büfett voller Flaschen mit bunt schimmernden Flüssigkeiten; auf dem Boden lag eine dicke Schicht sauberer Sägespäne. Die Gaststätte war fast leer. Nur hinter dem vernickelten Tresen neben dem Büfett hantierte langsam und gemächlich eine alte Frau, die einen weißen Kittel mit hochgekrempelten Ärmeln trug. Und etwas weiter, an einem runden Tischchen, saß ein kleiner, kräftiger Mann mit blassem, quadratischem Gesicht und dickem schwarzem Schnurrbart.

Hier war niemand, der schrie, umhereilte oder den Rauch von Drogen ausstieß. Maxim trat also ein, wählte einen Tisch in einer Nische, abseits vom Büfett, und setzte sich. Die Frau hinter der Theke blickte in seine Richtung und rief etwas mit lauter, heiserer Stimme. Der Schnurrbärtige beäugte Maxim ebenfalls, wandte sich dann ab, griff nach dem vor ihm stehenden hohen Glas, nippte an seinem durchsichtigen Inhalt und stellte es wieder vor sich hin. Irgendwo schlug eine Tür, und ein junges, hübsches Mädchen in weißer Spitzenschürze kam herein, blickte sich suchend um, trat zu Maxims Tisch, stützte ihre Finger darauf und schaute dann über seinen Kopf hinweg. Sie hatte reine, zarte Haut, einen leichten Flaum über der Oberlippe und wunderschöne graue Augen. Maxim tippte sich höflich mit dem Finger an die Nasenspitze und sagte: »Maxim.«

Nun warf ihm das Mädchen einen verwunderten Blick zu, so als hätte sie ihn gerade erst bemerkt. Sie war so hübsch, dass Maxim sie unwillkürlich anlächeln musste. Da begann auch sie zu lächeln, wies auf ihre Nase und erwiderte: »Rada.«

»Gut«, sagte Maxim. »Abendessen.«

Sie nickte und stellte eine Frage. Maxim nickte auch, für alle Fälle. Lächelnd blickte er ihr nach - sie war leicht und schlank. Es tat wohl, daran erinnert zu werden, dass auch auf dieser Welt schöne Menschen lebten.

Die alte Frau gab einen langen mürrischen Satz von sich und bückte sich hinter dem Tresen nieder. Maxim fiel auf, dass Tresen, Schranken und Absperrungen hier anscheinend sehr beliebt waren, denn es gab sie überall, so als läge immer eine gewisse Aggression in der Luft, als müsse man sich schützen … In dem Augenblick bemerkte er, dass ihn der Schnurrbärtige unfreundlich, ja, geradezu feindselig anstarrte. Genau betrachtet, war er Maxim ohnehin unangenehm; er erinnerte ihn an einen Wolf und an einen Affen zugleich. Aber das war nicht von Belang, wen interessierte das …

Rada kam zurück und brachte einen Teller mit dampfendem Fleisch- und Gemüsebrei, dazu einen mächtigen Glaskrug voll schäumender Flüssigkeit.

»Gut«, sagte Maxim und tippte einladend auf den Stuhl neben sich. Er wünschte sich sehr, dass Rada sich neben ihn setzte und ihm etwas erzählte, während er aß. Er würde ihrer Stimme lauschen, und sie würde spüren, wie sehr sie ihm gefiel und wie wohl ihm neben ihr war.

Aber sie lächelte nur und schüttelte den Kopf. Sie sagte etwas - Maxim verstand das Wort »sitzen« - und kehrte zurück zum Tresen. Schade, dachte Maxim. Er griff nach der zweizinkigen Gabel, aß etwas von seinem Brei und versuchte, aus den dreißig ihm geläufigen Wörtern einen Satz zu bilden, aus dem Freundschaft sprach, Sympathie und der Wunsch nach Gesellschaft.

Rada lehnte, die Arme verschränkt, rücklings am Tresen und sah zu Maxim herüber. Trafen sich ihre Blicke, lächelten sie einander zu. Aber Radas Lächeln wurde von Mal zu Mal verhaltener und unsicherer. Maxim wunderte sich; in ihm

Der Schnurrbärtige sagte etwas, und Rada ging an seinen Tisch. Zwischen den beiden entspann sich in gedämpftem Ton ein Gespräch, das Maxim unangenehm und böse vorkam. Gerade jetzt aber belästigte ihn eine Fliege, dunkelblau, riesengroß und frech. Sie fiel von allen Seiten über ihn her, summte und brummte, als mache sie ihm eine Liebeserklärung. Sie war hartnäckig und geschwätzig und wollte nicht wegfliegen, sondern hier sein, bei ihm, auf seinem Teller, darauf herumspazieren, naschen … Es endete damit, dass Maxim eine falsche Bewegung machte und die Fliege in das Bier stürzte. Angewidert stellte er das Glas auf einen anderen Tisch und aß dann sein Ragout zu Ende. Rada trat zu ihm und fragte etwas. Sie lächelte nicht mehr und blickte zur Seite.

»Ja«, antwortete Maxim für alle Fälle. »Rada ist gut.«

Sie sah ihn erschrocken an, ging zur Theke und brachte ihm auf ihrem Tablett ein Gläschen mit einem braunen Getränk.

»Schmeckt«, sagte Maxim und sah sie besorgt und zärtlich zugleich an. »Was ist schlecht? Rada, setzen Sie sich hier. Sprechen. Sprechen muss sein. Fortgehen nicht nötig.«

Auf diese sorgfältig durchdachte Rede reagierte das Mädchen unerwartet betroffen. Es schien, als finge sie gleich an zu weinen, ihre Lippen zitterten; dann flüsterte sie ein paar Worte und lief aus dem Raum. Die alte Frau hinter der Theke schimpfte entrüstet. Irgendetwas mache ich falsch, dachte Maxim beunruhigt. Aber er konnte sich nicht vorstellen, was.

Der Schnurrbärtige knurrte mürrisch, leise, doch eindeutig unfreundlich, leerte in einem Zug sein Glas, holte einen dicken, schwarzpolierten Spazierstock unter dem Tisch hervor, stand auf und kam langsam heran. Er setzte sich, legte den Stock auf Maxims Tisch und stieß, ohne sein Gegenüber anzusehen, aber zweifellos an seine Adresse, eine mit vielen »Massaraksch« gespickte Rede aus - sie schien Maxim ebenso schwarz und poliert wie sein scheußlicher Stock; in ihr schwangen Drohung, Provokation und Feindschaft. Aber alles, was er sagte, wirkte seltsam phrasenhaft, wohl durch die Gleichgültigkeit in seiner Intonation, die Gleichgültigkeit auf seinem Gesicht und die Leere in seinen farblosen, glasigen Augen.

»Ich verstehe nicht«, sagte Maxim verärgert.

Da wandte ihm der Schnauzbärtige langsam sein bleiches Gesicht zu. Er schien durch Maxim hindurchzublicken und stellte ihm dann langsam und akzentuiert eine Frage. Im nächsten Augenblick aber zückte er aus seinem Stock ein langes blitzendes Messer mit schmaler Klinge. Maxim war sprachlos und wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. So nahm er nur die Gabel vom Tisch und drehte sie hin und her. Die Wirkung auf den Angreifer war verblüffend: Ohne aufzustehen, wich der Mann zurück, warf dabei seinen Stuhl um und fiel mit vorgestreckter Waffe zu Boden, dabei sträubte sich sein Bart ein wenig und entblößte die großen gelben Zähne. Die Frau hinter der Theke kreischte ohrenbetäubend. Maxim fuhr hoch. Der Schnauzbart stand auf einmal dicht neben ihm, und im selben Augenblick erschien Rada. Sie

Blass, mit bebenden Lippen, hob Rada den Stuhl auf. Sie tupfte mit einer Serviette die vergossene braune Flüssigkeit vom Tisch, räumte das schmutzige Geschirr ab, brachte es weg, kehrte zurück und sagte etwas. Maxim antwortete »ja«, doch es nützte nichts. Rada wiederholte ihren Satz, mit Verärgerung in der Stimme, aber Maxim spürte, dass sie weniger verärgert als vielmehr erschrocken war. »Nein«, entgegnete er nun. Da begann die Frau hinter der Theke ein fürchterliches Gezeter, ihre Wangen zitterten, so dass er schließlich bekannte: »Ich verstehe nicht.«

Unablässig keifend, rannte die Frau hinterm Schanktisch hervor, stürzte zu Maxim, baute sich vor ihm auf, stemmte die Arme in die Hüften und schrie ihn an; dann zerrte sie an seinen Sachen und durchwühlte seine Taschen. Maxim war so überrascht, dass er sich nicht einmal wehrte. Er bekräftigte nur immer wieder »nicht nötig« und sah ratlos zu Rada. Die alte Frau stieß ihn vor die Brust und hastete, als habe sie gerade eine endgültige, schreckliche Entscheidung getroffen, erneut hinter den Tresen und griff nach dem Telefonhörer.

»Fank!«, rief Maxim eindringlich. »Fank schlecht. Gehen. Schlecht.«

Daraufhin entspannte sich die Situation unverhofft. Rada sagte etwas zu der Frau, die warf den Hörer auf, murmelte noch etwas vor sich hin und beruhigte sich. Rada führte Maxim an seinen Platz zurück, brachte ihm ein neues Glas Bier und setzte sich zu seiner großen Freude neben ihn. Einige Zeit schien alles gut - Maxim war erleichtert, Rada stellte Fragen, Maxim antwortete, zufrieden strahlend, »ich

»Gehen wir«, sagte sie, und Maxim sprang auf.

Doch so schnell ließ man sie hier nicht weg. Die Frau fing erneut an zu zetern. Wieder missfiel ihr das eine, und verlangte sie das andere. Jetzt fuchtelte sie mit einem Stift und einem Blatt Papier herum. Einige Zeit stritt Rada mit ihr, dann aber trat das andere Mädchen hinzu und gab der Frau Recht. Anscheinend handelte es sich um eine Selbstverständlichkeit, denn Rada gab schließlich nach. Dann wandten sich alle drei an Maxim; erst der Reihe nach, dann im Chor stellten sie ihm ein und dieselbe Frage. Maxim verstand kein Wort und breitete hilflos die Arme aus. Da hieß Rada die anderen still sein, tippte ihm leicht gegen die Brust und fragte: »Mak Sim?«

»Maxim«, berichtigte er.

»Mak? Sim?«

»Maxim. Mak - nicht nötig. Sim - nicht nötig. Maxim.«

Das Mädchen führte den Zeigefinger an ihre Nase und erläuterte: »Rada Gaal. Maxim …«

Endlich begriff er. Sie wollten seinen Familiennamen wissen. Das war merkwürdig, weit mehr jedoch wunderte ihn etwas anderes.

»Gaal?«, fragte er. »Gai Gaal?«

Stille. Die drei schienen höchst erstaunt. »Gai Gaal«, wiederholte Maxim erfreut. »Gai guter Mensch.«

Es wurde laut. Alle redeten gleichzeitig. Rada zupfte Maxim am Anzug und wollte etwas wissen. Offenbar interessierte sie, woher er Gai kannte. »Gai«, »Gai«, »Gai«, blitzte es immer wieder aus dem Strom der unverständlichen Worte. Die Frage nach Maxims Familiennamen war vergessen.

»Massaraksch!«, platzte schließlich die alte Frau heraus und lachte, und die Mädchen lachten auch. Rada reichte Maxim ihre karierte Tasche, hakte sich bei ihm ein, und sie gingen hinaus in den Regen.

Sie liefen bis zum Ende der schlecht beleuchteten Straße und bogen dann in eine noch dunklere ein. Sie war schmutzig und mit großen Kopfsteinen ungleichmäßig gepflastert, rechts und links duckten sich windschiefe Holzhäuser. Sie schwenkten noch ein zweites und drittes Mal in leere, krumme Gässchen ein. Niemand begegnete ihnen, aber hinter den Gardinen, in den trüben Fenstern leuchteten bunte Lampenschirme, ab und zu drang gedämpfte Musik heran, sangen unangenehme Stimmen im Chor.

Anfangs plauderte Rada lebhaft, wobei sie oft den Namen Gai wiederholte und Maxim jedes Mal bekräftigte, Gai sei gut. Auf Russisch ergänzte er freilich, man dürfe Menschen nicht ins Gesicht schlagen; das sei furchtbar, und er, Maxim, verstehe das nicht. In dem Maße aber, wie die Gassen enger, dunkler und morastiger wurden, stockte der Redefluss des Mädchens zusehends. Zuweilen blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit. Erst glaubte Maxim, sie suche einen möglichst trockenen Pfad. Bald aber begriff er, dass Rada nach etwas anderem Ausschau hielt, denn Pfützen bemerkte sie gar nicht. Er musste sie immer wieder sacht zu den festen Stellen ziehen, und wo es keine gab, fasste er sie unter die Arme und trug sie über den Schlamm. Ihr gefiel das, sie hielt ganz still, vergaß das Vergnügen jedoch schnell wieder - denn Rada hatte Angst.

Je weiter sie sich von der Gaststätte entfernten, desto mehr fürchtete sie sich. Zunächst versuchte Maxim noch, Nervenkontakt

Rada blieb stehen.

Sie krallte ihre Finger in Maxims Hand und flüsterte ihm, immer wieder stockend, etwas zu. Sie war voller Angst: ihretund mehr noch seinetwegen. Wispernd zog sie ihn rückwärts, und er fügte sich, weil er dachte, es würde ihr guttun.

Dann aber begriff er, dass sie aus blinder Verzweiflung handelte, und blieb stehen.

»Kommen Sie«, redete er ihr sanft zu. »Kommen Sie, Rada. Nicht schlecht. Gut.«

Sie gehorchte wie ein Kind, und er führte sie, obwohl er den Weg nicht kannte. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie die durchnässten Gestalten unter dem Torbogen fürchtete. Das wunderte ihn, denn die Männer wirkten weder furchterregend noch gefährlich - normale Hiesige, die sich wegen des Regens zusammengekauert hatten und vor Feuchtigkeit und Kälte zitterten. Erst standen sie zu zweit da, dann kamen noch

Maxim ging die leere Straße entlang, vorbei an den gelben Häusern, direkt auf die vier Gestalten zu. Rada schmiegte sich immer enger an ihn, und Maxim legte den Arm um ihre Schultern. Womöglich irrte er und sie zitterte nicht aus Angst, sondern vor Kälte? Die Männer hatten wirklich nichts Gefährliches an sich. Er ging an ihnen vorüber - an gekrümmten, frierenden Gestalten mit langen Gesichtern, die ihre Hände tief in die Taschen gesteckt hatten und mit den Füßen aufstampften, um sich zu wärmen. Bedauernswerte Menschen, vom Rauschmittel vergiftet, und sie schienen ihn und Rada zu übersehen, ja, hoben nicht einmal die Augen. Dabei standen sie so nahe, dass er ihren ungesunden, unregelmäßigen Atem hörten konnte. Maxim hoffte, wenigstens jetzt, unter dem Bogen, würde sich Rada beruhigen - aber da, plötzlich, tauchten aus dem Nichts vier weitere Männer auf und versperrten ihnen den Weg. Sie waren ebenso nass und bemitleidenswert, doch einer von ihnen hielt einen langen, dicken Spazierstock in der Hand, und Maxim erkannte ihn.

Unter dem alten Torbogen schaukelte eine Glühlampe im Wind, Schimmel bedeckte die rissigen Wände, der Zement unter den Füßen war geborsten und schmutzig geworden von Abertausenden Schuhen und Autoreifen. Nun hallten von hinten schwere Schritte. Maxim drehte sich um - die vier anderen kamen näher. Keuchend spuckten sie im Gehen ihre ekligen Stäbchen aus, nahmen nicht einmal die Hände aus den Taschen. Rada schrie gepresst auf, ließ Maxim los - und plötzlich wurde es eng. Er fand sich an die Wand gedrängt, dicht umschlossen von den Kerlen; sie hielten immer noch die Hände in den Taschen und berührten ihn nicht, sahen ihn auch nicht an, sondern standen nur da und ließen ihm keine Möglichkeit sich zu bewegen. Über sie hinweg sah er, dass

Das war so schockierend, so brutal, dass Maxim sein Gefühl für die Realität verlor. Etwas in seiner Wahrnehmung verschob sich. Die Männer verschwanden, und nur zwei Menschen blieben: er und Rada.

Anstelle der anderen Männer sah Maxim unheimliche, gefährliche Tiere durch den Schlamm stampfen, plump und furchterregend. Die Stadt existierte nicht mehr, ebenso wenig das Tor oder die Glühbirne. Maxim sah sich am Rande unzugänglicher Berge, im Land Oz-auf-Pandora, und da war eine Höhle - eine gemeine Falle nackter, gefleckter Affen. In die Höhle schien gleichgültig ein blasser gelber Mond, und es hieß kämpfen, kämpfen, um zu überleben … Und Maxim kämpfte, wie seinerzeit auf der Pandora.

Gehorsam bremste die Zeit ihren Lauf. Die Sekunden dehnten sich endlos, und in jeder einzelnen konnte Maxim gleichzeitig Schläge austeilen, sich bewegen und alle Gegner im Blick behalten. Sie waren schwerfällig, diese Affen, an Wild gewöhnt. Bestimmt merkten sie noch nicht, dass sie sich den Falschen ausgesucht hatten, dass es für sie jetzt am besten wäre davonzulaufen. Stattdessen versuchten sie zu kämpfen …

Maxim ergriff eins der Tiere am Unterkiefer, bog mit einem Ruck den gefügigen Kopf nach hinten und schlug seine Handkante gegen den blassen, pulsierenden Hals, wandte sich gleich darauf dem nächsten Tier zu, packte es, bog den Kopf nach hinten und schlug zu, und wieder: packte, bog, schlug - in einer Wolke stinkenden Raubtieratems, in der widerhallenden Stille der Höhle, dem gelben Halbdunkel, in dem ihm die Augen tränten. Und die schmutzigen gebogenen Krallen rissen an seinem Nacken und glitten ab, gelbe Hauer hieben ihm

Maxim senkte die zittrigen Arme und schöpfte Atem. Eine seiner Schultern blutete. Rada nahm seine Hand und fuhr damit schluchzend über ihr feuchtes Gesicht. Er blickte um sich: Ihm zu Füßen regte sich der schnauzbärtige Anführer mühsam. Die übrigen Männer lagen wie Säcke auf dem schmutzigen Zement. Mechanisch zählte er sie - sechs, einschließlich des Schnauzbarts - und überlegte kurz, dass es zweien geglückt war zu entwischen. Radas Berührung tat ihm unsagbar wohl. Und er wusste, er hatte gehandelt, wie er hatte handeln müssen, getan, was er hatte tun müssen - kein bisschen mehr, kein bisschen weniger. Die Entkommenen ließ er ziehen, obwohl er sie hätte einholen können - noch jetzt hörte er ihre panischen Schritte am Ende des Tunnels. Von denen, die am Boden lagen, würden einige sterben, andere waren bereits tot. Und jetzt wusste er: Sie waren Menschen, nicht Affen oder Panzerwölfe, wenn auch ihr Atem stank, ihre Berührungen schmutzig, die Absichten viehisch und abscheulich waren. Trotz allem empfand er Bedauern und fühlte Verlust. Ihm war, als habe er gerade etwas von seiner Reinheit verloren, ein entscheidendes Stückchen Seele des früheren Maxim. Er wusste, sein früheres Ich war jetzt für immer

»Gehen wir, Maxim«, sagte Rada leise.

Und er folgte ihr gehorsam.




»Er ist Ihnen entwischt …«


Kurz gesagt, er ist Ihnen entwischt.

Ich konnte nichts machen … Sie wissen selbst, wie das ist …

Zum Teufel, Fank! Sie sollten überhaupt nichts »machen« - es hätte genügt, einen Chauffeur mitzunehmen.

Ich weiß, ich bin schuld. Aber wer konnte erwarten …

Lassen wir das. Was haben Sie unternommen?

Gleich nach meiner Freilassung telefonierte ich mit Megu. Der weiß nichts. Falls er dorthin zurückkehren sollte, gibt mir Megu sofort Bescheid. Außerdem lasse ich alle Irrenanstalten überwachen. Er kommt nicht weit, das ist einfach nicht möglich, er fällt zu sehr auf.

Weiter.

Ich habe meine Leute bei der Polizei alarmiert. Ihnen befohlen, sämtliche Fälle von Ordnungsverstößen zu untersuchen, bis hin zu Verkehrsdelikten. Er hat keine Papiere. Also habe ich angewiesen, mich über alle Festgenommenen ohne Papiere zu informieren. Ihm bleibt keine Chance zu verschwinden, selbst wenn er es möchte. Meines Erachtens ist es eine Sache von zwei, drei Tagen … Ganz einfach.

Einfach … Was konnte einfacher sein, als ins Auto zu steigen, zum Fernsehzentrum zu fahren und den Mann herzubringen. Aber nicht einmal das haben Sie fertiggebracht.

Verzeihung. Aber so ein Zusammentreffen von Umständen …

Lassen wir die Umstände, hatte ich gesagt. Wirkt er denn tatsächlich wie ein Verrückter?

Schwer zu sagen … Eher wie ein Wilder. Wie ein sorgfältig gewaschener, gepflegter Bergbewohner. Doch ich kann mir auch eine Situation vorstellen, in der er wie geistesgestört wirkt. Und dann dieses ewige, idiotische Lächeln und das dumme Lallen anstelle normaler Sprache. Er ist überhaupt irgendwie blöde.

Verstehe. Ich billige Ihre Maßnahmen. Folgendes noch, Fank: Setzen Sie sich mit den Illegalen in Verbindung.

Was?

Wenn Sie ihn in den nächsten Tagen nicht finden, stößt er auf jeden Fall zum Untergrund.

Ich begreife nicht, was ein Wilder dort soll.

Im Untergrund sind viele Wilde. Und stellen Sie keine dummen Fragen, sondern tun Sie, was ich sage. Entkommt er Ihnen noch einmal, sind Sie entlassen.

Ein zweites Mal passiert mir das nicht.

Freut mich für Sie … Was noch?

Ein interessantes Gerücht über »Wasserblase«.

Über »Wasserblase«? Was denn?

Verzeihung, Wanderer … Wenn Sie erlauben, flüstere ich Ihnen das lieber ins Ohr …

ZWEITER TEIL Gardist


5

Rittmeister Tschatschu beendete seine Unterweisung und befahl: »Korporal Gaal, Sie bleiben. Die Übrigen können gehn.«

Nachdem die Kommandanten im Gänsemarsch und dicht auf Vordermann den Raum verlassen hatten, sah der Rittmeister Gai eine Zeit lang an. Dabei wippte er mit seinem Stuhl und pfiff das alte Soldatenlied »Gib Ruhe, Alte«. Rittmeister Tschatschu war ganz anders als Rittmeister Toot: untersetzt, kahlköpfig, mit sehr dunklem Teint und wesentlich älter als Toot. In jüngerer Vergangenheit hatte er als Kriegsoffizier an acht Seekonflikten teilgenommen; er trug das Flammende Kreuz und drei Medaillen »Für Kampfeseifer«. Geradezu legendär wurde sein Zweikampf mit einem weißen Submarine: Sein Panzer hatte einen Volltreffer erhalten und war in Brand geraten; Tschatschu aber hatte weitergeschossen, bis er wegen seiner furchtbaren Verbrennungen das Bewusstsein verlor. Man erzählte sich, an seinem Körper gebe es keine heile Stelle mehr - überall fremde, verpflanzte Haut, und an der linken Hand fehlten ihm drei Finger. Er war bis zur Grobheit aufrichtig, eben ein richtiger Kämpfer. Im Gegensatz zu dem reservierten Rittmeister Toot erachtete er es auch nie für nötig, seine Stimmung zu verbergen - weder vor Untergebenen noch vor seinen Vorgesetzten. War er fröhlich,

Gai blickte Rittmeister Tschatschu vorschriftsmäßig in die Augen. Bei dem Gedanken, dass er diesen vortrefflichen Menschen verärgert haben sollte, verzweifelte er fast. Hastig besann er sich auf seine Verfehlungen und die seiner Gardisten. Doch er konnte sich an nichts erinnern, das nicht längst erledigt gewesen wäre - weggewischt mit einer Geste der verstümmelten Hand und Tschatschus heiserem, griesgrämigem »Na schön, was soll’s, ist eben die Garde …«.

Der Rittmeister hörte auf zu pfeifen, wippte auch nicht mehr mit dem Stuhl.

»Ich mag weder Geschwätz noch Geschreibsel, Korporal«, sagte er. »Entweder du empfiehlst den Anwärter Sim, oder du empfiehlst ihn nicht. Was denn nun?«

»Jawohl, Herr Rittmeister. Ich empfehle ihn«, antwortete Gai eilfertig. »Aber …«

»Ohne ›aber‹, Korporal! Empfiehlst du ihn oder nicht?«

»Jawohl. Ich empfehle ihn.«

»Wie soll ich dann diese beiden Schreiben verstehen?« Der Rittmeister zog rasch zwei zusammengelegte Blätter aus seiner Brusttasche, hielt sie mit der versehrten Hand fest und faltete sie mit der unversehrten auf dem Tisch auseinander. »Hier steht: ›Ich empfehle genannten Mak Sim als ergeben und fähig …‹, das ist klar, ›zur Bestätigung im hohen Rang eines Anwärters der Kämpfenden Garde.‹ Und jetzt dein zweiter Schrieb, Korporal: ›In Verbindung mit Obengesagtem betrachte ich es als meine Pflicht, die Aufmerksamkeit der Truppenführung auf die Notwendigkeit einer sorgfältigen Überprüfung des genannten Anwärters der Kämpfenden Garde, M. Sim, zu lenken.‹ Massaraksch! Was willst du eigentlich, Korporal?«

»Herr Rittmeister«, antwortete Gai erregt, »ich bin in einer sehr schwierigen Situation! Ich kenne den Anwärter Sim als

»Ja, ja«, unterbrach ihn Tschatschu ungeduldig. »Kristallklar, ohne Wenn und Aber ergeben, bis zum letzten Tropfen, mit ganzer Seele … Machen wir’s kurz, Korporal: Du nimmst jetzt eins dieser Blätter und zerreißt es. Du musst schließlich eine Meinung haben! Und ich kann nicht mit beiden zum Brigadegeneral gehen. Entweder ja oder nein. Wir sind in der Garde, nicht an der Philosophischen Fakultät, Korporal! Zwei Minuten Bedenkzeit.«

Der Herr Rittmeister holte einen dicken Aktenordner aus dem Regal und warf ihn angewidert vor sich auf den Tisch. Gai blickte bedrückt auf die Uhr; es fiel ihm sehr schwer, seine Wahl zu treffen. Vor der Truppenführung zu verheimlichen, dass man einen Anwärter nur ungenügend kannte, war unehrenhaft und eines Gardisten unwürdig, selbst im Falle Maxims. Andererseits war es aber ebenso unehrenhaft und eines Gardisten unwürdig, sich vor der Verantwortung zu drücken und die Entscheidung auf den Herrn Rittmeister abzuwälzen, der den Anwärter nur zweimal gesehen hatte, und auch das nur im Glied … Also gut, noch einmal. Was sprach für Maxim: Er hat sich die Aufgaben der Garde mit großem Eifer zu Herzen genommen, welche da sind: die Kriegsfolgen zu beseitigen und die Agenten eines potenziellen Aggressors zu vernichten. Er hat nicht nur die Musterung im Departement für soziale Gesundheit einwandfrei durchlaufen, sondern auch die Überprüfung bestanden, zu der ihn Rittmeister Toot und Stabsarzt Sogu in irgendeine geheime Institution geschickt hatten. (Allerdings konnte man sich da bloß auf Maxims eigene Aussage verlassen; die entsprechenden Papiere hatte er verloren. Doch ließe man ihn sonst frei herumlaufen?)

»Nun, Korporal?«, ließ sich der Rittmeister vernehmen.

»Jawohl, Herr Rittmeister!«, erwiderte Gai. In seiner Stimme klang Resignation. »Gestatten …«

Er nahm den Bericht mit der Bitte, Maxim zu überprüfen, und zerriss ihn langsam.

»R-richtig entschieden«, schnarrte der Herr Rittmeister. »So macht man das bei der Garde! Papiere, Tinte, Überprüfungen - unsere Prüfung ist der Kampf. Wenn wir in unsere Maschinen steigen und in die Zone der Atomfallen hineinrollen, sehen wir sofort, wer zu uns gehört und wer nicht.«

»Jawohl«, stimmte Gai zu, allerdings ohne rechte Überzeugung. Er verstand den alten Haudegen, wusste aber auch, dass der Kriegsveteran und Held von acht Seekonflikten hier irrte: Natürlich, Kampf war Kampf - aber auch die Reinheit zählte. Bei Maxim jedoch war das ohne Bedeutung, denn gerade er war ja rein.

»Massaraksch!«, rief der Herr Rittmeister. »Das Gesundheitsdepartement hat ihn durchgelassen; alles Übrige ist unsere Sache.« Nach diesem rätselhaften Satz blickte er Gai böse

Gai schlug die Hacken zusammen und ging hinaus. Hinter der Tür erlaubte er sich ein Lächeln: Nun hatte der alte Haudegen die Verantwortung doch noch auf sich genommen. Gutes war eben immer gut! Jetzt konnte er Maxim reinen Gewissens als seinen Freund betrachten. Mak Sim. Sein richtiger Familienname war unaussprechlich. Entweder hatte er ihn im Fieber erfunden, oder er entstammte wirklich diesem Bergvolk. Wie hieß gleich dessen alter Herrscher? Saremtschitschakbeschmussaraji … Gai betrat den Platz und hielt Ausschau nach seiner Gruppe. Der unermüdliche Pandi hetzte die Jungs gerade durch das oberste Fenster einer zweistöckigen Hausattrappe. Sie waren schweißnass, und das war schlecht, denn bis zum Beginn der Operation hatten sie nur noch eine Stunde.

»Einstellen!«, schrie Gai noch von fern.

»Einstellen!«, brüllte auch Pandi. »Antreten!«

Die Gruppe formierte sich schnell. Pandi befahl: »Stillgestanden!« Im Exerzierschritt marschierte er zu Gai und meldete: »Herr Korporal, Truppe befasst mit dem Überwinden der Sturmbahn.«

»Treten Sie ins Glied!«, sagte Gai und versuchte, einen Ausdruck von Missbilligung in seine Intonation zu legen, wie das Korporal Serembesch hervorragend konnte. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, ging er vor der Truppe auf und ab und musterte die bekannten Gesichter.

Ihre Augen waren grau, hell- oder dunkelblau und leicht aufgerissen; darin spiegelte sich die Bereitschaft, jedweden Befehl auszuführen. Die Truppe achtete auf jede seiner Bewegungen

Gai trat zu Maxim und schloss den obersten Knopf seines Overalls. Dann stellte er sich auf Zehenspitzen und richtete ihm das Barett. Gut. Aber nun zog Mak, obwohl im Glied, schon wieder die Mundwinkel bis zu den Ohren! Na meinetwegen, dachte Gai. Wird er sich noch abgewöhnen. Er ist ja erst Anwärter, dazu der Neueste in der Gruppe …

Um den Anschein von Gerechtigkeit zu wahren, richtete Gai, obwohl unnötig, die Gürtelschnalle bei Maxims Nachbarn. Dann ging er drei Schritte zurück und kommandierte: »Rührt euch!« Die Männer stellten das rechte Bein ein wenig vor und legten die Arme auf den Rücken.

»Gardisten«, begann Gai, »wir rücken heute im Kompanieverband zu einer regulären Operation aus, um ein Agentennest des potenziellen Gegners auszuheben. Die Operation verläuft nach Plan dreiunddreißig. Die Herren Soldaten werden sich zweifelsohne ihrer in diesem Plan festgelegten Aufgaben erinnern. Den Herren Anwärtern aber, die vergessen, ihre Knöpfe zu schließen, rufe ich das Wesentliche noch einmal ins Gedächtnis: Die Gruppe bekommt einen Hauseingang zugewiesen. Sie teilt sich in vier Trupps: in drei Dreiertrupps und die äußere Reserve. Die Dreiertrupps, bestehend aus je zwei Soldaten und einem Anwärter, kontrollieren der

Alle Männer nahmen ihren Platz ein. Niemand irrte sich dabei, niemand verhedderte seine Maschinenpistole, rutschte aus oder verlor das Barett, wie das bei früheren Übungen passiert war. Rechts außen ragte Maxim aus der Reserve hervor und grinste wieder breit. Jäh kam Gai der Gedanke: Womöglich betrachtete Mak alles nur als unterhaltsames Spiel? Doch nein, so war es natürlich nicht - weil es so nicht sein konnte. Schuld an diesem Eindruck war bloß das idiotische Lächeln.

»Nicht übel«, brummte Gai, Korporal Serembesch nachahmend, und blickte wohlwollend Pandi an: ein Mordskerl, der Alte, hatte die Jungs gedrillt. »Achtung!«, rief er. »Gruppe - antreten!«

Wieder kurze Bewegung, herrlich exakt und makellos, und die Gruppe stand in Linie. Gai war erstaunt, mehr noch, er war begeistert. Einfach hervorragend! Er legte die Hände wieder auf den Rücken und schritt auf und ab.

»Gardisten!«, sagte er. »Wir sind die Stütze und die einzige Hoffnung des Staates in dieser schweren Zeit. Nur auf uns können sich die Unbekannten Väter bei ihrem großen Werk verlassen - bedenkenlos verlassen!« Das war die Wahrheit, die reine Wahrheit, und in ihr lagen Zauber und Hingabe. »Das Chaos, das der verbrecherische Krieg hervorgebracht

»Nein!«, schrie es aus zwölf Kehlen.

»Stillgestanden! Dreißig Minuten Pause und Überprüfen der Ausrüstung! Wegtreten!«

Die Gruppe zerstreute sich; zu zweit und zu dritt gingen die Gardisten zur Kaserne. Gai folgte ihnen langsam. Er verspürte eine angenehme innere Leere. In einiger Entfernung wartete Maxim und lächelte schon im Voraus.

»Los, spielen wir ›Wörter‹«, schlug er vor.

Gai stöhnte innerlich auf. Zurechtweisen sollte er Mak, zurechtweisen! Wo gab es denn so etwas: ein Anwärter, ein unerfahrener Milchbart, der eine halbe Stunde vor Operationsbeginn seinen Korporal mit Vertraulichkeiten belästigte!

»Dazu ist jetzt nicht die Zeit«, sagte er so kühl wie möglich.

»Bist du aufgeregt?«, fragte Maxim mitfühlend.

Gai blieb stehen und verdrehte die Augen. Was sollte er nur tun! Es war einfach unmöglich, diesem gutmütigen, naiven Riesenkerl böse zu sein, ihn zurechtzuweisen, zumal er der Retter seiner Schwester war und - wozu es verheimlichen - ihn beim Exerzieren in jeder Hinsicht weit übertraf … Gai sah sich um und sagte: »Hör zu, Mak, du bringst mich in eine unangenehme Situation. Hier in der Kaserne bin ich dein Vorgesetzter. Ich befehle, du hast dich unterzuordnen. Ich hab dir hundertmal …«

»Aber ich will mich ja unterordnen, befiehl doch!«, unterbrach ihn Maxim. »Ich weiß, was Disziplin heißt. Befiehl!«

»Das tat ich bereits. Befass dich mit deiner Ausrüstung.«

»Entschuldige, Gai, so hast du es vorhin nicht ausgedrückt. Du hast Pause und Herrichten der Ausrüstung befohlen. Schon vergessen? Meine Ausrüstung ist fertig, und jetzt mache ich Pause. Komm, spielen wir, ich weiß ein tolles Wort.«

»Mak, versteh doch: Ein Untergebener darf sich erstens nur in der vorgeschriebenen Form an seinen Vorgesetzten wenden und zweitens ausschließlich in dienstlicher Angelegenheit.«

»Ja, ich weiß, Paragraf neun. Aber jetzt ist kein Dienst. Wir machen Pause.«

»Wie kommst du darauf, dass ich Pause mache?«, fragte Gai. Sie standen hinter der Attrappe eines Bretterzauns mit Stacheldraht, und Gott sei Dank sah sie hier niemand. Keiner würde bemerken, dass sich dieser Riese mit der Schulter gegen den Zaun fläzte und drauf und dran war, seinen Korporal am Knopf zu fassen. »Ich erhole mich einzig und allein zu Hause, aber selbst dort gestatte ich keinem Untergebenen … Hör zu, lass meinen Knopf los und mach deinen zu …«

Maxim kam der Aufforderung nach und sagte: »Im Dienst ist es so, zu Hause anders. Warum?«

»Komm, reden wir nicht davon. Ich habe es satt, dir immer wieder dasselbe zu erklären. Übrigens, wann lässt du endlich dieses Lächeln im Glied?«

»Laut Vorschrift ist es nicht verboten«, entgegnete Maxim prompt. »Und was ›immer wieder dasselbe erklären‹ betrifft, so Folgendes: Sei nicht böse, Gai, ich weiß, du bist kein Sager … kein Sprecher …«

»Kein was?«

»Du bist kein Mensch, der gut reden kann.«

»Kein Redner?«

»Redner … Ja, kein Redner. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Du hast heute zu uns gesprochen, und deine Worte waren gut und richtig. Aber: Als du mir zu Hause von den Aufgaben der Garde und der Situation im Land erzählt hast, war das viel interessanter, es war ganz deins, deine Worte. Hier sagst du zum siebten Mal dasselbe, und nie mit eigenen Worten. Es klingt sehr richtig, sehr gleichmäßig, aber auch sehr langweilig … Was meinst du? Bist du mir böse?«

Gai war nicht böse. Das heißt, eine kleine Nadel piekte schon in seine Eigenliebe: Bis zu diesem Moment hatte er geglaubt, ebenso gut und überzeugend zu reden wie Korporal Serembesch oder gar der Herr Rittmeister Toot. Genau genommen hatten sich die beiden im Laufe der drei Jahre auch ständig wiederholt. Doch war das nicht verwunderlich und erst recht keine Schande, denn in den drei Jahren hatte sich nichts entscheidend verändert - weder bei der inneren noch bei der äußeren Lage.

»Und wo steht in der Vorschrift«, fragte Gai ironisch lächelnd, »dass ein Untergebener seinen Vorgesetzten kritisieren soll?«

»Dort steht das Gegenteil«, bekannte Maxim seufzend. »Meiner Meinung nach ist das falsch. Wenn du dich mit Ballistik befasst, befolgst du doch auch meinen Rat, und irrst du dich in den Berechnungen, akzeptierst du meine Bemerkungen.«

»Ja, zu Hause«, sagte Gai eindringlich. »Da darf man alles.«

»Und wenn du uns beim Schießen falsche Zieleinstellungen vorgibst? Die Windkorrektur verkehrt berechnest? Was dann?«

»Dann darfst du es trotzdem auf keinen Fall«, entgegnete Gai bestimmt.

»Wir sollen falsch schießen?«, wunderte sich Maxim.

»Man schießt wie befohlen.« Gais Stimme klang streng. »Was du in diesen zehn Minuten gesagt hast, Mak, reicht für fünfzig Tage Bau. Verstehst du?«

»Nein … Und im Kampf?«

»Was - ›im Kampf‹?«

»Wenn du da eine falsche Zieleinstellung vorgibst. Was dann?«

»Hm«, brummte Gai, der noch nie im Ernstfall kommandiert hatte. Ihm fiel plötzlich wieder ein, wie sich Korporal Bachtu bei einer kriegerischen Aufklärung in der Karte geirrt und die ganze Truppe ins konzentrierte Feuer der Nachbarkompanie gejagt hatte. Bachtu selbst und die Hälfte der Jungs waren dabei ums Leben gekommen; dabei hatten sie alle gewusst, dass er einen Fehler machte, aber keiner hatte daran gedacht, ihn zu berichtigen.

Mein Gott, das wäre uns nie in den Sinn gekommen, begriff Gai auf einmal. Maxim dagegen versteht das nicht. Nicht nur, dass er es nicht versteht - denn da gibt es nichts zu verstehen -, er akzeptiert es einfach nicht! Wie oft schon hat er Dinge, die an sich völlig selbstverständlich sind, abgelehnt, und man konnte ihn in keiner Weise überzeugen. Im Gegenteil, man begann selbst zu zweifeln, der Kopf drehte sich wie ein Kreisel, war ganz wirr … Nein, er ist kein gewöhnlicher Mensch. Er ist besonders und ohne Beispiel. In einem Monat hat er die Sprache gelernt, Lesen und Schreiben in zwei Tagen. An zwei weiteren Tagen hat er all meine Bücher gelesen. Die Mathematik und Mechanik kennt er besser als die Herren

In letzter Zeit richtete der Alte seine Monologe am Tisch ausschließlich an Maxim. Mehr noch: Einige Male ließ er sogar durchblicken, Maxim sei in diesen Zeiten wohl der einzige Mensch, der echtes Interesse und die rechten Fähigkeiten für fossile Tiere mitbringe. Onkelchen Kaan zeichnete ein paar scheußliche Tiere auf ein Blatt Papier, Maxim zeichnete noch scheußlichere hinzu, und dann stritten sie, welches davon älter sei, welches von welchem abstamme und warum es sich so und nicht anders verhalte, Fachbücher aus Onkelchens Bibliothek wurden gewälzt … Es kam vor, dass Maxim den Alten nicht mehr zu Wort kommen ließ, auch, dass Onkel Kaan sich heiser schrie, die Zeichnungen in Fetzen riss und mit den Füßen darauf trampelte, oder er schimpfte Maxim einen Ignoranten, schlimmer noch als der Dummkopf Schapschu. Dann aber fuhr er sich plötzlich mit beiden Händen durch den spärlichen grauen Haarkranz und murmelte mit erstauntem Lächeln: »Kühn, Massaraksch, sehr kühn. Sie haben Phantasie, junger Mann!« Bei alldem verstanden Gai und Rada keine Silbe von dem, worum es ging. Besonders haftete Gai ein Abend im Gedächtnis, an dem Maxim behauptete, einige der vorzeitlichen Geschöpfe seien auf den Hinterbeinen gegangen. Der Alte war sprachlos: Maxims These löste auf sehr einleuchtende und natürliche Weise eine alte, noch aus der Vorkriegszeit stammende, wissenschaftliche Streitfrage.

In Mathematik kennt er sich aus, ebenso in Mechanik, die Militärchemie beherrscht er ausgezeichnet, die Paläontologie - wer weiß heutzutage davon überhaupt noch etwas? - ist ihm gleichermaßen vertraut. Er malt wie ein Maler, singt wie ein Sänger. Und gutherzig ist er, übernatürlich gutherzig. Er allein gegen acht Banditen, und er hat sie geschlagen, mit bloßen Händen. Ein anderer an seiner Stelle würde einherstolzieren

»Warum bist du so still?«, fragte Maxim. »Machst du dir meinetwegen Gedanken?«

Gai wandte den Blick ab. »Folgendes«, sagte er. »Ich bitte dich um eins: Lass dir im Interesse der Disziplin niemals anmerken, dass du mehr weißt als ich. Achte auf die anderen, und benimm dich wie sie.«

»Ich werde mir Mühe geben«, antwortete Maxim bedrückt. Er dachte ein wenig nach und fügte hinzu: »Schwer, sich daran zu gewöhnen. Bei uns ist alles anders.«

»Was macht deine Verletzung?«, fragte Gai, um das Thema zu wechseln.

»Meine Wunden heilen schnell«, murmelte Maxim zerstreut. »Hör mal, Gai, lass uns nach der Operation gleich nach Hause fahren! Was schaust du denn so? Ich habe große Sehnsucht nach Rada. Du nicht? Wir bringen die Jungs zur Kaserne und brausen dann mit dem Lastwagen hin. Und dem Chauffeur geben wir frei.«

Gai holte tief Luft, aber da schallte aus dem silbrigen Lautsprecherkasten fast direkt über ihren Köpfen die Stimme des diensthabenden Brigadeoffiziers: »Sechste Kompanie, auf dem Platz antreten! Achtung, sechste Kompanie …«

Gai raunzte nur: »Anwärter Sim! Gespräch beenden! Marsch zum Antreten!«

Maxim stürmte los, Gai aber hielt ihn noch am Lauf seiner Maschinenpistole zurück. »Ich bitte dich«, sagte er. »Wie alle! Benimm dich wie alle! Heute beobachtet dich der Herr Rittmeister persönlich.«

Drei Minuten später stand die Kompanie. Es wurde schon dunkel, und über dem Platz flammten die Strahler auf. Hinter den Männern brummten monoton die Lastwagenmotoren, und wie stets vor einer Operation schritt der Herr Brigadegeneral in Begleitung des Herrn Rittmeisters Tschatschu schweigend die Reihen ab und musterte jeden einzelnen Gardisten. Er schritt ruhig, hatte die Augen zusammengekniffen und die Mundwinkel freundlich nach oben gezogen. Ohne ein Wort zu sagen, nickte er dann dem Herrn Rittmeister zu und entfernte sich. Rittmeister Tschatschu hinkte, die verkrüppelte Hand schwenkend, vor die Truppe und wandte den Männern sein dunkles, nahezu schwarzes Gesicht zu.

»Gardisten!«, krächzte er mit einer Stimme, die Gai eine Gänsehaut verursachte. »Vor uns liegt eine wichtige Transaktion. Wir werden sie zuverlässig ausführen. Achtung … Kompanie! Aufsitzen! Korporal Gaal, zu mir!«

Nachdem Gai herbeigelaufen war und Haltung angenommen hatte, sagte der Rittmeister leise: »Ihre Gruppe hat einen Spezialauftrag. Am Ankunftsort den Wagen nicht verlassen! Das Kommando übernehme ich.«



6

Die Stoßdämpfer des Lastwagens waren erbärmlich, was man auf dem holprigen Kopfsteinpflaster umso mehr zu spüren bekam. Die Maschinenpistole zwischen den Knien, hielt Anwärter Maxim Korporal Gaal vorsorglich am Gurtkoppel fest: Einem so um seine Autorität besorgten Korporal stünde es schließlich schlecht zu Gesicht, über die Bänke zu segeln wie etwa der Anwärter Soisa. Gai hatte nichts gegen die Fürsorge seines Untergebenen, vielleicht aber hatte er sie auch gar nicht bemerkt. Seit dem Gespräch mit dem Rittmeister schien er sehr besorgt zu sein, und Maxim war froh, dass sie laut Einsatzplan zusammenblieben und er - falls nötig - würde helfen können.

Die Lastwagen passierten das Zentraltheater und fuhren dann einige Zeit am Ufer des stinkenden Kanals »Neues Leben« entlang, bogen in die lange, zu dieser Stunde leere Fabrikstraße und bewegten sich kreuz und quer durch die gewundenen Gässchen einer Arbeitervorstadt, in der Maxim noch nie gewesen war. Dabei hatte es ihn schon in viele Ecken der Stadt verschlagen, und er kannte sich dort mittlerweile gut aus. Überhaupt hatte er in diesen etwas mehr als vierzig Tagen eine Menge gelernt und konnte endlich seine Lage einschätzen: Sie war weit weniger tröstlich und sehr viel merkwürdiger, als er bislang geglaubt hatte.

Er hockte noch über der Lesefibel, als Gai unbedingt von ihm wissen wollte, woher er, Maxim, käme. Zeichnungen halfen

Am übernächsten Abend sahen Maxim und Rada fern. Gezeigt wurde etwas Seltsames: eine Art Film ohne Anfang und Ende, ohne fassbares Sujet, aber mit einer Unmenge von Mitwirkenden - ziemlich abstoßenden Personen, die, vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, brutal handelten. Rada schaute interessiert zu, schrie manchmal auf, brach sogar zweimal in Tränen aus und packte Maxim am Ärmel. Ihm jedoch wurde das Spektakel schnell langweilig, und er wollte bei den Klängen der tragisch-düstren Musik schon einnicken, als plötzlich etwas Vertrautes über den Bildschirm flimmerte. Er rieb sich die Augen. Tatsächlich, es war die Pandora; ein finsterer Tachorg wälzte sich durch den Dschungel, knickte die Bäume um, und auf einmal stand Oleg da, eine Lockpfeife in der Hand, ernst und konzentriert; langsam wich er zurück, stolperte über ein Knorrholz und flog rückwärts in den Sumpf. Verwundert begriff Maxim, dass er da sein eigenes Mentogramm sah, dann noch eins und ein weiteres, ohne Kommentar, stets von ein und derselben Musik untermalt. Dann verschwand die Pandora und überließ die Szene einem mageren Blinden, der an einer dicht mit Spinnweben bedeckten Zimmerdecke entlangkroch. »Was ist das?«, fragte Maxim und wies auf den Bildschirm. »Eine Sendung«, antwortete

Zehn Tage später sah sich Maxim indirekt in seinem Zweifel bestätigt: Gai standen die Aufnahmeprüfungen für das Fernstudium zum ersten Offiziersrang bevor, und er war dabei, Mathematik und Mechanik zu lernen. Die Schemata und Formeln des Grundkurses in Ballistik befremdeten Maxim. Als er nachfragte, verstand ihn Gai zunächst nicht, erläuterte ihm aber dann, nachsichtig lächelnd, die Kosmografie seiner Welt. Wie sich herausstellte, war die bewohnte Insel weder Kugel noch Geoid: Sie war überhaupt kein Planet.

Die bewohnte Insel war die Welt schlechthin - und zwar die einzige im Universum. Unter den Füßen ihrer Bewohner lag eine feste Oberfläche und über ihren Köpfen dehnte sich eine riesenhafte, wenn auch endliche Gasblase aus. Diese war von unbekannter Zusammensetzung und ihre physikalischen Eigenschaften noch nicht völlig geklärt. Der Theorie zufolge nahm die Dichte des Gases zum Mittelpunkt der Blase hin rapide zu, so dass dort geheimnisvolle Prozesse stattfanden, die ihrerseits die regelmäßigen Helligkeitsschwankungen des sogenannten Weltlichts bedingten, insbesondere den Tag-Nacht-Rhythmus. Außer diesen schnell aufeinanderfolgenden Zustandswandlungen erlebte das Weltlicht auch längerfristige, die den Wechsel der Jahreszeiten und entsprechende Temperaturschwankungen nach sich zogen. Die Schwerkraft wirkte vom Mittelpunkt der Weltsphäre, das heißt der Blase, senkrecht auf ihre Oberfläche. Kurzum: Die bewohnte Insel lag auf der inneren Oberfläche einer gewaltigen Blase und diese wiederum befand sich in einer endlosen festen Substanz, die den Rest des Universums ausfüllte.

Überrascht und verwirrt, wollte Maxim zu streiten beginnen, merkte aber bald, dass Gai und er einander noch weniger verstanden als ein überzeugter Kopernikaner und ein leidenschaftlicher Anhänger des Ptolemäus. Nein, das Wesentliche waren die erstaunlichen atmosphärischen Eigenschaften dieses Planeten. Erstens hob die ungewöhnlich starke Lichtbrechung den Horizont an und suggerierte damit den hiesigen Menschen, ihr Planet sei weder flach noch rund, sondern hohl. »Stellen Sie sich ans Meeresufer«, empfahlen die Schulbücher, »und verfolgen Sie die Bewegung eines Schiffs, das den Hafen verlässt. Zuerst wird es wie auf einer Ebene schwimmen, aber je weiter es sich entfernt, desto höher steigt es empor, bis es in der dunstigen Atmosphäre verschwindet, die den übrigen Teil der Welt verhüllt.« Diese Atmosphäre war unwahrscheinlich dicht und phosphoreszierte Tag und Nacht,

Maxim saß also in einer riesigen Falle. Um als Fremdplanetarier wirklichen Kontakt herstellen zu können, musste er die in Jahrtausenden gewachsenen, nun selbstverständlichen Vorstellungen buchstäblich umkrempeln. Dem verbreiteten Fluch »Massaraksch« nach zu urteilen, war das bereits versucht worden, denn er bedeutete wörtlich: »die Welt mit der Innenseite nach außen«. Außerdem hatte Gai eine weitere, rein mathematische Theorie erwähnt, die die Welt anders betrachtete: Sie war in alter Zeit entstanden und wurde anfangs von der offiziellen Religion verfolgt, hatte auch ihre Märtyrer. Durch die Arbeiten genialer Wissenschaftler erhielt sie im vergangenen Jahrhundert ihre mathematische Begründung, blieb aber weiterhin abstrakt - bis sie, wie die meisten Theorien, doch noch praktische Anwendung fand - in jüngster Vergangenheit, bei der Entwicklung der ballistischen Raketen.

Mit diesen neuen Erkenntnissen überdachte Maxim noch einmal seine Lage und begriff, dass er all die Zeit als verrückt gegolten hatte und seine Mentogramme nicht ohne Grund in die schizoide »Wunderreise« aufgenommen worden waren. Wollte er nicht zu Nilpferd zurück, musste er von seiner außerplanetarischen Herkunft einstweilen schweigen. Das aber bedeutete, dass ihm die bewohnte Insel nicht würde helfen können und er nur auf sich selbst vertrauen durfte; den Nullsender musste er auf unbestimmte Zeit vertagen. Er würde hier für lange - Massaraksch! -, womöglich für immer festsitzen. Diese Hoffnungslosigkeit machte ihn schier verrückt. Aber dann riss er sich doch wieder zusammen und zwang sich, logisch zu denken. Mutter machte gewiss eine schwere Zeit durch; es musste schrecklich für sie sein - und allein das

Aber Gai wusste wenig darüber. Er kannte die Geschichte seines Landes nur bruchstückhaft und besaß keinerlei Fachliteratur. Und auch in der Stadtbibliothek war nichts zu finden. Man konnte aber davon auszugehen, dass das Land, in dem sich Maxim befand, vor dem letzten, verheerenden Krieg bedeutend größer gewesen war. Anscheinend war es von einer kleinen Gruppe unfähiger Finanzleute und degenerierter Aristokraten regiert worden, die das Volk in die Armut getrieben hatten. Der Staatsapparat war durch Korruption zersetzt worden, und am Ende hatten sich die Machthaber auf einen großen, von den Nachbarn provozierten Kolonialkrieg eingelassen. Der Krieg erfasste den ganzen Planeten. Millionen und Abermillionen kamen ums Leben, Tausende von Städten wurden zerstört, kleinere Staaten hinweggefegt. Nicht nur im Land, sondern auf dem ganzen Planeten brach das Chaos aus. Es begannen Zeiten von bitterem Hunger und Epidemien. Es kam zu Volksaufständen, die die Unterdrücker mit Atomwaffen beantworteten. Das Land und die Welt näherten sich dem Untergang. Gerettet wurde die Situation von den Unbekannten Vätern - dem Anschein nach eine anonyme Gruppe von jungen Generalstabsoffizieren. Mit nur zwei Divisionen von Soldaten, die nicht im atomaren Fleischwolf landen wollten, hatten sie geputscht und die Macht übernommen. Das war

Die außenpolitische Lage des Landes war weiterhin äußerst prekär. Im Norden grenzte es an zwei große Staaten - Honti und Pandea, ehemalige Provinzen oder Kolonien. Über die Staaten selbst war nichts bekannt, doch jeder wusste, dass sie die aggressivsten Absichten hatten, unaufhörlich Diversanten und Spione entsandten, Grenzzwischenfälle provozierten und den Krieg vorbereiteten. Dessen Ziel war Gai unklar; er hatte sich auch nie Gedanken darüber gemacht. Im Norden waren

Hinter den Grenzwäldern im Süden lag, ausgebrannt von Kernexplosionen, eine Wüste. Sie erstreckte sich über die Fläche einer ganzen Reihe ehemaliger Staaten, die im Krieg eine zentrale Rolle gespielt hatten. Was auf diesen Millionen von Quadratkilometern vor sich ging, war unbekannt, und es interessierte auch niemanden. Denn man hatte ununterbrochen und alle Hände voll mit den Angriffen großer Horden halbwilder Missgeburten zu tun, von denen es in den Wäldern hinter dem Fluss Blaue Schlange nur so wimmelte. Insofern hielt man die Südgrenze für die problematischste. Das Leben dort war hart, und genau dort setzte man die Elite der Kämpfenden Garde ein. Gai hatte drei Jahre im Süden gedient und erzählte haarsträubende Geschichten darüber.

Es war möglich, dass sich südlich der radioaktiv verseuchten Wüste - sozusagen am anderen Ende des einzigen Kontinents des Saraksch - weitere Staaten erhalten hatten, aber sie ließen nichts von sich hören. Dafür brachte sich das sogenannte Inselimperium immer wieder unangenehm in Erinnerung. Es erstreckte sich auf zwei große Archipele in der Antarktiszone, und der Weltozean gehörte ihm. Seine mächtige Flotte von Unterwasserschiffen kreuzte im radioaktiven Meer des Planeten - schneeweiß gestrichen und ausgerüstet mit modernster Vernichtungstechnik. An Bord waren Banden speziell abgerichteter Kopfjäger. Diese weißen Submarines, unheimlich wie Phantome, hielten die Uferbezirke in Atem. Sie schossen ohne jeden Anlass und setzten Landetrupps von Piraten ab. Auch dieser weißen Bedrohung bot die Garde kühn die Stirn.

Das Bild von Chaos und Zerstörung erschütterte Maxim: Der Planet war ein Grab, in dem normales, sinnvolles Leben kaum noch möglich war und jeden Moment ganz versiegen konnte.

Er hörte Radas grauenvolle und dennoch ruhig vorgetragene Schilderungen, zum Beispiel, wie ihre Mutter vom Tod des Vaters erfahren hatte: Als Arzt und Epidemiologe hatte er sich geweigert, ein von der Pest heimgesuchtes Gebiet zu verlassen. Der Staat aber verfügte damals weder über die Zeit noch über die Möglichkeiten, die Pest ordnungsgemäß zu bekämpfen, und so hatte man einfach eine Bombe auf den verseuchten Bezirk geworfen. Rada erzählte, wie vor etwa zehn Jahren Aufständische auf die Hauptstadt vorgerückt waren. Während der Evakuierung wurde ihre Großmutter väterlicherseits beim Ansturm auf einen Zug von der Menge totgetrampelt. Zehn Tage später starb ihr kleiner Bruder an der Ruhr. Um den kleinen Gai und den völlig hilflosen Onkel Kaan zu ernähren, hatte sie, Rada, nach dem Tod der Mutter achtzehn Stunden täglich als Geschirrwäscherin in einer Versandstation, später als Putzfrau in einem Luxuslokal für Spekulanten gearbeitet. Später nahm sie an »Frauenrennen mit Wettmöglichkeit« teil, saß kurze Zeit im Gefängnis, verlor ihre Arbeit und musste ein paar Monate betteln.

Von Onkelchen Kaan, einem seinerzeit bedeutenden Wissenschaftler, hörte Maxim, wie man im ersten Kriegsjahr die Akademie der Wissenschaften aufgelöst und ein Bataillon der Akademie Seiner Kaiserlichen Majestät zusammengestellt hatte. Wie in den Hungerzeiten der Begründer der Evolutionstheorie den Verstand verloren und sich erhängt hatte; wie sie aus dem von Tapeten abgekratzten Leim Suppe kochten; wie eine ausgehungerte Menschenmenge im Zoologischen Museum alles kurz und klein geschlagen und die in Spiritus aufbewahrten Präparate verschlungen hatte …

Und er hörte Gais unbedarfte Erzählungen über den Bau der Raketenabwehrtürme an der südlichen Grenze: darüber, wie des Nachts die Menschenfresser zu den Bauplätzen schleichen und Zöglingen ebenso wie wachhabende Gardisten entführen; wie im Dunkeln, lautlos wie Gespenster, Vampire

Maxim hörte gebannt zu - wie bei einem schrecklichen, unwirklichen Märchen, das umso schrecklicher war, weil es der Realität entsprang, vieles immer noch existierte und sich dies Schreckliche, Unwirkliche jederzeit wiederholen konnte. Lächerlich, nahezu beschämend schienen ihm seine eigenen Misshelligkeiten, winzig wurden auf einmal seine Probleme - der Kontakt, der Nullsender, das Händeringen, was hatte das schon zu bedeuten …

Der Lastwagen bog scharf in eine schmale Straße mit hohen Wohnblöcken ein, und Pandi sagte: »Da wären wir.« Die Passanten auf dem Gehweg wichen hastig zurück und schützten ihr Gesicht vor dem Scheinwerferlicht. Der LKW bremste. Über dem Fahrerhaus schob sich nun eine lange Teleskopantenne heraus.

»Ab-sitz-en!«, brüllten die Führer der zweiten und dritten Gruppe gleichzeitig, und die Gardisten sprangen über die Bordwände.

»Erste Gruppe sitzen bleiben!«, kommandierte Gai.

Pandi und Maxim, die schon aufgesprungen waren, setzten sich wieder.

»In Dreiertrupps antreten!«, schrien die Kommandanten auf dem Gehweg. »Zweite Gruppe, vorwärts!« - »Dritte Gruppe, mir nach!«

Beschlagene Stiefel polterten über den Asphalt. Eine Frau kreischte begeistert: »Seht hierher! Die Kämpfende Garde!«

»Es lebe die Kämpfende Garde!«

»Hurra!«, brüllten die bleichen Menschen und pressten sich an die Gemäuer, um nicht zu stören. Es schien, als hätten sie auf die Gardisten gewartet und freuten sich nun über sie wie über ihre besten Freunde.

Rechts von Maxim saß Anwärter Soisa, lang wie eine Bohnenstange, mit weißblondem Flaum auf den Wangen - fast noch ein Kind. Er drückte Maxim seinen spitzen Ellenbogen in die Seite und zwinkerte ihm fröhlich zu. Maxim lächelte zurück. Die Gruppen waren schon in den Hauseingängen verschwunden, nun standen nur noch die Kommandanten davor: bestimmt, zuverlässig, mit unbewegten Gesichtern unter den schief aufs Ohr gezogenen Baretten. Die Tür der Fahrerkabine schlug zu, und Rittmeister Tschatschus Stimme schnarrte: »Erste Gruppe, absitzen! Antreten!«

Maxim schwang sich über die Bordwand. Als die Gruppe stand, wollte Gai Meldung erstatten, aber der Rittmeister hielt ihn mit einer Handbewegung zurück, trat dicht vor die Reihe und befahl: »Helme auf!«

Die Soldaten schienen nur auf dieses Kommando gewartet zu haben; die Anwärter dagegen waren noch nicht fertig. Der Rittmeister wartete, klopfte ungeduldig mit dem Absatz, bis auch Soisa seinen Kinnriemen gerichtet hatte. Dann kommandierte er: »Rechtsum! Im Laufschritt vorwärts!« Er selbst lief, trotz seiner Unbeholfenheit, gewandt voran und schwenkte seine verkrüppelte Hand. Er führte die Männer

»Achtung!«, krächzte er. »Trupp eins und Anwärter Sim folgen mir. Die Übrigen warten. Korporal Gaal, auf Pfiff schicken Sie einen Dreiertrupp nach oben, vierte Etage! Keinen herauslassen, lebend ergreifen, schießen nur im äußersten Fall! Trupp eins und Anwärter Sim, mir nach!«

Er öffnete die Tür und verschwand. Maxim stürzte ihm nach, an Pandi vorbei. Hinter der Tür begann eine steile Steintreppe mit klebrigem Eisengeländer, schmal und schmutzig; das Treppenhaus war von schwächlichem, fahlem Licht erhellt. Drei Stufen auf einmal nehmend, rannte der Rittmeister hinauf. Als Maxim ihn einholte, sah er in seiner Hand die Pistole. Da nahm auch er, in vollem Lauf, seine Maschinenpistole vom Hals. Ihm wurde übel bei dem Gedanken, jetzt womöglich auf Menschen schießen zu müssen, doch er verdrängte ihn schnell - es waren ja keine Menschen, sondern Tiere, schlimmer als der schnurrbärtige Rattenfänger oder die gefleckten Affen. Der eklige Schmutz unter den Füßen, das matte Licht und die bespuckten Wände stützten und verstärkten diese Ansicht noch.

Erster Stock. Küchengeruch, im Spalt einer halboffenen Tür das erschrockene Gesicht einer alten Frau. Mauzend bringt sich eine aufgescheuchte Katze in Sicherheit. Zweiter Stock. Irgendein Tölpel hat einen Eimer voll Spülwasser auf das Treppenpodest gestellt. Der Rittmeister stößt ihn um, das Spülwasser schwappt die Treppe hinunter. »Massaraksch!«, flucht Pandi von unten. Ein Junge und ein Mädchen drücken sich, eng umschlungen, in eine dunkle Ecke, ihre Gesichter spiegeln Freude und Erschrecken wider. »Weg mit euch, runter!«, schnarrt der Rittmeister ohne anzuhalten. Dritter

Maxim blieb keine Zeit, sich umzudrehen. Mit voller Kraft sprang er von der Seite her auf den Mann zu, doch der schaffte es trotzdem, einmal abzudrücken. Maxim sengte es das Gesicht, Pulvergeruch drang ihm in den Mund; dann aber krallten sich seine Finger um die fremden Handgelenke, und die Pistolen polterten zu Boden. Der Mann sank in die Knie, ließ den Kopf herabhängen und fiel, als Maxim seine Hände losließ, weich auf das Gesicht.

»Na, na, na«, murmelte Tschatschu mit einem seltsamen Ausdruck in der Stimme. »Legt ihn hierher!«, sagte er zu Pandi. »Und du« - das galt dem bleichen, schweißnassen Soisa - »lauf runter und teil den Gruppenführern mit, wo ich bin. Sie sollen melden, wie es bei ihnen steht.« Soisa schlug die Hacken zusammen und rannte zur Tür. »Ja. Schick mir Gaal«, fuhr der Rittmeister fort. »Brüll nicht, Mistkerl!«, schrie er den stöhnenden Mann an und stieß ihn mit der Stiefelspitze ein wenig in die Seite. »Ach, zwecklos. Plärrender Dreck … Abschaum. Durchsuchen!«, befahl er Pandi. »Legt sie alle in eine Reihe. Gleich hier, auf dem Fußboden. Das Weibsstück auch, fläzt im einzigen Sessel …«

Maxim ging zu der Frau, hob sie vorsichtig hoch und trug sie auf das Bett. Er war verwirrt. So etwas hatte er hier nicht erwartet. Aber was hatte er erwartet? Er wusste es nicht mehr - etwa gelbe, vor Hass gefletschte Zähne, ein bösartiges Gejaule, ein Kampf auf Leben und Tod? Er konnte seine Empfindungen mit nichts vergleichen, erinnerte sich dann aber, wie er einmal einen Tachorg erschossen hatte: Da lag dieses

»Anwärter Sim!«, schrie der Rittmeister. »Ich habe befohlen: auf den Fußboden!«

Tschatschus unheimliche, durchsichtige Augen musterten Maxim. In seinen verkrampften Lippen zuckte es, und Maxim begriff, dass nicht er hier über Recht und Unrecht entscheiden konnte; er war noch ein Fremder, kannte weder ihren Hass noch ihre Liebe. Er nahm die Frau wieder auf und legte sie neben den massigen Mann, der beim Hereinkommen im Flur geschossen hatte. Pandi und ein zweiter Gardist kontrollierten indessen sehr sorgfältig die Taschen der Festgenommenen. Alle fünf Personen waren ohne Bewusstsein.

Der Rittmeister setzte sich in den Sessel, warf sein Barett auf den Tisch, steckte sich ein Stäbchen an und winkte Maxim mit dem Finger zu sich. Der trat näher, nahm Haltung an.

»Warum hast du die MP weggeworfen?«, fragte Tschatschu leise.

»Sie hatten befohlen, nicht zu schießen.«

»Herr Rittmeister.«

»Jawohl. Sie hatten befohlen, nicht zu schießen, Herr Rittmeister.«

Tschatschu kniff die Augen zusammen und blies den Rauch zur Decke hoch.

»Das heißt, wenn ich befohlen hätte, nicht zu sprechen, hättest du dir die Zunge abgebissen?«

Maxim schwieg. Das Gespräch gefiel ihm nicht, doch er entsann sich noch gut an Gais Instruktionen.

»Was ist dein Vater?«, fragte der Rittmeister weiter.

»Kernphysiker, Herr Rittmeister.«

»Lebt er noch?«

»Jawohl, Herr Rittmeister.«

Tschatschu nahm das Stäbchen aus dem Mund und starrte Maxim an.

»Wo ist er?«

Maxim wurde klar, dass er sich verplappert hatte. Er musste das wieder geradebiegen.

»Ich weiß nicht, Herr Rittmeister. Genauer gesagt, ich erinnere mich nicht.«

»Aber daran, dass er Kernphysiker ist, erinnerst du dich … Woran noch?«

»Ich weiß nicht, Herr Rittmeister. Ich erinnere mich an vieles, doch Korporal Gaal meint, es sei nur Einbildung.«

Im Flur hallten eilige Schritte. Gai kam herein und stand vor dem Rittmeister stramm.

»Kümmere dich um diese Halbtoten, Korporal«, sagte Tschatschu. »Reichen die Handschellen?«

Gai blickte über die Schulter zu den Verhafteten.

»Wenn Sie gestatten, Herr Rittmeister, holen wir noch ein Paar von der zweiten Gruppe.«

»Ausführung.«

Gai lief hinaus. Durch den Flur stampften wieder Stiefel; die Gruppenführer erschienen und meldeten, die Operation verlaufe erfolgreich, zwei Verdächtige seien bereits festgenommen und die Einwohner leisteten, wie immer, aktive Hilfe. Der Rittmeister ordnete an, schnellstmöglich zum Ende zu kommen und das Losungswort »Prellstein« an den Stab zu geben. Nachdem die Gruppenführer gegangen waren, rauchte er ein neues Stäbchen und sah schweigend zu, wie die Gardisten die Bücher aus den Regalen nahmen, sie durchblätterten und auf das Bett warfen.

»Pandi«, murmelte er dann, »kümmere dich um die Bilder. Mit dem da sei vorsichtig, beschädige es nicht, das behalte ich.« Er drehte sich wieder zu Maxim. »Wie findest du es?«, fragte er.

Maxim blickte genauer hin: Dämmerung, erhabene, horizontlose Meeresweite, das Ufer und eine Frau, die aus dem Wasser steigt. Wind. Kühle. Die Frau friert.

»Ein gutes Bild, Herr Rittmeister«, sagte er.

»Erkennst du die Gegend?«

»Nein. Dieses Meer habe ich nie gesehen.«

»Und welches hast du gesehen?«

»Ein ganz anderes, Herr Rittmeister. Doch es war Einbildung.«

»Unsinn. Dieses war es. Nur hattest du nicht den Blick vom Ufer, sondern von der Kommandobrücke, unter dir war ein weißes Deck zu sehen und hinten, am Heck, noch eine Brücke, aber niedriger. Und am Ufer stand nicht dieses Weib, sondern ein Panzer, und du hast unter seinen Turm gezielt. Weißt du Grünschnabel, was es bedeutet, wenn eine Granate unter den Turm trifft? Massaraksch«, zischte er und zerdrückte den Stummel auf dem Tisch.

»Ich verstehe nicht«, entgegnete Maxim kalt. »Nie im Leben habe ich auf etwas gezielt.«

»Wie kannst du das wissen? Du erinnerst dich doch nicht, Anwärter Sim.«

»Ich erinnere mich, nicht gezielt zu haben.«

»Herr Rittmeister.«

»Ich erinnere mich, nicht gezielt zu haben, Herr Rittmeister. Und ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

Gai kam zurück, in Begleitung zweier Anwärter. Sie legten den Verhafteten die schweren Handschellen an.

»Sind doch auch Menschen«, krächzte plötzlich der Rittmeister. »Haben Frauen und Kinder. Haben jemanden geliebt, jemand hat sie geliebt.«

Augenscheinlich wollte er Maxim verhöhnen, der aber erwiderte offen: »Ja, Herr Rittmeister. Wie sich zeigt, sind es auch Menschen.«

»Hast du das nicht erwartet?«

»Nein, Herr Rittmeister.« Aus den Augenwinkeln sah er, dass Gai ihn erschrocken anschaute. Doch ihm war schon ganz schlecht vom Lügen, und er fuhr fort: »Ich dachte, es sind tatsächlich Missgeburten. Etwas wie nackte gefleckte … Tiere.«

»Nackter gefleckter Dummkopf!«, schnauzte der Rittmeister in wichtigem Ton. »Hinterwäldler! Bist hier nicht im Busch. Hier sind sie wie Menschen. Liebe, gute Menschen, denen bei starker Erregung fürchterlich das Köpfchen schmerzt … Tut dir der Kopf weh, wenn du aufgeregt bist?«, fragte er unvermittelt.

»Mir tut nie etwas weh, Herr Rittmeister«, antwortete Maxim. »Und Ihnen?«

»Waas?«

»Sie wirken so gereizt«, sagte Maxim, »dass ich dachte …«

»Herr Rittmeister«, rief Gai mit schriller Stimme. »Gestatten zu melden. Die Gefangenen sind bei Bewusstsein.«

Der Rittmeister warf ihm einen Blick zu und grinste. »Reg dich nicht auf, Korporal. Dein Freund hat sich heute als Gardist bewährt. Wäre er nicht, hätte Rittmeister Tschatschu jetzt eine Kugel in der Rübe.« Er griff sich ein drittes Stäbchen, hob die Augen zur Decke und stieß eine dicke Rauchfahne aus. »Hast einen guten Riecher, Korporal. Auf der Stelle könnte ich diesen Burschen zum Soldaten ernennen! Massaraksch, zum Offizier würde ich ihn befördern. Er hat Brigadegeneralsallüren, stellt Offizieren gern Fragen. Ich verstehe dich gut, Korporal; dein Bericht war begründet. So dass wir … mit der Beförderung zum Offizier warten.« Tschatschu stand auf, ging mit schweren Schritten um den Tisch herum und baute sich vor Maxim auf. »Nicht mal Soldat wird er vorerst. Er ist ein guter Kämpfer, doch ein Grünschnabel, ein Hinterwäldler. Erst mal erziehen wir ihn … Achtung!«, brüllte er plötzlich. »Korporal Gaal, die Verhafteten abführen! Soldat Pandi und Anwärter Sim nehmen mein Bild und alles Papierne und bringen es zu mir in den Wagen!«

Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Gai warf Maxim vorwurfsvolle Blicke zu, sagte aber nichts. Mit Fußtritten und Faustschlägen brachten die Gardisten die Festgenommenen auf die Beine und führten sie ab. Sie leisteten keinen Widerstand, schienen aus Watte; sie taumelten und ihre Knie knickten ein. Der massige Mann, der im Flur geschossen hatte, stöhnte laut und fluchte dann flüsternd. Die Frau bewegte still die Lippen. In ihren Augen lag ein seltsames Glitzern.

»He, Mak«, sagte Pandi, »hol die Decke da vom Bett und wickle die Bücher rein. Sollte sie nicht reichen, nimmst du noch das Laken. Wenn alles zusammengepackt ist, bringst du es runter, ich trage das Bild. Und vergiss deine MP nicht, du Hohlkopf. Wunderst dich wohl, weshalb der Herr Rittmeister geknurrt hat? Hattest die MP hingeworfen! Man darf seine Waffe nicht aus der Hand geben. Noch dazu im Kampf. Ach je, du Dörfler …«

»Lass das Gefasel, Pandi«, unterbrach Gai ihn ärgerlich. »Schnapp dir das Bild und geh!«

In der Tür drehte sich Gai noch einmal zu Maxim um und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. Dann verschwand er. Einige Zeit hörte man noch, wie Pandi beim Hinuntersteigen lauthals »Gib Ruhe, Alte« sang. Maxim seufzte, legte die Maschinenpistole auf den Tisch und ging zu den Bücherhaufen, die sich auf Bett und Fußboden türmten. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er noch nirgendwo so viele Bücher gesehen hatte wie hier, höchstens in der Bibliothek. In den Buchhandlungen standen auch sehr viele, aber immer die gleichen - laufende Meter derselben Bände.

Hier aber waren alle Titel verschieden. Es gab alte Bücher mit vergilbten Seiten; einige waren angesengt, andere, zu Maxims Verwunderung, spürbar radioaktiv. Doch er hatte keine Zeit, sie gründlich durchzusehen und las nur die Titel. Ja, hier standen weder Bücher wie »Kolizu Felsch oder Der tollkühne Brigadegeneral und seine Heldentaten« noch Romane

Er packte die beiden Bündel und verharrte ein paar Sekunden. Sein Blick wanderte durch das Zimmer: leere, umgestürzte Regale, dunkle Flecken, wo früher Bilder hingen, die Bilder aus den Rahmen gerissen, zertreten, aber keinerlei Anzeichen zahnärztlicher Technik. Er nahm die Bücher und ging zur Tür, entsann sich dann aber seiner Maschinenpistole und kehrte noch einmal um. Auf dem Tisch lagen unter Glas zwei Fotografien. Eine zeigte die durchsichtige Frau, sie hielt einen etwa vierjährigen Jungen mit staunend aufgerissenem Mund auf den Knien und war jung, zufrieden, stolz. Das andere war eine eindrucksvolle Gebirgsaufnahme, mit dunklen Baumgruppen, einem alten, halb zerfallenen Turm. Maxim hing sich seine Waffe um und ging zurück zu den Bündeln.



7

Morgens nach dem Frühstück trat die Brigade auf dem Exerzierplatz an, zwecks Befehlsausgabe und Ausrücken zu den Übungen. Für Maxim war das die qualvollste Prozedur des Tages, wenn man von den Abendappellen einmal absah. Die Befehlsausgabe endete jedes Mal mit geradezu paroxystischer Ekstase: blind, sinnlos und unnatürlich, ohne jeden Grund und für jeden Außenstehenden ganz und gar unangenehm. Maxim unterdrückte seinen unwillkürlichen Abscheu gegen diesen Irrsinn, der die gesamte Brigade vom Kommandeur bis zum Anwärter erfasste. Er sagte sich, er sei wohl einfach nicht imstande, die Begeisterung nachzufühlen, die die Gardisten für die Tätigkeit der Brigadekanzlei aufbrachten. Er schalt sich für seinen Skeptizismus, den er als Fremder an den Tag legte, versuchte, selbst Begeisterung zu empfinden und redete sich ein, unter den schweren Bedingungen, die im Land herrschten, zeugten solche Ausbrüche von Massenenthusiasmus von der Geschlossenheit der Leute, von ihrer Einmütigkeit und Bereitschaft, sich ganz der gemeinsamen Sache zu widmen. Und dennoch: Es fiel ihm schwer.

Von klein auf war Maxim zu Zurückhaltung und Selbstironie erzogen worden, zum Abscheu vor großen Worten im Allgemeinen und vor feierlichen Chorgesängen im Besonderen. Und so war er fast böse auf seine Kameraden - eigentlich liebe, aufrechte und großartige Jungs -, wenn sie, nachdem man den Befehl verlesen hatte, Anwärter A werde wegen eines Streits mit dem Soldaten B mit drei Tagen Arrest bestraft, plötzlich ihre Gutmütigkeit und ihren Humor vergaßen, die Mäuler aufrissen und begeistert »Hurra« schrien, um dann mit Tränen in den Augen den »Marsch der Kämpfenden Garde« zu singen, zweimal, dreimal, mitunter auch viermal. Sogar die Köche aus der Brigadeküche stürzten dann herbei und grölten enthusiastisch mit, ungestüm Messer und

Diesmal brach die Euphorie nach dem Befehl Nummer 127 aus - der Beförderung des Soldaten Dimba zum Korporal, nach dem Befehl 128 - einem Dank an den Anwärter Sim für seine Tapferkeit während der Operation, und nach Befehl Nummer 129, der die Renovierung der Kaserne der vierten Kompanie ankündigte. Der Brigadeadjutant hatte kaum die entsprechenden Unterlagen in seiner Ledermappe verstaut, da riss sich der General das Barett vom Kopf, sog die Lungen voll Luft und kreischte in heiserem Falsett: »Gardisten … Voran! Alle Feinde …« Und es ging los! Heute war es besonders peinlich. Tränen kullerten über Rittmeister Tschatschus dunkle Wangen, die Gardisten brüllten wie Stiere und schlugen mit den Gewehrkolben auf den massiven Koppelschlössern den Takt. Um nichts zu sehen und zu hören, schloss Maxim fest die Augen; er schrie mit, wie ein angestochener Tachorg, und seine Stimme übertönte alle anderen, zumindest schien es ihm so. »Voran, ohne Furcht«, sang er. Was für ein idiotischer Text! Bestimmt von irgendeinem Korporal verfasst. Man musste seine Sache sehr lieben, um mit solchen Phrasen in den Kampf zu ziehen. Maxim öffnete die Augen. Ein dichter Schwarm schwarzer Vögel schoss lautlos über den Platz. »Dein diamantner Panzer schützt dich nicht, o Feind …«

Dann endete alles so plötzlich, wie es begonnen hatte. Der Brigadegeneral blickte aus glanzlosen Augen auf die Reihen, erinnerte sich wieder, wo er war, und kommandierte mit noch weinerlicher, brüchiger Stimme: »Die Herren Offiziere führen die Kompanien zu den Übungen.« Die Jungs schüttelten sich ein wenig und sahen einander verdutzt an. Anscheinend

Die Kompanie ging auseinander. Gai formierte seine Gruppe und gab die Positionen bekannt. Anwärter Maxim hatte sich mit Soldat Pandi ins Vernehmungszimmer zu begeben. In aller Eile erklärte Gai ihm, was er zu tun habe: sich rechts, beziehungsweise hinter dem Verhafteten zu postieren und selbst den kleinsten Versuch, sich vom Fleck zu rühren, mit Gewalt zu verhindern. Sie würden unmittelbar dem Brigadekommandeur unterstellt sein, verantwortlich sei Soldat Pandi. Kurz: Achte auf Pandis Beispiel.

»Ich hätte dich niemals dazu eingeteilt. Es kommt dir als Anwärter gar nicht zu. Aber der Herr Rittmeister hat es befohlen. Halt die Ohren steif, Mak! Ganz versteh ich den Herrn Rittmeister nicht. Vielleicht will er dich möglichst schnell befördern - du hast ihm während der Aktion sehr gefallen. Gestern bei der Auswertung mit den Gruppenführern hat er mehrfach von dir gesprochen und dich durch diesen Befehl ausgezeichnet. Oder aber er prüft dich. Warum - weiß ich nicht. Vielleicht ist mein Bericht schuld, vielleicht aber auch dein dummes Gerede.« Besorgt musterte er Maxim. »Putz nochmal die Stiefel, schnall das Koppel straff und zieh die Paradehandschuhe an. Ach, du hast ja keine, für Anwärter sind sie nicht vorgesehen. Gut, dann lauf zur Kleiderkammer. Und mach schnell, in dreißig Minuten rücken wir aus.«

In der Kleiderkammer traf Maxim auf Pandi, der seine beschädigte Kokarde umtauschte.

»Da, Korporal!«, sagte Pandi zum Verwalter der Kleiderkammer und klopfte Maxim auf die Schulter. »Schau ihn dir an! Den neunten Tag ist er in der Garde - und schon ein

Der Korporal brummte unzufrieden, kroch zwischen die Regale, die vollgestopft waren mit Kleidung und Ausrüstungsgegenständen, warf mehrere Paare weißer Zwirnhandschuhe vor Maxim auf den Tisch und knurrte geringschätzig: »Ein Ass! Ja, bei den Verrückten hier, da seid ihr Asse. Wenn einem vor Schmerzen die Eingeweide zerreißen, steckt man ihn leicht in den Sack. Da wäre sogar mein Großvater ein Ass, ohne Arme und Beine.«

Pandi war beleidigt.

»Dein Großvater hätte sich flugs davongemacht, ohne Arme und Beine«, entgegnete er, »wenn er plötzlich in zwei Pistolenläufe geschaut hätte. Ich dachte schon, jetzt ist es aus mit dem Herrn Rittmeister.«

»Aus«, äffte der Korporal ihn nach. »Rollt ihr erst mal zur Südgrenze. Und dann, in einem halben Jahr, werden wir sehen, wer sich flugs davongemacht hat.«

Sie verließen die Kleiderkammer. Dann fragte Maxim so ehrerbietig er konnte (denn der alte Pandi mochte es, wenn man ihm Respekt zollte): »Herr Pandi, warum haben die Entarteten solche Schmerzen? Und alle gleichzeitig! Wie kommt das?«

»Vor Angst«, antwortete Pandi und senkte wichtigtuerisch die Stimme. »Sind eben entartet, verstehst du? Musst mehr lesen, Mak! Es gibt eine Broschüre: ›Die Entarteten. Ihr Wesen und ihre Herkunft‹. Lies sie durch und merke es dir gut, sonst bist und bleibst du ein Dummkopf. Tapferkeit alleine reicht nicht weit.« Er schwieg eine Weile. »Wenn wir erregt, wütend oder erschrocken sind, so ist das nicht weiter tragisch. Denn uns bricht schlimmstenfalls der Schweiß aus, oder die Knie schlottern. Aber der Organismus der Entarteten ist unnormal,

»Mir sind sie etwas eng, Herr Pandi«, klagte Maxim. »Tauschen wir: Sie bekommen diese und geben mir Ihre abgetragenen.«

Pandi war sehr zufrieden. Maxim ebenso. Plötzlich kam ihm Fank in den Sinn, wie er sich im Auto krümmte, in Krämpfen wälzte. Und wie ihn die Gardepatrouille verhaftete. Nur - worüber konnte Fank so erschrocken gewesen sein? Oder auf wen wütend? Er hatte sich doch gar nicht aufgeregt, ruhig seinen Wagen gelenkt, vor sich hin gepfiffen. Irgendetwas wollte er gern. Wahrscheinlich rauchen. Er hatte sich noch umgedreht und die Streife entdeckt. Oder war das hinterher? Ja, er hatte es sehr eilig gehabt, aber der Möbelwagen hatte ihm den Weg versperrt. Vielleicht war er deshalb verärgert? Unsinn, was reime ich mir hier zusammen. Es gibt schließlich alle möglichen Arten von Anfällen. Und festgenommen wurde er wegen des Unfalls. Trotzdem wüsste ich gern, wohin er mich bringen wollte und wer er ist. Wenn ich ihn nur finden könnte.

Maxim putzte und polierte seine Stiefel, brachte vor einem großen Spiegel seine Uniform in Ordnung, hängte sich die Maschinenpistole um, blickte noch einmal in den Spiegel - und da befahl Gai anzutreten.

Pedantisch musterte er alle, prüfte noch einmal, ob sie ihre Pflichten kannten, und lief dann in die Schreibstube der Kompanie. Die Gardisten spielten inzwischen »Seife«: Es wurden drei Geschichten erzählt, die Maxim nicht verstand, weil er einige Wendungen nicht kannte, und dann rückten ihm die Jungs auf die Pelle. Er solle beichten, woher er seine Kraft

Beim Hauptquartier angekommen, forderte der Rittmeister den Soldaten Pandi und den Anwärter Sim auf, ihm zu folgen. Gai und die anderen gingen weiter. In Begleitung des Rittmeisters und Pandis betrat Maxim einen verrauchten, nicht allzu großen Raum mit dicht verhängten Fenstern. Es roch nach Tabak und Kölnischwasser. In der hinteren Hälfte stand ein riesiger leerer Tisch und um ihn herum gepolsterte Stühle. An der Wand hing ein altes, nachgedunkeltes Schlachtengemälde: Pferde, enge Uniformen, blanke Säbel, viele Schwaden weißen Rauchs. Rechts neben der Tür, zehn Schritt vom Tisch entfernt, sah Maxim einen eisernen Hocker, dessen einziger Fuß mit mächtigen Schrauben fest im Boden verankert war.

»Plätze einnehmen!«, kommandierte Tschatschu, ging zum Tisch und setzte sich.

Pandi dirigierte Maxim sorgfältig rechts hinter den Hocker, bezog selbst links davon Posten und flüsterte: »Stillgestanden.« Beide erstarrten. Der Rittmeister hatte die Beine übereinandergeschlagen, rauchte und blickte sie gleichgültig an. Sehr gleichgültig, geradezu desinteressiert. Maxim spürte aber deutlich, dass ihn der Rittmeister aufmerksam beobachtete - nur ihn.

Die Tür hinter Pandi öffnete sich, und im selben Moment tat dieser zwei Schritte vorwärts, einen Schritt nach rechts und machte eine Linkswendung. Maxim zog es auch schon herum, doch dann besann er sich, denn er stand ja gar nicht im Weg. So riss er nur die Augen etwas weiter auf. Dieses

Der Rittmeister erhob sich, drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und begrüßte mit leichtem Zusammenschlagen der Hacken den Brigadegeneral, einen Unbekannten in Zivil und den Brigadeadjutanten, der eine dicke Mappe unter dem Arm trug. Alle drei gingen nun zum Tisch. Der Brigadegeneral nahm in der Mitte Platz. Er schaute mürrisch und unzufrieden drein, schob einen Finger hinter den steifen Kragen und drehte einige Male den Kopf hin und her, um den Kragen zu lockern. Der Zivilist, ein unscheinbares Männlein mit einem gelblichen, schlaffen und schlecht rasierten Gesicht, ließ sich lautlos neben ihm nieder. Der Adjutant blieb stehen, öffnete seine Mappe und blätterte in den Papieren. Einige reichte er dem General.

Pandi hatte kurze Zeit wie unentschlossen verharrt; nun kehrte er mit ebenso exakten Bewegungen an seinen Platz zurück. Am Tisch unterhielt man sich leise. »Kommst du heute zur Versammlung, Tschatschu?«, fragte der Brigadegeneral. »Ich habe zu tun!«, entgegnete der Rittmeister und zündete sich noch eine Zigarette an. »Wirst es bereuen. Es gibt eine Diskussion.« - »Das haben sie sich zu spät überlegt. Ich hab meine Meinung bereits dargelegt.« - »Nicht auf die beste Weise«, mischte sich der Zivilist behutsam ein. »Außerdem: Ändern sich die Umstände, ändern sich auch die Meinungen.« - »Nicht bei uns in der Garde«, sagte der Rittmeister schroff. »In der Tat, meine Herren«, näselte der Brigadegeneral, »wir sollten uns heute aber trotzdem bei der Versammlung treffen.« - »Ich habe gehört, sie hätten frische Seepilze besorgt«, murmelte der Adjutant, während er weiter in seinen Papieren wühlte. »Zum Bier - wäre das nichts, Rittmeister?«, fiel der Zivilist ein. Doch Tschatschu lehnte ab: »Nein, Herrschaften. Ich habe nur eine Meinung, und die

Pandi stieß die Tür auf, lehnte sich hinaus und wiederholte laut: »Nole Renadu.«

Eine Bewegung im Gang, und ein älterer, gut gekleideter, doch etwas zerknitterter und zerzauster Mann trat mit unsicherem Schritt ins Zimmer. Pandi nahm ihn am Ellenbogen und drückte ihn auf den Hocker. Die Tür fiel ins Schloss. Der Mann hustete laut, stützte die Arme auf die Knie und hob stolz den Kopf.

»So …«, begann der Brigadegeneral, während er die Akten studierte. Dann, plötzlich, überstürzten sich seine Worte: »Nole Renadu, sechsundfünfzig, Hausbesitzer, Angehöriger der Stadtverwaltung, Klubmitglied im ›Veteran‹, Mitgliedsnummer soundso …« (Der Zivilist hielt die Hand vor den Mund und gähnte, zog eine bunte Zeitschrift aus der Tasche, legte sie sich auf die Knie und begann darin zu blättern.) »… Festgenommen dann und dann, dort und dort … bei der Durchsuchung wurden konfisziert … So … Was haben Sie in der Trompeterstraße acht gemacht?«

»Ich bin der Besitzer des Hauses«, antwortete Renadu würdevoll. »Ich hatte eine Unterredung mit meinem Verwalter.«

»Seine Papiere sind überprüft?«, wandte sich der Brigadegeneral an den Adjutanten.

»Jawohl. Alles in Ordnung.«

»So …«, fuhr der General fort. »Sagen Sie, Herr Renadu, ist Ihnen jemand von den Verhafteten bekannt?«

»Nein.« Renadu schüttelte energisch den Kopf. »Wieso? Übrigens, der Familienname von dem einen, Ketschef. Ich

»Verzeihung«, unterbrach ihn der Zivilist, ohne die Augen von der Zeitschrift zu heben. »Haben Sie vielleicht darauf geachtet, worüber sich die anderen Zelleninsassen unterhielten?«

»Äh«, sagte Renadu langsam. »Ich muss gestehen. Sie haben dort … äh … Insekten, so dass wir hauptsächlich über sie … In einer Ecke wurde zwar geflüstert, aber ich habe nicht zugehört. Und außerdem, diese Leute sind mir äußerst unangenehm. Ich bin Veteran. Lieber hätte ich mit Insekten zu tun, hähä …«

»Natürlich«, stimmte der Brigadegeneral zu. »Gut. Um Entschuldigung bitten wir Sie nicht, Herr Renadu. Hier sind Ihre Papiere, Sie sind frei. Den Eskortenführer!«, sagte er lauter.

Pandi öffnete die Tür. »Eskortenführer, zum Brigadegeneral!«

»Von Entschuldigung ist keine Rede«, tat sich Renadu wichtig. »Schuld bin nur ich, ich allein. Nicht einmal ich, sondern das verfluchte Erbgut. Erlauben Sie?«, fragte er Maxim und zeigte auf den Tisch, wo seine Dokumente lagen.

»Sitzen bleiben!«, sagte Pandi halblaut.

Gai kam herein. Der Brigadegeneral übergab ihm die Papiere und befahl, Herrn Renadu das beschlagnahmte Eigentum auszuhändigen. Dann war der Hausbesitzer entlassen.

»In der Privont Aiju«, sagte der Zivilist nachdenklich, »ist es üblich, von jedem Entarteten - ich meine die legalen - bei der Verhaftung eine Gebühr einzuziehen, als freiwillige Spende zugunsten der Garde.«

»Bei uns ist das nicht üblich«, erwiderte der General kalt. »Ich glaube, das ist ungesetzlich. Den Nächsten«, befahl er.

»Rasche Mussai«, sagte der Adjutant zu dem eisernen Schemel.

»Rasche Mussai«, echote Pandi durch die offene Tür.

Rasche Mussai war ein dürrer, verhärmter Mann in abgetragenem Hausmantel und mit nur einem Pantoffel. Kaum hatte er sich gesetzt, lief der Brigadegeneral rot an und brüllte: »Versteckst du dich, Dreckskerl?!«, worauf Rasche Mussai ebenso wortreich wie verworren erklärte, dass er sich ganz und gar nicht verstecke, aber eine kranke Frau habe und drei Kinder und seine Miete nicht zahlen könne, dass man ihn schon zweimal festgenommen und dann wieder laufen gelassen habe, dass er als Möbeltischler in einer Fabrik arbeite und unschuldig sei. Maxim dachte, der Angeklagte würde freigesprochen. Aber da erhob sich der Brigadegeneral und verkündete, Rasche Mussai, zweiundvierzig Jahre alt, verheiratet und das dritte Mal festgenommen, werde wegen Verstoßes gegen den Ausweisungsbeschluss nach dem Gesetz über die Vorbeugehaft zu sieben Jahren Zwangsarbeit mit anschließendem Aufenthaltsverbot in den zentralen Bezirken verurteilt. Etwa eine Minute brauchte der Gefangene, um das Gehörte zu begreifen, dann folgte eine furchtbare Szene. Der erschütterte Möbeltischler weinte, flehte zusammenhanglos um Vergebung, versuchte auf die Knie zu fallen, schrie und wimmerte weiter, während Pandi ihn in den Flur schleppte. Und wieder spürte Maxim Rittmeister Tschatschus Blick auf sich ruhen.

»Kiwi Popschu«, verlangte der Adjutant.

Man stieß einen breitschultrigen jungen Mann herein, dessen Gesicht von einer Hautkrankheit entstellt war. Der Bursche erwies sich als Wohnungsdieb - ein auf frischer Tat ertappter Wiederholungstäter. Er verhielt sich frech und unterwürfig zugleich. Mal beschwor er die Herren Vorgesetzten, ihn nicht eines grausamen Todes sterben zu lassen, kicherte dann wieder hysterisch, machte spitze Bemerkungen und erzählte

Maxim hatte keine Ahnung, wie man ein Maul stopft, also packte er Kiwi Popschu einfach an der Schulter und rüttelte ihn. Kiefer klappten aufeinander, der Bursche biss sich auf die Zunge und verstummte. Der Zivilist, der den Verhafteten interessiert beobachtet hatte, meinte: »Den nehme ich, der kann uns nützen.«

»Sehr gut«, stimmte der Brigadegeneral zu und ließ Kiwi Popschu zurück in die Zelle bringen.

Als der Gefangene fort war, sagte der Adjutant: »Das war das Pack. Jetzt kommt die Gruppe.«

»Beginnen Sie mit dem Anführer«, riet der Zivilist. »Wie hieß er gleich - Ketschef?«

Der Adjutant warf einen Blick in seine Akten und sagte zu dem Eisenhocker: »Gel Ketschef.«

Man führte einen Bekannten herein: den Mann im weißen Kittel. Er trug Handschellen und hielt deshalb die Fäuste vorgestreckt. Seine Augen waren gerötet, das Gesicht aufgequollen. Er setzte sich und starrte auf das Bild über dem Brigadegeneral.

»Sie heißen Gel Ketschef?«, fragte dieser.

»Ja.«

»Zahnarzt?«

»War ich.«

»In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Zahnarzt Gobbi?«

»Ich habe seine Praxis gekauft.«

»Warum praktizieren Sie nicht?«

»Weil ich mein Sprechzimmer verkauft habe.«

»Warum?«

»Ein Engpass«, antwortete Ketschef.

»Was für eine Beziehung haben Sie zu Ordi Tader?«

»Sie ist meine Frau.«

»Kinder?«

»Hatten wir. Einen Sohn.«

»Wo ist er?«

»Ich weiß nicht.«

»Was taten Sie während des Krieges?«

»Ich habe gekämpft.«

»Wo? Welche Funktion?«

»Im Südwesten. Anfangs als Leiter des Feldlazaretts, später als Kommandeur einer Infanteriekompanie.«

»Verwundungen? Orden?«

»Beides.«

»Weshalb haben Sie sich zu staatsfeindlicher Tätigkeit entschlossen?«

»Weil die Weltgeschichte nie zuvor einen abscheulicheren Staat hervorgebracht hat«, sagte Ketschef. »Weil ich meine Frau und mein Kind geliebt habe. Weil ihr meine Freunde ermordet und mein Volk geschändet habt. Weil ich euch immer gehasst habe. Reicht das?«

»Es reicht«, erwiderte der Brigadegeneral ruhig. »Es ist mehr als genug. Verraten Sie uns lieber, wie viel Ihnen Honti zahlt - oder bezahlt Sie Pandea?«

Der Mann im weißen Kittel lachte auf. Es klang unheimlich: So könnte ein Toter lachen.

»Lassen Sie die Komödie, Brigadegeneral. Was soll das …«

»Sie sind der Leiter der Gruppe?«

»Ja. War ich.«

»Welche Mitglieder Ihrer Organisation können Sie nennen?«

»Keins.«

»Sind Sie sicher?«, fragte plötzlich der Zivilist.

»Ja.«

»Sehen Sie, Ketschef«, fuhr der Zivilist sanft fort. »Sie befinden sich in einer äußerst schwierigen Situation. Über Ihre Gruppe wissen wir alles. Sogar einiges über deren Verbindungen. Diese Informationen hat uns jemand zugespielt, und jetzt hängt es ganz allein von uns ab, welchen Namen dieser Jemand bekommt - Ketschef oder einen anderen …«

Ketschef hatte den Kopf gesenkt und schwieg.

»Sie!«, krächzte Rittmeister Tschatschu. »Sie, ein ehemaliger Offizier! Verstehen Sie, was wir Ihnen anbieten? Nicht das Leben, Massaraksch: die Ehre!«

Ketschef lachte wieder, hüstelte, gab aber kein Wort von sich. Maxim spürte: Dieser Mann fürchtete nichts. Weder den Tod noch die Schande. Denn beides lag hinter ihm. Er war bereits tot und entehrt. Der Brigadegeneral zuckte mit den Schultern. Dann erhob er sich und verkündete, Gel Ketschef, fünfzig Jahre alt, verheiratet, Zahnarzt, werde entsprechend dem Gesetz über sozialen Gesundheitsschutz zur Liquidation verurteilt. Die Vollstreckung erfolge binnen achtundvierzig Stunden, Begnadigung sei möglich, falls der Verurteilte sich einverstanden erkläre auszusagen.

Nachdem man Ketschef abgeführt hatte, wandte sich der Brigadegeneral unzufrieden an den Zivilen: »Ich verstehe dich nicht. Er hat doch bereitwillig geredet. Ein typischer Schwätzer, wie es bei euch so schön heißt. Ich versteh’s nicht …« Der Zivilist grinste. »Deshalb befehligst du ja auch eine Brigade, mein Bester, ich hingegen … eben bei uns.« - »Trotzdem«, nuschelte der Brigadegeneral gekränkt. »Ein Anführer einer Gruppe, der philosophiert, ich versteh’s nicht.« - »Aber mein Bester«, begann der Zivilist noch einmal, »hast du je einen philosophierenden Toten gesehen?« - »Unsinn …« - »Nein, im Ernst.« - »Du etwa?«, fragte der Brigadegeneral. »Ja, gerade erst«, sagte der Zivile gewichtig. »Und nicht zum ersten

»So«, ließ sich der Adjutant vernehmen. »Bleiben Ordi Tader, Memo Gramenu und noch zwei, die sich geweigert haben, ihre Namen zu nennen.«

»Beginnen wir mit denen«, schlug der Zivilist vor. »Ruft sie herein.«

»Nummer dreiundsiebzig-dreizehn«, sagte der Adjutant.

Nummer dreiundsiebzig-dreizehn kam herein und setzte sich auf den Eisenhocker. Trotz einer Armprothese trug auch dieser Mann Handschellen. Er war hager, sehnig und hatte unnormal dicke, zerbissene und angeschwollene Lippen.

»Ihr Name?«, fragte der Brigadegeneral.

»Welcher?«, erwiderte der Einarmige munter.

Maxim zuckte zusammen; er war sicher gewesen, der Häftling würde schweigen.

»Sie haben mehrere? Dann nennen Sie den jetzigen.«

»Mein jetziger Name ist dreiundsiebzig-dreizehn.«

»Aha … Was haben Sie in Ketschefs Wohnung gemacht?«

»Bin in Ohnmacht gefallen. Zu Ihrer Information: Ich kann das sehr gut. Soll ich’s zeigen?«

»Bemühen Sie sich nicht«, mischte sich der Zivile ein. Er war wütend. »Sie werden Ihr Talent noch brauchen.«

Der Einarmige brach in Gelächter aus, laut, schallend, wie ein Junge. Maxim wurde mit Entsetzen klar, dass das Lachen echt war. Die Männer am Tisch saßen da wie versteinert.

»Massaraksch!«, rief der Gefangene schließlich und wischte sich mit der Schulter die Tränen weg. »Das ist ja eine Drohung! Freilich, sie sind noch ein junger Mann. Nach dem Umsturz habt ihr alle Archive verbrannt und jetzt wisst ihr nicht einmal, wie kleinkariert ihr geworden seid. Es war ein schwerer Fehler, die alten Kader zu liquidieren: Sie hätten euch beigebracht, eure Arbeit gelassen auszuüben. Sie haben zu viele Emotionen. Sie hassen zu sehr. Aber seine Arbeit sollte man möglichst nüchtern erledigen, nach Vorschrift - für Geld. Das beeindruckt Untersuchungsgefangene ungeheuer. Es ist furchtbar, wenn man nicht vom Feind, sondern von einem Beamten gefoltert wird. Sehen Sie sich meinen linken Arm an. Den hat mir der gute alte Geheimdienst noch in der Vorkriegszeit gekappt, in drei Etappen - und jede mit umfangreichem Schriftwechsel. Die Folterknechte hatten eine schwere, undankbare Aufgabe. Sie haben gelangweilt an meinem Arm herumgesägt und dabei über ihre miserablen Gehälter geflucht. Und da bekam ich Angst und habe nur mit großer Willensanstrengung nicht geredet. Aber jetzt … Ich sehe ja, wie Sie mich hassen. Sie mich, und ich Sie. Das ist gut. Aber Sie hassen mich noch nicht mal zwanzig Jahre, ich Sie hingegen schon mehr als dreißig. Ich hab Sie schon gehasst, da sind Sie noch unterm Tisch herumgelaufen und haben die Katzen gequält, junger Mann.«

»Klar«, sagte der Zivilist. »Ein alter Hase. Ein Freund der Arbeiter. Ich dachte, euch hätten sie schon alle erledigt.«

»Darauf brauchen Sie nicht zu hoffen«, entgegnete der Einarmige. »Sie sollten die Welt kennen, in der Sie leben. Sonst bilden Sie sich noch allesamt ein, die alte Geschichte sei vorbei und eine neue begonnen worden. Was für ein Unwissen! Es gibt wirklich nichts, worüber man mit Ihnen reden könnte.«

»Ich glaube, es reicht«, wandte sich der Brigadegeneral an den Zivilen.

Der schrieb schnell etwas auf seine Zeitschrift und gab es dem Brigadegeneral zu lesen. Der wunderte sich, trommelte mit den Fingern gegen sein Kinn und blickte den Zivilisten zweifelnd an. Dieser lächelte. Da zuckte der Brigadegeneral mit den Schultern, dachte kurz nach und fragte den Rittmeister: »Zeuge Tschatschu, wie verhielt sich der Angeklagte bei der Verhaftung?«

»Er wälzte sich auf dem Fußboden«, antwortete der Rittmeister finster.

»Das heißt, Widerstand leistete er nicht … Soso …« Der Brigadegeneral überlegte noch eine Weile, stand dann auf und gab das Urteil bekannt: »Der Angeklagte dreiundsiebzig-dreizehn wird zum Tode verurteilt, ohne konkreten Vollstreckungstermin. Bis zur Hinrichtung verbleibt er in einem Erziehungslager.«

In Rittmeister Tschatschus Gesicht spiegelten sich Verachtung, Unverständnis. Und der Einarmige lachte leise, als man ihn hinausbrachte, und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: »Nein, so was!«

Nun kam Nummer dreiundsiebzig-vierzehn. Es war der Mann, der sich schreiend auf dem Fußboden gewälzt hatte. Er trat zwar herausfordernd auf, hatte aber große Angst. Schon von der Schwelle aus verkündete er, dass er nicht zu antworten gedenke und keinerlei Nachsicht wünsche. Er schwieg tatsächlich und reagierte auf keine einzige Frage, nicht einmal auf die des Zivilisten, ob er schlecht behandelt worden sei. Das Verhör endete damit, dass der Brigadegeneral den Zivilisten ansah und etwas fragte. Der Zivilist nickte. »Ja, zu mir.« Er wirkte sehr zufrieden.

Danach blätterte der Brigadegeneral die verbliebenen Akten durch und sagte: »Kommen Sie, meine Herren, gehen wir essen. Es ist unmöglich …«

Das Gericht entfernte sich. Maxim und Pandi erhielten die Erlaubnis, bequem zu stehen. Als auch der Rittmeister gegangen

Maxim schwieg. Er wollte nicht reden. Sein Weltbild, gestern noch logisch und klar, verschwamm allmählich und verlor die Konturen. Übrigens brauchte Pandi keine Antwort. Er streifte seine Handschuhe ab, um sie nicht zu beschmutzen, zog eine Tüte Fruchtbonbons aus der Tasche, bot auch Maxim welche an und erklärte ihm, warum er gerade diesen Dienst nicht ausstehen könne. Denn erstens fürchte er, sich bei den Entarteten anzustecken, und zweitens seien einige von ihnen, etwa dieser Einarm, dermaßen frech, dass er sich enorm beherrschen müsse, damit er ihm keine überbrate. Einmal habe er sich lange zusammengerissen, dann aber losgedroschen - fast hätte man ihn zum Anwärter degradiert. Der Rittmeister habe sich vor ihn gestellt und ihn nur für zwanzig Tage eingebuchtet, danach noch vierzig Tage Ausgangssperre.

Maxim kaute seine Fruchtbonbons, hörte mit halbem Ohr zu und sagte nichts. Hass, dachte er. Diese hassen jene, jene hassen diese. Warum? Der abscheulichste Staat. Warum? Wie kommt er darauf? Das Volk geschändet. Aber inwiefern? Was kann das bedeuten? Und dieser Zivilist. Unmöglich, dass er mit Folter droht. Die gab es früher, im Mittelalter. Obwohl, wenn man an den Faschismus denkt. Vielleicht ist das ein faschistischer Staat? Massaraksch, aber was ist denn Faschismus? Aggression, Rassentheorie … Hilter, oder wie hieß der … nein … Hilmer … Ja, und die Theorie von der Überlegenheit einer Rasse, Massenmord, Streben nach Weltherrschaft. Lüge, zum Prinzip der Politik erhoben, staatliche Lüge - das habe ich mir gemerkt, das hat mich am meisten entsetzt. Aber hier, glaube ich, gibt es so etwas nicht. Gai ein Faschist? Und Rada? Nein, das ist etwas anderes - Kriegsfolgen, eine Verrohung der Sitten infolge der schlimmen Lage

»Herr Pandi«, fragte er, »wissen Sie, ob die Hontianer alle entartet sind?«

Pandi grübelte. »Wie soll ich sagen, hm … Du musst verstehen«, begann er schließlich, »unsere Ausbildung befasst sich vor allem mit den städtischen Entarteten und den Wilden, die im Süden hausen. Was in Honti los ist oder sonst wo, lernt man wahrscheinlich bei der Armee. Vor allem musst du dir merken, dass Honti der schlimmste äußere Feind unseres Staates ist. Vor dem Krieg war es uns untertan, und jetzt rächt es sich grausam. Und die Entarteten sind der innere Feind. Das wär’s. Klar?«

»Mehr oder weniger«, erwiderte Maxim. Sofort wurde er von Pandi gerügt: Das sei in der Garde keine Antwort, in der Garde heiße es »jawohl« oder »nein«; »mehr oder weniger« sei zivil. Der Schwester des Korporals könne Maxim

Vermutlich hätte er noch lange weiter geredet, das Thema war ergiebig und lag ihm am Herzen, und der Zuhörer gab sich aufmerksam und respektvoll - aber da kehrten die Herren Offiziere zurück. Pandi verstummte mitten im Wort, flüsterte: »Stillgestanden!«, und nahm ordnungsgemäß zwischen Tisch und eisernem Hocker Haltung an. Auch Maxim erstarrte.

Die Offiziere waren bester Laune. Rittmeister Tschatschu erzählte laut und mit leicht verächtlichem Gesicht, wie sie im Jahre vierundachtzig rohen Teig direkt auf der glühend heißen Panzerung backten und sich danach die Finger leckten. Der Brigadegeneral und der Zivilist wandten ein, Kampfgeist sei zwar gut und schön, aber auch die Küche der Garde müsse Niveau haben, und je weniger Konserven sie verwende, desto besser. Die Augen halb geschlossen, fing der Adjutant auf einmal an, auswendig aus irgendeinem Kochbuch zu zitieren; die anderen lauschten ihm lange und fast ergriffen. Endlich blieb der Adjutant stecken, räusperte sich.

Der Brigadegeneral seufzte. »Ja, meine Herren … Bringen wir’s zu Ende.«

Hüstelnd öffnete der Adjutant seine Mappe, kramte in den Akten und sagte gepresst: »Ordi Tader.«

Die Frau war auch heute nahezu durchsichtig weiß, so als sei sie noch immer bewusstlos. Kaum aber streckte Pandi den Arm aus, um sie am Ellenbogen zu fassen und auf ihren Platz zu drücken, wich sie so heftig zurück wie vor einer Natter. Man konnte meinen, sie würde ihn jeden Augenblick schlagen. Doch ihre Hände waren gefesselt, und so fauchte sie nur: »Rühr mich nicht an, du Schwein!«, ging um Pandi herum und setzte sich.

Der Brigadegeneral stellte die üblichen Fragen. Sie antwortete nicht. Der Zivilist erinnerte sie an ihr Kind, an ihren Mann - sie schwieg. Sie hielt sich kerzengerade. Ihr Gesicht

Sie unterbrachen sie nicht, hörten aufmerksam zu. Sie schienen bereit, ihr stundenlang zuzuhören, doch da stand sie auf und machte einen Schritt zum Tisch hin. Pandi packte sie an der Schulter und schleuderte sie auf den Schemel zurück. Dann spuckte sie so kräftig aus, wie sie konnte, verfehlte aber die Offiziere, fiel in sich zusammen und brach in Tränen aus. Einige Zeit beobachteten die Männer, wie sie weinte. Dann erhob sich der Brigadegeneral und verurteilte sie zum Tod binnen achtundvierzig Stunden. Pandi griff sie am Ellenbogen und stieß sie hinaus, und der Zivilist rieb sich die Hände und grinste: »Das war ein Fang! Ausgezeichnete V-Leute.« Und der Brigadegeneral erwiderte: »Bedank dich beim Rittmeister.« Und Tschatschu krächzte nur: »Singvögel«, und alle verstummten.

Dann ließ der Adjutant Memo Gramenu bringen. Mit ihm wurde nicht lange gefackelt: Er war derjenige gewesen, der im

Sie hatten Gramenu noch nicht abgeführt, da verstaute der Adjutant schon erleichtert die Akten in seiner Mappe, unterhielt sich der Brigadegeneral mit dem Zivilisten über die Beförderungsordnung, und Rittmeister Tschatschu kam zu Pandi und Maxim und befahl ihnen wegzutreten. In seinen farblosen Augen konnte Maxim eindeutig Spott und Drohung erkennen, aber das war ihm im Moment egal. Voller Mitgefühl und ihn selbst befremdender Neugier dachte er an denjenigen, dem es bevorstand, die Frau zu töten. Denn das war etwas ganz Ungeheuerliches, Furchtbares. Doch irgendwen würde es in den nächsten achtundvierzig Stunden treffen.



8

Gai zog seinen Pyjama an, hängte die Uniform in den Schrank und drehte sich zu Maxim um. Einen Stiefel in der Hand, den anderen noch am Fuß, saß Anwärter Sim auf der Liege, die Rada ihm in einer freien Ecke aufgestellt hatte; seine Augen starrten zur Wand, der Mund stand halb offen. Gai schlich sich von der Seite an und wollte dem Freund gegen die Nase schnipsen. Aber wie immer traf er nicht, denn im letzten Moment wandte Mak den Kopf.

»Woran denkst du?«, versuchte Gai ihn zu necken. »Leidest wohl, weil Rada nicht da ist? Hast eben Pech, Bruderherz, heute hat sie Tagschicht.«

Mak lächelte schwach und befasste sich mit seinem zweiten Stiefel. »Wieso - nicht da?«, murmelte er zerstreut. »Erzähl keine Märchen …« Er hielt wieder inne. »Gai«, fuhr er fort, »du hast immer gesagt, sie arbeiten für Geld …«

»Wer? Die Entarteten?«

»Ja. Du hast es oft gesagt - mir und auch den Jungs. Hast sie ›bezahlte Agenten der Hontianer‹ genannt. Auch der Rittmeister behauptet das, jeden Tag, immer wieder.«

»Was denn sonst?«, entgegnete Gai. Er vermutete, dass Mak abermals über die Monotonie ihrer Argumente klagte. »Du bist komisch, Mak. Wie können wir es mit anderen Worten erzählen, wenn alles beim Alten bleibt? Die Entarteten sind nach wie vor entartet. Früher erhielten sie Geld vom Feind, und jetzt ist es ebenso. Im vergangenen Jahr beispielsweise, hat man eine Gruppe im Randgebiet geschnappt - der ganze Keller lag voller Geld. Wie sollten ehrliche Menschen zu solchem Reichtum kommen? Sind weder Industrielle noch Bankiers … Und jetzt hat nicht einmal ein Bankier so viel Geld, wenn er ein echter Patriot ist.«

Mak stellte die Stiefel ordentlich an die Wand, stand auf und öffnete seinen Overall. »Gai«, begann er wieder, »hast du mal erlebt, dass man etwas über jemand erzählt und du diesen Menschen anschaust und fühlst: Es kann nicht stimmen. Es ist ein Fehler, ein Missverständnis?«

»Das kommt vor.« Gais Gesicht verfinsterte sich. »Wenn du allerdings die Entarteten …«

»Ja. Die meine ich. Ich habe sie mir heute angesehen: normale Menschen! Verschieden natürlich - manche besser, andere schlechter, einige mutig, andere feige -, keineswegs aber Tiere, wie ich dachte und wie ihr alle denkt. Warte, unterbrich mich nicht. Ich weiß nicht, ob sie euch wirklich schaden, das

Gais Miene wurde noch düsterer. »Was heißt, du glaubst es nicht? Schön, mich nimmst du vielleicht nicht ernst, ich bin nur ein kleines Licht. Aber den Herrn Rittmeister? Und den Brigadegeneral? Das Radio? Wie kann man den Unbekannten Vätern nicht glauben? Sie lügen nie.«

Maxim streifte den Overall ab, trat ans Fenster und blickte hinaus, die Stirn gegen die Scheibe gedrückt und beide Hände am Rahmen. »Wieso denn unbedingt lügen?«, sagte er halblaut. »Und wenn sie irren?«

»Irren?«, wiederholte Gai befremdet und starrte auf Maks nackten Rücken. »Wer irrt? Die Väter? Du hast Ideen … Die Väter irren sich nie!«

»Möglich«, sagte Mak und drehte sich um. »Aber wir reden jetzt nicht von ihnen. Es geht um die Entarteten. Du, zum Beispiel, würdest doch für deine Sache sterben, wenn es sein muss?«

»Natürlich«, antwortete Gai. »Du doch auch.«

»Ja. Würden wir. Für die Sache. Aber nicht für die Gardistenverpflegung oder für Geld. Eine Milliarde eurer Scheinchen könntet ihr mir hinblättern - ich würde dafür nicht in den Tod gehen! Du etwa?«

»Natürlich nicht.« Gai seufzte. Dieser Mak ist seltsam, dachte er. Immer denkt er sich was Neues aus.

»Und?«

»Was - und?«

»Versteh doch!« Mak wurde ungeduldig. »Du bist nicht bereit, für Geld zu sterben. Ich bin nicht bereit, für Geld zu sterben. Aber die Entarteten sollen es sein? So ein Blödsinn!«

»Das sind doch Entartete!«, sagte Gai eindringlich. »Deshalb sind sie ja entartet! Für sie ist Geld das Höchste. Nichts ist ihnen heilig. Sie erdrosseln sogar Kinder - das hat es schon

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, erwiderte Mak. »Sie sind heute verhört worden. Hätten sie ihre Komplizen verraten, wären sie mit dem Leben davongekommen, hätten nur Zwangsarbeit gekriegt. Aber sie haben keine Namen genannt. Folglich sind sie ihnen mehr wert als Geld? Mehr als das Leben?«

»Das müsste sich erst herausstellen«, murmelte Gai. »Laut Gesetz sind sie alle zum Tode verurteilt. Ohne jede Verhandlung. Du hast ja gesehen, wie das vor sich geht.«

Er blickte den Freund an. Mak schien unschlüssig, verwirrt. Er hat ein gutes Herz, dachte Gai, aber nicht die leiseste Ahnung, und er begreift nicht, dass Härte gegen den Feind nottut. Ihn anschnauzen sollte man, mit der Faust auf den Tisch schlagen, damit er den Mund hält, nicht zu viel redet und auf Ältere hört, solange er sich damit nicht auskennt. Er ist schließlich kein ungebildeter Tölpel; wenn man es ihm vernünftig erklärt, wird er es verstehen.

»Nein«, beharrte Mak eigensinnig. »Gegen Bezahlung hasst man nicht. Sie aber hassen, hassen uns so sehr, ich wusste gar nicht, dass Menschen so hassen können. Du hasst sie weniger als sie dich. Und ich wüsste gern: warum?«

»Hör zu«, sagte Gai, »ich erkläre es dir noch einmal. Erstens sind sie Entartete. Sie hassen überhaupt alle normalen Menschen. Sind von Natur aus bösartig wie Ratten. Und zweitens: Wir stören sie. Sie würden gern ihren Geschäften nachgehen, Geld einstecken, herrlich und in Freuden leben. Wir aber rufen: ›Stopp! Hände hinter den Kopf!‹ Sollen sie uns dafür lieben?«

»Wenn sie alle böse wie Ratten sind, wieso ist es dann dieser Hausbesitzer nicht? Warum hat man ihn laufen lassen, wenn sie doch alle gekauft sind?«

Gai lachte. »Der Hausbesitzer ist ein Feigling. Davon gibt es auch genügend. Sie hassen uns, aber sie haben Angst. Für solche Leute ist es vorteilhafter, sich mit uns gutzustellen; es sind nützliche, sozusagen legale Entartete. Zudem ist er Hausbesitzer, ein reicher Mann, den kauft man nicht so leicht. Das ist etwas anderes als dieser Zahnarzt. Du bist putzig wie ein Kind, Mak. Die Menschen sind nicht alle gleich, und die Entarteten auch nicht …«

»Das weiß ich«, unterbrach ihn Mak ungeduldig. »Was aber den Zahnarzt betrifft: Ich wette meinen Kopf, dass dieser Mann nicht bestechlich ist! Beweisen kann ich’s dir nicht, aber das fühle ich. Er ist ein sehr tapferer, guter Mensch …«

»Ein Entarteter!«

»Einverstanden. Er ist ein tapferer, guter Entarteter. Ich habe seine Bibliothek gesehen. Er ist sehr belesen. Weiß tausendmal mehr als du oder der Rittmeister. Warum ist er gegen uns? Wenn alles so ist, wie du behauptest - wie kann es dann sein, dass dieser gebildete, kulturvolle Mensch es nicht weiß? Weshalb schreit er uns an der Schwelle zum Grab ins Gesicht, er sei für das Volk und gegen uns?«

»Ein gebildeter Entarteter ist ein Entarteter hoch zwei«, dozierte Gai. »Seiner Natur entsprechend hasst er uns, und die Bildung hilft ihm, diesen Hass zu begründen und zu verbreiten. Bildung, mein Freund, ist nicht immer ein Segen. Wie bei der Maschinenpistole kommt es drauf an, in wessen Händen sie liegt.«

»Bildung ist immer ein Segen«, entgegnete Mak überzeugt.

»Da irrst du. Mir wäre es lieber, die Hontianer wären alle ungebildet. Dann könnten wir wenigstens wie Menschen leben und müssten nicht ständig mit einem atomaren Angriff rechnen. Im Handumdrehen hätten wir sie befriedet.«

»Ja«, sagte Mak mit einer merkwürdigen Betonung. »Befrieden - das können wir. Brutalität ist uns nicht abzusprechen.«

»Wieder redest du wie ein Kind. Nicht wir sind brutal - die Zeit ist brutal. Wir kämen gern mit freundlichen Worten und ohne Blutvergießen aus. Es wäre auch billiger. Aber was sollen wir tun? Wenn man sie auf keine andere Weise umstimmen kann.«

»Also haben die Entarteten eine Überzeugung?«, parierte Mak. »Eine echte Überzeugung? Ist aber ein kluger Mensch von seinem Recht überzeugt, was soll ihm dann das Geld der Hontianer?«

Nun reichte es Gai. Er wollte gerade, als letztes Mittel, den Kodex der Väter anführen und diesen dummen, endlosen Streit damit beenden, da unterbrach sich Mak selbst, winkte ab und rief: »Rada! Genug geschlafen! Die Gardisten haben Hunger und sehnen sich nach weiblicher Gesellschaft!«

Zu Gais großer Verwunderung erklang hinter dem Wandschirm Radas Stimme: »Ich bin längst wach. Ihr habt herumgeschrien, meine Herren Gardisten, als wärt ihr auf eurem Übungsplatz.«

»Warum bist du zu Hause!«, fuhr Gai sie an.

Rada trat hinter dem Schirm hervor, schloss im Gehen die Knöpfe ihres Hauskleids.

»Ich bin entlassen«, erklärte sie. »Mutter Täj hat eine Erbschaft gemacht, ihr Etablissement geschlossen und zieht jetzt aufs Land. Aber sie hat mich schon weiterempfohlen für eine gute Stelle. Mak, warum hast du deine Sachen überall verstreut? Räum sie in den Schrank! Ich hatte euch doch gebeten, nicht mit Stiefeln ins Zimmer zu kommen! Wo sind denn deine Stiefel, Gai? Deckt den Tisch, wir essen gleich. Mak, du hast abgenommen. Was machen sie dort mit dir?«

»Los, los«, rief Gai. »Rede nicht so viel, bring lieber das Essen.«

Sie streckte ihm die Zunge heraus und verließ das Zimmer. Gai blickte zu Mak hinüber. Der sah dem Mädchen nach, wie immer mit viel Zuneigung.

»Na, ist sie hübsch?«, frotzelte Gai - und erschrak: Maks Miene war auf einmal wie versteinert. »Was hast du?«

»Hör zu«, sagte Mak. »Alles darf man. Wahrscheinlich sogar foltern - das wisst ihr besser als ich. Aber Frauen erschießen, sie quälen …« Er nahm seine Stiefel und ging hinaus.

Gai hüstelte, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und begann, den Tisch zu decken. Das Gespräch wirkte unangenehm in ihm nach. Sehr zwiespältig. Sicher, Mak war noch jung und nicht von dieser Welt. Aber er hatte wieder ganz erstaunliche Dinge gesagt. Er war Logiker, das war’s, ein hervorragender Logiker. Gerade hatte er zum Beispiel blanken Unsinn geredet - aber wie folgerichtig der aufgebaut war! Ohne Maks Geschwätz wäre er, Gai, gar nicht auf diesen eigentlich sehr einfachen Gedanken gekommen: Entscheidend an den Entarteten ist - sie sind entartet! Nimm ihnen diese Eigenschaft, und alle übrigen Anschuldigungen gegen sie - Verrat, Menschenfresserei und so weiter - werden plötzlich nichtig. Ja, der springende Punkt ist ihre Entartung, und dass sie alles Normale hassen. Das genügt, das ›Gold der Hontianer‹ ist gar nicht so wichtig. Aber was sind die Hontianer - auch Entartete? Das wurde uns nicht gesagt. Wären sie jedoch keine, müssten unsere Entarteten sie hassen, ebenso wie uns. Massaraksch! Diese verfluchte Logik …

Als Mak zurückkam, fiel Gai über ihn her: »Woher wusstest du, dass Rada zu Hause ist?«

»Wie - woher? Das war doch klar …«

»Wenn es dir klar war, warum hast du mich nicht darauf hingewiesen? Und warum, Massaraksch, hältst du dein Mundwerk nicht, wenn Fremde dabei sind? Dreiunddreißigmal Massaraksch.«

Mak wurde jetzt auch böse.

»Wer ist hier fremd, Massaraksch? Rada? Sie steht mir näher als ihr alle mit eurem Rittmeister!«

»Massaraksch! Was besagt die Vorschrift zum Dienstgeheimnis?«

»Massaraksch und Massaraksch! Was willst du von mir? Ich wusste doch nicht, dass du nicht wusstest, dass sie hier ist. Ich dachte, du erlaubst dir einen Scherz mit mir. Außerdem, was für Geheimnisse haben wir schon ausgeplaudert …«

»Alles, was den Dienst betrifft.«

»Zum Teufel mit diesem Dienst, den ihr vor der eigenen Schwester geheim halten müsst! Und überhaupt vor allen, Massaraksch! In jedem Winkel steckt ein Geheimnis, man darf sich nicht mehr drehen, den Mund nicht aufmachen!«

»Nun schreist du mich auch noch an! Ich bring dir was bei, du Esel, und du schreist mich an!«

Aber Mak hatte sich schon wieder beruhigt. Plötzlich stand er neben Gai, der nicht einmal Zeit hatte, sich zu regen: Schon packten ihn starke Hände an den Hüften, das Zimmer drehte sich vor seinen Augen, und die Decke rückte näher. Gai stöhnte gepresst auf, als Mak ihn auf gestreckten Armen zum Fenster trug. »Na, wohin jetzt mit dir und deinen Geheimnissen?«, fragte er. »Da raus?«

»Lass diese dummen Späße, Massaraksch!«, schrie Gai und ruderte krampfhaft mit den Armen, um Halt zu finden.

»Durch das Fenster willst du nicht? Gut, dann bleib …«

Gai wurde zum Wandschirm getragen und auf Radas Bett geworfen. Er setzte sich auf, zupfte seinen Pyjama zurecht und knurrte: »Kraftprotz.« Auch er war nicht mehr böse. Auf wen hätte er auch böse sein sollen - doch höchstens auf die Entarteten.

Sie deckten den Tisch. Dann kam Rada mit einem Topf Suppe, gefolgt von Onkelchen Kaan und seinem Heiligtum: seinem Flachmann, der, wie er beteuerte, das einzig wirksame Mittel gegen Erkältungen und Alterswehwehchen darstellte. Sie setzten sich zum Essen. Der Onkel trank ein Gläschen, schniefte laut und fing an, über seinen Widersacher herzuziehen,

Für Onkel Kaan gab es eigentlich nur Ignoranten. Die Kollegen von der Fakultät: Stümper - einige eifrig, andere faul. Die Assistenten: seit ihrer Geburt Strohköpfe, sollten lieber Vieh hüten in den Bergen - ob sie aber damit zurechtkämen, das sei ebenfalls mehr als ungewiss. Und was die Studenten anging, so schien die heutige Jugend ohnehin wie ausgewechselt: Es studierten nur die allergrößten Idioten, die kein Unternehmer an seine Drehbank ließe und kein Kommandeur je als Soldaten aufnähme. Das Schicksal der Wissenschaft von den fossilen Tieren war also besiegelt. Gai allerdings bedauerte es nicht allzu sehr. Gott mit ihnen, diesen Fossilien - danach stand einem jetzt wahrhaftig nicht der Sinn; überhaupt war ungewiss, wozu und wem dieses Fach je nützen würde. Rada aber, die den Onkel sehr gern hatte, entrüstete sich jedes Mal genauso wie er über die Dummheit seines Kollegen Schapschu und war bekümmert, dass die Universitätsleitung die für Expeditionen nötigen Mittel verweigerte.

Doch heute sprach man von etwas anderem. Rada hatte, Massaraksch!, hinter ihrem Schirm alles gehört und fragte nun den Onkel, worin sich die Entarteten von normalen Menschen unterschieden. Gai warf Mak einen drohenden Blick zu und bat die Schwester, ihren Lieben nicht den Appetit zu verderben, und stattdessen die entsprechende Literatur zu lesen. Onkelchen Kaan jedoch verkündete, diese Literatur sei für die dümmsten Dummköpfe geschrieben, denn die Herrschaften aus der Abteilung Volksbildung hielten alle anderen für ebensolche Analphabeten, wie sie es selbst waren. Die Frage der Entarteten sei aber ganz und gar nicht so einfach und belanglos, wie sie immer dargestellt werde - und das

»Die Entarteten sind ohne jeden Zweifel gefährlich«, der Onkel hob den Zeigefinger, »und zwar noch viel gefährlicher, als das in deinen billigen Broschüren dargestellt wird, Gai. Die Entarteten sind aber nicht in sozialer oder politischer Hinsicht gefährlich; denn sie kämpfen nicht gegen ein bestimmtes Volk. Sie kämpfen gegen alle Völker, gegen alle Nationalitäten und Rassen gleichzeitig. Sie kämpfen um ihren Platz in der Welt, um die Existenz ihrer Spezies. Dieser Kampf ist unabhängig von den sozialen Gegebenheiten, und enden wird er erst, wenn entweder der letzte Mensch oder der letzte Mutant den Schauplatz der biologischen Geschichte verlässt. ›Gold der Hontianer‹ - so ein Quatsch!«, schrie der Professor aufgebracht. »›Diversionen gegen das Raketenabwehrsystem‹ - alles Blödsinn! Schaut nach Süden, meine Herren! Nach Süden! Hinter die Blaue Schlange! Dort droht die wirkliche Gefahr. Von da werden, sich immer weiter vermehrend, Kolonnen menschenähnlicher Ungeheuer über uns hereinbrechen, um uns zu zertreten und auszulöschen. Du bist ein Blinder, Gai. Auch deine Kommandeure sind blind. Es gilt, die Zivilisation zu retten. Nicht irgendein Volk, nicht unsere Mütter und Kinder - die gesamte Menschheit!«

Gai hielt ihm zornig entgegen, das Schicksal der Menschheit interessiere ihn wenig. Er glaube nicht an solche Hirngespinste, und fände sich eine Möglichkeit, die wilden Entarteten auf Honti zu hetzen, damit sie seine Heimat verschonten,

Aber Gais Phantasie war geweckt; im Fernsehen lief Unsinn, und so begann er, von den wilden Entarteten zu erzählen. Er wusste ja manches über sie - schließlich hatte er, Gott sei Dank!, drei Jahre gegen sie gekämpft und nicht im Hinterland gehockt wie gewisse Philosophen … Rada war wegen des Onkels gekränkt und schimpfte Gai einen Angeber. Der Onkel und Mak hingegen ergriffen, wer weiß, warum, für ihn Partei und baten ihn weiterzureden. Gai aber stellte sich stur: Kein Wort würde er mehr sagen. Zum einen war er tatsächlich ein wenig beleidigt, zum anderen konnte er sich trotz aller Mühe an nichts erinnern, womit er die dummen Ideen des alten Säufers hätte widerlegen können. Die Entarteten des Südens waren in der Tat grausame, absolut gnadenlose Wesen und würden ohne Zweifel bei der ersten Gelegenheit die ganze Menschheit ausrotten; vielleicht hätten sie sogar Spaß dabei. Dann aber kam Gai die Idee, dem Onkel eine These aufzutischen, die er einmal von Sef, dem Ältesten der 134. Todeskandidaten-Gruppe, gehört hatte. Nach Auffassung der Rotvisage

»Wer hat das behauptet?«, fragte der Onkel verächtlich. »Von welchem Vollidioten stammt dieser vollkommen primitive Gedanke?«

Gai sah ihn schadenfroh an und antwortete gewichtig: »Das ist die Meinung eines gewissen Allu Sef, Träger des Kaiserlichen Forschungspreises, eines der bedeutendsten Psychiater unseres Landes.«

»Und wo hast du ihn getroffen?«, erkundigte sich von oben herab der Onkel. »In der Kompanieküche?«

Gai wollte schon herausplatzen, woher er Sef kannte, biss sich aber rechtzeitig auf die Zunge. Er setzte eine bedeutende Miene auf, schaute zum Fernseher und lauschte dann sehr aufmerksam dem Wetterbericht.

In dem Moment aber, Massaraksch!, mischte sich schon wieder Mak ein. »Ich kann«, sagte er, »die Missgeburten im Süden als neue menschliche Rasse akzeptieren. Aber wo ist die Verbindung zwischen ihnen und dem Hausbesitzer Renadu, zum Beispiel? Renadu zählt auch als Entarteter, gehört aber sicher nicht zur neuen, sondern zur uralten Art von Menschen.« Darüber hatte Gai nie nachgedacht, und er war froh, dass jetzt der Onkel in die Bresche sprang: Onkelchen Kaan erklärte, dass die städtischen, »getarnten« Entarteten nichts anderes seien als zufällig heil davongekommene Exemplare dieser neuen Gattung, die ansonsten in den zentralen Gebieten fast völlig vernichtet wurde. Er entsinne sich noch an diese Gräuel. Man hatte die missgebildeten Säuglinge gleich nach ihrer Geburt getötet, manchmal auch die Mütter. Und nur diejenigen hätten überlebt, deren neue Artmerkmale

Damit beendeten sie ihr Essen. Rada spülte das Geschirr. Der Onkel, der keine Einwände erwartete, sah sich siegesgewiss um, verschloss den Flachmann, steckte ihn ein und murmelte, er gehe jetzt, um diesem Nichtskönner Schapschu eine Antwort zu schreiben. Aus irgendeinem Grund nahm er sein Glas mit. Gai sah ihm hinterher - die abgewetzte Jacke, die alten, geflickten Hosen, die gestopften Socken und abgetragenen Pantoffeln, und der Alte tat ihm leid. Verfluchter Krieg! Früher gehörte dem Onkel eine große Wohnung, er hatte eine Frau, einen Sohn, ein Dienstmädchen, besaß kostbares Geschirr, Geld, sogar einen Landsitz - und jetzt? Ein verstaubtes Arbeitszimmer voller Bücher, in dem er auch schlief und wohnte, schäbige Kleider. Er war einsam, vergessen … Gai schob sich den Sessel näher zum Fernseher, räkelte sich und blickte schläfrig auf den Bildschirm. Mak saß noch einige Zeit neben ihm, war dann aber plötzlich verschwunden - vollkommen lautlos, wie nur er es konnte. Schon befand er sich in der anderen Ecke des Zimmers und stöberte in Gais kleiner Bibliothek. Er griff sich ein Lehrbuch heraus und blätterte darin, im Stehen, die Schulter gegen den Kleiderschrank gelehnt. Jetzt setzte sich Rada zu ihrem Bruder, begann zu stricken und verfolgte mit halbem Auge das Fernsehprogramm. Im Haus wurde es ruhig und friedlich. Gai nickte ein.

Er träumte unsinniges Zeug: In einem eisernen Tunnel fing er zwei Entartete, verhörte sie und merkte plötzlich, dass einer von ihnen Mak war. Der andere sagte, mild und gutherzig

Rada und Mak plauderten leise über Nichtigkeiten - das Baden im Meer, den Sand, die Muscheln. Gai aber hörte nicht zu. Ihm war plötzlich der Gedanke gekommen, er könne tatsächlich zu Zweifeln fähig sein, zum Schwanken, zur Unsicherheit. Im Traum hatte er gezweifelt. Bedeutete das nun, dass er auch in Wirklichkeit unter diesen Umständen unsicher wäre? Einige Zeit versuchte er, sich des Traumes in allen Einzelheiten zu erinnern, aber er entglitt ihm, wie Seife aus nassen Händen. Am Ende erschien er ihm ganz und gar unwahrscheinlich, und Gai dachte erleichtert, es seien wohl doch nur Hirngespinste gewesen. Als Rada sah, dass er nicht schlief, fragte sie ihn, was er für besser halte, Meer oder Fluss, und Gai antwortete militärisch knapp, im Stil des alten Doga: »Am besten ist ein gutes Schwitzbad.«

Im Fernsehen lief jetzt Ornamente. Es war langweilig. Gai schlug vor, Bier zu trinken. Rada ging in die Küche und holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank. Sie sprachen über dies und jenes, wobei sich herausstellte, dass Mak in der vergangenen halben Stunde ein komplettes Lehrbuch der Geopolitik durchgearbeitet hatte. Rada war begeistert. Gai aber wollte es nicht glauben. Er behauptete, in dieser Zeit hätte man das Buch durchblättern, bestenfalls den Text überfliegen können - allerdings rein mechanisch und ohne etwas zu verstehen oder sich gar etwas zu merken. Mak schlug eine Prüfung vor, und Gai erklärte sich bereit. Sie schlossen folgende Wette: Der Verlierer sollte zu Onkelchen Kaan gehen und ihm sagen,

Gai hatte tatsächlich überhaupt keine Lust, zu Onkel Kaan zu gehen. Und um Zeit zu gewinnen, fing er einen Streit mit Rada an. Mak hörte eine Weile zu und sagte dann ganz unvermittelt, Rada dürfe keinesfalls wieder als Kellnerin arbeiten - sie müsse studieren. Froh über den Themenwechsel, rief Gai, er habe das schon tausendmal gesagt und ihr vorgeschlagen, sich um Aufnahme in das Frauenkorps der Garde zu bemühen, wo man einen wahrhaft nützlichen Menschen aus ihr machen werde. Weiter kamen sie in diesem Gespräch nicht; Mak schüttelte nur den Kopf, und Rada äußerte sich, wie auch schon früher, sehr respektlos über das Frauenkorps.

Gai aber wollte nicht streiten; er warf das Lehrbuch hin, holte die Gitarre aus dem Schrank und begann sie zu stimmen. Sofort schoben Rada und Mak den Tisch beiseite und stellten sich einander gegenüber. Gai schlug kräftige Akkorde an, klopfte den Takt und sah zu, wie sie tanzten. Ein schönes Paar, dachte er, doch es gab keinen Platz, wo sie hätten zusammenleben können. Heirateten sie, müsste Gai in die Kaserne ziehen, was aber nicht so schlimm wäre, denn viele Korporale wohnten dort. Doch Mak wirkte überhaupt nicht heiratslustig. Er behandelte Rada eher wie einen guten Freund, wenn auch zartfühlender, achtungsvoller. Rada hingegen war ganz sicher in ihn verliebt. Wie ihre Augen glänzten! In so einen Burschen musste man sich wohl einfach verlieben. Sogar die alte Madam Go, die schon weit über sechzig war, hatte es erwischt: Kam Mak den Flur entlang, öffnete sie die Tür, steckte ihren Schädel heraus und grinste über das ganze Gesicht. In der Tat, Mak war im ganzen Haus beliebt. Auch die Jungs mochten ihn. Nur der Herr Rittmeister behandelte ihn seltsam, obwohl auch er nicht leugnete, dass der Bursche ein Teufelskerl war.

Die beiden tanzten bis zum Umfallen. Dann ließ sich Mak Gais Gitarre geben, stimmte sie auf seine merkwürdige Weise und fing an, diese eigenartigen Gebirgslieder zu singen. So viele Lieder - und kein einziges war ihnen bekannt. Jedes Mal etwas Neues. Und seltsam: Obwohl sie nichts verstanden, war ihnen vom bloßen Zuhören mal zum Weinen und mal zum Lachen zumute. Einige Melodien hatten sich Rada schon eingeprägt, und sie versuchte jetzt mitzusummen. Besonders gefiel ihr ein Scherzlied (Mak hatte es übersetzt) von einem Mädchen, das auf einem Berg sitzt und auf seinen Freund wartet. Der aber kann einfach nicht zu ihr gelangen, denn erst hindert ihn das eine, dann das andere … Spiel und Gesang übertönten das Läuten an der Haustür. Gleich darauf klopfte es, und ins Zimmer stürmte der Bursche des Herrn Rittmeisters Tschatschu.

»Herr Korporal, gestatten zu melden!«, schnarrte der Gardist und schielte zu Rada.

Mak unterbrach sein Gitarrenspiel. Gai sagte: »Melden Sie!«

»Befehl vom Herrn Rittmeister: Sie und Anwärter Sim haben sofort in der Schreibstube der Kompanie zu erscheinen. Das Auto wartet unten.«

Gai sprang auf. »Wegtreten!«, rief er. »Gehen Sie zum Wagen, wir kommen nach. Zieh dich schnell an!«, drängte er Maxim.

Rada nahm die Gitarre in die Arme, behutsam wie einen Säugling, und stellte sich ans Fenster, das Gesicht abgewandt.

Gai und Mak zogen sich eilig an.

»Was meinst du, worum es geht?«, fragte Mak.

»Was weiß ich«, brummte Gai. »Vielleicht Probealarm.«

»Mir gefällt das nicht«, sagte Mak.

Gai sah ihn an. Dann schaltete er das Radio ein, vielleicht war dort etwas zu erfahren. Aber wie immer um diese Zeit, brachte man »Müßige Gespräche tatkräftiger Frauen«. Inzwischen hatten sie auch das Koppel umgeschnallt, und Gai murmelte: »Rada, wir gehen.«

»Geht«, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen.

»Los, Mak!« Gai stülpte sich das Barett auf.

»Ruft an«, bat Rada. »Wenn es länger dauert, ruft unbedingt an.« Sie blickte immer noch aus dem Fenster.

Der Bursche des Rittmeisters öffnete Gai beflissen die Wagentür. Dann stiegen sie ein und fuhren los. Es bestand tatsächlich Grund zur Eile, denn der Fahrer raste mit eingeschalteter Sirene los und fuhr auf der Reservespur. Gai bedauerte, dass der Abend so geendet hatte; es war einer dieser seltenen, sehr schönen Abende zu Hause gewesen, gemütlich, sorglos. Aber so war das Gardistenleben. Nur ein paar Minuten nach der Flasche Bier, dem Pyjama und den Liedern zur Gitarre

Der Wagen rollte auf den Platz und bremste vor dem Kasernentor. Gai stieg schnell aus und lief die Stufen hinauf. Vor der Tür zur Schreibstube blieb er stehen, überprüfte den Sitz seines Baretts und der Gürtelschnalle, brachte Maxims Äußeres in Ordnung (Massaraksch! Immer stand ihm dieser Kragenknopf offen!) und klopfte. »Herein!«, krächzte die vertraute Stimme. Gai erstattete Meldung. Rittmeister Tschatschu saß in Mantel und Mütze an seinem Tisch, trank Kaffee und rauchte, die Granathülse vor ihm war voller Zigarettenstummel. Seitlich lagen zwei Maschinenpistolen. Der Rittmeister erhob sich langsam, stützte beide Hände schwer auf den Tisch, sah Mak an und sagte: »Anwärter Sim. Du hast dich als hervorragender Kämpfer und treuer Kamerad bewährt, so dass ich beim Brigadekommandeur um deine vorzeitige Beförderung zum Ordentlichen Soldaten der Kämpfenden Garde nachgesucht habe. Deine Feuertaufe hast du erfolgreich bestanden. Bleibt die letzte Prüfung - durch Blut.«

Gai hatte nicht erwartet, dass dies so bald geschehen würde, und sein Herz hüpfte vor Freude. Der Herr Rittmeister war ein Mordskerl! Ein alter Haudegen! Und er, Gai, dumm, wie er war, hatte geglaubt, Rittmeister Tschatschu versuche Mak hereinzulegen. Gai warf dem Freund einen Blick zu, und seine Begeisterung wurde sogleich gedämpft: Maks starres Gesicht und seine aufgerissenen Augen entsprachen zwar ganz und gar der Vorschrift, doch gerade in dieser Situation hätte er sie nicht so streng zu befolgen brauchen.

»Ich übergebe dir hier den Befehl, Anwärter Sim.« Der Rittmeister reichte Mak einen Bogen Papier. »Den ersten

Mak überflog das Schreiben. Wieder stockte Gai das Herz - aber nicht vor Freude, sondern in der Vorahnung von etwas Ungutem. Maks Miene war noch immer ungerührt, und alles schien in Ordnung zu sein, doch er hatte ein wenig gezögert, ehe er den Stift nahm und unterschrieb. Rittmeister Tschatschu sah die Unterschrift kurz an und legte das Blatt in seine Tasche.

»Korporal Gaal!« Er reichte Gai einen verschlossenen Umschlag vom Tisch. »Geh zur Arrestzelle und bring uns die Verurteilten. Nimm die MP mit … nein, diese dort, die am Rand liegt.«

Gai hängte sich die Maschinenpistole über die Schulter, machte kehrt und wandte sich zur Tür. Er hörte noch, wie der Rittmeister zu Mak sagte: »Macht nichts, Anwärter, keine Bange! Schlimm ist’s nur beim ersten Mal.«

Im Laufschritt überquerte Gai den Platz, händigte dem wachhabenden Offizier im Brigadegefängnis das Kuvert aus, unterschrieb an der vorgesehenen Stelle und erhielt seinerseits alle nötigen Bescheinigungen. Dann brachte man ihm die Verurteilten. Es waren zwei der ehemaligen Verschwörer - der dicke Mann, dem Mak die Finger ausgerenkt hatte, und die Frau. Massaraksch, das fehlte gerade! Die Frau hätte es nicht zu sein brauchen, das war nichts für Mak. Gai führte die Gefangenen hinaus auf den Platz und trieb sie zur Kaserne. Der Mann setzte mühsam einen Fuß vor den anderen, sein Arm schlenkerte. Die Frau hingegen hielt sich steif wie ein Stock, hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und schien weder etwas zu hören noch zu sehen. Massaraksch, warum sollte sie nichts für Mak sein? Dieses Weib war genauso ein Scheusal wie der Mann. Weshalb sollten sie ihr irgendwelche Sonderrechte zubilligen? Und weshalb, Massaraksch, sollte der Anwärter Sim Sonderrechte genießen?

Der Herr Rittmeister und Mak saßen bereits im Wagen. Der Herr Rittmeister hinterm Steuer, Mak, die Maschinenpistole zwischen den Knien, auf dem Rücksitz. Gai öffnete die Tür, und die Verurteilten krochen hinein. »Auf den Boden!«, befahl er. Gehorsam ließen sie sich auf dem Eisenboden nieder. Gai nahm Mak gegenüber Platz. Er versuchte, einen Blick von ihm zu erhaschen, doch Mak sah die Verurteilten an. Nein, er starrte auf die Frau, die mit angezogenen Knien in sich zusammengesunken schien. Ohne sich umzudrehen, fragte der Rittmeister: »Fertig?«, und der Wagen setzte sich in Bewegung.

Unterwegs wurde nicht gesprochen. Rittmeister Tschatschu fuhr sehr schnell - wohl, um die Sache erledigt zu haben, bevor es dämmerte. Wozu auch trödeln. Nach wie vor hielt Mak seine Augen auf die Frau gerichtet, so als wollte er, dass ihre Blicke sich träfen. Und Gai suchte noch immer nach Maks Blick. Die Verurteilten rutschten, sich gegenseitig stützend, auf dem Boden hin und her, der Dicke begann ein Gespräch mit der Frau, doch Gai schrie ihn an. Sie verließen jetzt die Stadt, passierten den südlichen Sicherheitsposten und bogen gleich darauf in einen halb zugewachsenen Feldweg, der zu den Rosa Höhlen führte. Gai kannte ihn, er kannte ihn sogar sehr gut … Das Auto rumpelte, man konnte sich kaum halten. Mak hob seine Augen nach wie vor nicht, und diese Halbtoten gingen Gai allmählich auf die Nerven: griffen ihm immerfort an die Knie, um die Stöße abzufangen. Schließlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten und hieb diesem dicken Kerl seinen Stiefel in die Rippen. Doch auch das half nicht; der Kerl versuchte, sich weiter festzuhalten. Sie fuhren noch eine Kurve, dann bremste der Wagen scharf und rollte langsam in einen Steinbruch. Der Herr Rittmeister schaltete den Motor aus und befahl: »Aussteigen!«

Es war schon etwa sechs Uhr abends, im Gelände sammelte sich Abenddunst, die verwitterten Felsen schimmerten rosig. Früher hatte man hier Marmor gewonnen. Doch wer brauchte den jetzt noch …

Bald würde es so weit sein. Mak war noch immer der ideale Soldat: keine überflüssige Bewegung, das Gesicht starr und gleichgültig, die Augen in Erwartung der Befehle auf den Vorgesetzten gerichtet. Der dicke Gefangene hielt sich wacker, würdevoll. Scherereien würde es mit ihm wohl nicht geben. Das Weib aber verlor zu guter Letzt doch noch die Fassung. Krampfhaft presste sie immer wieder die Fäuste gegeneinander, drückte sie an die Brust und ließ sie wieder sinken. Ganz ohne Hysterie wird es nicht abgehen, dachte Gai, aber zur Exekution werden wir sie wohl trotzdem nicht schleifen müssen.

Der Herr Rittmeister steckte sich eine Zigarette an, schaute zum Himmel und wies Mak an: »Führe sie diesen Pfad entlang. Bei den Höhlen siehst du dann schon, wohin du sie stellen musst. Hinterher prüfst du auf jeden Fall, ob sie tot sind. Notfalls erledigst du sie mit einem Kontrollschuss. Weißt du, was das ist?«

»Jawohl!«, antwortete Mak mit ungerührter Stimme.

»Du lügst, du weißt es nicht. In den Kopf musst du treffen. Und nun los, Anwärter! Zurückkommen wirst du als Ordentlicher Soldat.«

In diesem Moment ließ sich die Frau vernehmen: »Wenn wenigstens einer von euch ein Mensch ist … sagt es meiner Mutter … Entensiedlung Nummer zwei … ganz in der Nähe … Sie heißt …«

»Erniedrige dich nicht!«, hörte man den tiefen Bass des dicken Mannes.

»Sie heißt Illi Tader …«

»Du sollst dich nicht erniedrigen!« Der Untersetzte hob die Stimme. Ohne auszuholen, schlug ihm Rittmeister Tschatschu

»Los, Anwärter!«, wiederholte dieser.

Mak wandte sich den Verurteilten zu, machte eine Bewegung mit seiner Maschinenpistole, und die beiden betraten den Pfad. Die Frau drehte sich noch einmal um und rief: »Entensiedlung zwei, Illi Tader!«

Mak folgte ihnen langsam, die Maschinenpistole im Anschlag. Der Rittmeister öffnete die Wagentür, setzte sich seitlich auf den Fahrersitz und streckte die Beine aus.

»Na, dann warten wir ein Viertelstündchen.«

»Jawohl, Herr Rittmeister«, antwortete Gai mechanisch.

Er folgte Mak mit den Augen, bis die Gruppe hinter einem Felsvorsprung verschwunden war. Auf dem Rückweg kaufen wir eine Flasche Schnaps, dachte er. Soll er sich betrinken. Man sagt, das hilft.

»Du darfst rauchen, Korporal«, krächzte der Rittmeister.

»Danke, Herr Rittmeister, ich rauche nicht.«

Rittmeister Tschatschu spuckte weit aus. »Fürchtest du nicht, dein Freund könnte dich enttäuschen?«

»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Gai unsicher. »Obwohl es mir, wenn Sie erlauben, sehr leidtut, dass ihm die Frau zufiel. Er ist ein Gebirgler, und bei denen …«

»Er ist so wenig Gebirgler wie du und ich«, unterbrach ihn Rittmeister Tschatschu. »Und hier geht es auch nicht um Frauen. Übrigens, warten wir ab. Womit wart ihr beschäftigt, als ich euch holen ließ?«

»Wir haben gesungen, Herr Rittmeister.«

»Und was habt ihr gesungen?«

»Gebirgslieder, Herr Rittmeister. Er kennt viele.«

Rittmeister Tschatschu stieg aus und ging auf dem Pfad hin und her. Er sagte nichts mehr. Nach etwa zehn Minuten fing er an, den »Marsch« zu pfeifen. Gai wartete auf die

»So …« Der Herr Rittmeister blieb stehen. »Das war’s, Korporal Gaal! Ich fürchte, deinen Freund sehen wir nicht wieder. Und du bist vermutlich die längste Zeit Korporal gewesen.«

Gai sah ihn verwundert an. Der Rittmeister grinste.

»Was glotzt du denn wie das Schwein auf den Schinken? Dein Freund ist geflohen, desertiert! Er ist ein Feigling und Verräter! Klar, Soldat Gaal?«

Gai war bestürzt. Weniger wegen Rittmeister Tschatschus Worten als durch seinen Ton. Der Herr Rittmeister war begeistert. Der Herr Rittmeister triumphierte. Der Herr Rittmeister strahlte, als hätte er das große Los gezogen. Unwillkürlich glitt Gais Blick in die Tiefe des Steinbruchs. Und da sah er Mak. Er kehrte zurück. Allein. Die Maschinenpistole baumelte am Riemen in seiner Hand.

»Massaraksch!« Der Rittmeister hatte Mak jetzt auch entdeckt und schien verwirrt.

Schweigend verfolgten sie, wie Mak über das Geröll balancierte und langsam näher kam, sahen seine ruhigen, gutmütigen Gesichtszüge, die seltsamen Augen - und in Gais Kopf kreiste alles: Schüsse waren nicht zu hören gewesen. Hatte Mak die Verurteilten etwa erwürgt oder mit dem Kolben erschlagen, er, eine Frau? Nein, Unsinn. Doch Schüsse hatte es nicht gegeben. Fünf Schritte vor ihnen blieb Mak stehen, blickte Rittmeister Tschatschu ins Gesicht und warf ihm die Maschinenpistole vor die Füße.

»Leben Sie wohl, Herr Rittmeister«, sagte er. »Diese unglücklichen Menschen habe ich laufen lassen, und jetzt gehe ich auch. Hier ist Ihre Waffe, die Uniform.« Während er das Koppel löste, wandte er sich an Gai: »Das ist eine schmutzige Sache, Gai. Sie haben uns betrogen.«

Er zog die Stiefel und den Overall aus, rollte alles zu einem Bündel zusammen und war jetzt so, wie Gai ihn zum ersten Mal gesehen hatte: an der Südgrenze, fast nackt, nur mit kurzen, silbrig glänzenden Shorts bekleidet, jetzt sogar barfuß. Er ging zum Wagen und legte das Bündel auf die Kühlerhaube. Gai erschrak. Dann sah er zu Rittmeister Tschatschu hinüber und erschrak noch mehr.

»Herr Rittmeister!«, rief er. »Er ist verrückt! Er hat wieder …«

»Anwärter Sim!«, blaffte der Rittmeister, die Hand an der Pistolentasche. »Steigen Sie in den Wagen! Sie sind verhaftet.«

»Nein«, entgegnete Mak. »Sie irren. Ich bin frei. Ich bin hier, um Gai zu holen. Gai, komm! Sie haben dich reingelegt. Sie sind nicht anständig. Früher habe ich’s geahnt, jetzt bin ich sicher.«

Gai schüttelte den Kopf. Er wollte etwas erklären, doch er fand weder Worte noch hatte er Zeit dazu. Der Rittmeister zog die Pistole. »Anwärter Sim! In den Wagen!«, schnauzte er.

»Kommst du?«, fragte Mak.

Wieder schüttelte Gai den Kopf. Er starrte auf die Waffe in Rittmeister Tschatschus Hand und dachte nur eins: Gleich würde Mak erschossen. Und er wusste nicht, was er tun sollte.

»Na gut«, lenkte Mak ein. »Ich finde dich. Ich bringe Licht in diese Angelegenheit und finde dich. Dein Platz ist nicht hier. Gib Rada einen Kuss!«

Er drehte sich um und ging davon, über die Steine, barfuß, und ebenso leicht wie zuvor in seinen Stiefeln. Gai zitterte

»Anwärter Sim!« Die Stimme des Rittmeisters klang unbeteiligt. »Ich befehle Ihnen umzukehren. Andernfalls schieße ich.«

Mak hielt an, drehte sich noch einmal um.

»Schießen?«, sagte er. »Auf mich? Warum? Aber das ist jetzt unwichtig. Geben Sie mir Ihre Waffe.«

Der Herr Rittmeister zielte aus der Hüfte und richtete langsam die Mündung auf Mak.

»Ich zähle bis drei. Setz dich ins Auto, Anwärter! Eins …«

»Nun geben Sie mir schon die Pistole.« Mak näherte sich mit ausgestreckter Hand dem Rittmeister

»Zwei!«, krächzte der Rittmeister.

»Nicht!«, schrie Gai.

Der Herr Rittmeister schoss. Mak stand schon nahe. Die Kugel traf ihn in die Schulter, und er fuhr zurück, als sei er auf ein Hindernis gestoßen.

»Narr!«, sagte Mak. »Geben Sie Ihre Waffe her, Sie dummer, böser Narr!«

Er blieb nicht stehen, sondern kam, die Hand nach der Pistole ausgestreckt, immer näher, und aus dem Loch in seiner Schulter quoll plötzlich Blut. Der Herr Rittmeister gab einen merkwürdigen Laut von sich, wich zurück und schoss dreimal, schnell nacheinander, direkt in die breite, braune Brust. Mak wurde nach hinten geschleudert, fiel auf den Rücken, sprang wieder auf, stürzte noch einmal, erhob sich halb - und der Rittmeister, dem vor Erregung die Knie eingeknickt waren und der halb am Boden saß, traf ihn mit noch drei Kugeln. Mak wälzte sich auf den Bauch. Dann lag er starr.

Vor Gais Augen verschwamm alles, die Füße trugen ihn nicht mehr, und er sank auf das Trittbrett des Wagens. In seinen

Maks gebräunter Körper lag zwischen weißrosa Steinen und war selbst reglos wie ein Stein. Rittmeister Tschatschu hockte noch an derselben Stelle, hielt die Pistole im Anschlag und rauchte gierig, tief inhalierend. Gai beachtete er nicht. Als ihm die Glut die Lippen versengte, warf er den Stummel weg und machte zwei Schritte auf den Toten zu. Der zweite geriet schon sehr kurz - er konnte sich nicht entschließen, näher an den Toten heranzutreten. Aus zehn Schritt Entfernung feuerte er den Kontrollschuss, traf aber nicht; Gai sah, wie neben Maks Kopf Steinstaub aufgewirbelt wurde.

»Massaraksch!«, fauchte der Rittmeister und nestelte an seiner Pistolentasche.

Er brauchte lange, um die Waffe einzustecken, konnte den Knopf einfach nicht schließen. Dann kam er zu Gai, packte ihn mit der verkrüppelten Hand an der Uniform und zog ihn mit einem Ruck hoch. Heftig atmete er ihm ins Gesicht und lallte wie ein Betrunkener: »Schön. Du bleibst Korporal. Doch in der Garde hast du nichts mehr zu suchen. Du beantragst deine Versetzung in die Armee. Steig ein.«




»Irgendetwas stinkt hier …«


»Irgendetwas stinkt hier«, sagte der Papa.

»Wirklich?«, sagte der Schwiegervater. »Ich rieche nichts.«

»Es stinkt, es stinkt«, sagte der Schwager angewidert. »Nach irgendwas Verfaultem. Wie auf dem Müllplatz.«

»Dann schimmeln vielleicht die Wände«, entschied der Papa.

»Gestern habe ich den neuen Panzer gesehen«, sagte der Onkel. »Einen ›Vampir‹. Ideale Abdichtung. Thermische Schranke bis tausend Grad.«

»Sie haben wahrscheinlich schon unter dem seligen Kaiser geschimmelt«, sagte der Papa, »und nach dem Umsturz wurden sie nicht renoviert.«

»Hat er es bestätigt?«, wollte der Vetter vom Onkel wissen.

»Hat er«, sagte der Onkel.

»Und wann geht er in Serie?«, fragte der Vetter.

»Ist er schon«, sagte der Schwiegervater. »Zehn Stück pro Tag.«

»Mit euren Panzern stehen wir bald ohne Hosen da«, sagte der Schwager mürrisch.

»Lieber ohne Hosen als ohne Panzer«, entgegnete der Onkel.

»Du bist Oberst gewesen«, antwortete ihm der Schwager bärbeißig, »und bist es geblieben. Willst immerzu mit Panzern spielen …«

»Irgendwie tut mir ein Zahn weh«, sagte der Papa nachdenklich. »Wanderer, ist es denn so schwer, eine schmerzlose Behandlung für Zähne zu erfinden?«

»Ich kann darüber nachdenken«, sagte der Wanderer.

»Denk lieber über die schweren Systeme nach«, sagte der Vetter verärgert.

»Ich kann auch über die schweren Systeme nachdenken«, meinte der Wanderer.

»Lasst uns heute einmal nicht über schwere Systeme reden«, schlug der Papa vor. »Lasst uns annehmen, es sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«

»Ich finde, es ist sehr wohl der richtige Zeitpunkt dafür«, widersprach der Vetter. »Pandea hat noch eine Division an die Grenze zu Honti verlegt.«

»Und was geht dich das an?«, knurrte der Schwager.

»Viel geht mich das an«, antwortete der Vetter. »Ich habe nämlich darüber nachgedacht. Ich halte es durchaus für möglich, dass sich die Pandeaner in Honti einmischen und dort im Handumdrehen ihren Mann an die Spitze bringen. Dann haben wir eine vereinigte Front von fünfzig Millionen gegen unsere vierzig.«

»Ich würde eine Menge darum geben, dass sie sich in Honti einmischen«, sagte der Schwager. »Ihr denkt immer, wer das schafft, hat einen Vorteil. Aber ich sage: Wer Honti anrührt, hat verloren.«

»Kommt darauf an, wie man es anrührt«, sagte der Schwiegervater leise. »Wenn man es vorsichtig macht, mit wenig Truppen und ohne dort stecken zu bleiben - anrühren und sich sofort zurückziehen, wenn sie aufhören, sich zu streiten … Und man müsste vor den Pandeanern da sein …«

»Was wollen wir eigentlich?«, fragte der Onkel. »Hontianer, die auf unserer Seite sind, vereinigte Hontianer ohne Bürgerkrieg oder tote Hontianer - ohne Invasion ist das alles nicht zu haben. Wir sollten uns auf eine Invasion einigen; alles Weitere sind dann schon Einzelheiten. Für jede Variante haben wir unseren Plan schon fertig.«

»Du willst uns partout ohne Hosen dastehen lassen«, sagte der Schwager. »Wenn es nach dir geht - ohne Hosen, Hauptsache mit Orden. Was bringt dir ein vereinigtes Honti, wenn du ein gespaltenes Pandea haben kannst?«

»Spekulatives Geschwätz«, bemerkte der Vetter, ohne sich direkt an jemanden zu wenden.

»Das ist nicht lustig«, sagte der Schwager. »Unrealistische Varianten bringe ich hier nicht vor. Wenn ich etwas sage, habe ich dafür Gründe.«

»Du kannst kaum ernsthafte Gründe haben«, sagte der Schwiegervater sanft. »Dich lockt ja nur, dass die Lösung so

»Und du, Schlaukopf, warum sagst du nichts?«, fragte der Papa. »Du bist doch bei uns der Schlaukopf.«

»Wenn die Väter sprechen, halten kluge Kinder den Mund«, antwortete der Schlaukopf lächelnd.

»Nun sag schon, sag.«

»Ich bin kein Politiker«, wandte der Schlaukopf ein. Alle lachten, der Onkel verschluckte sich sogar. Schlaukopf fuhr fort: »Wirklich, meine Herren, da gibt es nichts zu lachen. Ich bin bloß ein hoch spezialisierter Fachmann. Und als solcher kann ich nur mitteilen, dass meinen Informationen zufolge die Stimmung im Offizierskorps der Armee zum Krieg neigt.«

»Ach so?«, sagte der Papa und musterte ihn eindringlich. »Du also auch?«

»Entschuldige, Papa«, sagte der Schlaukopf hitzig. »Aber jetzt ist, glaube ich, ein sehr günstiger Zeitpunkt für eine Invasion: Die Umrüstung der Armee ist fast abgeschlossen.«

»Gut, gut«, lenkte der Papa ein. »Wir werden nachher darüber reden.«

»Es ist ganz und gar unnötig, nachher darüber zu reden«, entgegnete der Schwiegervater. »Wir sind hier unter uns, und ein Fachmann ist verpflichtet, seine Ansicht zu äußern. Zu dem Zweck wurde er schließlich in den Kreis aufgenommen.«

»Apropos Fachleute«, sagte der Papa. »Warum sehe ich den Hampelmann nicht?«

»Der Hampelmann inspiziert gerade den Verteidigungsgürtel in den Bergen«, sagte der Onkel. »Aber seine Meinung ist sowieso bekannt. Er hat Angst um die Armee, als wäre es seine eigene.«

»Ja«, sagte der Papa. »Mit dem Gebirge ist nicht zu spaßen. Vetter, warst du das, der mir erzählt hat, in der Garde sei ein Spion aus den Bergen entdeckt worden? Ja, meine Herren, Norden hin, Norden her, aber im Osten warten die Berge und hinter den Bergen der Ozean. Mit dem Norden werden wir irgendwie fertig. Aber wenn ihr Krieg führen wollt - bitte, dann führen wir eben Krieg, obwohl … Wie lange kommen wir hin, Wanderer?«

»Etwa zehn Tage«, sagte der Wanderer.

»Also schön, dann können wir fünf, sechs Tage Krieg führen.«

»Der Plan für die Tiefeninvasion«, sagte der Onkel, »sieht die Zerschlagung Hontis binnen acht Tagen vor.«

»Guter Plan«, stimmte der Papa zu. »In Ordnung, beschließen wir’s … Du scheinst dagegen zu sein, Wanderer?«

»Mich geht das nichts an«, sagte der.

»Gut«, beschied der Papa. »Sei ruhig dagegen. Was ist, Schwager, schließen wir uns der Mehrheit an?«

»Ach!«, sagte der Schwager erbost. »Macht doch, was ihr wollt … Und er hatte Angst vor einer Revolution …«

»Papa!«, triumphierte der Schwiegervater. »Ich wusste, dass du auf unserer Seite stehst!«

»Klar doch!«, sagte der Papa. »Was sollte ich auch ohne euch machen? Ich erinnere mich, früher besaß ich im Generalgouvernement Honti Bergwerke, Kupfer. Was wohl aus denen geworden ist? Ja, Schlaukopf! Jetzt werden wir die öffentliche Meinung organisieren müssen. Du hast dir sicher schon etwas ausgedacht, bist ja unser Schlaukopf.«

»Natürlich, Papa. Alle Vorkehrungen sind bereits getroffen.«

»Irgendein Attentat? Oder ein Überfall auf die Türme? Geh gleich los und bereite mir bis zum Abend die Unterlagen vor. Wir diskutieren inzwischen den Zeitplan.«

Als der Schlaukopf die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte der Papa: »Du wolltest uns etwas über Wasserblase mitteilen, Wanderer?«

DRITTER TEIL Terrorist


9

Der Mann, der ihn begleitete, sagte leise: »Warten Sie hier«, ging dann alleine weiter und verschwand hinter Büschen und Bäumen. Maxim setzte sich auf einen Baumstumpf inmitten der kleinen Lichtung, steckte die Hände tief in die Taschen seiner Segeltuchhose und wartete. Es war ein alter, verwilderter Wald, dem das Unterholz die Luft zum Atmen nahm. Es war feucht, und von den morschen Baumstämmen her roch es faul und modrig. Maxim schauderte. Ihm war übel. Wie gern säße er jetzt in der Sonne, wärmte sich die Schulter … Nicht weit weg, hinter den Sträuchern, war jemand, aber Maxim beachtete ihn nicht. Er wurde belauert, seit er die Siedlung verlassen hatte. Aber es machte ihm nichts aus; es wäre seltsam gewesen, wenn sie ihm sofort vertraut hätten.

Ein kleines Mädchen trat auf die Wiese; sie trug eine geflickte, viel zu große Bluse und hielt ein Körbchen in der Hand. Langsam ging sie an Maxim vorüber, starrte ihn neugierig an, und ließ ihn auch dann nicht aus den Augen, als sie immer wieder stolperte und im Gras hängen blieb. Dann war sie verschwunden. Jetzt sprang ein kleines Tier, das aussah wie ein Eichhörnchen, aus dem Gebüsch, sauste an einem Baum empor, äugte herunter, erschrak und verschwand. Ringsum

Der Unbekannte steckte noch immer hinter den Sträuchern. Maxim spürte seine feindseligen Blicke im Rücken, was unangenehm war, doch er musste sich daran gewöhnen. Denn es würde so bleiben. Die bewohnte Insel war ihm feindlich gesonnen; sie schoss auf ihn, verfolgte ihn und glaubte ihm nicht. Maxim nickte ein. In letzter Zeit passierte das oft, in den unpassendsten Augenblicken. Er schlummerte, erwachte und schlief wieder ein. Er kämpfte gar nicht erst dagegen an, denn sein Körper nahm sich so die Ruhe, die er brauchte. Es würde vorbeigehen, er durfte sich nur nicht wehren.

Das Laub raschelte. Der Begleitposten war zurück und forderte Maxim auf, ihm zu folgen. Maxim stand auf, die Hände noch immer in den Hosentaschen, und ging dem Mann nach. Er blickte auf dessen Füße, die in weichen, feuchten Stiefeln steckten. Sie gelangten tiefer in den Wald. In Kreisen und komplizierten Schlaufen näherten sie sich allmählich einem Unterschlupf, zu dem es auf geradem Weg nur ein Katzensprung gewesen wäre. Jetzt glaubte der Posten offenbar, Maxim genug verwirrt zu haben, und durchquerte geradewegs einen Windbruch. Offensichtlich war er ein Städter, denn er veranstaltete dabei solchen Lärm, dass Maxim nicht einmal mehr den Verfolger hören konnte.

Am Ende des Windbruchs sah man hinter Bäumen eine kleine Wiese; darauf stand ein schiefes Blockhaus mit vernagelten Fenstern. Das Gras stand hoch, wie unberührt, aber Maxim bemerkte, dass hier Menschen gegangen waren, früher schon, aber auch noch vor kurzem. Bemüht, Spuren zu vermeiden, hatten sie den Weg zum Haus jedes Mal etwas anders genommen. Maxims Führer öffnete eine quietschende Tür, dann traten sie in eine dunkle, muffige Diele. Der Mann, der ihnen gefolgt war, blieb draußen. »Kommen Sie, vorsichtig

Im Keller war es warm und trocken. An einem Holztisch saßen ein paar Leute, die ihre Augen komisch aufrissen, um Maxim besser sehen zu können. Es roch nach ausgeblasener Kerze. Anscheinend wollten die Leute nicht, dass Maxim ihre Gesichter sah. Zwei von ihnen kannte Maxim bereits: Ordi, die Tochter der alten Illi Tader, und den dicken Memo Gramenu. Letzterer kauerte, ein Maschinengewehr auf den Knien, direkt neben der Stiege. Über ihm schloss sich nun polternd die Luke. Dann sagte jemand: »Wer sind Sie? Erzählen Sie von sich.«

»Darf ich mich setzen?«, fragte Maxim.

»Ja, natürlich. Folgen Sie meiner Stimme, dann stoßen Sie auf eine Bank.«

Maxim setzte sich an den Tisch und warf einen Blick auf seine Nachbarn. Es waren vier. Im Dunkeln wirkten sie grau und flach, wie auf einem alten Foto. Rechts neben Maxim saß Ordi; der Sprecher, ein stämmiger, breitschultriger Mann, saß ihm gegenüber. Er ähnelte unangenehm Rittmeister Tschatschu.

»Erzählen Sie«, wiederholte er.

Maxim seufzte. Es war ihm zuwider, gleich mit einer Lüge zu beginnen, aber es musste sein.

»Über meine Vergangenheit weiß ich nichts«, sagte er. »Man hat mir gesagt, ich sei ein Gebirgler. Vielleicht stimmt es. Ich erinnere mich nicht … Ich heiße Maxim, mit Familiennamen Kammerer. Bei der Garde nannte man mich Mak Sim. Mein Gedächtnis reicht bis zu dem Moment, da man mich im Wald an der Blauen Schlange aufgriff.«

Von nun an konnte er bei der Wahrheit bleiben, und das war leichter. Er versuchte, sich kurz zu fassen, gleichzeitig aber nichts Wichtiges zu verschweigen.

»… Ich habe sie so weit wie möglich in den Steinbruch geführt, sie aufgefordert zu fliehen und bin dann langsam zurückgekehrt. Anschließend hat Rittmeister Tschatschu auf mich geschossen. In der Nacht kam ich wieder zu mir, kroch aus dem Steinbruch heraus und gelangte wenig später zu einer Weide. Mehrere Tage lang versteckte ich mich tagsüber im Gebüsch und schlief. Nachts schlich ich mich zu den Kühen und trank ihre Milch. Dann ging es mir besser. Ich bekam von den Hirten ein paar alte Sachen, schlug mich zur Entensiedlung durch und suchte dort Illi Tader auf. Den Rest wissen Sie.«

Eine Zeit lang schwiegen alle. Dann meldete sich ein Mann mit schulterlangem Haar zu Wort, seinem Äußeren nach kam er vom Lande: »Ich verstehe nicht, dass er keine Erinnerung an sein früheres Leben hat. Ich denke, das gibt es nicht. Soll der Doktor was dazu sagen.«

»Das gibt’s«, erwiderte der Doktor lakonisch. Er war ein magerer Mann, fast ausgemergelt, und drehte eine Pfeife in den Händen. Anscheinend hätte er gerne geraucht.

»Warum sind Sie nicht mit den Verurteilten geflohen?«, fragte der Breitschultrige.

»Gai war noch dort«, sagte Maxim. »Ich hatte gehofft, Gai würde mitkommen.« Er verstummte. Wieder sah er Gais bleiches, verwirrtes Gesicht und die hasssprühenden Augen des Rittmeisters, spürte die heißen Stöße in Brust und Bauch, das Gefühl von Ohnmacht und tiefer Kränkung. »Es war dumm von mir«, gab er zu. »Aber damals wusste ich das nicht.«

»Haben Sie an Operationen teilgenommen?«, tönte aus dem Hintergrund die Stimme des massigen Memo.

»Das habe ich bereits erzählt.«

»Wiederholen Sie es!«

»Ich war an dieser einen Operation beteiligt, bei der Ketschef, Ordi, Sie und noch zwei andere, die ihre Namen nicht nennen wollten, festgenommen wurden. Der eine trug eine Handprothese und ist schon lange Revolutionär, ein Profi.«

»Wie erklären Sie sich die Eile des Rittmeisters? Ehe ein Anwärter das Recht auf die Blutprobe erwirbt, muss er an mindestens drei Aktionen teilgenommen haben.«

»Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, er hat mir nicht getraut. Ich begreife selbst nicht, warum er gerade mich zur Urteilsvollstreckung auswählte.«

»Wieso hat er eigentlich auf Sie geschossen?«

»Vermutlich vor Schreck. Ich wollte ihm die Pistole abnehmen.«

»Ich verstehe das nicht«, murrte der Langhaarige. »Schön, er hat Ihnen nicht getraut. Und um Sie zu prüfen, hat er Sie losgeschickt, um die Verurteilten hinzurichten.«

»Moment, Förster«, unterbrach ihn Memo. »Das alles ist doch nur leeres Gerede. Ich an Ihrer Stelle, Doktor, würde ihn untersuchen. Ich glaube nicht recht an die Geschichte mit dem Rittmeister.«

»Im Dunkeln kann ich ihn nicht untersuchen.« Der Doktor sagte es gereizt.

»Zünden Sie das Licht wieder an«, riet Maxim. »Ich sehe Sie sowieso.«

Kurze Zeit schwiegen alle.

»Was heißt, Sie sehen uns?«, fragte der Breitschultrige.

Maxim zuckte mit den Achseln. »Ich sehe eben.«

»Blödsinn!« Memo schien verärgert. »Was mache ich denn gerade - wenn Sie mich sehen?«

Maxim wandte sich um. »Sie haben Ihre MP auf mich gerichtet, das heißt, Sie denken, auf mich, in Wahrheit aber auf den Doktor. Sie sind Memo Gramenu, ich kenne Sie. Auf Ihrer rechten Wange ist eine Schramme, die hatten Sie früher nicht.«

»Nyktalopie«, murmelte der Doktor. »Machen wir Licht. Ist doch unsinnig: Er sieht uns, und wir sehen ihn nicht.« Er tastete nach den Streichhölzern und versuchte, sie anzuzünden. Doch eins nach dem anderen brach ab.

»Ja«, pflichtete Memo ihm bei. »Ist sowieso Quatsch. Hier kommt er entweder als einer von uns raus oder gar nicht.«

»Gestatten Sie …« Maxim streckte die Hand aus, ließ sich vom Doktor die Hölzer geben und zündete die Kerze an.

Die Umsitzenden zwinkerten oder hielten die Hände vor die Augen.

Der Doktor begann sofort zu rauchen. »Ziehen Sie sich aus«, forderte er Maxim auf. In seiner Pfeife knisterte es.

Maxim streifte das Hemd aus Segeltuch über den Kopf. Alle starrten auf seine Brust. Der Doktor kam hinter dem Tisch hervor, trat dicht heran und drehte Maxim hin und her, befühlte ihn mit kräftigen, kühlen Fingern. Es war still. Dann sagte der Langhaarige, und in seiner Stimme schwang Bedauern: »Hübscher Junge. Mein Sohn war … auch …«

Niemand antwortete ihm. Dann stand er langsam auf, suchte in der Ecke nach etwas und hob schließlich mühsam eine große Korbflasche auf den Tisch. Dazu stellte er drei Becher.

»Wir können abwechselnd trinken«, erklärte er. »Wenn jemand hungrig ist, es gibt Käse. Und Zwiebeln …«

»Warten Sie, Förster«, unterbrach ihn der Breitschultrige ärgerlich. »Und rücken Sie Ihre Flasche beiseite, ich sehe nichts … Na, was ist, Doktor?«

Der Doktor tastete noch einmal Maxims Körper ab, stieß eine Rauchwolke aus und setzte sich auf seinen Platz.

»Schenk ein, Förster«, knurrte er. »Darauf muss man trinken.« Und an Maxim gewandt: »Ziehen Sie sich an! Und grinsen Sie nicht wie eine Vogelscheuche. Ich habe ein paar Fragen an Sie.«

Maxim zog sich an. Der Doktor nahm einen Schluck und verzog das Gesicht.

»Wann, sagten Sie, wurde auf Sie geschossen?«

»Vor siebenundvierzig Tagen.«

»Und womit?«

»Mit einer Pistole. Einer Armeepistole.«

Der Doktor trank noch einmal, verzog wieder das Gesicht und drehte sich zu dem Breitschultrigen. »Ich wette meinen Kopf, dass tatsächlich auf ihn geschossen wurde, mit einer Armeepistole und zwar aus sehr kurzer Entfernung. Allerdings nicht vor siebenundvierzig Tagen, sondern vor mindestens hundertsiebenundvierzig. Wo sind die Kugeln?«, fragte er Maxim plötzlich.

»Rausgewachsen. Ich habe sie weggeworfen.«

»Hören Sie, äh … Mak! Sie lügen. Gestehen Sie: Wie hat man Sie so hergerichtet?«

Maxim biss sich auf die Lippe. »Es ist die Wahrheit. Sie wissen nur nicht, wie schnell bei uns die Wunden heilen. Ich lüge nicht.« Er verstummte. »Übrigens können Sie das leicht nachprüfen. Schneiden Sie mir in die Hand. Wenn der Schnitt nicht zu tief ist, schließe ich ihn in zehn, fünfzehn Minuten.«

»Das stimmt«, pflichtete ihm Ordi bei. »Ich habe es selbst gesehen. Er hat sich beim Kartoffelschälen den Finger verletzt. Eine halbe Stunde später war nur noch eine weiße Schramme zu sehen, am nächsten Tag überhaupt nichts mehr. Er ist bestimmt ein Gebirgler. Gel hat mir erzählt, wie sie in den Bergen heilen - sie besprechen die Wunden.«

»Ach, das Heilen in den Bergen …« Der Doktor hüllte sich wieder in Rauch. »Schön, gehen wir davon aus! Ein Schnitt in den Finger ist zwar etwas anderes als sieben Kugeln aus nächster Nähe, aber gut, nehmen wir es mal an. Dass die Wunden so schnell verheilt sind, ist nicht das Erstaunlichste. Ich möchte für etwas anderes eine Erklärung: Im Körper des jungen Mannes sind sieben Einschüsse. Stammen sie wirklich von Pistolenkugeln, hätten mindestens vier von ihnen - und zwar jede für sich allein! - seinen Tod herbeiführen müssen.«

Der Förster stöhnte auf und faltete die Hände.

»Wieso, zum Teufel?«, fragte der Breitschultrige.

»Glauben Sie mir«, ereiferte sich der Doktor. »Eine Kugel ins Herz, eine ins Rückgrat und zwei in die Leber. Plus der starke Blutverlust. Plus die unvermeidliche Sepsis. Plus das Fehlen jeglicher Spur von qualifizierter ärztlicher Hilfe. Massaraksch, schon die Kugel ins Herz hätte genügt.«

»Was meinen Sie dazu?«, wandte sich der Breitschultrige wieder an Maxim.

»Er irrt«, erwiderte dieser. »Seine Diagnose ist richtig, und trotzdem irrt er. Für uns sind diese Wunden nicht tödlich. Der Rittmeister hätte mich in den Kopf treffen müssen, doch er hat es nicht … Verstehen Sie, Doktor, Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für widerstandsfähige Organe sind - Herz und Leber. Die sind ja voller Blut …«

»Hm«, sagte der Doktor.

»Eins ist sicher«, meldete sich der Breitschultrige. »Eine so plumpe Legende würden Sie uns wohl kaum auftischen. Sie wissen doch, dass wir Ärzte haben.«

Sie schwiegen. Maxim wartete geduldig. Würde ich es denn glauben?, überlegte er. Wahrscheinlich ja. Aber ich bin, wie es aussieht, sowieso viel zu vertrauensselig für diese Welt. Wenn auch schon etwas skeptischer als früher. Dieser Memo zum Beispiel gefällt mir nicht. Er hat ständig vor etwas Angst. Sitzt mit dem Maschinengewehr inmitten seiner eigenen Leute und hat Angst. Merkwürdig. Vielleicht fürchtet er mich. Denkt, ich könnte ihm die Waffe abnehmen und ihm wieder die Finger ausrenken. Gar nicht so abwegig. Auf mich soll niemand mehr schießen, dachte er, es war zu schlimm. Er erinnerte sich an die eisige Nacht im Steinbruch, an den toten, phosphoreszierenden Himmel und die kalte klebrige Lache, in der er gelegen hatte. Nein, es reichte. Von jetzt an würde lieber er schießen.

»Ich glaube ihm.« Das war Ordi. »Zwar passt in seiner Geschichte nichts zueinander, doch liegt das einfach daran, dass er ein ungewöhnlicher Mensch ist. Solche Sachen erfindet

»Danke, Amsel«, erwiderte der Breitschultrige. »Rede vorerst nicht weiter. Hat das Volksgesundheitsdepartement Sie untersucht?«, fragte er Maxim.

»Ja.«

»Wurden Sie für tauglich befunden?«

»Selbstverständlich.«

»Ohne Einschränkung?«

»Auf meiner Karte stand nur ›tauglich‹.«

»Was denken Sie über die Kämpfende Garde?«

»Jetzt denke ich, sie ist eine kopflose Waffe in jemandes Händen, am ehesten dieser berüchtigten Unbekannten Väter. Doch ich verstehe vieles noch nicht.«

»Und was denken Sie über die Unbekannten Väter?«

»Sie stehen wohl an der Spitze einer Militärdiktatur. Was ich über sie weiß, ist sehr widersprüchlich. Ihre Ziele sind vielleicht sogar lobenswert, aber die Mittel …« Maxim schüttelte den Kopf.

»Was denken Sie über die Entarteten?«

»Dieser Terminus scheint mir unzutreffend. Ich nehme an, sie sind Verschwörer. Meine Vorstellungen über ihre Absichten sind auch nur verschwommen. Aber die ›Entarteten‹, die mir bisher begegnet sind, haben mir gefallen. Sie wirkten ehrlich, und, wie soll ich es ausdrücken … nicht verdummt, sondern handelten bewusst.«

»So«, brummte der Breitschultrige. »Haben Sie manchmal diese Schmerzen?«

»Im Kopf? Nein, habe ich nicht.«

»Warum fragst du?«, mischte sich der Förster ein. »Hätte er welche, würde er nicht hier sitzen.«

»Ich will ja gerade herauskriegen, weshalb er hier sitzt«, entgegnete der Breitschultrige. »Warum sind Sie zu uns gekommen? Um mit uns zu kämpfen?«

Maxim schüttelte den Kopf.

»So würde ich es nicht nennen, das wäre gelogen. Ich möchte wissen und verstehen, was vor sich geht. Im Moment bin ich aber eher auf Ihrer Seite als auf der Seite der anderen. Doch auch über Sie weiß ich zu wenig.«

Die Versammelten blickten einander an.

»So läuft es bei uns aber nicht, mein Lieber«, sagte der Förster. »Bei uns gilt Folgendes: Entweder du gehörst zu uns, dann hier, nimm deine Waffe und geh kämpfen. Oder du gehörst nicht zu uns, dann werden wir dich … du verstehst … ins Gehirn, oder?«

Erneutes Schweigen. Der Doktor seufzte schwer und klopfte seine Pfeife an der Bank aus. »Ein seltener und schwieriger Fall«, erklärte er. »Ich schlage vor, dass er uns Fragen stellt. Sie haben doch Fragen, nicht wahr, Mak?«

»Deswegen bin ich hier«, bestätigte Maxim.

»Er hat viele Fragen.« Ordi lächelte. »Mutter ließ er keine Ruhe damit. Auch zu mir kam er ständig.«

»Fragen Sie«, sagte der Breitschultrige. »Sie, Doktor, werden antworten. Wir anderen hören zu.«

»Wer sind die Unbekannten Väter, und was wollen sie?«, begann Maxim.

Die Verschwörer wurden unruhig. So etwas hatten sie nicht erwartet.

»Die Unbekannten Väter« - der Doktor überlegte - »sind eine anonyme Gruppe von perfiden Intriganten - sozusagen die Reste der Putschistenpartei, die nach einem zwanzigjährigen Machtkampf zwischen Militärs, Finanziers und Politikern übrig geblieben sind. Sie verfolgen zwei Ziele: Erstens, an der Macht bleiben. Zweitens, durch diese Macht ein Maximum an Befriedigung für sich selbst erzielen - ebendarum

»Nein«, entgegnete Maxim. »Sie haben mir ja nur gesagt, dass es Tyrannen sind, was ich ohnehin vermutete. Worin besteht ihr ökonomisches Programm? Ihre Ideologie? Was ist ihre Basis? Auf wen stützen sie sich?«

Die vier warfen einander Blicke zu. Der Förster starrte Maxim mit offenem Mund an.

»Ihr ökonomisches Programm …«, sagte der Doktor. »Sie verlangen zu viel von uns. Wir sind keine Theoretiker, wir sind Praktiker. Aber worauf sie sich stützen, kann ich Ihnen sagen. Auf Bajonette. Auf Unwissenheit. Auf die völlige Erschöpfung der Nation. Eine gerechte Gesellschaft werden sie nicht schaffen, sie denken nicht einmal daran. Sie haben kein ökonomisches Programm, nichts haben sie außer Bajonetten, und sie wollen nichts als die Macht. Für uns ist das Wichtigste, dass sie uns vernichten wollen. Eigentlich kämpfen wir um unser Leben.« Der Doktor begann nervös seine Pfeife zu stopfen.

»Ich wollte niemanden kränken«, sagte Maxim. »Ich möchte es nur verstehen. Tyrannei, Machtgier … An sich hat das noch nicht viel zu besagen.« Gern hätte er dem Doktor die Grundlagen der Theorie historischer Gesetzmäßigkeiten erläutert, doch ihm fehlten die Worte. Ohnedies musste er manchmal ins Russische wechseln. »Lassen wir’s dabei bewenden. Doch Sie haben gesagt: eine gerechte Gesellschaft. Was ist das? Und was wollen Sie? Wonach streben Sie, außer der Erhaltung Ihres Lebens? Und wer sind Sie?«

In der Pfeife des Doktors knisterte es; stinkender Qualm füllte den Keller.

»Lasst mich mal«, hakte plötzlich der Förster ein. »Ich erkläre es ihm. Folgendes, guter Mann. Ich weiß nicht, wie es

»Warten Sie, Förster«, unterbrach ihn der Breitschultrige.

»Nein, er soll warten! Das ist mir der Richtige: ›Gesellschaft‹ will er, irgendeine ›Basis‹ …«

»Moment«, sagte nun der Doktor. »Sei nicht böse. Sieh mal, der Mann versteht doch nichts … Sehen Sie«, wandte er sich an Maxim, »unsere Bewegung ist sehr heterogen. Ein einheitliches politisches Programm haben wir nicht, können wir auch nicht haben. Wir alle töten, weil man uns tötet. Das muss man verstehen, und Sie werden es verstehen. Wir alle sind Todeskandidaten mit geringen Überlebenschancen. Und so wird alle Politik bei uns von der Biologie verdrängt. Hauptsache, überleben. Da ist einem nicht nach ›Basis‹ zumute. Sollten Sie also mit einem sozialen Programm hier erschienen sein, werden Sie nichts erreichen.«

»Worum geht es eigentlich?«, fragte Maxim.

»Man betrachtet uns als Entartete. Woher das kommt, weiß inzwischen keiner mehr. Doch zurzeit nützt es den Unbekannten Vätern, uns zu verfolgen: Es lenkt das Volk von den inneren Problemen ab, von der Korruption der Finanziers, die durch Rüstungsaufträge und beim Bau der Türme Geld scheffeln. Wenn es uns nicht gäbe, müssten uns die Unbekannten Väter wohl erfinden.«

»Das ist immerhin etwas«, erwiderte Maxim. »Wieder einmal steckt das Geld hinter allem. Und die Väter dienen ihm. Wem noch?«

»Die Väter dienen niemandem. Sie selber sind das Geld. Sie sind alles. Und dabei sind sie, nebenbei bemerkt, auch wieder nichts, weil sie anonym bleiben und sich ständig gegenseitig

»Gut. Über die Väter unterhalte ich mich mit Wildschwein. Jetzt aber …«

»Mit Wildschwein können Sie sich nicht mehr unterhalten.« Memos Stimme klang boshaft. »Er wurde erschossen.«

»Das ist der Einarmige«, erläuterte Ordi. »Sie müssen sich an ihn erinnern.«

»Ich erinnere mich«, sagte Maxim. »Er wurde nicht erschossen. Sie haben ihn zur Zwangsarbeit verurteilt.«

Der Breitschultrige blickte auf. »Nicht möglich. Wildschwein? Zur Zwangsarbeit?«

»Ja. Gel Ketschef zum Tode, Wildschwein zur Zwangsarbeit, und einen anderen, der seinen Namen nicht nannte, griff sich der Zivilist. Anscheinend für die Abwehr.«

Wieder schwiegen sie. Der Doktor trank einen Schluck aus seinem Becher. Der Breitschultrige hatte den Kopf in die Hände gestützt. Bekümmert seufzend und voller Mitgefühl, blickte der Förster Ordi an. Die Lippen zusammengepresst, starrte sie auf den Tisch; sie litt, und Maxim bereute, dass er das Thema angeschnitten hatte. Leid breitete sich aus; nur Memo in seiner Ecke empfand weniger Schmerz als Furcht. So einem darf man kein Maschinengewehr geben, dachte Maxim flüchtig. Er wird uns noch alle erschießen.

»Nun gut«, murmelte der Breitschultrige. »Haben Sie weitere Fragen?«

»Ich habe noch viele Fragen«, antwortete Maxim langsam. »Doch ich fürchte, sie sind alle mehr oder weniger taktlos.«

»Dann stellen sie eben taktlose.«

»Also die letzte: Welche Rolle spielen die Raketenabwehrtürme? Inwiefern stören sie Sie?«

Alle lachten unangenehm.

»So ein Esel, aber eine ›Basis‹ will er«, murrte der Förster.

»Das ist keine Raketenabwehr«, begann der Doktor. »Es ist unser Fluch. Sie haben eine Strahlung entwickelt, mit deren Hilfe sie den Begriff des ›Entartet-Seins‹ in die Welt setzten und verbreiteten. Die meisten Leute - auch Sie beispielsweise - bemerken diese Strahlung gar nicht. Eine kleine Gruppe von Menschen aber macht durch Besonderheiten ihres Organismus bei der Bestrahlung höllische Schmerzen durch. Manchen von uns, sehr wenigen, ist dieser Schmerz erträglich, andere halten ihn kaum aus und schreien, wieder andere verlieren das Bewusstsein, und einige kommen um den Verstand und sterben. Die Türme sind keine Raketenabwehr - so etwas existiert gar nicht und wird auch nicht gebraucht, weil weder Honti noch Pandea über ballistische Raketen oder eine Luftwaffe verfügen. Und überhaupt haben die andere Sorgen: Dort tobt schon im vierten Jahr ein Bürgerkrieg. Die Türme sind also Emitter. Zweimal täglich werden sie überall im Land eingeschaltet, und dann fängt man uns, wenn wir vor Schmerzen hilflos daliegen. Hinzu kommen die Anlagen mit lokaler Wirkung auf den Streifenwagen, plus Selbstfahremitter, plus die unregelmäßigen Strahlenschübe bei Nacht. Wir können uns nirgendwo verbergen, Schutzschirme gibt es nicht. Wir werden verrückt, erschießen uns, stellen vor Verzweiflung Dummheiten an, sterben aus.«

Der Doktor verstummte, griff nach dem Becher und trank ihn in einem Zug leer. Dann rauchte er, grimmig dreinschauend, seine Pfeife an. In seinem Gesicht zuckte es.

»Früher lebten wir gut, waren glücklich«, sagte der Förster traurig. »Diese Dreckskerle«, ergänzte er nach kurzem Schweigen.

»Es ist zwecklos, ihm das zu erzählen«, meldete sich plötzlich Memo zu Wort. »Er kennt es ja nicht. Er hat keine Ahnung, was es bedeutet, Tag für Tag die Strahlung zu erwarten.«

»Gut«, erklärte der Breitschultrige. »Wenn er keine Ahnung hat, brauchen wir nicht weiter darüber zu reden. Amsel hat sich für ihn ausgesprochen. Wer ist noch für ihn - oder dagegen?«

Der Förster öffnete seinen Mund, doch Ordi kam ihm zuvor: »Ich will noch erklären, warum ich für ihn bin. Erstens glaube ich ihm. Das habe ich bereits gesagt und ist vielleicht nicht so wichtig, weil es nur mich betrifft. Aber der Mann verfügt zudem über Fähigkeiten, die uns allen nützen könnten. Er ist in der Lage, nicht nur die eigenen, sondern auch fremde Wunden zu heilen. Viel besser als Sie, Doktor - nehmen Sie es nicht persönlich.«

»Was bin ich schon für ein Arzt«, erwiderte der Doktor. »Ich habe bloß Gerichtsmedizin …«

»Aber das ist nicht alles«, fuhr Ordi fort. »Er kann einem den Schmerz nehmen.«

»Wie denn?«, fragte der Förster.

»Ich weiß nicht, wie er es macht. Er massiert die Schläfen, flüstert, und der Schmerz vergeht. Zweimal hat es mich bei meiner Mutter erwischt, und beide Male hat er mir geholfen. Beim ersten Mal weniger, doch immerhin habe ich nicht wie sonst das Bewusstsein verloren. Beim zweiten Mal waren die Schmerzen ganz weg.«

Augenblicklich veränderte sich alles. Waren sie eben noch Richter, die, wie ihnen schien, über sein Leben zu entscheiden hatten, verwandelten sie sich nun in zerquälte, dem Untergang geweihte Menschen, die auf einmal Hoffnung spürten. Sie sahen ihn an, als erwarteten sie, dass er gleich den Alb von ihnen nähme, der sie seit vielen Jahren jeden Tag und jede Nacht peinigte. Auch gut, dachte Maxim. Wenigstens soll ich hier nicht töten, sondern heilen. Aber aus irgendeinem Grund machte ihn dieser Gedanke nicht froh. Die Türme, dachte er. Was für eine Teufelei. Darauf muss man erst einmal kommen. Man muss wahnsinnig sein, ein Sadist, um so etwas zu erfinden.

»Können Sie es wirklich?«, fragte der Doktor.

»Was?«

»Den Schmerz nehmen.«

»Ja.«

»Wie?«

»Das kann ich nicht erklären. Mir fehlen die Worte, und Ihnen die Kenntnisse. Ich verstehe nur nicht: Haben Sie denn keine Medikamente, irgendwelche schmerzstillenden Präparate?«

»Dagegen hilft keine Medizin. Höchstens in tödlicher Dosis.«

»Hören Sie«, sagte Maxim. »Ich bin natürlich bereit, Ihnen zu helfen. Zumindest werde ich mich bemühen. Aber das ist keine Lösung. Man muss nach einem massenwirksamen Mittel suchen. Haben Sie Chemiker?«

»Wir haben alles.« Der Breitschultrige seufzte. »Doch diese Aufgabe ist zu schwer, Mak. Wäre es anders, ließe sich der Generalstaatsanwalt nicht, genau wie wir, von Schmerzen zermartern. Er würde sich als Erster die Arznei besorgen. So aber betrinkt er sich vor jeder regulären Emission und schwitzt im heißen Bad.«

»Der Generalstaatsanwalt ist ein Entarteter?«, fragte Maxim verblüfft.

»Es wird erzählt«, erwiderte der Breitschultrige trocken. »Aber wir sind vom Thema abgekommen. Amsel, bist du fertig? Wer möchte noch etwas sagen?«

»Moment mal, General«, ließ sich der Förster vernehmen. »Was ergibt sich? Es ergibt sich, dass er unser Wohltäter ist? Du kannst also auch mir die Schmerzen nehmen? Dann ist dieser Mensch nicht mit Gold zu bezahlen, ich lasse ihn aus dem Keller nicht mehr raus. Ich habe doch, wie ihr wisst, Schmerzen, die nicht auszuhalten sind. Womöglich kann er ein Pülverchen dagegen erfinden? Tust du doch, oder? Nein, meine Herren, Genossen, so einen Mann müssen wir hüten.«

»Das heißt, du bist für ihn«, präzisierte der Breitschultrige, den sie den General nannten.

»Ja. So sehr, dass ich, wenn ihn einer anrührt …«

»Verstanden. Sie, Doktor?«

»Ich war sowieso für ihn«, murmelte der Doktor, während er seine Pfeife paffte. »Ich habe den gleichen Eindruck wie Amsel. Er gehört noch nicht zu uns, wird aber einer der Unsrigen werden, anders ist es undenkbar. Zu denen passt er jedenfalls nicht. Er ist viel zu klug.«

»Gut«, sagte der General. »Sie, Klaue?«

»Dafür«, knurrte Memo. »Ein nützlicher Mensch.«

»Nun«, fasste der General zusammen, »ich schließe mich dieser Meinung an. Ich freue mich für Sie, Mak. Sie sind ein sympathischer Bursche, und es hätte mir leidgetan, Sie zu liquidieren.« Er blickte auf die Uhr. »Essen wir. Bald ist Emission, da wird uns Mak seine Kunst zeigen. Geben Sie ihm Bier, Förster, und bringen Sie Ihren vielgerühmten Käse auf den Tisch … Klaue, Sie lösen den Grünen ab - er hat seit heute früh nichts gegessen.«



10

Das letzte Treffen vor der Operation fand im Schloss des Doppelköpfigen Pferdes statt. So nannten sie die gras- und efeubewachsene Ruine eines Museums, das im Krieg zerstört worden war - ein abgeschiedener, wilder Ort, der etwas außerhalb lag. Von den Bürgern der Stadt wurde er wegen des nahe gelegenen Malariasumpfes gemieden, und bei den Ortsansässigen galt er als Zufluchtsstätte von Banditen und Dieben. Maxim und Ordi kamen zu Fuß, der Grüne und der Förster mit dem Motorrad. Memo-Klaue und der General erwarteten

»Hast du’s bei dir?«, fragte er den Förster.

»Sicher«, erwiderte der und zog eine Tube Insektenschutz aus der Tasche.

Als sich alle eingerieben hatten, eröffnete der General die Beratung. Memo faltete die Karte auseinander und wiederholte noch einmal den Ablaufplan der Operation, obwohl ihn längst alle auswendig kannten: Kurz vor ein Uhr nachts robbt die Gruppe von vier Seiten gleichzeitig zu den Drahtsperren und legt die gestreckten Ladungen. Der Förster und Memo gehen allein - sie kommen von Norden und Westen. Der General und Ordi kriechen zusammen von Osten heran, Maxim und der Grüne von Süden. Die Explosionen erfolgen um Punkt ein Uhr, und gleich darauf stürmen der General, der Grüne, Memo und der Förster durch die Breschen, laufen bis zum Schutzbunker und belegen ihn mit Granaten. Sobald das Feuer aus dem Bunker aufhört oder schwächer wird, rennen Maxim und Ordi mit Magnetminen zum Turm und bereiten seine Sprengung vor, werfen aber vorsichtshalber zunächst noch je zwei Granaten in den Bunker. Sie stellen die Zünder ein, nehmen die Verwundeten - nur die Verwundeten! - und fliehen in östlicher Richtung durch den Wald zum Feldweg, wo an der Grenzmarkierung der Junge mit dem Motorrad wartet. Die Schwerverletzten werden mit dem Fahrzeug befördert, Leichtverwundete und Unversehrte gehen zu Fuß. Treffpunkt ist das Häuschen des Försters. Dort wartet man höchstens zwei Stunden; danach ist es auf die übliche Weise zu verlassen. Noch Fragen? Nein? Das war’s.

Der General warf den Zigarettenstummel fort, griff in seine Brusttasche und holte ein Röhrchen mit gelben Tabletten hervor.

»Achtung«, sagte er. »Laut Stabsbeschluss wird die Operation ein wenig verändert. Ihr Beginn ist jetzt zweiundzwanzig Uhr …«

»Massaraksch!«, knurrte Memo. »Eine schöne Bescherung!«

»Unterbrechen Sie mich nicht.« Der General sah ihn streng an. »Pünktlich zehn Uhr beginnt die Abendemission. Einige Sekunden vorher schluckt jeder von uns zwei solche Tabletten. Weiter verläuft alles nach dem alten Plan, mit einer Ausnahme: Amsel wirft die Granaten mit mir zusammen. Die Minen hat Mak, alle. Er sprengt den Turm allein.«

»Was denn, wie denn …« Der Förster starrte auf die Karte. »Ich verstehe das nicht. Um zehn ist doch Bestrahlung. Wenn ich mich hinlege, dann - entschuldigt! - steh ich nicht wieder auf, wie ein Stein werde ich da liegen. Nicht mal hochprügeln werdet ihr mich können, entschuldigt schon …«

»Moment!«, unterbrach ihn der General. »Ich wiederhole noch einmal: Zehn Sekunden vor zehn schluckt jeder zwei dieser Schmerztabletten. Verstehen Sie, Förster? Sie nehmen Schmerztabletten. Und um zehn …«

»Solche Pillen kenne ich.« Der Förster blieb skeptisch. »Zwei Minuten ist dir leichter, und danach verknotest du dich erst recht. Kennen wir, haben wir alles probiert.«

»Das ist ein neues Mittel«, sagte der General geduldig. »Es wirkt bis zu fünf Minuten. In der Zeit schaffen wir es, zum Bunker zu laufen und die Granaten zu werfen. Das Übrige besorgt Mak.«

Schweigen. Sie überlegten. Der Förster, etwas schwer von Begriff, kratzte sich am Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Seiner Miene war abzulesen, wie es in ihm arbeitete, dann aber hörte er plötzlich mit dem Kratzen auf, blickte mit aufleuchtenden Augen in die Runde und schlug sich auf die Knie. Jetzt hatte er es verstanden. Der Förster war ein großartiger, herzensguter Mensch. Von Kopf bis Fuß hatte ihn das Leben gebeutelt, und trotzdem kannte er es noch immer nicht. Er

»Der neue Plan hat folgende Vorteile«, fuhr der General fort. »Erstens: Um diese Zeit erwartet man uns nicht. Das Überraschungsmoment. Zweitens ist die frühere Version alt, und es besteht die Gefahr, dass sie dem Gegner bekannt wurde. Jetzt aber können wir ihn überrumpeln, die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges ist größer.«

Der Grüne nickte die ganze Zeit über zustimmend. Sein Habichtgesicht strahlte vor Schadenfreude, seine geschickten langen Finger krümmten und streckten sich. Er liebte Überraschungen, das Risiko. Seine Vergangenheit war finster: Von Dieben ernährt, erzogen und geprügelt, war er selbst zum Dieb und Betrüger geworden, ins Gefängnis geraten und ausgebrochen - unerwartet und frech, wie alles, was er tat. Er hatte versucht, zu seiner Bande zurückzukehren, doch die Zeiten waren andere. Die ehemaligen Freunde duldeten keine

»Mir gefällt das nicht«, sagte Memo düster. »Es ist ein Abenteuer. Ohne Vorbereitung, ohne Test … Nein, mir gefällt es nicht.«

Ihm gefiel nie etwas, diesem Memo Gramenu, genannt »Todesklaue«. Nie war er zufrieden, ewig hatte er Angst. Seine Vergangenheit wurde geheim gehalten, weil er früher ein hohes Tier im Untergrund gewesen war. Dann aber geriet er in die Fänge der Spionageabwehr und überlebte nur durch ein Wunder: Seine Zellengenossen organisierten die Flucht und schleppten Memo, durch die Folterungen völlig verunstaltet, mit. Den Gesetzen des Untergrundes entsprechend, entfernte man ihn aus dem Stab, obwohl er keinerlei Anlass zu Verdächtigungen bot. Er wurde Gel Ketschef zur Seite gestellt,

»Die Gründe des Stabs sind mir unbegreiflich«, fuhr Memo fort, während er angewidert seinen Hals noch einmal mit dem Mückenmittel einrieb. »Ich kenne diesen Plan seit hundert Jahren. Hundertmal wollte man ihn verwirklichen, und hundertmal nahm man Abstand davon, weil die Operation im Prinzip den sicheren Tod bedeutet. Sind nun die Emitter

»Das ist nicht ganz richtig, Klaue«, widersprach Ordi. »Jetzt haben wir Mak. Wenn etwas schiefläuft, kann er uns rausholen, möglicherweise sogar allein den Turm sprengen.«

Ordi saß ganz entspannt da, den Blick in die Ferne, auf den Sumpf gerichtet, und rauchte. Sie wunderte sich über nichts, war ruhig wie immer und schien zu allem bereit. Ihre Gegenwart machte die anderen beklommen, denn Ordi sah in den anderen nichts weiter als mehr oder weniger geeignete Vernichtungswerkzeuge. Man wusste alles über sie, weder in Ordis Vergangenheit noch gegenwärtig oder in Zukunft gab es dunkle Flecken. Sie stammte aus einer Intellektuellenfamilie, der Vater war im Krieg gefallen, die Mutter arbeitete als Lehrerin in der Entensiedlung. Auch Ordi war Lehrerin gewesen, bevor man sie als Entartete aus der Schule jagte. Sie versteckte sich, versuchte nach Honti zu fliehen und traf an der Grenze Gel, der Waffen ins Land schmuggelte. Durch ihn wurde sie Terroristin. Anfangs hatte sie rein ideelle Motive: Sie kämpfte für eine gerechte Gesellschaft, in der jeder frei war, zu tun und zu denken, was er für richtig hielt. Aber dann, vor sieben Jahren, kam die Spionageabwehr auf ihre Spur und nahm ihr Kind als Geisel - Ordi und ihr Mann sollten sich stellen. Der Stab verbot es, weil sie zu viel wussten. Über ihr Kind hörte sie nichts mehr und betrachtete es als gestorben, obwohl sie tief im Innern nicht an seinen Tod glaubte. Und seitdem trieb Ordi der Hass. Vor allem der Hass, erst dann der ziemlich verblasste Traum von einer gerechten Gesellschaft. Den Verlust ihres Mannes ertrug sie erstaunlich gefasst, obwohl sie ihn sehr geliebt hatte. Anscheinend war ihr schon lange vor der Verhaftung klargeworden, dass es nicht gut war, sich an irgendetwas auf der Welt zu fest zu binden. Jetzt verhielt

»Mak ist neu«, murrte Memo. »Wer verbürgt sich dafür, dass er nicht die Nerven verliert, wenn er allein ist? Lächerlich, sich auf ihn zu verlassen. Und albern, einen gut durchdachten Plan nur deshalb umzustoßen, weil wir diesen Neuling haben. Ich sagte bereits und wiederhole: Es ist ein Abenteuer.«

»Ach, hör auf, Klaue«, sagte der Grüne. »So ist eben unsere Arbeit. Wenn ihr mich fragt, ist alles ein Abenteuer, ob nun nach dem alten oder nach dem neuen Plan. Ohne Risiko geht es nicht, aber mit den Pillen ist das Risiko kleiner. Die am Turm werden nicht schlecht staunen, wenn wir um zehn über sie herfallen. Da trinken sie wahrscheinlich Schnaps und grölen Lieder - aber dann tauchen wir auf, und sie haben nicht mal ihre MPs geladen und liegen besoffen rum … Nein, mir gefällt’s. Hab ich Recht, Mak?«

»Ich finde auch, ähhh …«, begann der Förster. »Also, ich denke, wenn dieser Plan sogar mich überrascht, dann erst recht die Gardisten. Der Grüne hat’s richtig gesagt: Verdattert werden sie sein. Und wir haben fünf Minuten zusätzlich, in denen wir uns nicht zu quälen brauchen, und eh wir’s uns versehen, jagt Mak den Turm in die Luft, und dann ist alles gut. Ja, sogar sehr gut!«, rief er plötzlich, ganz beseelt von der neuen Idee. »Noch niemand vor uns hat Türme gesprengt, alle haben nur herumgeprahlt, und jetzt werden wir die Ersten sein. Und wie viel Zeit es kosten wird, bis sie den Turm repariert haben! Wenigstens einen Monat können wir wie Menschen leben, ohne die teuflischen Anfälle.«

»Ich fürchte, Sie haben mich nicht verstanden, Klaue«, warf der General nun ein. »Der Plan wurde kaum verändert, wir greifen nur unerwartet an, verstärken die Attacke durch Amsel und verändern den Rückzug ein wenig.«

»Und falls du fürchtest, Mak könnte uns nicht alle rausholen«, sagte Ordi langsam, den Blick noch immer auf den Sumpf geheftet, »dann vergiss nicht, dass er einen, im Höchstfall zwei wird schleppen müssen. Und er ist ein kräftiger Bursche.«

Der General sah sie an. »Ja. Das ist richtig.«

Der General war in Ordi verliebt. Doch außer Maxim bemerkte das niemand. Es war eine alte, hoffnungslose Liebe, die sicher schon zu Gels Zeiten begonnen hatte und nun hoffnungsloser war denn je. Der General war kein General. Vor dem Krieg hatte er am Fließband gearbeitet; dann besuchte er die Unteroffiziersschule, diente bei der Infanterie und war am Ende des Krieges Rittmeister. Den Rittmeister Tschatschu kannte er gut und hatte mit ihm noch ein Hühnchen zu rupfen. Gleich nach Kriegsende hatte es Missstände in einem der Regimenter gegeben, und seitdem suchte und jagte er ihn, bislang allerdings erfolglos. Er war Mitglied im Stab der Untergrundbewegung, beteiligte sich aber auch an praktischen Operationen. Es gefiel ihm, in der Illegalität zu agieren; er galt als tapferer Kämpfer und erfahrener Kommandeur. Über das, was nach dem Sieg kommen sollte, hatte er aber nur vage Vorstellungen, ja, überhaupt glaubte er nicht an einen Sieg. Er war ein geborener Soldat und passte sich mühelos neuen Gegebenheiten an; nie dachte er weiter als zehn, zwanzig Tage im Voraus. Eigene Ideen hatte der General nicht, manches hatte er von dem Einarmigen übernommen, anderes von Ketschef, wieder anderes hatte man ihm im Stab beigebracht. Entscheidend in seinem Bewusstsein aber blieb, was man ihm in der Unteroffiziersschule eingebläut hatte. Theoretisierte er, bot er einen merkwürdigen Mischmasch von Anschauungen: Die Macht der Reichen müsse gebrochen werden (das entsprach Wildschweins Meinung, der anscheinend so etwas wie ein Sozialist oder Kommunist war), an die Spitze des Staates gehörten Ingenieure und Techniker (das kam von Ketschef), die Städte sollte man einebnen, der Mensch wieder in Einklang

»Ich bin trotzdem dagegen«, sagte Memo stur. »Wenn wir nun unter Beschuss geraten? Oder es in fünf Minuten nicht schaffen, sondern sechs brauchen? Ein wahnwitziger Plan, er war immer wahnwitzig.«

»Wir verwenden zum ersten Mal gestreckte Ladungen.« Der General löste mühsam seinen Blick von Ordi. »Würden wir uns für die bisherige Durchbruchsstrategie entscheiden, wäre das Schicksal der Operation in drei, vier Minuten besiegelt. Überrumpeln wir aber die Wache, haben wir eine oder zwei Minuten mehr Reserve.«

»Zwei Minuten sind viel«, sagte der Förster. »In zwei Minuten zerquetsche ich alle mit bloßen Händen. Ich muss nur an sie rankommen.«

»Rankommen … Das wär was …« Der Grüne dehnte die Worte, in seiner Stimme lagen Drohung und Verträumtheit. »Hab ich Recht, Mak?«

Nun drängte auch der General. »Willst du noch etwas sagen, Mak?«

»Das habe ich bereits getan«, erwiderte Maxim. »Der neue Plan ist besser als der alte, aber trotzdem schlecht. Lasst mich alles allein machen. Versucht es.«

»Fangen wir nicht wieder davon an.« Der General wurde ärgerlich. »Diese Sache ist ausdiskutiert. Hast du noch vernünftige Vorschläge?«

»Nein.« Maxim bedauerte schon, sich überhaupt am Gespräch beteiligt zu haben.

»Woher sind die neuen Tabletten?«, meldete sich plötzlich Memo.

»Die Tabletten gab es schon vorher«, antwortete der General, »aber Mak hat es geschafft, sie ein wenig zu verbessern.«

»Aha, Mak … War es also seine Idee?«

Klaue sagte das in einem Ton, der alle peinlich berührte; denn man konnte ihn so verstehen: Ein Neuer, der noch nicht einmal richtig zu ihnen gehörte und von der gegnerischen Seite übergelaufen war - roch das nicht nach Hinterhalt? Solche Fälle gab’s …

»Nein!«, entgegnete der General scharf. »Es ist eine Idee des Stabs. Und jetzt füge dich gefälligst, Klaue.«

»Ich füge mich.« Memo zuckte mit den Schultern und schnitt eine Grimasse. »Ich bin dagegen, doch ich füge mich. Was bleibt mir auch anderes übrig.«

Bekümmert blickte Maxim in die Runde. Da saßen sie vor ihm und waren so verschieden - nicht im Traum wären sie unter normalen Umständen zusammengekommen: der frühere Landwirt, der ehemalige Kriminelle, die ehemalige Lehrerin. Was sie vorhatten, war sinnlos. In wenigen Stunden würden einige von ihnen tot sein, und nichts würde sich verändert haben. Diejenigen, die überlebten, würden vielleicht eine Atempause gewinnen vor den nächsten Qualen; aber sie würden verwundet sein, von der Flucht entkräftet, sich in stickigen Löchern verstecken müssen, man würde sie mit Hunden jagen … Und danach würde alles wieder von vorn beginnen. Mit ihnen gemeinsame Sache zu machen war dumm, doch sie jetzt im Stich zu lassen, wäre gemein; also musste er sich für die Dummheit entscheiden. Vielleicht ging es auf diesem Planeten gar nicht anders. Vielleicht führte der Weg, etwas zu tun, nur durch Dummheit, sinnloses Blutvergießen oder Niedertracht. Erbärmlich war der Mensch hier, dumm und gemein. Aber was konnte man anderes erwarten in dieser erbärmlichen, dummen, gemeinen Welt? Man musste sich nur vor Augen halten, dass Dummheit die Folge von Unfähigkeit war, und die Unfähigkeit von der Unwissenheit herrührte und von der Unkenntnis des richtigen Wegs. Unter tausend möglichen Wegen musste es doch einen richtigen geben! Einen bin ich schon gegangen, dachte Maxim, und er war falsch. Nun gehe ich diesen, und schon jetzt ist abzusehen, dass auch er in die Irre führt. Möglich, dass ich noch öfter auf falsche Wege und in Sackgassen gerate. Aber vor wem muss ich mich eigentlich rechtfertigen, überlegte er. Und wozu? Sie gefallen mir, ich kann ihnen helfen - das ist alles, was ich im Moment wissen muss.

»Wir trennen uns jetzt«, sagte der General. »Klaue geht mit dem Förster, Mak mit dem Grünen, Amsel mit mir. Treff ist Punkt neun am Gemarkungsstein. Lauft quer durch den Wald, auf keinen Fall die Straßen entlang. Die Zweiergruppen bleiben zusammen, jeder ist für den anderen verantwortlich. Geht. Zuerst Mak und der Grüne.« Er sammelte die umherliegenden Kippen auf ein Blatt Papier, knüllte es zusammen und steckte es ein.

Der Förster strich sich über die Knie. »Die Knochen tun weh«, murmelte er. »Es gibt Regen. Wird eine günstige Nacht, schön dunkel …«



11

Vom Waldrand bis zum Draht mussten sie kriechen. Der Grüne robbte voran, schleifte den Stab mit der gestreckten Ladung über das Gras und fluchte leise über die Dornen, die ihm die Hände zerstachen. Maxim kroch hinterher, den Sack mit den Magnetminen fest an sich gepresst. Der Himmel war wolkenverhangen, es nieselte. Nach ein paar Minuten waren sie bis auf die Haut durchnässt. Durch den Regen hindurch konnten sie nichts erkennen. Der Grüne orientierte sich am Kompass und irrte kein einziges Mal - war erfahren, dieser Grüne. Dann roch es scharf nach feuchtem Rost, und Maxim sah einen dreireihigen Draht vor sich, dahinter etwas verschwommen den Koloss des Gitterturms, und, als er den Kopf hob, erkannte er am Fuß des Turms einen niedrigen quaderförmigen Bau: den Schutzbunker, in dem drei Gardisten mit einem Maschinengewehr saßen. Durch das Rauschen des Regens klangen undeutlich Stimmen, ein Streichholz wurde drinnen angezündet, und sein schwacher gelber Schein erhellte eine lange Schießscharte.

Der Grüne schob, leise fluchend, den Stab unter dem Draht durch. »Fertig«, flüsterte er. »Zurück!« Sie zogen sich auf zehn Schritt Entfernung zurück und warteten. Der Grüne hielt die Zündschnur in der Hand und blickte auf die Leuchtzeiger seiner Uhr. Er zitterte, seine Zähne schlugen aufeinander, und er atmete schwer. Auch Maxim fing an zu zittern. Er steckte seine Hand in den Sack und tastete nach den Minen, sie waren rau und kalt. Der Regen fiel jetzt dichter, sein Prasseln schluckte alle anderen Geräusche. Der Grüne stellte sich jetzt auf alle viere, brabbelte ununterbrochen vor sich hin - betete oder fluchte vielleicht. »Jetzt, ihr Schweine!«, rief er plötzlich laut und riss seine rechte Hand hoch. Das Zündhütchen knallte leise, es folgte ein Zischen, und vor ihnen schoss eine rote Flamme aus dem Boden. Weiter links brach eine zweite breite Feuerbahn auf, die Ohren dröhnten, heißer, feuchter Sand rieselte herab, vermischt mit Büscheln schwelenden Grases und glühenden Klümpchen. Der Grüne warf sich nach vorn, schrie mit einer seltsamen Stimme auf, und dann wurde es hell wie am Tage, heller noch: blendend hell. Maxim kniff die Augen zusammen und fühlte, wie es in ihm kalt wurde, und wie ein Blitz durchfuhr ihn der Gedanke »Alles ist aus«. Aber es folgten keine Schüsse; die im Schutzbunker blieben ruhig. Nichts war zu hören außer dem Rauschen und Zischen.

Als Maxim die Augen wieder öffnete, sah er den Bunker in grelles Licht getaucht, einen breiten Durchbruch im Drahtwall und Menschen, sehr klein und verloren auf der riesigen leeren Fläche, auf der der Turm stand. Die Menschen rannten auf den Schutzbunker zu, schweigend, lautlos. Sie stolperten, fielen, sprangen wieder auf und liefen weiter. Jemand begann kläglich zu stöhnen: der Grüne. Er lief nicht, sondern saß direkt hinter dem Draht auf der Erde, hielt den Kopf in den Händen und schwankte mit dem Oberkörper hin und her. Maxim stürzte zu ihm, zerrte ihm die Hände vom Gesicht,

Und dann, plötzlich, grölten die Stimmen los, und Maxim hörte das bekannte Marschlied der Soldaten …

Maxim warf den Grünen über die Schulter und kramte mit der freien Hand in seiner Tasche. Er war froh, dass der General Vorsicht genug besessen hatte, auch ihm, Maxim, für alle Fälle ein paar Schmerztabletten zuzustecken. Er drückte die verkrampften Kiefer des Grünen auseinander und schob ihm die Pillen tief in den röchelnden Rachen. Dann griff er die Maschinenpistole und drehte sich zum Bunker, um festzustellen, woher das Licht kam, warum es so hell war; denn so hell durfte es gar nicht sein. Noch immer schoss niemand, die Menschen rannten weiter, einer war schon fast am Bunker, ein anderer etwas weiter zurück, und der dritte, weiter rechts, stolperte plötzlich in vollem Lauf und fiel kopfüber hin. »Oh, wie heult der Feind …«, grölten sie im Bunker. Das Licht strahlte von oben, aus etwa zehn Metern Höhe - wahrscheinlich vom Turm, den man jetzt nicht sehen konnte. Fünf oder sechs grelle, weißblaue Scheiben waren dort oben; Maxim riss die Maschinenpistole hoch, drückte auf den Abzug, und die selbst gebaute Waffe - klein, unbequem und ungewohnt in seinen Händen - ratterte los. Wie als Antwort flammten rote Blitze aus der Schießscharte des Bunkers. Doch dann, er hatte noch keine der leuchtenden Scheiben getroffen, wurde ihm plötzlich die Maschinenpistole aus der Hand entrissen; der Grüne stürmte mit ihr davon, fiel jedoch gleich wieder hin - auf ebener Fläche.

Maxim ließ sich zu Boden fallen und robbte zurück zu seinem Sack. Hinter ihm knatterten die Maschinenpistolen, dröhnte laut und furchterregend ein Maschinengewehr, schlug - endlich! - eine Granate ein, eine weitere, dann zwei auf einmal. Das Maschinengewehr verstummte, nur die Maschinenpistolen

Über dem Bunker stieg eine Rauchsäule auf, der Geruch von Brand und Pulver breitete sich aus. Ringsum war es hell und leer, einsam schleppte sich eine rußschwarze Gestalt, gekrümmt und an die Wand gestützt, dicht am Bunker entlang, erreichte mit Mühe die Schießscharte, schleuderte etwas hinein und sank nieder. Rotes Feuer flammte auf, ein Knall - und wieder wurde es still.

Maxim stieß gegen eine Unebenheit und wäre fast gefallen. Nach einigen Schritten stolperte er wieder; erst jetzt merkte er, dass im Gras versteckt kurze dicke Pflöcke aus dem Boden ragten. So war das also … So also war das hier. Hätte der General ihn allein gehen lassen, hätte er sich schnell beide Beine zerschmettert und läge jetzt tot auf diesen hinterhältigen Stutzen. Ein Angeber war er, ein Ignorant. Der Turm war schon ganz nah. Er lief auf ihn zu und blickte dabei immer vor seine Füße. Er war allein. An die anderen wollte er nicht denken.

Er rannte bis zu einem der mächtigen Eisenpfeiler und warf den Sack ab. Am liebsten hätte er die schwere raue Scheibe gleich an das feuchte Metall geheftet, aber da war ja noch der Schutzbunker. Dessen eiserne Tür stand halb offen, träge züngelten die Flammen heraus, auf den Stufen lag ein Gardist, tot - hier war alles vorbei. Maxim ging um den Bunker herum und stieß auf den General. Er saß an die Betonwand gelehnt, starrte irr vor sich hin, und Maxim begriff, dass die Wirkungsdauer der Tabletten überschritten war. Er blickte sich um, hob den General auf die Schulter und trug ihn vom Turm fort. Etwa zwanzig Schritte entfernt lag Ordi im Gras, eine Granate in der Hand. Ihr Gesicht wies nach unten, aber Maxim wusste, dass sie tot war. Er suchte weiter und fand den Förster, ebenfalls tot. Auch den Grünen hatten

Maxim ging über das Feld, folgte seinem vielfachen schwarzen Schatten, und war wie betäubt von all dem Tod, obwohl er noch vor einer Minute gemeint hatte, auf ihn vorbereitet zu sein. Er konnte es nicht erwarten, zurückzukehren und den Turm zu sprengen, das zu vollenden, was die anderen begonnen hatten. Doch vorher musste er wissen, was mit Klaue war. Er fand ihn direkt neben dem Drahtwall. Memo war verwundet, sicher hatte er versucht, davonzukriechen, und war bis zum Zaun gekommen, als er bewusstlos zusammenbrach. Maxim legte den General neben ihn auf den Boden und wandte sich wieder zum Turm. Es berührte ihn merkwürdig, diese unglückseligen zweihundert Meter jetzt ruhig, ohne etwas befürchten zu müssen, zurücklegen zu können.

Er machte sich daran, die Minen an den Stützpfeilern zu befestigen, sicherheitshalber jeweils zwei. Zeit hatte er, doch er beeilte sich trotzdem: Der General war am Verbluten, und auch Memo blutete stark, und irgendwo rasten schon Lastwagen mit Gardisten die Chaussee entlang. Gai war alarmiert worden und wurde jetzt neben Pandi über das Kopfsteinpflaster geschüttelt. Auch in den umliegenden Dörfern waren die Leute erwacht: Männer griffen nach Äxten und Flinten, Kinder weinten, und Frauen verfluchten die blutrünstigen Spione, deretwegen man weder Schlaf noch Ruhe fand. Maxim konnte geradezu spüren, wie die schwarze, verregnete Nacht um ihn herum langsam zum Leben erwachte, sich regte, wie sie bedrohlich wurde und gefährlich.

Die Zeitzünder waren auf fünf Minuten eingestellt, er schaltete sie der Reihe nach ein und wollte zum General und Memo laufen. Aber etwas hielt ihn zurück, er blieb stehen, blickte umher und begriff: Ordi. Im Laufschritt rannte er zu ihr, aufmerksam auf den Weg schauend, um nicht zu stolpern, warf sich ihren leichten Körper über die Schulter und kehrte,

Und da erfüllte sich der sinnlose Traum der Untergrundkämpfer. In schneller Folge krepierten die Minen, der Fuß des Turms wurde vom Rauch verhüllt. Dann erloschen die grellen Lichter, undurchdringliche Dunkelheit breitete sich aus, es knirschte, donnerte, die Erde bebte, wurde mit Getöse emporgeschleudert, dann bebte sie wieder.

Maxim schaute auf die Uhr. Siebzehn Minuten nach zehn. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, er konnte wieder den zerrissenen Draht erkennen, und er sah auch den Turm. Mit gespreizten, von den Explosionen verunstalteten Stützen lag er nun seitlich des Bunkers, wo es immer noch brannte.

»Wer ist da?«, röchelte der General und begann sich zu regen.

»Ich«, sagte Maxim. Er beugte sich hinab. »Wir müssen weg. Wo hat es Sie erwischt? Können Sie gehen?«

»Warte«, erwiderte der General. »Was ist mit dem Turm?«

»Der ist erledigt«, sagte Maxim. Ordi lag noch immer über seiner Schulter, und er wusste nicht, wie er es ihm beibringen sollte.

»Nicht möglich.« Der General erhob sich leicht. »Massaraksch! Tatsächlich?« Er lachte und legte sich wieder hin. »Hör mal, Mak, ich kapiere überhaupt nichts … Wie spät ist es?«

»Zwanzig nach zehn.«

»Also stimmt es. Wir haben ihn gesprengt. Bist ein toller Kerl, Mak. Warte mal, wer ist neben mir?«

»Klaue«, antwortete Maxim.

»Er atmet«, stellte der General fest. »Warte mal, und wer ist noch am Leben? Wen hast du da?«

»Ordi«, sagte Maxim mühsam.

Einige Sekunden schwieg der General.

»Ordi«, wiederholte er unsicher und stand schwankend auf. »Ordi«, sagte er noch einmal und legte die Hand an ihre Wange.

Eine Zeit lang schwiegen sie. Dann fragte Memo heiser: »Wie spät ist es?«

»Zweiundzwanzig nach«, antwortete Maxim.

»Wo sind wir?«

»Wir müssen weg«, drängte Maxim.

Der General drehte sich um und stieg durch das Loch im Draht. Er wankte stark. Maxim bückte sich, lud sich den schweren Memo auf die andere Schulter und ging hinterher. Er holte den General ein. Der blieb stehen.

»Nur die Verwundeten«, sagte er.

»Ich schaffe das«, entgegnete Maxim.

»Befolge den Befehl! Nur Verwundete!«

Der General streckte die Hände aus und hob, stöhnend vor Schmerz, Ordis Körper von Maxims Schulter. Er konnte ihn nicht halten und legte ihn sofort wieder auf die Erde.

»Nur Verwundete«, flüsterte er mit merkwürdiger Stimme. »Im Laufschritt - Marsch!«

»Wo sind wir?«, fragte Memo. »Wer ist alles hier? Wo sind wir?«

»Halten Sie sich an meinem Gürtel fest«, sagte Maxim zum General und lief los.

Memo schrie kurz auf, dann wurde sein Körper schlaff. Sein Kopf baumelte, die Arme baumelten, und die Beine schlugen Maxim beim Laufen in den Rücken. Der General folgte ihnen auf den Fersen, er atmete laut und pfeifend und umklammerte Maxims Gürtel.

Sie erreichten den Wald. Bäume versperrten den Weg, feuchte Zweige schlugen ihnen ins Gesicht. Maxim musste immer wieder ausweichen, Baumstümpfe überspringen. Es war

Schnell bog er auf den Waldweg, Memo noch immer auf der Schulter. Den General hatte er unter den Achseln gefasst und schleifte ihn mit. Er blickte um sich und sah, wie der Junge vom Gemarkungsstein her auf ihn zulief; er war durchnässt, ängstlich und roch nach Schweiß.

»Sind das alle?«, fragte er entsetzt, und für dieses Entsetzen war ihm Maxim dankbar.

Sie schleppten die Verwundeten zum Motorrad und zwängten Memo in den Beiwagen. Den General setzten sie auf den

»Vorwärts«, sagte er, »nicht anhalten! Schlag dich durch.«

»Ich weiß Bescheid«, erwiderte der Junge. »Was wird aus dir?«

»Ich versuche, sie abzulenken. Keine Sorge, mich kriegen sie nicht.«

»Aber es ist hoffnungslos«, murmelte der Junge traurig, riss am Starter, und das Motorrad fing an zu knattern. »Habt ihr den Turm wenigstens gesprengt?«, schrie er.

»Ja«, sagte Maxim, und der Junge raste davon.

Nachdem Maxim einige Sekunden lang reglos dagestanden hatte, lief er in den Wald zurück. Auf der ersten besten Lichtung riss er sich die Jacke vom Leib und schleuderte sie in die Büsche. Danach kehrte er auf den Weg zurück und rannte, so schnell er konnte, einige Zeit in Richtung Stadt. Dann blieb er stehen, löste die restlichen Granaten vom Gürtel und verteilte sie gut sichtbar auf dem Weg. Schon zwängte er sich durch die Sträucher auf der anderen Seite, wobei er so viele Zweige wie möglich knickte, und warf sein Taschentuch dahinter. Dann erst machte er sich quer durch den Wald davon, wechselte in den gleichmäßigen Schritt eines Jägers, in dem er nun zehn oder fünfzehn Kilometer zurückzulegen hatte.

Er dachte an nichts, achtete nur darauf, dass er nicht zu stark von südwestlicher Richtung abkam und seine Füße sicher setzte. Zwei Wege kreuzte er, das erste Mal einen einsamen Feldweg, beim zweiten Mal die Elfte Chaussee. Auch hier war niemand zu sehen, doch hörte er nun erstmals Hunde bellen. Welche es waren, konnte er nicht feststellen, aber für alle Fälle schlug er einen großen Haken; anderthalb Stunden später fand er sich zwischen den Lagerhallen des städtischen Rangierbahnhofs wieder.

Hier brannten Lichter, pfiffen Lokomotiven, eilten Menschen hin und her. Vermutlich wussten sie von nichts, doch laufen durfte Maxim jetzt nicht mehr: Man hätte ihn für einen Dieb halten können. Er ging zunächst langsam, sprang dann, als ein Güterzug schwerfällig an ihm vorbei in Richtung Stadt rollte, auf einen Flachwagen voll Sand, wühlte sich hinein und fuhr so bis zum Betonwerk. Dort ließ er sich hinuntergleiten, klopfte seine Sachen sauber, beschmierte die Hände mit ein wenig Heizöl und überlegte, was weiter zu tun sei.

Die einzige Anlaufstelle in der Nähe war das Haus des Försters, aber sich dahin durchzuschlagen machte keinen Sinn. Es gab noch die Möglichkeit, in der Entensiedlung zu übernachten, aber nein, das war gefährlich, diese Adresse kannte Rittmeister Tschatschu. Außerdem schreckte Maxim der Gedanke, jetzt vor die alte Illi zu treten und ihr vom Tod der Tochter zu berichten. Er konnte nirgendwohin. Er ging in eine kleine, heruntergekommene Arbeiterkneipe, die nachts geöffnet hatte, aß Würstchen und trank Bier. Alle hier waren schmutzig und erschöpft wie er - Arbeiter nach der Schicht, die ihre letzte Straßenbahn verpasst hatten. An die Wand gelehnt, döste Maxim ein und träumte von Rada. Und er dachte im Traum, Gai sei jetzt sicher bei der Großfahndung, was gut war. Denn Rada, die ihn liebte, würde ihn aufnehmen, er könnte sich waschen und umziehen: Sein Zivilanzug müsste noch dort sein, der, den Fank ihm gegeben hatte. Am Morgen könnte er dann in den Osten fahren, wo die zweite ihm bekannte Anlaufstelle lag. Er wachte auf, warf eine zerknüllte Banknote auf den Tisch und ging hinaus.

Es war nicht weit, und unterwegs drohte keine Gefahr. Er traf niemanden auf der Straße, nur unmittelbar vor dem Haus sah er den Hausmeister. Er saß auf seinem Schemel im Treppenaufgang und schlief. Maxim schlich vorbei, stieg die Treppe hinauf und klingelte, so wie er immer geklingelt

Sie schrie nur deshalb nicht, weil ihr Atem stockte und sie die Hand vor den Mund presste. Maxim umarmte sie, drückte sie an sich und küsste sie auf die Stirn. Er hatte das Gefühl, als sei er nach Hause zurückgekehrt, wo man lange schon aufgegeben hatte, auf ihn zu warten. Er schloss die Tür hinter sich, und sie gingen leise ins Zimmer. Hier war alles unverändert, nur seine Liege fehlte. Rada brach in Tränen aus. Auf dem Bett saß Gai im Nachthemd und starrte Maxim aus erschrockenen, nahezu irr staunenden Augen an. Einige Minuten verstrichen: Maxim und Gai sahen einander an, und Rada weinte.

»Massaraksch!«, fiepte Gai schließlich hilflos. »Du lebst? Bist nicht tot?«

»Grüß dich, altes Haus«, sagte Maxim. »Schade, dass du hier bist. Ich wollte dich nicht reinreißen. Wenn du willst, gehe ich gleich wieder.«

Im selben Moment umklammerte Rada fest seinen Arm.

»Nein!« Ihre Stimme klang gepresst. »Auf keinen Fall. Du gehst nirgendwohin. Soll er’s nur versuchen, dann gehe ich auch, ohne mich umzusehen.«

Gai warf die Bettdecke von sich, stellte die Füße auf den Boden und trat dicht an Maxim heran. Er berührte ihn an den Schultern, an den Händen; er beschmierte sich mit Heizöl und wischte sich über die Stirn, die nun auch schmutzig war.

»Ich begreife überhaupt nichts«, sagte er kläglich. »Du lebst. Woher kommst du? Rada, hör auf zu heulen. Bist du verwundet? Du siehst schlimm aus. Da ist Blut.«

»Das ist nicht von mir.«

»Ich begreife überhaupt nichts«, wiederholte Gai. »Mensch, du lebst! Rada, mach Wasser heiß! Weck den Alten, er soll Schnaps rausrücken.«

»Leise«, bat Maxim. »Macht nicht solchen Lärm, ich werde gesucht.«

»Von wem? Weshalb? So ein Blödsinn. Rada, lass ihn sich umziehen! Mak, setz dich endlich! Oder willst du dich lieber hinlegen? Wie ist das gekommen? Wieso lebst du?«

Maxim setzte sich vorsichtig auf den Rand des Stuhls und legte die Hände auf die Knie, um nichts zu beschmutzen. Während er die beiden ansah, sie zum letzten Mal als Freunde ansah, sagte er, vielleicht sogar mit einer gewissen Neugier auf das, was nun geschehen würde: »Ich bin doch jetzt ein Verbrecher, ein Staatsfeind. Eben habe ich einen Turm gesprengt.«

Er wunderte sich nicht, dass sie ihn gleich verstanden hatten und augenblicklich wussten, von welchem Turm die Rede war. Sie stellten keine Fragen. Rada presste nur die Hände zusammen, ohne den Blick von ihm zu wenden, und Gai räusperte sich, fuhr sich mit einer vertrauten Geste durch die Haare und murmelte verdrossen, den Blick abgewandt: »Dummkopf! Willst dich also rächen. Aber an wem? Ach, du bist und bleibst ein Irrer. Ein kleines Kind. Schön. Du hast nichts gesagt, und wir haben nichts gehört. In Ordnung. Ich will nichts wissen. Rada, geh und mach Wasser heiß. Und sei nicht so laut, weck die Leute nicht auf«, und zu Maxim gewandt: »Zieh dich aus!, bist ja schwarz wie der Teufel, wo treibst du dich bloß rum.«

Maxim stand auf und fing an sich auszuziehen. Er warf das nasse schmutzige Hemd auf den Boden (Gai sah die Narben von den Schüssen und schluckte) und streifte angewidert die unvorstellbar schlammigen Stiefel und Hosen ab. Alle Sachen waren voller schwarzer Flecken, und sie nicht mehr am Körper tragen zu müssen, war eine Erleichterung.

»Jetzt geht es mir besser«, sagte er und setzte sich wieder. »Danke, Gai. Ich bleibe nicht lange, nur bis zum Morgen, dann verschwinde ich.«

»Hat der Hausmeister dich gesehen?«, fragte Gai düster.

»Er hat geschlafen.«

»Geschlafen«, wiederholte Gai zweifelnd. »Weißt du, er … Aber vielleicht hat er wirklich geschlafen. Irgendwann muss er ja mal …«

»Warum bist du zu Hause?«, erkundigte sich Maxim.

»Beurlaubt.«

»Wieso gibt es jetzt Urlaub? Die ganze Garde ist doch sicher im Wald.«

»Ich bin kein Gardist mehr.« Gai lächelte schief. »Sie haben mich gefeuert, Mak. Haben mich zum einfachen Armeekorporal gemacht, der den Dorftrotteln beibringt, welches das rechte und welches das linke Bein ist. Und haben sie’s endlich begriffen - dann ab an die hontianische Grenze, in die Schützengräben. So steht’s bei mir, Mak.«

»Meinetwegen?«, fragte Maxim leise.

»Wie soll ich sagen. Im Prinzip, ja.«

Ihre Blicke trafen sich, und Gai wandte die Augen ab. Maxim fiel plötzlich ein, dass Gai, wenn er ihn jetzt verriete, wahrscheinlich in die Garde zurückkönnte und auch sein Offiziers-Fernstudium wieder aufnehmen dürfte. Und weiter dachte er, dass ihm noch vor zwei Monaten ein solcher Gedanke nicht gekommen wäre. Ihm wurde unbehaglich. Am liebsten wäre er gegangen, sofort, auf der Stelle, doch da erschien Rada und rief ihn ins Badezimmer. Während er sich wusch, bereitete sie ihm etwas zu essen und wärmte den Tee. Gai saß immer noch auf seinem Platz, den Kopf in die Hände gestützt, auf seinem Gesicht lag Schwermut. Er stellte keine Fragen. Sicher fürchtete er, entsetzliche Antworten zu hören, die seine letzte Abwehrkraft zerstören, den letzten Faden zerreißen könnten, der ihn noch mit Maxim verband. Auch Rada fragte nichts - ihr war nicht danach zumute. Sie ließ kein Auge von ihm, hielt fest seine Hand und schluchzte ab und zu vor Angst, der geliebte Mensch könnte wieder verschwinden.

Davon, wie ihm die Mutter der Terroristin half, wie er mit den Entarteten zusammentraf, wer sie wirklich waren, warum sie Entartete hießen und was die Türme darstellten - diese abscheuliche, teuflische Erfindung. Davon, was in der Nacht geschehen war, wie die Menschen in das Maschinengewehrfeuer gelaufen und einer nach dem anderen umgekommen war, wie dieser scheußliche Haufen feuchten Eisens zusammenstürzte und wie er, Maxim, die tote Frau wegtrug, der man das Kind genommen und den Mann gemordet hatte.

Rada hörte aufmerksam zu. Auch Gai zeigte schließlich Interesse und stellte sogar Fragen. Aber sie waren boshaft, dumm und grausam. Und Maxim wurde klar, dass Gai ihm kein Wort glaubte, dass Gais Bewusstsein das alles von sich stieß wie Fett das Wasser. Dass es ihm unangenehm war, diese Dinge zu hören und er sich nur mit Mühe zurückhielt, Maxim über den Mund zu fahren. Und als Maxim geendet hatte, lächelte er verkrampft.

»Da haben sie dich schön um den Finger gewickelt!«

Maxim sah Rada an, doch sie blickte beiseite, kaute an ihrer Lippe und flüsterte unschlüssig: »Ich weiß nicht. Vielleicht gab es einen solchen Turm, aber verstehst du, Mak, was du erzählst, kann einfach nicht sein. Das sind doch Raketenabwehrtürme.«

Sie sagte es stockend, offensichtlich bemüht, ihm nicht wehzutun, sah ihn jetzt an und streichelte seine Schulter. Gai aber geriet plötzlich in Wut. Er rief, das alles sei doch Unsinn, Maxim könne sich gar nicht vorstellen, wie viele solcher Türme im Land stünden, wie viele jährlich, ja täglich hinzukämen - würde man etwa in diesem armen Land Milliarden und Abermilliarden einzig dafür ausgeben, um zweimal am Tag ein klägliches Häufchen von Entarteten zu ärgern?!

»Was allein die Sicherungsmaßnahmen kosten«, ergänzte er nach einer Pause.

»Darüber habe ich auch nachgedacht«, pflichtete ihm Maxim bei. »Vermutlich ist das alles wirklich nicht so einfach. Doch das Geld der Hontianer hat nichts damit zu tun. Und dann, ich habe es ja selbst gesehen: Kaum war der Turm umgefallen, ging es ihnen besser. Was aber die Luftabwehr betrifft, versteh, Gai, dafür sind es zu viele Türme. Um den Luftraum abzuschirmen, bräuchte man erheblich weniger. Außerdem, wozu Luftschutz an der Südgrenze? Besitzen die Wilden etwa Raketen?«

»Sie besitzen alles Mögliche«, entgegnete Gai böse. »Du weißt nichts und glaubst jedem. Entschuldige, Mak, aber wärst du nicht du … Wir alle sind viel zu vertrauensselig«, fügte er bitter hinzu.

Maxim wollte nicht weiter streiten, er wollte überhaupt nicht mehr über diese Dinge reden. Er fragte, wie es ihnen ginge, wo Rada jetzt arbeite, warum sie nicht studiere, was der Onkel und die Nachbarn machten. Rada lebte auf und fing an zu erzählen, hielt dann aber wieder inne, räumte das schmutzige Geschirr ab und trug es in die Küche. Gai fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, starrte zum dunklen Fenster, fasste sich dann aber ein Herz und begann ein ernstes Gespräch von Mann zu Mann.

»Du bedeutest uns sehr viel«, sagte er. »Mir, und auch Rada, obwohl du ein unruhiger Geist bist und bei uns deinetwegen alles aus dem Gleis geraten ist. Aber ich meine Folgendes: Du bedeutest Rada nicht nur viel, verstehst du … Nicht einfach so, sondern, wie soll ich sagen … Du gefällst ihr, und die ganze letzte Zeit hat sie geweint; in der ersten Woche war sie sogar krank. Sie ist ein gutes Mädchen, häuslich, sie gefällt vielen, was nicht verwunderlich ist. Ich weiß nicht, wie du zu ihr stehst, aber was kann ich dir raten? Lass diese Dummheiten sein, das ist nichts für dich. Du hast keine Ahnung davon,

Maxim hörte ihm zu und dachte, wäre er ein Gebirgler, würde er es wahrscheinlich genau so machen: nach Hause zurückkehren, mit seiner jungen Frau still vor sich hin leben, alles Schwierige und Schreckliche vergessen. Nein, nichts würde er vergessen, sondern die Verteidigung organisieren, so dass die Handlanger der Unbekannten Väter nicht einmal ihre Nase in die Berge zu stecken wagten. Kämen aber Gardisten, würde er die Schwelle seines Hauses bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Doch er war kein Gebirgler. In den Bergen hatte er nichts verloren, sein Platz war hier, und er hatte nicht vor, das alles zu dulden … Aber Rada? Tja nun, wenn sie ihn wirklich liebte, würde, ja, müsste sie ihn verstehen. Er wollte jetzt nicht daran denken, wollte nicht an die Liebe denken, jetzt war nicht die Zeit zu lieben.

Er versank kurze Zeit in Gedanken und merkte daher nicht sofort, dass sich im Haus etwas veränderte. Jemand schlich den Flur entlang, wisperte hinter der Wand. Dann folgte Getöse, Rada schrie verzweifelt: »Mak!«, und verstummte, als hielte man ihr den Mund zu. Er sprang auf und stürzte zum Fenster, aber da wurde schon die Tür aufgestoßen. Rada stand auf der Schwelle, totenbleich im Gesicht. Es roch vertraut nach Kaserne, die beschlagenen Stiefel polterten laut. Rada wurde hineingedrängt, die schwarzuniformierten Gardisten schoben sich hinter ihr her ins Zimmer, und Pandi richtete mit wild verzerrtem Gesicht die Maschinenpistole auf Maxim.

»Keine Bewegung!«, blaffte er sie an. »Wenn du dich rührst, schieße ich!«

Maxim erstarrte. Er konnte nichts tun. Er brauchte mindestens zwei Zehntelsekunden, bestenfalls anderthalb, doch diesem Mörder genügte eine.

»Hände vor!«, raunzte Tschatschu. »Korporal, die Handschellen! Doppelte! Beweg dich, Massaraksch!«

Pandi, den Maxim während der Übungen mehr als einmal über die Schulter geschleudert hatte, kam vorsichtig näher und löste eine schwere Kette von seinem Gürtel. Sein Gesicht wurde ängstlich.

»Sieh dich vor«, warnte er Maxim. »Wenn was ist, wird der Herr Rittmeister sofort … äh … deine Liebste …«

Er schloss die stählernen Spangen um Maxims Handgelenke, kauerte nieder und fesselte ihm die Füße. Maxim schmunzelte insgeheim. Er wusste jetzt, was er tun würde. Aber den Rittmeister hatte er unterschätzt. Tschatschu ließ Rada nicht los. Sie musste mit ihnen die Treppe hinuntergehen, mit in den Lastwagen steigen, und nicht eine Sekunde wandte er die Pistole von ihr. Danach stieß man Gai hinein, der ebenfalls verhaftet worden war. Bis zum Morgengrauen blieb noch viel Zeit. Nach wie vor nieselte es, und regenverhangene Lichter erhellten dürftig die nasse Straße. Lärmend verteilten sich die Gardisten auf die Bänke im Lastwagen, riesige, tropfnasse Hunde zerrten an den Leinen und sperrten, da man sie zurückhielt, nervös und leise winselnd ihre Rachen auf. Und im Treppenhaus stand, den Rücken an den Pfeiler gelehnt und die Hände auf dem Bauch gefaltet, der Hausmeister. Er döste.



12

Der Generalstaatsanwalt lehnte sich im Sessel zurück, steckte sich ein paar getrocknete Beeren in den Mund, zerkaute sie und trank einen Schluck Heilwasser nach. Er schloss die müden Augen, drückte die Finger darauf und lauschte. Im Umkreis von mehreren Hundert Metern war alles ruhig. Der Justizpalast war leer, nächtlicher Regen trommelte monoton an die Fenster. Weder heulten Sirenen noch quietschten Bremsen, niemand klopfte, und auch die Fahrstühle summten nicht. Kein Mensch weit und breit. Nur im Vorzimmer, hinter der hohen Tür, schmachtete in Erwartung von Befehlen und still wie eine Maus der diensthabende Referent. Der Staatsanwalt öffnete langsam die Augen. Durch verschwimmende bunte Flecken fiel sein Blick auf den Besuchersessel, eine Spezialanfertigung. Den nehme ich mit, überlegte er. Den Tisch auch, habe mich dran gewöhnt. Ich gehe ungern von hier weg, hab das Plätzchen so schön angewärmt. Aber warum soll ich eigentlich? Der Mensch ist seltsam: Sieht er eine Treppe vor sich, will er unbedingt auf ihre höchste Stufe. Da oben ist es kalt, scharfe Winde wehen, die der Gesundheit ganz und gar nicht zuträglich sind, der Sturz hinunter kann tödlich enden, die Stufen sind glatt und voller Gefahren. Du weißt das alles sehr gut und steigst trotzdem hoch, arbeitest dich immer höher, bis dir die Zunge zum Halse heraushängt. Die Umstände mögen dagegen sprechen, aber du kletterst. Man mag dir abraten - du kletterst. Du kletterst gegen den Widerstand deiner Feinde, wider den eigenen Instinkt, den gesunden Menschenverstand, gegen ungute Vorahnungen, du steigst, steigst, steigst. Wer nicht steigt, fällt, so ist das. Doch wer steigt, fällt auch.

Das Surren des Haustelefons unterbrach seine Gedanken. Er nahm den Hörer ab und kniff verärgert die Brauen zusammen: »Was ist? Ich bin beschäftigt.«

»Jemand, der sich ›Wanderer‹ nennt, ist auf Ihrer persönlichen Leitung, Exzellenz. Er möchte Sie dringend sprechen«, säuselte der Referent.

»Der Wanderer?« Der Staatsanwalt lebte auf. »Verbinden Sie mich.«

Im Hörer knackte es. Wieder das Säuseln des Referenten: »Exzellenz hören.«

Noch ein Knacken, und dann der bekannte, harte, pandeanische Akzent: »Schlaukopf? Grüße dich. Bist du sehr beschäftigt?«

»Für dich nicht.«

»Ich muss dich sprechen.«

»Wann?«

»Gleich, wenn es dir recht ist.«

»Ich stehe zu deiner Verfügung«, sagte der Staatsanwalt. »Komm her.«

»Ich bin in zehn, fünfzehn Minuten bei dir. Warte auf mich.«

Der Staatsanwalt legte den Hörer auf und saß einige Zeit reglos und mit eingekniffener Unterlippe da. Ist er also zurück, dachte er, und wieder wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Massaraksch, wie viel Geld mich dieser Mensch schon gekostet hat! Mehr als alle anderen zusammen, dabei weiß ich über ihn immer noch genauso wenig wie alle Übrigen. Ein gefährlicher Typ. Unberechenbar. Hat mir die Stimmung verdorben. Erbost überflog der Staatsanwalt die Papiere, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte, schob sie nachlässig zu einem Haufen zusammen und legte sie ins Fach. Wie lange hat er sich eigentlich nicht blicken lassen? Zwei Monate. Wie immer. Verschwindet irgendwohin, lässt zwei Monate nichts von sich hören und dann, bitte schön, wie der Geist aus der Flasche. Nein, mit diesem Geist muss etwas passieren, so kann man nicht arbeiten. Na gut, aber was will er von mir? Was ist in diesen zwei Monaten überhaupt passiert?

Er öffnete das Geheimfach und schaltete alle Fonografen und geheimen Kameras ein. Diese Szene bewahren wir für die Nachwelt. Wo bleibst du, Wanderer? Vor Aufregung brach ihm der Schweiß aus, er zitterte, und um sich zu beruhigen, kaute er noch ein paar Beeren. Dann schloss er die Augen und zählte. Als er bei siebenhundert angelangt war, sprang die Tür auf und dieser lange Kerl trat ein. Den Referenten schob er einfach beiseite, dieser Spaßvogel … dieser eiskalte Typ, die Hoffnung der Unbekannten Väter. Er wurde gehasst und vergöttert, hing in jeder Sekunde am seidenen Faden, fiel jedoch nie. Hager war er und gebeugt, er hatte eine Glatze, grüne Augen und riesige, abstehende Ohren. Und ewig diese hässliche knielange Jacke. Ein Zauberer, ein Anführer und Macher, einer, der Milliarden verschlang. Der Staatsanwalt erhob sich, um ihn zu empfangen. Bei diesem Mann musste er sich nicht verstellen oder sich dumme Floskeln abringen.

»Grüß dich, Wanderer«, sagte er. »Kommst du, um zu prahlen?«

»Warum sollte ich«, erwiderte der Wanderer, während er sich in den Besuchersessel fallen ließ und seine Knie plump in die Höhe schnellten. »Massaraksch, immer vergesse ich die Tücke dieses Möbels. Wann lässt du es endlich bleiben, deine Gäste zu foppen?«

»Besucher müssen sich unbehaglich fühlen«, belehrte ihn der Staatsanwalt. »Sie müssen lächerlich wirken. Was habe ich sonst für Spaß an ihnen? Jetzt, beispielsweise, sehe ich dich an und werde richtig fröhlich.«

»Ja, ich weiß, du bist ein heiterer Mensch«, sagte der Wanderer. »Allerdings ist dein Humor ziemlich anspruchslos. Du darfst dich übrigens setzen.«

Der Staatsanwalt merkte erst jetzt, dass er immer noch stand. Wie jedes Mal, hatte der Wanderer die Rechnung schnell beglichen. Der Staatsanwalt machte es sich so bequem wie möglich und nippte an seinem Heilwasser.

»Also?«, fragte er.

Der Wanderer begann ohne Umschweife. »In deinen Klauen«, sagte er, »befindet sich ein Mann, den ich brauche. Ein gewisser Mak Sim. Du hast ihn zur Umerziehung geschickt, erinnerst du dich?«

»Nein«, antwortete der Staatsanwalt aufrichtig. Er spürte einige Enttäuschung. »Wann habe ich ihn verschickt? Weswegen?«

»Vor kurzem. Wegen des gesprengten Turms.«

»Ja, ich erinnere mich. Und?«

»Das ist alles«, sagte der Wanderer. »Ich brauche ihn.«

»Moment«, entgegnete ihm der Staatsanwalt verärgert. »Den Prozess habe ich gar nicht geführt. Und an jeden Verurteilten kann ich mich nicht erinnern.«

»Ich dachte, das wären alles deine Leute.«

»Da war nur einer von mir dabei, die anderen waren echt … Wie, sagst du, heißt er?«

»Mak Sim.«

»Mak Sim«, wiederholte der Staatsanwalt. »Ah! Dieser Spion aus den Bergen. Natürlich. Da gab es eine merkwürdige Geschichte: Man hat ihn erschossen, und trotzdem lebt er.«

»Ja, so war es wohl.«

»Ein außergewöhnlicher Kraftbolzen. Ja, mir wurde davon berichtet. Wozu brauchst du ihn?«

»Er ist ein Mutant«, sagte der Wanderer. »Hat äußerst interessante Mentogramme. Ich brauche ihn für meine Arbeit.«

»Willst du ihn obduzieren?«

»Möglich. Meine Leute beobachten ihn seit langem, schon, als man ihn noch im Spezialstudio brauchte. Aber dann ist er entwischt.«

Der Staatsanwalt stopfte sich enttäuscht den Mund voll mit Beeren und nuschelte: »Einverstanden. Und wie läuft es sonst bei dir?«

»Gut, wie immer«, antwortete der Wanderer. »Wie ich gehört habe, bei dir ebenso. Hast dem Hampelmann das Wasser abgegraben. Gratuliere. Wann kriege ich also meinen Mak?«

»Morgen depeschiere ich. Man wird ihn dir in fünf bis sieben Tagen bringen.«

»Umsonst?«, fragte der Wanderer.

»Eine Gefälligkeit«, entgegnete der Staatsanwalt. »Was könntest du mir denn bieten?«

»Den ersten Schutzhelm.«

Der Staatsanwalt grinste. »Und das Weltlicht als Zugabe. Übrigens: Ich brauche nicht den ersten Schutzhelm, sondern den einzigen. Stimmt es, dass deine Bande beauftragt wurde, einen Emitter für gebündelte Strahlung zu konstruieren?«

»Möglich«, sagte der Wanderer.

»Hör mal, wofür, zum Teufel, noch so etwas? Haben wir nicht genug Unannehmlichkeiten? Du solltest die Sache ein bisschen bremsen.«

Der Wanderer grinste. »Hast du Angst, Schlaukopf?«

»Ja«, gab der Staatsanwalt zu. »Du nicht? Oder glaubst du, der Onkel wird dich immer lieben? Mit deinem eigenen Strahler wird er dich …«

Der Wanderer grinste wieder. »Du hast mich überzeugt. Abgemacht.« Er stand auf. »Ich geh jetzt zum Papa. Soll ich ihm was ausrichten?«

»Der Papa ist schlecht auf mich zu sprechen«, antwortete der Staatsanwalt, »ist mir verflucht unangenehm.«

»Gut.« Der Wanderer wandte sich zur Tür. »Ich werde es ihm ausrichten.«

»Spaß beiseite, aber wenn du ein Wörtchen für mich einlegen könntest …«

»Bist eben ein Schlaukopf«, sagte der Wanderer im Tonfall des Papas. »Ich werd’s versuchen.«

»Ist er wenigstens mit dem Prozess zufrieden?«

»Woher soll ich das wissen? Bin doch gerade erst angekommen.«

»Versuch es herauszubringen. Und wegen deines … wie sagtest du? Ich notiere mir den Namen.«

»Mak Sim.«

»Was also ihn betrifft, leite ich morgen das Nötige ein.«

»Bleib gesund.« Der Wanderer ging.

Der Staatsanwalt blickte ihm finster nach. Eine Position hat der Mann! Ist zu beneiden! Die gesamte Abwehr liegt allein bei ihm. Ja, die Reue kommt spät, aber vielleicht hätte man sich mit ihm anfreunden sollen. Nur, wie macht man das bei so einem? Er braucht ja niemanden, ist ohnehin der Wichtigste, und wir anderen sind seine Vasallen. Alle beten ihn an. Wenn man dem an die Gurgel könnte - das wär’s! Und dann kommt er wegen so einer Lappalie, einen Sträfling braucht er, bitte schön. Der ist was wert, man bedenke, seine Mentogramme sind interessant. Allerdings ist dieser Gefangene ein Gebirgler, und der Papa spricht in letzter Zeit ziemlich oft über die Berge. Womöglich lohnt es, sich damit zu befassen. Was auch immer mit dem Krieg wird - Papa bleibt Papa. Massaraksch, arbeiten kann ich heute sowieso nicht mehr.

Er nahm den Hörer und rief ins Telefon: »Koh, was für Material haben Sie über den Verurteilten Sim?« Er entsann sich auf einmal. »Sie hatten doch Verschiedenes über ihn zusammengetragen.«

»Jawohl, Exzellenz«, säuselte der Referent. »Ich hatte die Ehre, die Aufmerksamkeit Eurer Exzellenz …«

»Bringen Sie’s her. Und noch etwas Wasser.«

Er legte den Hörer auf, und im selben Moment erschien, kaum wahrnehmbar, wie ein Schatten, der Referent in der Tür. Plötzlich lag eine dicke Mappe vor dem Staatsanwalt; leises Klirren, Wasser gluckste, und auf dem Tisch stand ein volles Glas. Der Staatsanwalt nahm einen Schluck und betrachtete die Mappe.

»Exzerpt aus dem Vorgang Mak Sim (Maxim Kammerer). Verfasser: Referent Koh.«

Recht umfangreich, und dann »Exzerpt«. Der Staatsanwalt öffnete die Mappe und entnahm ihr den ersten Stoß zusammengehefteter Blätter.

Aussagen des Rittmeisters Toot. Aussagen des Angeklagten Gaal. Skizze eines Grenzbezirks hinter der Blauen Schlange. »Andere Kleider trug er nicht. Seine Sprache klang menschlich, doch völlig unverständlich. Der Versuch, mit ihm auf Honti zu reden, brachte kein Ergebnis.« Diese Rittmeister der Grenztruppen! Ein hontianischer Spion an der Südgrenze! »Die Zeichnungen, die der Verhaftete uns vorlegte, schienen mir erstaunlich und kunstvoll.« Nun, hinter der Blauen Schlange gibt es viel Erstaunliches. Leider. Selbst die Begleitumstände, unter denen dieser Sim aufgetaucht ist, heben sich nicht allzu sehr von den übrigen Verhältnissen dort ab. Obwohl freilich … Aber wir werden sehen.

Der Staatsanwalt legte den Packen beiseite, schob sich zwei besonders große Beeren in den Mund und griff nach dem nächsten Blatt. »Gutachten einer Expertenkommission aus Mitarbeitern des Instituts für Textilien und Kleidung. Wir, die

Der Staatsanwalt legte das Blatt zur Seite. Eine Hose, na, von mir aus. Hose bleibt Hose. Was noch? »Protokoll der medizinischen Untersuchung.« Interessant. So einen Blutdruck hat er? Oho, das ist eine Lunge! Und da? Narben von vier tödlichen Verwundungen. Ist ja geradezu mystisch. Aha. »Siehe die Aussagen des Zeugen Tschatschu und des Angeklagten Gaal.« Sieben Kugeln! Hm, hier ist ein gewisser Widerspruch: Tschatschu sagt aus, er habe sich mit der Waffe in Todesgefahr verteidigt, und dieser Gaal behauptet, Sim wollte dem Rittmeister die Pistole nur abnehmen. Na, ist nicht meine Sache. Zwei Kugeln in die Leber - das ist zu viel für einen

Der Staatsanwalt lehnte sich im Sessel zurück. Nein, das war zu viel. Womöglich ist der Bursche auch unsterblich? Selbstredend muss das den Wanderer interessieren! Was gibt es noch? Hier haben wir ein ernstzunehmendes Dokument: »Gutachten einer Sonderkommission des Departements für Volksgesundheit. Material: Mak Sim. Reaktion auf weiße Strahlung: negativ. Einwände gegen den Dienst in den Spezialeinheiten: keine.« Aha, das war, als er sich für die Garde bewarb. Die weißen Strahlen, Massaraksch. Diese Henker, hol sie der Teufel! Und das also ist ihre Expertise für die Beweisaufnahme. »Keinerlei Reaktion auf weiße Strahlung verschiedener

Oh, da ist er also auch schon gewesen! Na, so was. Bestimmt wieder eine Null-Reaktion. »… Selbst unter forcierter Belastung machte der Untersuchungsgefangene Sim keine Aussagen. Gemäß Paragraf 12, der sichtbare physische Schädigungen an noch in öffentlichen Gerichtsverhandlungen Vorzuführenden untersagt, wurde angewandt: A. tiefstmögliche Punktur mit Durchdringung der Nervenganglien (Reaktion paradox, der Untersuchte schläft ein). B. Chemobehandlung der Nervenknoten mit Alkaloiden und Laugen (Reaktion analog). C. Lichtkammer (keine Reaktion, der Untersuchte zeigt Verwunderung). D. dampfthermische Kammer (Gewichtsverlust ohne unangenehme Empfindungen). Damit mussten wir die forcierten Methoden einstellen.« Brrr … Das ist ein Schrieb! Der Wanderer hat Recht: Er ist ein Mutant. Normale Menschen halten das nicht aus. Es soll ja positive Mutationen geben, wenn auch selten. Das wäre die Erklärung, nicht für die Hose, allerdings. Hosen mutieren ja nicht, soviel ich weiß.

Er nahm das nächste Blatt. Es war uninteressant: die Aussage des Direktors vom Spezialstudio. Eine idiotische Einrichtung!

Zerstreut begann er zu lesen, dachte dabei noch an Fank und den Wanderer, und dann, ganz unerwartet, begann ihn das Papier zu interessieren. Es war eine Studie, in der alle Hinweise, Aussagen und Augenzeugenberichte, die in dieser oder jener Hinsicht die Frage nach der Herkunft Mak Sims berührten, zusammengetragen und ausgewertet waren: anthropologische, ethnografische, linguistische Daten und ihre Analyse, Untersuchungsergebnisse von Fonogrammen, Mentogrammen und Zeichnungen des Gefangenen. Alles das las sich wie ein Roman, trotz der knappen, vorsichtig formulierten Schlüsse. Die Kommission zählte Mak Sim zu keiner der bisher bekannten ethnischen Gruppen, die den Kontinent bewohnten. (Gesondert wurde die Meinung des namhaften Paläanthropologen Schapschu angeführt, der im Schädelbau des Häftlings große Ähnlichkeit, jedoch keine Identität mit dem fossilen Schädel des sogenannten Altmenschen, der vor

Er aß noch eine Beere und griff nach dem nächsten Bogen. »Auszug aus dem Stenogramm des Gerichtsprozesses«. Hm, wozu denn das? »Staatsanwalt: Sie leugnen nicht, ein gebildeter Mensch zu sein? Angeklagter: Ich habe Bildung, doch von Geschichte, Soziologie und Ökonomie verstehe ich sehr wenig. Staatsanwalt: Keine falsche Bescheidenheit! Kennen Sie dieses Buch? Angeklagter: Ja. Staatsanwalt: Haben Sie es gelesen? Angeklagter: Selbstverständlich. Staatsanwalt: Zu welchem Zweck haben Sie sich in Untersuchungshaft mit der Lektüre der Monografie ›Tensorrechnung und moderne Physik‹ befasst? Angeklagter: Ich verstehe nicht ganz … zum Vergnügen, zum Zweck der Unterhaltung, wenn’s recht ist. Es gibt dort sehr lustige Passagen. Staatsanwalt: Ich denke, dem Gericht ist klar, dass nur ein überaus gebildeter Mensch eine so spezielle Abhandlung zum Vergnügen und zur Unterhaltung liest.« Was ist das für ein Unsinn? Warum ist es bei den Unterlagen? Und weiter? Massaraksch, immer noch der Prozess. »Verteidiger: Ist Ihnen bekannt, welche Mittel die Unbekannten Väter zur Überwindung der Kinderkriminalität aufwenden? Angeklagter: Ich verstehe nicht ganz. Was ist ›Kinderkriminalität‹? Verbrechen an Kindern? Verteidiger: Nein. Verbrechen, die von Kindern verübt werden. Angeklagter: Das verstehe ich nicht. Kinder können doch keine Verbrechen verüben.« Hm, komisch. Und was steht da zum Schluss? »Verteidiger: Ich hoffe, es ist mir gelungen, dem Gericht die Naivität meines Mandanten zu beweisen, die hinsichtlich alltäglicher Lebensfragen bis zum Idiotismus reicht. Mein Mandant ist gegen den Staat vorgegangen, ohne von ihm die geringste Vorstellung zu haben. Begriffe wie Kinderkriminalität, Wohltätigkeit, Sozialbeihilfe sind ihm fremd.« Der Generalstaatsanwalt lächelte und legte das Blatt beiseite. Alles klar. Wirklich, ein merkwürdiges Zusammentreffen: Mathematik und

Er sah noch einige Seiten durch. Ich begreife nicht, Mak, weshalb du dich so an dieses Weibchen klammerst, wie heißt sie doch? Rada Gaal. Euch verbindet keine Liebesbeziehung, du bist ihr zu nichts verpflichtet, und ihr beide habt keine Gemeinsamkeiten: Dieser Dummkopf von einem Staatsanwalt versucht ganz vergeblich, ihr Verbindungen zum Untergrund zu unterstellen. Aber ich habe den Eindruck, wenn es um sie geht, kann man dich zu allem bringen. Eine sehr nützliche Eigenschaft - für uns. Für dich hingegen ist das ziemlich unbequem. Jedenfalls laufen alle Aussagen darauf hinaus, dass du, Bruderherz, ein Sklave deines Wortes bist, überhaupt alles andere als flexibel. Ein Politiker würde nie aus dir. Muss auch nicht. Hm, Fotos. So also siehst du aus. Ein angenehmes Gesicht, wirklich, sehr angenehm. Etwas merkwürdige Augen. Wo hat man dich fotografiert? Auf der Anklagebank. Sieh mal an, frisch, munter, die Augen klar, ungezwungene Pose. Wo hat man dir nur beigebracht, so zwanglos zu sitzen, überhaupt, dich so zu halten; die Anklagebank ist wie mein Sessel, da sitzt man nicht ungezwungen. Interessanter Bursche. Übrigens ist das alles dummes Zeug, weil’s nicht darum geht.

Der Staatsanwalt stand vom Schreibtisch auf und ging im Zimmer auf und ab. Ihm war, als kitzle ihn etwas in seinem Gehirn, etwas erregte ihn, stachelte ihn an … Aber was war es? Ich habe etwas in dieser Mappe gefunden, etwas Wichtiges, etwas sehr Wichtiges. Fank? Ja, das ist von Bedeutung, weil der Wanderer Fank nur bei den allerwichtigsten Fällen einsetzt. Aber Fank ist nur die Bestätigung für etwas anderes. Aber wofür, die Hose? Unsinn … Ah! Das ist es. Ja, ja, das fehlt in der Mappe. Er nahm den Hörer.

»Koh! Wie war das mit dem Überfall auf den Geleitzug?«

»Er ereignete sich vor vierzehn Tagen«, sprudelte der Referent sofort heraus, als lese er einen vorbereiteten Text.

»Wer steckt dahinter?«

»Das konnte nicht geklärt werden. Der offizielle Untergrund hat mit der Sache nichts zu tun.«

»Vermutungen?«

»Möglicherweise waren es Terroristen, die versuchten, den Verurteilten Dek Pottu, genannt ›General‹, zu befreien; er ist bekannt für seine engen Kontakte zum linken Flügel.«

Der Staatsanwalt warf den Hörer auf. Es konnte natürlich so sein. Oder aber ganz anders. Blättern wir noch einmal durch. Die Südgrenze, dieser Schwachkopf von einem Rittmeister, die Hose, läuft mit einem Mann auf den Schultern, der radioaktive Fisch, siebenundsiebzig Einheiten, Reaktion auf die A-Strahlung, Chemobeeinflussung der Nervenganglien, stopp! Die Reaktion auf die A-Strahlung: »Die Reaktion auf die A-Strahlung: null in beiderlei Hinsicht.« Null. In beiderlei Hinsicht. Der Staatsanwalt presste sich die Faust auf das wild klopfende Herz. Ich Idiot! Null in beiderlei Hinsicht!

Er griff noch einmal zum Telefon: »Koh! Bereiten Sie sofort alles für einen Sonderkurier mit Eskorte vor. Einen Sonderwaggon, Richtung Süden. Oder nein! Meine Elektrodraisine. Massaraksch!« Er fasste in das Geheimfach und schaltete die Aufzeichnungsapparaturen aus. »Handeln Sie!«

Die linke Hand noch immer auf der Brust, zog er einen seiner Briefbögen aus der Schreibmappe und fing an, schnell, und doch gut leserlich zu schreiben. »Staatsangelegenheit. Streng geheim. An den Generalkommandeur des Sonderbezirks

Er nahm einen zweiten Bogen. »Anweisung. Hiermit befehle ich allen Dienstgraden der militärischen, zivilen und Eisenbahnverwaltung, dem Inhaber dieses Schreibens, einem Sonderkurier der Generalstaatsanwaltschaft und seinem Geleitschutz, Unterstützung der Kategorie EXTRA zu gewähren. Der Generalstaatsanwalt.«

Er trank sein Glas aus, schenkte nach und begann, langsam und jedes Wort bedenkend, auf einem dritten Blatt: »Lieber Wanderer! Eine dumme Geschichte! Wie ich soeben erfahren habe, ist das dich interessierende Material verschollen, wie das ja oft passiert im südlichen Dschungel.«

VIERTER TEIL Sträfling


13

Vom ersten Schuss barst eine der Ketten, und zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren geriet der eiserne Drache aus seiner eingefahrenen Spur. Er durchpflügte den Beton, brach in das Dickicht ein und drehte sich langsam auf der Stelle, schob die zitternden Bäume beiseite und stemmte die breite Front gegen das knickende Buschwerk. Und als der Drache ihnen sein mächtiges Heck mit dem Eisenblech und den rostigen Nieten zuwandte, jagte ihm Sef eine Sprengladung in den Motor, sehr sorgfältig und genau, um nur, Gott behüte, den Reaktor nicht zu treffen. Der Drache ächzte eisern, stieß glühende Rauchschwaden aus der Kupplung und blieb stehen - für immer. Etwas aber schien in seinem gepanzerten Inneren noch zu leben: Alarmsysteme schalteten sich ein und wieder aus, fauchten und spien Schaum. Er bebte schwach, scharrte mühsam mit der einen verbliebenen Kette, hob und senkte furchtbar, wenn auch vergebens, wie das Hinterteil einer zerquetschten Wespe, das lädierte Gitterrohr der Raketenstartrampe. Einige Sekunden verfolgte Sef diese Agonie, dann machte er kehrt und ging in den Wald. Den Granatwerfer schleifte er am Riemen hinter sich her. Maxim und Wildschwein folgten ihm und gelangten auf eine stille Wiese, die Sef sich wohl schon auf dem Herweg gemerkt hatte. Sie

Er drehte dem Einarmigen eine Zigarette, gab ihm Feuer und steckte auch sich eine an. Maxim lag auf dem Bauch, das Kinn in die Hände gestützt, und beobachtete noch immer, wie hinter den vereinzelt stehenden Bäumen der Eisendrache starb, die letzten Zahnräder kläglich kreischten und den zerfetzten Eingeweiden pfeifend radioaktiver Dampf entströmte.

»So macht man das, nur so«, dozierte Sef. »Versuchst du’s anders, reiß ich dir die Ohren ab.«

»Warum?«, fragte Maxim. »Ich wollte ihn zum Stehen bringen.«

»Die Granate hätte quer in die Rakete einschlagen können, und dann wär’s aus gewesen mit uns«, antwortete Sef.

»Ich habe auf die Kette gezielt.«

»Ins Heck muss man zielen.« Sef tat einen Lungenzug. »Und überhaupt, dräng dich nicht vor, solange du neu bist. Es sei denn, ich bitte dich darum. Klar?«

»Klar«, sagte Maxim.

Sefs Finessen interessierten ihn nicht. Der ganze Sef interessierte ihn nicht. Ihn interessierte Wildschwein. Doch Wildschwein schwieg wie immer gleichgültig; die künstliche Hand hatte er auf dem abgewetzten Futteral des Minensuchgeräts abgelegt. Alles war wie immer. Und alles war anders, als Maxim es sich wünschte.

Als die neu angekommenen Zöglinge vor einer Woche bei den Baracken antreten mussten, war Sef gleich auf Maxim zugesteuert und hatte ihn in seine Pioniergruppe 134 geholt. Maxim war froh darüber gewesen. Er hatte den feuerroten Bart und die stämmige Gestalt gleich wiedererkannt, und es tat ihm gut, dass man auch ihn in diesem stinkenden karierten Haufen, wo jeder auf jeden pfiff und sich keiner für den anderen interessierte, gefunden hatte. Zudem hatte Maxim

Die Nerven gingen ihm durch. Er erinnerte sich an den Prozess, der offensichtlich schon vorbereitet worden war, bevor die Gruppe den Befehl erhielt, den Turm zu stürmen; und an die schriftlichen Denunziationen irgendeines Lumpen, der alles über die Gruppe wusste und womöglich eins ihrer Mitglieder war; und an den Film, der während des Angriffs vom Turm aus gedreht worden war, und an seine Scham, als er sich selbst auf dem Bildschirm erkannte, wie er mit der Maschinenpistole

Und am nächsten Tag wurde Maxim auch vom Wald verraten. Keinen Schritt konnte man tun, ohne auf Eisen zu stoßen: totes, durch und durch verrostetes Eisen. Verborgenes Eisen, das jederzeit bereit war zu morden; Eisen, das sich heimlich regte und auf einen zielte - oder Eisen, das blind und ohne Verstand die Reste der Straßen aufriss. Erde und Gras rochen nach Rost, in den Bodensenken blinkten radioaktive Pfützen, die Vögel sangen nicht, sondern schrien heiser, als ahnten sie ihren Tod voraus. Andere Tiere fehlten gänzlich, und es fehlte auch die Waldesstille - ununterbrochen, bald rechts, bald links, krachten und dröhnten Detonationen. Im Geäst ballte sich graublauer Qualm, und der Wind trug das Heulen altersschwacher Motoren heran.

Und so ging es Tag für Tag und Nacht für Nacht. Tags begaben sie sich in den Wald, der kein Wald war, sondern ein ehemals befestigtes Gebiet, vollgepfropft mit automatischem Kampfgerät, Panzerwagen, Flammen- und Gaswerfern, Selbstfahrkanonen und Raketen auf Kettenfahrzeugen. Das alles war in mehr als zwanzig Jahren nicht etwa abgestorben, sondern lebte sein unnützes, mechanisches Leben weiter: zielte noch immer, richtete sein Geschütz nach wie vor, spie Blei, Feuer und Tod und musste zerstört und gesprengt werden, um die Trasse frei zu bekommen für den Bau neuer Emittertürme. Und nachts fuhr Wildschwein fort zu schweigen, und Sef bedrängte Maxim wieder und wieder mit seinen Fragen, bisweilen direkt und geradezu dumm, ein andermal erstaunlich geschickt und spitzfindig. Und dann waren da noch das

Tag - Nacht, Tag - Nacht …

»Weshalb wollten Sie ihn anhalten?«, fragte Wildschwein plötzlich.

Maxim setzte sich auf. Es war die erste Frage, die der Einarmige an ihn richtete.

»Um zu sehen, wie er funktioniert.«

»Wollen Sie fliehen?«

Maxim heftete seinen Blick auf Sef. »Nein, nicht deshalb. Aber immerhin ist es ein Panzer, ein Kampffahrzeug.«

»Und wozu brauchen Sie ihn?« Wildschwein redete, als gäbe es den rothaarigen Spitzel nicht.

»Keine Ahnung!«, stieß Maxim hervor. »Darüber müsste ich noch nachdenken. Sind hier viele von dieser Sorte?«

»Ja«, mischte sich der rothaarige Störenfried ins Gespräch. »Panzer gibt’s genug, und an Dummköpfen hat’s auch nie gefehlt.« Er gähnte. »Wie oft das schon versucht wurde! Kriechen hinein, fummeln und fummeln, und dann geben sie auf. Einer dieser Idioten, so einer wie du, hat sich sogar in die Luft gejagt.«

»Ich würde mich nicht in die Luft jagen«, sagte Maxim kühl. »Dieses Fahrzeug ist unkompliziert.«

»Wozu brauchen Sie’s denn nun?«, fragte der Einarmige. Er lag auf dem Rücken und rauchte, die Zigarette eingeklemmt zwischen die künstlichen Finger. »Nehmen wir an, Sie setzen es in Gang. Was weiter?«

»Durchbruch über die Brücke.« Sef lachte auf.

»Warum nicht?«, entgegnete Maxim. Er wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Der Rothaarige war anscheinend

»Sie kommen nicht bis zur Brücke«, sagte Wildschwein. »Bis dahin hat man Sie dreiunddreißigmal erschossen. Schaffen Sie’s aber doch, ist die Brücke wahrscheinlich hochgezogen.«

»Dann durch den Fluss.«

»Der ist radioaktiv.« Sef spie aus. »Wäre er für Menschen zugänglich, bräuchte man keinen Panzer. An jeder x-beliebigen Stelle könnte man durchschwimmen, die Ufer sind nicht bewacht.« Er spuckte noch einmal aus. »Übrigens wären sie es dann. Also spiel nicht den wilden Mann, mein Junge. Bist für lange hier, pass dich an! Tust du es, wird was draus. Hörst du aber nicht auf die Älteren, kannst du noch heute das Weltlicht erblicken.«

»Fliehen ist leicht«, widersprach Maxim. »Fliehen könnte ich auf der Stelle.«

»Schau einer an!« Sef mimte Bewunderung.

»… und wenn Sie vorhaben, hier weiter Konspiration zu spielen …« Maxim wandte sich demonstrativ an Wildschwein, doch Sef unterbrach ihn erneut.

»Ich beabsichtige, die heutige Norm zu schaffen.« Er stand auf. »Andernfalls kriegen wir nichts zu fressen. Also los!«

Während er watschelnd zwischen den Bäumen verschwand, fragte Maxim den Einarmigen: »Ist das etwa ein Politischer?«

Wildschwein warf ihm einen hastigen Blick zu. »Wie kommen Sie denn darauf?«

Sie folgten Sef, bemüht, in seine Fußstapfen zu treten. Maxim ging als Letzter.

»Weswegen ist er eigentlich hier?«

»Er hat die Straße falsch überquert«, erwiderte Wildschwein, und wieder verlor Maxim die Lust zu reden.

Sie hatten noch keine hundert Schritte getan, als Sef »Halt!« kommandierte, und die Arbeit begann. »Hinlegen!«, schrie er wenig später. Sie warfen sich flach auf den Boden. Ein dicker

Schließlich wurde Sef müde und verkündete eine Pause. Sie fachten ein Feuer an, und Maxim - als Jüngster - kochte das Essen: Konservensuppe in dem ihm längst bekannten Kochgeschirr. Sef und der Einarmige lagen schmutzig und zerschunden neben ihm und rauchten.

Wildschwein wirkte mitgenommen, er war alt, für ihn war es hier am schwersten.

»Unbegreiflich, wie wir es geschafft haben, bei so einer Menge Technik pro Quadratmeter den Krieg zu verlieren«, sagte Maxim.

»Wie kommst du darauf, dass wir ihn verloren haben?«, erkundigte sich Sef träge.

»Gewonnen haben wir ja nicht«, sagte Maxim. »Sieger leben anders.«

»In einem modernen Krieg gibt es keine Sieger«, bemerkte der Einarmige. »Sie haben natürlich Recht. Wir haben den Krieg verloren. Alle haben diesen Krieg verloren. Gewonnen haben nur die Unbekannten Väter.«

»Die Unbekannten Väter haben es auch nicht leicht«. Maxim rührte die Suppe um.

»Ja«, sagte Sef ernst. »Schlaflose Nächte und quälende Gedanken an das Schicksal des Volkes. Müde und gütig, sehen sie alles, verstehen alles … Massaraksch, wie lange habe ich keine Zeitungen mehr gelesen, habe schon vergessen, wie’s weitergeht.«

»Treu und gütig«, berichtigte ihn der Einarmige. »Sich ganz dem Fortschritt und dem Kampf gegen das Chaos widmend.«

»Solche Gespräche bin ich nicht mehr gewöhnt«, murrte Sef. »Hier heißt’s ›Halt’s Maul, Zögling!‹, oder ›Ich zähle bis eins‹. He, Bürschchen, wie heißt du doch?«

»Maxim.«

»Ja, richtig. Rühre, Mak, rühre. Pass auf, dass sie nicht anbrennt!«

Maxim rührte. Und dann meinte Sef, es sei nun genug, er könne nicht länger warten. Schweigend löffelten sie ihre Suppe. Maxim spürte, dass sich irgendetwas verändert hatte, und es würde noch heute ausgesprochen werden … Doch nach dem Essen legte sich Wildschwein wieder hin und blickte zum Himmel, und Sef griff, unverständlich murmelnd, nach dem Kochgeschirr und wischte es mit einer Brotrinde aus.

»Man müsste sich etwas schießen«, sagte er. »Mein Wanst ist leer, als hätte ich keinen Krümel darin. Nur Appetit hab ich gekriegt.«

Maxim wurde verlegen, und er versuchte, ein Gespräch über die Jagd in dieser Gegend anzufangen, doch die anderen gingen nicht darauf ein. Der Einarmige lag mit geschlossenen Augen da und schlief anscheinend; Sef, der sich Maxims Überlegungen zu Ende angehört hatte, brummte nur: »Was kann’s hier für Jagd geben. Ist doch alles verseucht, radioaktiv«, und dann wälzte auch er sich auf den Rücken.

Maxim nahm das Kochgeschirr und ging zum Bach, der in der Nähe vorbeifloss. Das Wasser war klar, schien sauber und wohlschmeckend, so dass Maxim davon trinken wollte. Er schöpfte eine Handvoll und bemerkte, dass der Bach spürbar radioaktiv war; das Kochgeschirr würde er hier nicht auswaschen können, und trinken sollte er von dem Wasser besser auch nicht. Maxim hockte sich hin, legte das Kochgeschirr ins Gras und fing an zu grübeln.

Als Erstes kam ihm Rada in den Sinn, wie sie nach den Mahlzeiten das Geschirr gespült und nicht zugelassen hatte, dass er ihr half: Das sei Frauensache, hatte sie gesagt. Ihm fiel ein, dass sie ihn liebte, und das machte ihn stolz, denn bislang hatte noch keine Frau ihn geliebt. Er hätte Rada jetzt gern gesehen, war aber zugleich erleichtert, dass sie nicht da war. An diesen Ort gehörten nicht einmal die schlimmsten Männer; zwanzigtausend Reinigungskyber müsste man herschicken, vielleicht sogar alle Wälder mitsamt ihrem Inhalt vernichten und neue ziehen, die licht waren oder, wenn es sein musste, auch düster - aber sauber und von einer natürlichen Finsternis.

Dann erinnerte er sich, dass man ihn für immer in diese Wälder geschickt hatte. Er wunderte sich über die Naivität derjenigen, die ihn hierher verbannt hatten und glaubten, er würde, ohne je sein Ehrenwort gegeben zu haben, freiwillig dahinvegetieren und ihnen noch dazu helfen, eine Linie von Emittertürmen zu errichten. Im Sträflingswaggon hatte jemand erzählt, die Wälder würden Hunderte von Kilometern

Wildschwein glaubt mir nicht. Sef glaubt er, mir aber nicht. Ich wiederum misstraue Sef, wahrscheinlich zu Unrecht. Sicher bin ich in Wildschweins Augen ebenso aufdringlich und verdächtig, wie Sef es für mich ist. Na schön, Wildschwein glaubt mir nicht, also bin ich wieder allein. Ich könnte darauf hoffen, den General oder Klaue zu treffen, aber das ist zu unwahrscheinlich: Es heißt, es gibt hier über eine Million Zöglinge, und das Gebiet ist riesig. Nein, mit so einem Zusammentreffen ist nicht zu rechnen. Ich könnte versuchen, eine eigene Gruppe zusammenzubringen, aber seien wir ehrlich, Massaraksch, dafür eigne ich mich nicht. Vorerst jedenfalls nicht, bin viel zu vertrauensselig. Klären wir daher zuerst die Aufgabe. Was will ich?

Einige Minuten lang führte er sich die Aufgabe vor Augen und fand Folgendes heraus: Man musste die Unbekannten Väter stürzen. Wenn sie Militärs sind, sollen sie doch in der Armee dienen, sind sie Finanzleute, sollen sie sich mit den Finanzen befassen, was immer das heißen mag. Eine demokratische Regierung einsetzen - er hatte eine ungefähre Vorstellung, was das war und wusste, dass diese Republik zunächst bürgerlich-demokratisch sein würde. Das löste nicht alle Probleme, aber erlaubte, die Gesetzlosigkeit einzudämmen und die sinnlosen Ausgaben für die Türme und die Kriegsvorbereitungen zu streichen. Er musste sich freilich eingestehen, dass er nur vom ersten Punkt seines Programms eine genaue Vorstellung hatte: vom Sturz der Tyrannei. Was danach käme, war ihm noch völlig unklar. Zudem konnte er nicht sicher sein, ob die breite Masse der Bevölkerung seine Idee, die Tyrannei zu stürzen, gutheißen würde. Die Unbekannten Väter

Auf jeden Fall muss ich von hier weg. Zuerst versuche ich, eine Gruppe aufzubauen, doch wenn es nicht gelingt, gehe ich allein. Und einen Panzer brauche ich. Waffen gibt es hier ja

Sef und Wildschwein schliefen nicht, sie lagen Kopf an Kopf und stritten leise, aber heftig. Als Sef Maxim erblickte, sagte er schnell: »Schluss jetzt!«, und erhob sich. Den gewaltigen roten Bart vorgereckt und die Augen aufgerissen, brüllte er los: »Wo treibst du dich rum, Massaraksch? Wer hat dir erlaubt, wegzurennen? Arbeiten müssen wir, sonst geben sie uns nichts zu fressen, dreiunddreißigmal Massaraksch!«

Und da geriet Maxim in Wut. Bestimmt zum ersten Mal im Leben fuhr er einen Menschen an, so laut er konnte: »Hol Sie der Teufel, Sef! Können Sie an nichts anderes denken als ans Essen? Den ganzen Tag hör ich von Ihnen: fressen, fressen, fressen! Ich gebe Ihnen meine Konserven, wenn es Sie so quält!«

Er warf das Kochgeschirr ins Gras, nahm seinen Rucksack und setzte ihn auf. Sef war von seinem Wutausbruch wie vor den Kopf geschlagen, setzte sich hin und blickte ihn verdutzt an. Dann gluckste er, schniefte und - brach in Gelächter aus. Der Einarmige stimmte ein, doch war das nur zu sehen, nicht zu hören. Zuletzt lachte auch Maxim, wenn auch ein wenig verlegen.

»Massaraksch!«, röchelte Sef schließlich. »Der hat ein Organ. Nein, Freundchen«, wandte er sich an Wildschwein, »denk an meine Worte. Aber eigentlich hatte ich gesagt: Schluss jetzt. Aufstehn!«, schrie er auf einmal los, »vorwärts, wenn ihr heute abend, ähm, fressen wollt …«

Und damit hatte es sich. Sie grölten noch ein wenig und lachten; dann wurden sie ernst und gingen weiter. Verbissen entschärfte Maxim Minen, brach Zwillings-MGs aus ihren Nestern, schraubte Sprengköpfe von Fliegerabwehrraketen,

Nach diesen Stunden hatte Maxim endgültig genug von Sef, und er freute sich geradezu, als der Rotbart plötzlich aufheulte und mit Getöse in die Erde einbrach. Er wischte sich mit einem schmutzigen Ärmel den Schweiß von der schmutzigen Stirn, trat näher und stand am Rand einer im Gras verborgenen Spalte. Sie war sehr tief und stockfinster, nichts war zu erkennen. Es drang nur ein Geruch von Kälte und Feuchtigkeit herauf, und man hörte Knirschen, Klirren und unverständliches Schimpfen. Hinkend kam Wildschwein dazu, blickte ebenfalls in die Tiefe und fragte: »Ist er dort? Was macht er da?«

»Sef!« Maxim bückte sich. »Wo sind Sie, Sef?«

Aus der Spalte klang es dumpf: »Kommt runter! Springt, es ist ganz weich.«

Maxim sah den Einarmigen an. Der schüttelte den Kopf.

»Das ist nichts für mich. Springen Sie, ich lasse Ihnen nachher ein Seil runter.«

»Wer da?«, schrie Sef auf einmal. »Ich schieße, Massaraksch!«

Maxim schob die Beine in die Spalte, stieß sich ab und sprang. Fast im selben Augenblick versank er bis zu den Knien in einer mürben Masse und fiel auf sein Hinterteil. Sef war irgendwo in der Nähe. Maxim schloss die Augen und blieb einige Sekunden sitzen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.

»Komm her, Mak, hier ist jemand«, dröhnte Sef. »Wildschwein! Spring!«

Wildschwein entgegnete, er sei müde wie ein Hund und würde sich oben gerne ein wenig ausruhen.

»Wie du willst«, sagte Sef. »Aber wenn du mich fragst, ist das die Festung. Wirst es bereuen.«

Die Antwort des Einarmigen klang undeutlich, seine Stimme schwach - sicher war ihm wieder übel und ganz und gar nicht nach der Festung zumute. Maxim öffnete die Augen und blickte sich um. Er saß auf einem Erdhaufen inmitten eines langen Gangs mit unebenen Zementwänden. Das Loch in der Decke diente entweder der Ventilation, oder es stammte von einem Einschuss. Etwa zwanzig Schritte entfernt stand Sef. Auch er sah sich um, wobei er mit der Taschenlampe in alle Richtungen leuchtete.

»Was ist das hier?«, fragte Maxim.

»Weiß ich’s?«, erwiderte Sef streitsüchtig. »Vielleicht ein Unterstand. Oder tatsächlich die Festung. Hast du von ihr gehört?«

»Nein.« Maxim rutschte den Erdhaufen hinab.

»Also nicht.« Sef schien zerstreut. Er leuchtete immer noch mit der Taschenlampe die Wände ab. »Was weißt du überhaupt. Massaraksch, eben war da jemand.«

»Ein Mensch?«

»Keine Ahnung. Er schlich an der Wand entlang und verschwand. Was aber die Festung betrifft, mein Freund - das ist eine Sache, mit der wir an einem Tag unsere ganze Arbeit schaffen könnten. Aha, Spuren …«

Er kauerte sich nieder. Maxim hockte sich daneben und sah eine Reihe von Abdrücken im Staub neben der Wand.

»Sie sehen merkwürdig aus«, sagte er.

»Stimmt, mein Freund.« Sef sah sich wieder um. »Solche Spuren habe ich noch nie gesehen.«

»Als wäre jemand auf Fäusten gegangen«, überlegte Maxim. Er ballte eine Hand und drückte sie neben die Spur.

»So ähnlich«, stimmte Sef anerkennend zu. Er richtete den Lichtkegel in die Tiefe des Gangs. Etwas blinkte schwach, reflektierte - wahrscheinlich eine Biegung oder Sackgasse. »Sehen wir’s uns an?«

»Leise«, sagte Maxim. »Keinen Ton, und bewegen Sie sich nicht.«

Die Stille hier unter der Erde war so dicht wie feuchte Watte, und dennoch war der Gang nicht unbelebt. Da vorne stand jemand - Maxim konnte nicht genau sagen, wo und wie weit entfernt -, aber da, klein und an die Mauer gepresst war etwas, das einen schwachen, unbekannten Geruch verbreitete, sie beobachtete und ihre Anwesenheit missbilligte. Das Wesen war etwas ganz und gar Fremdes und seine Absichten unbekannt.

»Müssen wir unbedingt dorthin?«, fragte Maxim.

»Ich würde gern.«

»Weshalb?«

»Ich muss mir das ansehen, womöglich ist es die Festung. Hätten wir die gefunden, mein Freund, würde alles anders. Ich glaube nicht an sie, aber da man davon erzählt. Wer weiß. Vielleicht lügen doch nicht alle.«

»Da ist jemand«, flüsterte Maxim. »Ich begreife nur nicht, wer.«

»Ja? Hm, wenn es die Festung ist, leben hier, nach der Legende, entweder die Überreste ihrer Garnison … Sitzen da, verstehst du, und wissen nicht, dass die Kämpfe zu Ende sind, hatten mitten im Krieg ihre Neutralität erklärt, sich verbarrikadiert und verkündet, sie würden den ganzen Kontinent in die Luft sprengen, falls man zu ihnen vordränge.«

»Können sie das?«

»Wenn es die Festung ist, können sie alles. Es gibt ja oben immer noch ständig Schüsse und Detonationen, gut möglich,

Maxim lauschte wieder.

»Nein«, sagte er mit Bestimmtheit. »Das ist weder Prinz noch Herzog. Ein Tier vielleicht, nein, auch kein Tier. Oder?«

»Was - ›oder‹?«

»Sie haben gesagt, entweder die Überreste der Garnison, oder …?«

»Ach so, das andere ist Unsinn, ein Ammenmärchen. Gehen wir und sehen nach.«

Sef lud den Granatwerfer, brachte ihn in Anschlag und tappte, mit der Taschenlampe leuchtend, vorwärts. Maxim hielt sich neben ihm. Einige Minuten bewegten sie sich den Gang entlang, dann stießen sie auf eine Wand und gingen nach rechts.

»Sie machen zu viel Lärm«, beklagte sich Maxim. »Da vorn passiert was, aber Sie schnaufen …«

»Was denn, soll ich die Luft anhalten?« Prompt zeigte Sef seine Krallen.

»Ihre Lampe stört mich auch.«

»Wieso? Es ist dunkel!«

»Ich sehe im Dunkeln«, sagte Maxim, »aber wegen Ihrer Funzel kann ich nichts erkennen. Lassen Sie mich vorgehen, und bleiben Sie hier. Sonst erfahren wir gar nichts.«

»Wie du willst.« Sefs Stimme klang ungewohnt unsicher.

Maxim kniff wieder die Augen zusammen, erholte sich von dem matten, flackernden Licht und glitt gebückt an der Mauer entlang, bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden. Der Unbekannte konnte nicht weit sein, und mit jedem Schritt kam Maxim ihm näher. Der Gang nahm kein Ende. Rechts zeigten sich jetzt Türen, alle aus Eisen und ausnahmslos verschlossen. Von vorn zog es ein wenig. Die Luft war feucht, roch nach Moder und etwas Unbekanntem, Lebendigem und Warmem.

»Sef!«, rief Maxim.

»Ja!«, tönte dumpf die Antwort.

Maxim stellte sich vor, wie der Unbekannte zwischen ihnen den Kopf in Richtung der Stimmen dreht.

»Er steht zwischen uns«, sagte Maxim. »Kommen Sie nicht auf die Idee zu schießen.«

»Gut.« Sef schwieg kurze Zeit. »Ich sehe nichts. Wie ist er?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Maxim. »Weich.«

»Ein Tier?«

»Wohl nicht.«

»Du hast doch behauptet, du siehst im Dunkeln.«

»Aber nicht mit den Augen«, sagte Maxim. »Seien Sie still!«

»Nicht mit den Augen«, murmelte Sef und verstummte.

Der Unbekannte blieb noch eine Weile an derselben Stelle, dann durchquerte er den Gang, verschwand wieder und tauchte nach einiger Zeit plötzlich vor ihnen auf. Er ist auch neugierig, dachte Maxim. Er gab sich viel Mühe, Sympathie für dieses Wesen zu empfinden, doch etwas störte - sicher die unangenehme Verbindung von nichttierischem Intellekt mit halbtierischem Äußeren. Er tat wieder einen Schritt. Der Unbekannte wich zurück, hielt gleichbleibenden Abstand.

»Wie steht’s?«, fragte Sef.

»Unverändert«, antwortete Maxim. »Möglich, dass er uns irgendwohin führt oder lockt.«

»Werden wir mit ihm fertig?«

»Er wird uns nicht angreifen«, sagte Maxim. »Für ihn ist es auch interessant.«

Er verstummte, weil der Unbekannte wieder entwischt war, und bemerkte plötzlich, dass der Gang endete. Maxim befand sich in einem großen, tiefdunklen Raum und konnte fast nichts erkennen. Doch er spürte Metall und Glas, Rostgeruch - und Hochspannungsstrom. Einige Sekunden lang stand er reglos da und streckte, nachdem er herausgefunden hatte, wo der Schalter war, die Hand danach aus. Doch in dem Moment erschien das Wesen wieder. Und nicht allein. Mit ihm war ein zweites gekommen, ähnlich, aber nicht gleich. Sie standen an derselben Wand wie Maxim, er hörte ihren Atem - hastig und feucht. Er erstarrte, hoffte, sie würden näher herankommen, aber sie taten es nicht. Und dann drückte er, nachdem er mit aller Kraft die Pupillen zusammengezogen hatte, auf die Taste des Schalters.

Offenbar war die Leitung nicht in Ordnung, denn die Lampen flammten nur für den Bruchteil einer Sekunde auf, irgendwo knallten Sicherungen durch, und das Licht erlosch wieder. Immerhin aber hatte Maxim gesehen, dass die Wesen klein waren, etwa wie große Hunde. Sie standen auf allen vieren, hatten ein dunkles Fell und riesige, schwere Köpfe. Ihre Augen hatte Maxim so schnell nicht erkannt. Die Wesen waren im Nu verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

»Was ist los bei dir?«, fragte Sef beunruhigt. »Was war das für ein Blitz?«

»Ich hatte das Licht eingeschaltet. Kommen Sie her.«

»Und wo ist er? Hast du ihn gesehen?«

»Nur kurz. Sie ähneln doch eher Tieren. Hunde mit großen Köpfen.«

Über die Wand hüpfte der Widerschein der Taschenlampe. Sef redete im Gehen.

»Ah, Hunde. Die kenne ich, solche hausen im Wald. Lebend habe ich sie nie gesehen, aber schon oft erlegt.«

»Nein«, sagte Maxim zweifelnd. »Tiere sind das nicht.«

»Es sind Tiere.« Sefs Stimme hallte dumpf vom hohen Gewölbe dieses unterirdischen Raums wider. »Wir haben uns umsonst gefürchtet. Ich dachte schon, Vampire. Massaraksch! Das ist wirklich die Festung.«

Er blieb mitten im Raum stehen. Der Lichtkegel wanderte über Wände, Reihen von Skalenscheiben, Schalttafeln. Glas leuchtete auf, Nickel, verblichener Kunststoff.

»Ich gratuliere, Mak. Wir beide haben sie gefunden. Zu Unrecht hab ich nicht dran geglaubt, zu Unrecht. Und was ist das? Aha, das Elektronenhirn, alles steht hier unter Strom. Ach, der Schmied müsste her. Hör mal, verstehst du was davon?«

»Wovon?« Maxim trat heran.

»Von dieser Mechanik. Hier ist das Steuerpult! Wenn wir das beherrschen, gehört uns die ganze Region. Die ganze Technik oben wird von hier dirigiert. Ach, wenn man damit klarkäme, Massaraksch!«

Maxim nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand, hielt sie so, dass sie den ganzen Raum erhellte, und blickte sich um. Überall war Staub, gewiss schon viele Jahre, und auf dem Tisch in der Ecke lag ein auseinandergefaltetes, vermodertes Stück Papier; darauf stand ein schwarzbekleckerter Teller mit einer Gabel. Maxim ging an den Pulten entlang, berührte Stellschrauben, versuchte den Elektronenrechner einzuschalten, zog an einem Hebel, aber der blieb gleich in seiner Hand …

»Nein«, murmelte er dann. »Von hier kann man kaum etwas Nennenswertes steuern. Erstens ist alles viel zu primitiv - wie in einer Beobachtungsstation oder einem Kontrollpunkt, so behelfsmäßig. Auch der Rechner ist schwach, würde für keine zehn Panzer reichen. Und dann ist alles verfallen, nicht mal anrühren darf man es. Strom fließt zwar, aber die

Plötzlich sah Maxim die langen Röhren, die aus der Wand hervorstanden und in einer Augenmuschel aus Gummi zusammenliefen, anscheinend ein Okular. Er zog einen Aluminiumstuhl heran, setzte sich und führte sein Gesicht zur Muschel. Zu seinem Erstaunen war die Optik in einem hervorragendem Zustand. Noch mehr aber wunderte ihn, was er zu sehen bekam. Er hatte eine ihm gänzlich unbekannte Landschaft im Blickfeld: weißlich-gelbe Wüste, Sanddünen, das Skelett einer metallenen Anlage. Starker Wind wehte, der Sand trieb in Schwaden über die Dünen, der unklare Horizont wölbte sich zu einer Schale.

»Schauen Sie mal«, sagte er zu Sef. »Wo ist das?«

Sef lehnte den Granatwerfer ans Pult, trat heran und sah durch das Okular.

»Merkwürdig«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Das ist die Wüste. Die ist vierhundert Kilometer entfernt, mein Freund.« Er rückte vom Okular ab und sah Maxim an. »Wie viel Mühe sie in das alles investiert haben. Diese Lumpen! Und was kam dabei heraus? Der Wind streicht über den Sand. Und was war das für eine schöne Gegend! Als Junge war ich einmal dort, zur Erholung. Vor dem Krieg.« Er stand auf. »Fort von hier, zum Teufel«, sagte er bitter und griff nach der Lampe. »Wir zwei kapieren hier sowieso nichts. Müssen wir halt warten, bis sie den Schmied schnappen und einbuchten. Aber wahrscheinlich werden sie ihn nicht einbuchten, sondern erschießen. Was ist, gehen wir?«

»Ja.« Maxim musterte noch einmal die seltsamen Abdrücke auf dem Boden. »Das hier interessiert mich entschieden mehr«, bekannte er.

»Völlig umsonst«, winkte Sef ab. »Wahrscheinlich laufen hier alle möglichen Viecher rum.«

Er lud den Granatwerfer auf seinen Rücken und wandte sich zum Ausgang. Maxim folgte ihm, drehte sich aber mehrmals nach den Spuren um.

»Ich habe Hunger«, knurrte Sef.

Sie tappten den Gang entlang. Maxim schlug vor, eine der Türen aufzubrechen, aber Sef hielt das für zwecklos.

»Mit dieser Sache muss man sich ernsthaft befassen«, sagte er. »Was sollen wir Zeit vertrödeln, wir haben die Norm noch nicht geschafft. Hierher muss man jemanden bringen, der was davon versteht.«

»An Ihrer Stelle würde ich nicht zu sehr auf diese ›Festung‹ zählen«, wandte Maxim ein. »Erstens ist alles verrottet, und zweitens ist sie schon besetzt.«

»Von wem? Ach, du meinst die Hunde? Bist auch so einer. Andere faseln von Vampiren, und du …«

Sef verstummte. Durch den Gang gellte ein kehliger Schrei, der dann als vielfaches Echo von den Wänden zurückhallte und wieder verklang. Sofort antwortete aus der Ferne eine gleiche Stimme. Die Töne waren vertraut, doch Maxim konnte sich nicht entsinnen, wo er sie schon gehört hatte.

»Sie also schreien nachts so!«, staunte Sef. »Und wir dachten, es sind Vögel.«

»Klingt merkwürdig«, sagte Maxim.

»Merkwürdig? Ich weiß nicht«, widersprach Sef. »Eher schaurig. Wenn dieses Gebrüll in der Nacht durch den Wald schallt, rutscht einem das Herz in die Hose. Und was für Märchen darüber erzählt werden. Es gab einen Kriminellen, der sich brüstete, ihre Sprache zu verstehen. Er hat sie übersetzt.«

»Und was hat er übersetzt?«, fragte Maxim.

»Ach, dummes Zeug. Was ist das schon für eine Sprache.«

»Wo ist der Kriminelle?«

»Den haben sie aufgegessen«, sagte Sef. »Er war bei den Bauleuten. Sein Trupp hat sich im Wald verirrt, dann bekamen die Jungs Hunger, und da, na ja …«

Sie bogen nach links ein. Weit vor ihnen schimmerte der blasse Lichtfleck. Sef schaltete die Lampe aus und steckte sie in die Tasche. Er schritt jetzt voran, und als er unverhofft stehen blieb, wäre Maxim fast gegen ihn gestoßen.

»Massaraksch!«, knurrte Sef.

Mitten im Gang lag ein menschliches Skelett. Sef nahm den Granatwerfer von der Schulter und blickte sich um.

»Das war vorhin noch nicht hier«, brummte er.

»Ja«, stimmte Maxim zu. »Man hat es gerade erst hierhergelegt.«

Aus dem tiefen unterirdischen Gewölbe hinter ihnen erschallte plötzlich ein ganzer Chor von langgezogenen Kehllauten. Mit den widerhallenden Echos hörte es sich an, als heulten Tausende von Stimmen im Chor, als skandierten sie alle ein eigentümliches, viersilbiges Wort. Maxim glaubte Hohn herauszuhören, Spott oder Provokation. Dann verstummte der Chor so abrupt, wie er eingesetzt hatte. Sef atmete geräuschvoll aus und ließ den Granatwerfer sinken. Maxim sah sich das Skelett genauer an.

»Ich denke, das ist ein Fingerzeig«, sagte er.

»Das denke ich auch«, murmelte Sef. »Schnell weg!«

Sie hasteten bis zu dem Spalt in der Decke, stiegen auf den Erdhaufen und sahen über sich Wildschweins beunruhigtes Gesicht. Bäuchlings lag er am Rand des Durchbruchs und hatte ein Seil mit einer Schlinge herabgelassen.

»Was ist los bei euch?«, fragte er. »Habt ihr so geschrien?«

»Wir erzählen es dir gleich«, erwiderte Sef. »Hast du das Seil gesichert?«

Sie kletterten nach oben. Sef drehte für sich und den Einarmigen eine Zigarette, rauchte sie an und schwieg eine Weile; anscheinend wollte er sich erst eine Meinung über das Geschehene bilden.

»In Ordnung«, begann er endlich, »kurz gesagt, Folgendes: Das ist die Festung. Schalttafeln, Elektronenhirn und so weiter.

Wildschwein blickte erst ihn, dann Maxim an.

»Mutanten?«, fragte er.

»Möglich«, räumte Sef ein. »Ich habe gar niemand zu Gesicht bekommen, doch Mak meint, er hätte Hunde gesehen, nur nicht mit den Augen. Womit hast du sie eigentlich gesehen, Mak?«

»Auch mit den Augen«, sagte Maxim. »Ich möchte hinzufügen, dass außer diesen Hunden niemand dort war. Ich würde es wissen. Und eure Hunde sind nicht das, wofür ihr sie haltet. Das sind keine Tiere.«

Wildschwein erwiderte nichts. Er stand auf, wickelte das Seil auf, knüpfte es sich an den Gürtel und setzte sich wieder neben Sef.

»Weiß der Teufel«, brabbelte der. »Womöglich sind es tatsächlich keine Tiere. Hier ist alles denkbar, hier im Süden.«

»Vielleicht sind die Hunde Mutanten?«, rätselte Maxim.

»Nein«, widersprach Sef. »Mutanten sind einfach sehr missgestaltete Menschen. Kinder gewöhnlicher Leute. Mutanten! Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«

»Ich weiß es«, sagte Maxim. »Aber die Frage ist doch, wie weit Mutation gehen kann.«

Für ein paar Minuten versanken sie in Gedanken. Dann meldete sich Sef zu Wort: »Da du schon alles weißt, müssen

»Ja«, sagte Maxim, und sie machten sich auf den Weg.

Eigentlich hätten sie noch das südwestliche Viertel des Quadrats säubern müssen, aber es kam nicht dazu. Denn hier hatte sich vor einiger Zeit eine gewaltige Explosion ereignet: Vom alten Wald fanden sich nur noch umgestürzte, halb verfaulte Baumstämme und verkohlte Stümpfe, und dazwischen wuchsen schon vereinzelt junge Bäume. Die Erde war schwarz versengt und mit Rostsplittern gespickt. Nach so einer Detonation funktionierte keine Technik mehr … Und Maxim ahnte, dass Sef sie nicht zum Arbeiten hierhergeführt hatte.

Aus dem Gebüsch kroch ihnen auf einmal ein behaarter Mann in schmutzigem Häftlingskittel entgegen. Maxim erkannte ihn: Es war Sefs ehemaliger Partner, der erste Mensch, den er auf diesem Planeten getroffen hatte, der wandelnde Weltschmerz.

»Wartet«, sagte Wildschwein. »Ich will mit ihm reden.«

Sef befahl Maxim, sich zu setzen, hockte sich neben ihn, wechselte die Schuhe und summte ein Liedchen der Kriminellen in seinen Bart: »Ich bin ein flotter Junge, mich kennt der ganze Kiez.« Wildschwein ging zu der traurigen Gestalt, beide zogen sich hinter die Sträucher zurück und flüsterten miteinander. Maxim konnte sie zwar ausgezeichnet hören, nicht aber verstehen, weil sie einen Jargon sprachen. Lediglich das Wort »Post«, das sie mehrfach wiederholten, war ihm geläufig. Bald aber hörte er nicht mehr zu. Er fühlte sich erschöpft und schmutzig. Es hatte heute zu viel sinnlose Nervenanspannung und unnütze Arbeit gegeben. Zu lange hatte er allen möglichen Dreck eingeatmet und zu viel Röntgenstrahlung abbekommen. Und an diesem ganzen Tag hatte er

Dann verschwand der wandelnde Weltschmerz, und Wildschwein kehrte zurück. Er setzte sich vor Maxim auf einen Baumstumpf und sagte: »Unterhalten wir uns.«

»Alles in Ordnung?«, fragte Sef.

»Ja«, antwortete Wildschwein.

»Hab ich dir doch gesagt!« Sef hielt seine durchlöcherte Schuhsohle gegen das Licht. »Hab eben ein Gespür für solche Leute.«

»Also, Mak«, begann Wildschwein. »Wir haben Sie überprüft - soweit das in unserer Situation möglich ist. Der General bürgt für Sie. Ab heute unterstehen Sie mir.«

»Sehr erfreut.« Maxim lächelte schief. Er hätte gern hinzugefügt: Für Sie hat sich der General nicht verbürgt, ergänzte aber nur: »Ich höre.«

»Der General hat uns informiert, dass Ihnen weder Kernstrahlung noch die Emitter etwas ausmachen. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Das heißt, Sie könnten zu jedem beliebigen Zeitpunkt durch die Blaue Schlange schwimmen, ohne dass es Ihnen schadet?«

»Ich habe schon gesagt, meinetwegen kann ich sofort von hier fliehen.«

»Wir sind nicht daran interessiert, dass Sie fliehen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind auch die Patrouillenwagen keine Gefahr für Sie?«

»Sie meinen die mobilen Emitter? Nein, die machen mir nichts aus.«

»Sehr gut.« Wildschwein schien zufrieden. »Damit steht Ihre Aufgabe für die folgenden Wochen fest. Sie werden Kurier. Sobald ich Ihnen den entsprechenden Befehl erteile,

»Ja, klar.« Maxim dehnte die Worte. »Doch ich hätte noch gern etwas anderes geklärt.«

Wildschwein verzog keine Miene. Er war ein hagerer, sehniger, zum Krüppel geschlagener alter Mann. Und ein unerbittlicher Kämpfer - von Kindesbeinen an. Eines jener furchtbaren, wenn auch Bewunderung hervorrufenden Wesen auf diesem Planeten, auf dem ein Menschenleben gar nichts zählte. Wildschwein kannte nichts als den Kampf, besaß nichts als den Kampf, hielt sich von allem fern außer dem Kampf - und in seinen aufmerksamen, zusammengekniffenen Augen konnte Maxim wie in einem Buch sein Schicksal für die kommenden Jahre herauslesen.

»Ja?«, sagte Wildschwein.

»Verständigen wir uns besser gleich.« Maxims Stimme klang fest. »Ich möchte nicht blindlings handeln. Ich habe nicht vor, mich mit Dingen zu beschäftigen, die meiner Meinung nach sinnlos und unnötig sind.«

»Zum Beispiel?«, fragte Wildschwein.

»Ich weiß, was Disziplin heißt. Und ich weiß, dass ohne Disziplin nichts aus unserer Arbeit wird. Doch ich meine, Disziplin muss auf Vernunft beruhen; der Untergebene muss sicher sein, dass ein Befehl vernünftig ist. Sie befehlen mir, Kurier zu sein. Ich bin dazu bereit, ich könnte mehr leisten, doch wenn es nötig ist, werde ich Kurier. Aber ich muss sicher sein, dass die Telegramme, die ich abschicke, nicht dazu führen, dass ohnedies unglückliche Menschen sinnlos sterben.«

Sef wollte sich gerade aufregen, als Wildschwein und Maxim ihm mit der gleichen Bewegung Einhalt geboten.

»Man hat mir befohlen, einen Turm zu sprengen«, fuhr Maxim fort. »Weshalb das nötig war, wurde mir nicht gesagt. Ich habe den Befehl ausgeführt, obwohl ich wusste, dass es

»So ein Dummkopf!«, entfuhr es Sef. »Rotznase.«

»Inwiefern?«, fragte Maxim.

»Warten Sie, Sef«, sagte der Einarmige. Immer noch sah er Maxim unverwandt an. »Mit anderen Worten, Mak, Sie wollen alle Pläne des Stabs kennen?«

»Ja. Ich will nicht blindlings arbeiten.«

»Du bist frech, Bruderherz«, erklärte Sef. »Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie unverschämt du bist. Aber trotzdem, er gefällt mir, Wildschwein. Und ich habe ein gutes Auge dafür.«

»Sie verlangen zu viel Vertrauen«, sagte Wildschwein kalt. »Das muss man sich erst mit niederen Arbeiten verdienen.«

»Und diese niederen Arbeiten bestehen darin, dass man idiotische Türme sprengt?«, fragte Maxim. »Ich bin zwar erst ein paar Monate im Untergrund, aber in dieser ganzen Zeit höre ich immer nur eins: Türme, Türme, Türme. Aber ich will keine Türme mehr sprengen, das ist sinnlos! Ich will gegen die Tyrannei angehen, gegen Hunger, Verfall, Korruption, Lüge. Ich verstehe, dass die Türme Sie quälen, körperlich, meine ich. Doch selbst was die Türme angeht, verhalten Sie sich töricht. Es liegt doch auf der Hand, dass sie nur Relaisstationen sind. Also muss man die Zentrale vernichten, und nicht jeden Turm einzeln.«

Wildschwein und Sef redeten gleichzeitig drauflos.

»Woher wissen Sie von der Zentrale?«, fragte Wildschwein.

»Wo willst du die Zentrale finden?«, fragte Sef.

»Dass es eine Zentrale geben muss, begreift doch jeder leidlich gebildete Ingenieur.« Geringschätzig verzog Maxim den Mund. »Wie man sie aber findet - gerade das ist die Aufgabe,

»Erstens wissen wir das auch ohne dich«, regte sich Sef auf. »Und zweitens, Massaraksch, ist niemand umsonst gefallen. Jeder leidlich gebildete Ingenieur, du rotzige Rotznase, begreift, dass wir das Relaissystem dadurch zerstören, dass wir einige Türme vernichten. So können wir einen ganzen Bezirk befreien! Aber dafür müssen wir Türme beseitigen. Und wir lernen es - verstehst du das oder nicht? Und wenn du noch einmal behauptest, Massaraksch, unsere Jungs sterben umsonst …«

»Moment«, unterbrach ihn Maxim. »Fassen Sie mich nicht an! Einen Bezirk befreien. Gut, und weiter?«

»Jede Rotznase kommt her und behauptet, wir sterben umsonst«, murrte Sef.

»Und weiter?«, wiederholte Maxim hartnäckig. »Die Gardisten installieren neue Emitter, und aus ist’s mit euch.«

»Teufel nochmal!«, fluchte Sef. »In der Zeit läuft doch die Bevölkerung dieses Bezirks zu uns über. Da wird es ihnen schwerfallen, sich einzumischen. Zehn sogenannte Missgeburten sind eins, zehntausend wütende Bauern etwas anderes.«

»Sef! Sef!«, mahnte Wildschwein.

Sef wehrte ungeduldig ab. »… Zehntausend wütende Bauern, die kapiert haben und nicht wieder vergessen werden, dass man sie zwanzig Jahre lang schamlos zum Narren gehalten hat.«

Der Einarmige winkte ab und drehte sich zur Seite.

»Warten Sie, warten Sie«, sagte Maxim. »Was erzählen Sie da? Warum sollten diese Leute das auf einmal verstehen? Sie halten das doch alles für Raketenabwehr. In Stücke werden sie Sie reißen!«

»Und wofür hältst du es?« Sef lächelte seltsam.

»Ich weiß, was los ist«, sagte Maxim. »Man hat es mir erzählt.«

»Wer?«

»Der Doktor und der General. Wieso - ist das ein Geheimnis?«

»Vielleicht lassen wir dieses Thema?«, fragte Wildschwein leise.

»Warum?«, wandte Sef ebenfalls sehr leise ein. »Warum sollen wir es lassen, Wildschwein? Du weißt, wie ich darüber denke. Du weißt, weshalb ich hier hocke, und bis zum Ende meines Lebens hier hocken werde. Und ich kenne deine Meinung. Also warum sollen wir nicht darüber reden? Wir sind einer Meinung, dass man es eigentlich an allen Straßenkreuzungen hinausschreien müsste. Aber wenn wir es dann tun könnten, erinnern wir uns plötzlich unserer Disziplin und lassen es bleiben. So spielen wir diesen Opportunisten, Liberalen und Aufklärern immer wieder in die Hände - all diesen verhinderten Vätern … Nun sitzt dieser Junge vor uns. Du siehst doch, wie er ist. Sollen etwa auch solche nicht Bescheid wissen?«

»Vielleicht dürfen gerade sie es nicht«, antwortete, noch immer sehr leise, der Einarmige.

Maxim, der kein Wort begriff, blickte von einem zum anderen. Sie schienen auf einmal nicht mehr sie selbst zu sein - wirkten gedrückt, niedergeschlagen. Nichts an Wildschwein erinnerte mehr an den stahlharten Kerl, an dem sich viele Staatsanwälte und Feldgerichte die Zähne ausgebissen hatten. Und auch das unverhohlen Vulgäre des Rotbarts war verschwunden; Sef wirkte stattdessen traurig, gekränkt, verzweifelt, gebrochen. Es machte den Eindruck, als wäre ihnen etwas eingefallen, das sie hätten vergessen sollen, und das sie sich auch ehrlich bemüht hatten zu vergessen.

»Ich erzähl’s ihm«, sagte Sef. Er bat weder um Rat noch um Erlaubnis. Er teilte seinen Entschluss einfach mit.

Wildschwein schwieg, und Sef fing an.

Was er erzählte, war ungeheuerlich - nicht nur an sich, sondern auch, weil es keinen Platz ließ für Zweifel. Sef sprach leise, ruhig und klug, in korrekter Sprache und sich höflich unterbrechend, wenn Wildschwein eine kurze Bemerkung machte. Und während Sef redete, bemühte sich Maxim, wenigstens eine Unzulänglichkeit in diesem Weltsystem zu finden, aber es gelang ihm nicht. Das neue Bild, das sich ihm bot, war zwar primitiv, aber wohlgeordnet und hoffnungslos logisch; es erklärte alle bislang bekannten Fakten und ließ keine Frage offen. Es war die größte und furchtbarste Entdeckung, die Maxim seit seiner Ankunft auf der bewohnten Insel machte …

Die Strahlen, die von den Türmen ausgingen, galten nicht den Entarteten, sondern beeinflussten das Nervensystem jedes menschlichen Wesens auf dem Planeten. Ihr physiologischer Wirkungsmechanismus war noch unbekannt, aber man wusste, wie sie sich auf den Bestrahlten auswirkten: Sein Gehirn verlor die Fähigkeit, die Realität kritisch zu analysieren. Der denkende Mensch verwandelte sich in einen gläubigen Menschen - so gläubig, dass es an Verzückung, Raserei und Fanatismus grenzte. Und von diesem Glauben ließ er sich auch dann nicht abbringen, wenn alle Tatsachen dagegensprachen. Befand sich jemand im Strahlenfeld, konnte man ihm mit den einfachsten Mitteln etwas suggerieren, und er nahm es als die reine und einzige Wahrheit an, war bereit, dafür zu leben, zu leiden und zu sterben.

Und dieses Strahlenfeld bestand immer - nicht wahrnehmbar, aber allgegenwärtig und alles durchdringend. Es wurde von dem gigantischen Netz der Türme, die über das ganze Land verteilt waren, aufrechterhalten. Wie ein riesiger Staubsauger entzog es Millionen von Menschen jegliche Zweifel darüber, was in den Zeitungen und Broschüren stand, was man im Radio oder im Fernsehen hörte, was die Lehrer an

Und zweimal täglich, um zehn Uhr morgens und um zehn Uhr abends, schaltete man diese riesigen Staubsauger auf volle Leistung. In dieser halben Stunde verloren die Menschen ganz und gar ihr Menschsein. Alle verborgenen Spannungen, die sich durch das Missverhältnis zwischen dem Suggerierten und der Realität in ihrem Unterbewusstsein aufgebaut hatten, brachen aus ihnen heraus - in einem Anfall von glühender Begeisterung und einer verzückten Ekstase von Unterwerfung und Sklaverei. Die starken Strahlenschläge unterdrückten die Reflexe und Instinkte der Menschen und ersetzten sie durch das ungeheuerliche Gefüge von Ehrfurcht und Pflichtgefühl gegenüber den Unbekannten Vätern. Der Bestrahlte verlor jegliche Fähigkeit, seine Vernunft zu gebrauchen, und handelte wie ein Roboter.

Gefährlich für die Unbekannten Väter waren nur die Menschen, die aufgrund physiologischer Besonderheiten gegen die Suggestionen immun waren. Man nannte sie »entartet«. Das ständige Feld zeigte bei ihnen keinerlei Wirkung; die Schübe riefen lediglich unerträgliche Schmerzen hervor. Es gab nicht viele Entartete - etwa ein Prozent der Bevölkerung

Maxim war so entsetzt und verzweifelt, als hätte er plötzlich entdeckt, dass seine bewohnte Insel von Marionetten anstelle von Menschen bevölkert war. Es gab keine Hoffnung. Sefs Plan, ein größeres Gebiet zu erobern, war ein Abenteuer. Sie hatten eine immense Maschinerie vor sich; sie war einerseits zu simpel, um sich weiterzuentwickeln, andererseits aber zu groß, um sie mit minimalen Mitteln zerstören zu können. Es gab in diesem Staat keine Macht, die in der Lage gewesen wäre, ein Volk zu befreien, das gar nicht ahnte, dass es unfrei - oder, wie Wildschwein es ausdrückte, aus dem Lauf der Geschichte herausgefallen war. Und die Maschinerie war in ihrem Kern unverletzbar, resistent gegen alle kleinen Störungen. Wurden Teile von ihr vernichtet, regenerierte sie sich sofort. Auf Reize reagierte sie eindeutig und augenblicklich, ohne sich um das Schicksal der einzelnen Elemente zu scheren. Hoffen ließ nur der Gedanke, dass das System ein Steuerpult besitzen musste, eine Zentrale, ein Gehirn. Theoretisch konnte man es zerstören, dann geriete es aus dem Gleichgewicht und es käme der Moment, in dem man versuchen könnte, diese Welt auf einen anderen Weg und auf das Gleis der Geschichte zurückzulenken. Doch der Standort der Zentrale war

Sef hatte längst aufgehört zu reden. Doch Maxim saß noch immer mit gesenktem Kopf da und bohrte mit einem Stock in der trockenen schwarzen Erde. Dann räusperte sich Sef und sagte verlegen: »Ja, Kumpel. So sieht’s aus.«

Anscheinend bereute er schon, dass er davon angefangen hatte.

»Worauf hofft ihr?«, fragte Maxim.

Sef und Wildschwein schwiegen. Maxim hob den Kopf und sah sie an, dann murmelte er: »Entschuldigt, ich … Das ist alles so … entschuldigt.«

»Wir müssen kämpfen.« Wildschweins Stimme klang ruhig. »Wir kämpfen, und wir werden kämpfen. Sef hat Ihnen eine der Strategien des Stabs genannt. Es gibt noch andere, ebenso anfechtbare, und kein einziges Mal in der Praxis erprobt. Verstehen Sie, bei uns ist alles erst im Werden. Eine in sich schlüssige Theorie bekommt man nicht in zwanzig Jahren hin, so aus dem Nichts.«

»Diese Strahlung«, begann Maxim langsam, »wirkt sie gleichmäßig auf alle Völker Ihrer Welt?«

Wildschwein und Sef sahen einander an.

»Ich verstehe nicht«, sagte Wildschwein.

»Ich meine Folgendes: Gibt es ein Volk, in dem wenigstens ein paar Tausend Menschen wie ich sind?«

»Kaum«, antwortete Sef. »Höchstens bei diesen … bei den Mutanten. Massaraksch, nimm’s mir nicht übel, Mak, doch du bist ja offensichtlich auch ein Mutant. Eine geglückte Mutation, wie sie pro Million einmal passiert.«

»Ich nehm’s nicht übel«, sagte Maxim. »Die Mutanten leben also dort, hinter den Wäldern?«

»Ja.« Wildschwein blickte ihn unverwandt an.

»Was ist da eigentlich?«

»Der Wald, und dann Wüste.«

»Und Mutanten?«

»Ja. Halbe Tiere. Verrückte Wilde. Aber bitte, Mak, hören Sie auf damit.«

»Haben Sie schon einmal welche gesehen?«

»Nur tote«, sagte Wildschwein. »Zuweilen fängt man sie im Wald und dann erhängt man sie vor den Baracken, um die Stimmung zu heben.«

»Weshalb?«

»Weil sie so einen schönen Hals haben«, raunzte Sef. »Dummkopf! Das sind Tiere! Unheilbar, und gefährlicher als jedes Tier. Ich habe sie gesehen, nicht mal im Traum stellst du dir so etwas vor.«

»Und warum zieht man die Türme bis dorthin?«, fragte Maxim. »Will man sie zähmen?«

»Hören Sie auf«, wiederholte der Einarmige. »Es ist hoffnungslos. Sie hassen uns. Aber machen Sie, was Sie wollen. Wir halten keinen.«

Sie schwiegen. Dann hörten sie aus der Ferne, hinter ihrem Rücken, ein bekanntes rasselndes Getöse. Sef setzte sich auf.

»Ein Panzer«, sagte er nachdenklich. »Erledigen wir ihn? Weit ist es nicht, im achtzehnten Quadrat. Nein, verschieben wir’s auf morgen.«

Maxim traf seine Entscheidung schnell. »Ich nehme ihn mir vor. Geht, ich hole euch ein.«

Sef sah ihn zweifelnd an. »Wirst du das schaffen? Womöglich fliegst du in die Luft.«

»Mak«, warnte Wildschwein. »Überlegen Sie sich das.«

Sef musterte Maxim, und dann grinste er. »Also deshalb brauchst du einen Panzer. Der Junge ist ein Fuchs! Nein, mich legst du nicht aufs Kreuz. Gut, hau ab, das Abendessen heb ich dir auf. Wenn du’s dir anders überlegst, komm. Und denk dran, viele Selbstfahrlafetten sind vermint. Sei vorsichtig, wenn du darin herumkramst. Gehen wir, Wildschwein. Er holt uns ein.«

Wildschwein wollte noch etwas sagen, aber Maxim war schon aufgestanden und lief auf die Schneise zu. Er mochte nicht mehr reden. Er beeilte sich und blickte nicht zurück. Den Granatwerfer hielt er unter dem Arm. Jetzt, da er sich dazu entschlossen hatte, war ihm leichter. Und entscheidend für sein Vorhaben waren sein Können und seine Erfahrung.



14

Gegen Morgen steuerte Maxim den Panzer auf die Chaussee und wendete ihn mit dem Bug nach Süden. Er hätte jetzt losfahren können, kletterte aber noch einmal aus der Kabine hinaus, sprang auf den zermalmten Beton und setzte sich an den Rand des Straßengrabens. Seine beschmierten Hände säuberte er im Gras. Der rostige Koloss tuckerte friedlich neben ihm; die scharfe Raketenspitze war in den trüben Himmel gerichtet.

Maxim hatte die Nacht durchgearbeitet, doch er spürte keine Müdigkeit. Das Fahrzeug war solide gebaut und befand sich in gutem Zustand. Es war nicht vermint und besaß sogar eine Handsteuerung. Sollte sich tatsächlich jemand mit so

Es war gegen sechs Uhr morgens und bereits hell. Um diese Zeit ließ man die Sträflinge zu karierten Kolonnen antreten, hastig frühstücken und trieb sie dann hinaus zur Arbeit. Maxims Abwesenheit war mittlerweile gewiss bemerkt worden. Gut möglich, dass er jetzt als flüchtig galt und schon verurteilt war. Vielleicht hatte Sef auch eine Ausrede gefunden - Mak hat sich den Fuß verstaucht, ist verwundet oder sonst etwas.

Im Wald wurde es still. Die »Hunde«, deren gegenseitiges Geschrei die ganze Nacht über zu hören gewesen war, hatten sich beruhigt. Sicher waren sie in das unterirdische Gewölbe gekrochen und rieben sich kichernd die Pfoten bei dem Gedanken, wie sie gestern die Zweibeiner erschreckt hatten. Mit diesen »Hunden« würde man sich gründlich befassen müssen; vorerst allerdings war anderes wichtiger. Ob sie die Strahlung wahrnahmen? Merkwürdige Wesen. Als er nachts am Triebwerk herumbastelte, saßen zwei von ihnen geduldig hinter den Sträuchern und beobachteten ihn heimlich. Dann kam ein dritter hinzu und kletterte gar auf einen Baum, um besser sehen zu können. Maxim hatte sich aus der Luke gelehnt und ihm zugewunken, und um ihn zu necken, wiederholte er, so gut er konnte, das viersilbige Wort, das der Chor skandiert hatte. Der auf dem Baum wurde furchtbar wütend, sein Fell sträubte sich, die Augen funkelten, und er stieß kehlige Beleidigungen aus. Die beiden hinter den Sträuchern schockierte das offenbar so sehr, dass sie augenblicklich verschwanden und nicht mehr zurückkehrten. Der »Rohrspatz« aber konnte sich nicht beruhigen und kam noch lange nicht

Tief im Wald knallte es und hallte als Echo wider: Die Pioniertrupps der Todeskandidaten begannen ihren Arbeitstag. Wie sinnlos das war. Noch ein Knall, ein Maschinengewehr knatterte und verstummte. Jetzt wurde es ganz hell, ein klarer Tag kündigte sich an, mit einem wolkenlosen, wie Milch schimmernden, weißen Himmel. Der Beton auf der Chaussee glänzte vom Tau; um den Panzer herum aber war alles trocken, er verstrahlte ungesunde Wärme.

Aus den Sträuchern, die bis an die Straße herangewachsen waren, traten auf einmal Sef und Wildschwein heraus. Als sie den Panzer sahen, gingen sie schneller. Maxim stand auf und lief ihnen entgegen.

»Du lebst!«, stellte Sef anstelle eines Grußes fest. »Ich hab’s mir gedacht. Deinen Brei, Bruder, hab ich, äh … Es war nichts da, worin ich ihn hätte tragen können. Aber dein Brot ist hier, hau rein.«

»Danke«, sagte Maxim und nahm den Brotkanten.

Wildschwein stand auf den Minensucher gestützt und blickte ihn an.

»Schluck runter und hau ab!«, fuhr Sef fort. »Da ist einer gekommen, um dich zu holen, Bruder. Ich glaube, sie wollen dich wieder verhören.«

»Wer?« Maxim hörte auf zu kauen.

»Er hat sich uns nicht vorgestellt«, knurrte Sef. »So ein Schwätzer - Orden vom Kopf bis zu den Zehen. Er schrie rum, dass man es im ganzen Lager hören konnte, wollte wissen, warum du nicht da bist, hätte mich fast abgeknallt. Ich aber hab nur große Augen gemacht und gemeldet: So und so, ist im Minenfeld den Heldentod gestorben.«

Er ging um den Panzer herum, murmelte: »Scheußliches Ding«, setzte sich an den Straßenrand und drehte eine Zigarette.

»Eigenartig.« Maxim biss nachdenklich von seinem Brotkanten ab. »Aber warum? Zur Nachuntersuchung?«

»Vielleicht ist es Fank?«, fragte Wildschwein leise.

»Fank? Mittelgroß, das Gesicht quadratisch, schuppige Haut?«

»Von wegen!«, unterbrach ihn Sef. »Lang wie eine Bohnenstange, saudumm und voller Pickel - Garde eben.«

»Dann ist es nicht Fank«, sagte Maxim.

»Vielleicht hat Fank ihn geschickt?«, fragte Wildschwein.

Maxim zuckte mit den Schultern und schob die letzte Rinde in den Mund. »Keine Ahnung. Früher dachte ich, Fank stünde mit dem Untergrund in Verbindung, aber jetzt weiß ich nicht mehr, was von ihm zu halten ist.«

»Dann sollten Sie wirklich besser abfahren«, riet Wildschwein, »obwohl ich, um ehrlich zu sein, nicht weiß, was schlimmer ist - die Mutanten oder diese Gardecharge.«

»Klar, mag er abzwitschern«, meldete sich Sef. »Dein Kurier wird er ohnehin nicht, und so liefert er uns wenigstens Informationen über den Süden - wenn sie ihm dort nicht die Haut abziehen.«

»Und Sie kommen nicht mit.« Maxims Worte klangen wie eine Feststellung.

Wildschwein schüttelte den Kopf. »Nein. Viel Glück.«

»Schmeiß die Rakete weg«, sagte Sef. »Sonst jagst du dich noch in die Luft. Und Folgendes: Du hast zwei Sperrposten vor dir. An denen kommst du leicht vorbei, darfst nur nicht anhalten. Sie sind nach Süden hin ausgerichtet. Dann allerdings wird es schwieriger: grauenvolle Strahlung, nichts zu fressen, Mutanten. Und dann nur noch Sand, kein Wasser.«

»Danke«, erwiderte Maxim. »Auf Wiedersehn.«

Er sprang auf die Raupenkette, öffnete die Luke und kroch in das aufgeheizte Halbdunkel. Seine Hände lagen schon auf den Hebeln, als ihm einfiel, dass noch eine Frage offen war. Er beugte sich hinaus.

»Warum verheimlicht man eigentlich vor den einfachen Mitgliedern des Untergrunds den wahren Zweck der Türme?«

Während Sef das Gesicht verzog und ausspuckte, antwortete Wildschwein niedergeschlagen: »Weil die Mehrheit im Stab darauf hofft, irgendwann einmal selbst an die Macht zu kommen und die Türme in der alten Weise weiterzunutzen, nur eben für andere Ziele.«

»Und was für ›andere Ziele‹?«, fragte Maxim finster. Einige Sekunden blickten sie einander in die Augen. Sef hatte sich abgewandt und leckte das Papier für seine nächste Zigarette. Da sagte Maxim: »Ich wünsche euch, dass ihr überlebt.« Er wandte sich wieder den Hebeln zu, und der Panzer dröhnte, rasselte und rollte auf knirschenden Ketten vorwärts.

Es machte wirklich keinen Spaß, ihn zu fahren. Einen Sitz gab es nicht, und der Haufen aus Zweigen und Gras, den Maxim in der Nacht aufgeschichtet hatte, rutschte schnell auseinander. Die Sicht war schlecht, schneller fahren konnte er auch nicht - schon bei dreißig Stundenkilometern stotterte das Triebwerk, und das Schmieröl brannte. Doch der atomare Schlitten war noch immer außerordentlich geländegängig.

In der Kabine war es schmutzig und stickig, und die Chaussee verlief ziemlich gerade, so dass Maxim schließlich das Gas auf Handbetrieb feststellte, hinauskletterte und sich an den Lukenrand unter dem Tragrost der Rakete setzte. Der Panzer drängte vorwärts, als sei dies sein ureigener, von einem alten Programm vorgegebener Kurs. Er hatte etwas Schlichtes, Genügsames an sich, und Maxim, der Fahrzeuge mochte, klopfte ihm anerkennend auf die Panzerung.

So ließ es sich leben. Rechts und links glitt der Wald vorüber, das Triebwerk brummte gleichmäßig, die Strahlung spürte man hier oben kaum, und die recht saubere Luft kühlte angenehm die erhitzte Haut. Maxim sah zu der schwankenden Rakete hoch. Er sollte sie wirklich abwerfen. Es war unnötiger Ballast. Gefährlich war sie zwar nicht, sie würde nicht mehr explodieren, das hatte er in der Nacht überprüft. Aber sie wog sicher an die zehn Tonnen - warum also sollte er sie mitschleppen? Während sich der Panzer weiterwälzte, ging Maxim auf der Tragfläche herum und suchte den Befestigungsmechanismus. Als er ihn fand, stellte er fest, dass er völlig verrostet war, und hatte große Mühe, ihn in Gang zu bringen. Unterdessen rollte der Panzer an zwei Kurven in den Wald hinein und riss, wütend aufheulend, die Bäume nieder, so dass Maxim an die Hebel rannte, um den Koloss wieder auf Kurs zu bringen. Zu guter Letzt funktionierte der Mechanismus. Die Rakete senkte sich, krachte auf den Beton und rollte schwerfällig in den Straßengraben. Der Panzer machte einen

Am Waldrand standen zwei große Zelte und ein Kastenwagen, eine Gulaschkanone dampfte. Zwei Gardisten mit freiem Oberkörper wuschen sich; sie begossen einander mit Wasser aus der Feldflasche. Mitten auf der Fahrbahn stand eine Wache in schwarzem Umhang und blickte Maxim entgegen. Rechts neben der Chaussee standen zwei Pfähle, die durch einen Querbalken verbunden waren, und von diesem Querbalken hing etwas herab, etwas Weißes, Langes, das fast die Erde berührte. Maxim glitt in die Kabine hinunter, damit man nicht seinen karierten Kittel sehen konnte, und schob nur den Kopf aus der Luke. Der Posten musterte den Panzer verdutzt und ging zur Seite, sah sich dann hilflos nach dem Kastenwagen um. Die beiden Halbnackten hörten auf sich zu waschen und starrten ebenfalls herüber. Der Lärm der Raupenketten lockte noch mehr Männer aus den Zelten und dem Wagen; einer von ihnen trug eine Uniform mit Offiziersschnüren. Sie alle schienen sehr erstaunt, wenn auch nicht beunruhigt. Der Offizier deutete auf den Panzer, sagte etwas, und alle lachten. Als Maxim auf gleicher Höhe wie der Posten war, schrie der ihm etwas zu, unhörbar, weil das Triebwerk so dröhnte, und Maxim rief zur Antwort: »Alles in Ordnung, bleib, wo du bist!« Der Posten verstand auch nichts, schien aber zufrieden. Nachdem er den Panzer vorbeigelassen hatte, stellte er sich wieder mitten auf dem Weg in Positur.

Es war gut gelaufen.

Maxim wandte den Kopf und sah jetzt ganz aus der Nähe, was von dem Querbalken herabhing. Eine Sekunde starrte er es an, dann setzte er sich, kniff die Augen zusammen und griff, ohne jede Notwendigkeit, nach den Hebeln. Ich hätte nicht hinschauen sollen, dachte er. Der Teufel hat mich geritten, dass ich mich umdrehen musste. So wäre ich gefahren und gefahren und hätte nichts davon gewusst. Er zwang sich,

Als er sich das nächste Mal aus der Luke lehnte und zurückblickte, war der Kontrollposten nicht mehr zu sehen, auch der einsame Galgen war verschwunden. Schön wäre es, jetzt nach Hause zu fahren, träumte Maxim. Immer weiter zu fahren und zu fahren - und dann: zu Hause, Mama, Vater, die Jungs. Ankommen, aufwachen, sich waschen und ihnen dann den Albtraum von der bewohnten Insel erzählen. Er versuchte, sich die Erde vorzustellen, doch es gelang ihm nicht. Da war nur der seltsame Gedanke, dass es dort saubere, heitere Städte gab und viele gute und kluge Menschen, die einander alle vertrauten, kein Rost, kein Gestank, weder Strahlung noch schwarze Uniformen, keine rohen, viehischen Gesichter, unheimliche Legenden, vermischt mit einer noch unheimlicheren Wahrheit. Nichts von alledem. Und plötzlich dachte er, dass all dies ja auch auf der Erde hätte geschehen können, und dann wäre er jetzt so wie alle anderen ringsum - unwissend, betrogen, unterwürfig und ergeben. Du warst doch so erpicht auf eine richtige Aufgabe, dachte er. Bitte sehr, da hast du sie. Sie ist schwer und schmutzig, aber du wirst anderswo kaum eine finden, die so wichtig ist wie diese.

Vor ihm auf der Chaussee erschien ein Gefährt, das langsam in dieselbe Richtung kroch - nach Süden. Es war ein kleiner Raupenschlepper, der einen Hänger mit metallenem Gitterbalken zog. In der offenen Kabine saß ein Mann im

Etwa zehn Minuten später entdeckte er den zweiten Kontrollpunkt. Es war der äußerste, südlichste Posten der karierten Sklaven, die ja vielleicht gar keine Sklaven waren, sondern die freiesten Menschen im Land. Maxim sah zwei mobile Häuschen mit blitzenden Zinkdächern und eine flache, künstliche Anhöhe, auf der ein niedriger Bunker mit schmalen, dunkel erscheinenden Schießscharten stand. Oberhalb des Bunkers waren schon die unteren Segmente eines Turms zu erkennen, und ringsum lagen Eisenträger herum, standen Kranwagen und Traktoren. Den Wald hatte man rechts und links der Chaussee auf einige Hundert Meter gerodet, an einer Stelle dieses offenen Geländes hantierten Menschen in karierter Kleidung. Hinter den Häuschen sah Maxim eine langgezogene Baracke, wie es sie auch im Lager gegeben hatte. Davor trockneten an Wäscheleinen graue Lumpen. Etwas weiter entfernt erhob sich neben der Chaussee ein hölzerner Wachtturm. Auf seiner Plattform patrouillierte ein Posten in grauer Armeeuniform und einem tief ins Gesicht gezogenen Helm. Dort stand auch, auf einem Dreifuß, ein Maschinengewehr. Unter dem Turm lungerten ein paar Soldaten; sie rauchten und schienen fast umzukommen vor Mücken und Langeweile.

Die passiere ich auch ohne Mühe, dachte Maxim. Ist ja am Ende der Welt, da pfeift man auf alles. Doch er irrte. Die

Da aber erkannte er plötzlich den Soldaten. Es war Gai. Abgemagert, hohlwangig, unrasiert, in einem sackigen Armeeoverall.

»Gai«, murmelte Maxim. »Menschenskind. Was mache ich jetzt?«

Er nahm den Fuß vom Gaspedal und kuppelte aus; der Panzer rollte langsamer, blieb stehen. Gai senkte den Arm und kam langsam heran. Vor Freude begann Maxim zu lachen. Wie es sich fügte! Er trat die Kupplung und war bereit.

»He!«, schrie Gai im Befehlston und schlug mit dem Kolben gegen die Panzerung. »Wer da?«

Maxim schwieg und schmunzelte nur in sich hinein.

»Ist da jemand?« Gais Stimme klang nun unsicher.

Gleich darauf polterten seine beschlagenen Absätze über die Panzerung, er öffnete die Luke und zwängte sich in die Kabine. Als er Maxim erblickte, sperrte er den Mund auf, aber Maxim bekam ihn am Overall zu fassen, zog ihn zu sich herunter, warf ihn auf die Zweige zu seinen Füßen und hielt ihn nieder. Der Panzer heulte fürchterlich los und stürzte vorwärts. Ich ruiniere das Triebwerk, dachte Maxim. Gai zuckte und wand sich. Der Helm war ihm ins Gesicht gerutscht, er

Die ersten Sträucher. Etwas Kariertes schreckte vom Weg zurück. Dann Bäume ringsum, und auf die Panzerung hagelten keine Kugeln mehr. Die Chaussee vor ihnen war auf viele Hundert Kilometer frei.

Gai gelang es schließlich, seine Waffe hervorzuziehen, doch im selben Moment zog Maxim ihm den Helm vom Kopf. Er sah Gais schweißnasses Gesicht und die gefletschten Zähne; aber allmählich wichen Angst, Wut und Mordlust von seinem Gesicht. Als sich nun zuerst Verwirrung, dann Erstaunen und zuletzt Freude darin widerspiegelte, begann Maxim zu lachen. Gai bewegte die Lippen, anscheinend murmelte er: »Massaraksch!« Maxim ließ die Hebel los und umarmte den Freund, schweißnass, wie er war, dünn und stopplig, und drückte ihn im Überschwang der Gefühle fest an sich. Dann ließ er ihn los, umklammerte seine Schultern und sagte: »Gai, Menschenskind, wie ich mich freue!«, doch er verstand kaum seine eigenen Worte. Er blickte durch den Sehschlitz: Die Chaussee war immer noch gerade; daher stellte er das Handgas wieder fest und kroch nach oben. Gai zerrte er mit sich.

»Massaraksch!«, knurrte Gai. Er war ziemlich mitgenommen. »Schon wieder du!«

»Freust du dich gar nicht? Ich freue mich wahnsinnig!« Maxim begriff erst jetzt, wie wenig Lust er gehabt hatte, allein in den Süden zu fahren.

»Was hat das zu bedeuten?«, schimpfte Gai. Seine Freude war längst verflogen, und er sah sich beunruhigt nach allen Seiten um. »Wohin? Weshalb?!«

»In den Süden«, erwiderte Maxim. »Ich habe genug von deinem gastfreundlichen Vaterland!«

»Flucht?«

»Ja.«

»Du bist verrückt! Man hat dir das Leben geschenkt!«

»Wer hat mir das Leben geschenkt? Das ist mein Leben! Es gehört mir!«

Sie mussten schreien, um einander zu hören, und unwillkürlich ergab sich anstelle eines freundschaftlichen Gesprächs ein Streit. Maxim sprang in die Kabine hinunter und verringerte die Drehzahl.

Der Panzer fuhr jetzt langsamer, aber das Heulen und Rasseln war dafür weniger laut. Als Maxim wieder nach oben kletterte, fand er Gai finster und entschlossen vor.

»Ich bin verpflichtet, dich zurückzubringen«, erklärte er.

»Ich hingegen habe die Pflicht, dich von hier fortzubringen«, sagte Maxim.

»Ich verstehe nicht, was du willst. Du bist verrückt! Von hier kann man nicht fliehen, du musst zurück. Massaraksch, zurück kannst du auch nicht, sie erschießen dich. Im Süden aber fressen sie uns auf. Versink in der Erde mit deinem Irrsinn! Du hängst mir an wie Falschgeld.«

»Warte, schrei nicht so«, bat Maxim. »Lass es mich dir erklären.«

»Ich will nichts hören. Halt den Panzer an!«

»Nun warte doch«, redete Maxim auf ihn ein. »Ich erzähl’s dir.«

Doch Gai wünschte nicht, dass man ihm etwas erzählte, Gai forderte, dieses ungesetzlich entwendete Fahrzeug unverzüglich zu stoppen und in die Zone zurückzuführen. Zweimal, dreimal, ein viertes Mal nannte er Maxim einen Holzkopf. Sein »Massaraksch« übertönte den Motorenlärm. Die Lage, Massaraksch, sei grauenhaft. Sie sei ausweglos, Massaraksch. Vor ihnen, Massaraksch, liege der sichere Tod, hinter

Maxim unterbrach ihn nicht. Ihm war eingefallen, dass das Strahlenfeld des letzten Turms hier irgendwo enden musste, sie es wahrscheinlich schon hinter sich gelassen hatten. Der letzte Sicherungsposten lag bestimmt am Rand des äußersten Feldes. Sollte sich Gai ruhig aussprechen, Worte zählten nicht auf der bewohnten Insel. Schimpfe nur, schimpf, ich hol dich raus, hast da nichts mehr zu suchen. Mit einem muss man ja anfangen, und du wirst der Erste sein. Ich will nicht, dass du eine Marionette bleibst, selbst wenn dir das gefällt.

Nachdem Gai ihn ausreichend beschimpft hatte, sprang er in die Kabine und hantierte dort herum. Offenbar hatte er vor, das Fahrzeug zum Stehen zu bringen, aber es gelang ihm nicht. Dann kam er wieder zum Vorschein, nunmehr im Helm, schweigsam und sehr geschäftig. Er wollte abspringen und zu Fuß zurückgehen. Er war furchtbar zornig. Doch nun hielt Maxim ihn an den Hosen fest, zog ihn neben sich und begann, ihm ihre Situation zu erläutern.

Er redete mehr als eine Stunde auf ihn ein, unterbrach sich nur manchmal, damit er den Panzer in den Kurven neu ausrichten konnte. Maxim redete, und Gai hörte zu. Anfangs hatte er noch versucht, sich davonzustehlen, die Erzählung zu unterbrechen oder sich die Ohren zuzuhalten, aber Maxim hatte geredet und geredet, wieder und wieder dasselbe gesagt, erläutert, kommentiert. Und jetzt endlich hörte Gai ihm zu, wurde nachdenklich, ließ den Kopf hängen, fuhr sich mit beiden Händen unter den Helm und wühlte in seinen Haaren. Dann aber ging er plötzlich in die Offensive und fragte Maxim, woher er das alles wisse, wer es beweisen könne, und wie man so etwas überhaupt glauben könne, wo es ganz offensichtlich frei erfunden sei. Aber Maxim schlug ihn mit

»Na schön«, schloss Maxim wütend. »Gleich überprüfen wir das. Nach meiner Rechnung haben wir längst das Strahlenfeld verlassen, und es ist jetzt etwa zehn vor zehn. Was tut ihr alle um zehn?«

»Punkt zehn Uhr nehmen wir Aufstellung«, sagte Gai finster.

»Genau. Ihr stellt euch in Reih und Glied und geratet vor Begeisterung geradezu außer euch. Du entsinnst dich?«

»Diese Begeisterung tragen wir im Herzen«, erklärte Gai.

»Nein, sie trichtern sie euch in eure leeren Schädel ein«, widersprach Maxim. »Aber lassen wir das, wir werden sehen, was für Begeisterung du im Herzen trägst. Wie spät ist es?«

»Sieben vor«, antwortete Gai, noch immer finster.

Einige Zeit fuhren sie schweigend.

»Na?«, meldete sich Maxim.

Gai blickte auf seine Uhr und stimmte unsicher an: »Gardisten, voran, alle Feinde bezwungen …«

Maxim musterte ihn belustigt. Gai kam aus dem Takt und verwechselte die Wörter.

»Hör auf, mich anzustarren«, knurrte er ärgerlich. »Das stört. Und überhaupt, wie soll man singen - außerhalb des Glieds?«

»Keine Ausflüchte!«, sagte Maxim. »Du hast außerhalb des Glieds mitunter genauso gegrölt wie im Glied. Angst konnte man kriegen vor dir und Onkel Kaan. Einer schreit ›Gardisten, voran …‹, der andere leiert ›Ruhm den Vätern …‹. Und das vor Rada. Na, wo bleibt deine Begeisterung, wo deine Liebe zu den Vätern?«

»Untersteh dich!«, brauste Gai auf. »Wage nicht, so über die Unbekannten Väter zu reden. Selbst wenn deine Geschichten wahr sein sollten, können sie nur bedeuten, dass man die Väter hintergangen hat.«

»Wer hat sie denn hintergangen?«

»Na … Da könnten viele …«

»Also sind die Väter gar nicht allmächtig? Sie wissen gar nicht alles?«

»Über dieses Thema will ich nicht sprechen«, erklärte Gai.

Dann ließ er den Kopf hängen und krümmte sich zusammen. Sein Gesicht war noch mehr eingefallen, der Blick getrübt, seine Unterlippe hing herab. Maxim erinnerte sich plötzlich an Zwiebel-Fischta und den Schönen Ketri aus dem Gefangenenwaggon - sie waren rauschgiftsüchtig gewesen, unglückselige Menschen, gewöhnt an die stärksten Drogen. Ohne ihren »Stoff« litten sie furchtbar, konnten weder essen noch trinken und hockten tagelang genau so herum, wie jetzt Gai: mit glanzlosen Augen und hängender Lippe.

»Tut dir etwas weh?«, fragte er.

»Nein.« Gais Stimme klang matt.

»Weshalb guckst du dann so düster?«

»Bloß so, irgendwie …« Gai lockerte seinen Kragen und drehte den Hals. »Mir ist schlecht. Ich lege mich hin, in Ordnung?«

Ohne die Antwort abzuwarten, verschwand er in der Luke und warf sich auf die Zweige, die Beine angezogen. So ist das also, dachte Maxim. Gar nicht so einfach, wie ich geglaubt habe. Er wurde unruhig. Gai hat seinen Strahlenstoß nicht bekommen, das Feld haben wir vor fast zwei Stunden verlassen. Er hat sein ganzes Leben darin verbracht - womöglich schadet es ihm, darauf zu verzichten? Wenn er nun krank wird? Das fehlte noch, so ein Mist. Er blickte in Gais bleiches Gesicht, und seine Angst wuchs. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, sprang in die Kabine hinunter, stoppte das Triebwerk,

Gai schlief. Er brabbelte im Traum und zuckte heftig. Dann übermannte ihn Schüttelfrost, er krümmte sich, kroch ganz in sich zusammen und steckte sich die Fäuste in die Achselhöhlen, als sollte ihm davon warm werden. Maxim bettete Gais Kopf auf seine Knie, drückte die Finger gegen seine Schläfen und versuchte, sich zu sammeln. Er hatte lange keine Psychomassage gemacht, doch er wusste, dass es darauf ankam, völlig abzuschalten, sich zu konzentrieren und das Nervensystem des Kranken in das eigene, gesunde einzubeziehen. So saß er zehn oder fünfzehn Minuten. Als er wieder zu sich kam, merkte er, dass es Gai besser ging: Sein Gesicht war leicht gerötet, er atmete gleichmäßig und fror nicht mehr. Maxim bereitete ihm ein Kissen aus Gras, blieb noch eine Weile neben ihm sitzen und verjagte die Mücken. Doch dann fiel ihm ein, dass sie noch weit zu fahren hatten und der Reaktor undicht war. Für Gai stellte das eine Gefahr dar, also musste er etwas dagegen unternehmen. Er stand auf und ging zum Panzer zurück.

Es kostete ihn einige Mühe, die Bordpanzerungsplatten von den verrosteten Nieten zu lösen und sie dann an der Keramikwand zu befestigen, die den Reaktor und das Triebwerk von der Fahrerkabine trennte. Als er sich die letzte vornahm, spürte er auf einmal Fremde in der Nähe. Vorsichtig beugte er sich aus der Luke - und erstarrte.

Zehn Schritte vor ihm standen drei Gestalten. Er identifizierte sie nicht gleich als Menschen, aber sie waren bekleidet. Zwei von ihnen trugen eine lange, dünne Stange auf den Schultern, von der, den blutigen Kopf nach unten, ein kleines, hirschähnliches Huftier hing. Und am Hals des Dritten baumelte, quer über seiner Hühnerbrust, ein klobiges Gewehr ungewöhnlichen Typs. Mutanten, dachte Maxim. Das sind sie also, die Mutanten. Erzählungen und Legenden, die er gehört

Maxim öffnete die verklebten Lippen: »Ja.«

»Schießt du auch nicht?«, wollte der Besitzer des Gewehrs wissen.

»Nein.« Maxim lächelte. »Auf keinen Fall.«



15

Gai saß an einem grob gezimmerten Tisch und reinigte seine Maschinenpistole. Es war Vormittag, etwa Viertel nach zehn, und die Welt um ihn herum wirkte grau, karg und farblos. Sie ließ keinen Platz für Freude oder eine andere, lebendige Gemütsregung - alles war matt und krank. Er hatte keine Lust zu denken, wollte weder etwas sehen noch hören, nicht einmal schlafen, nur den Kopf auf den Tisch legen, die Arme sinken lassen und sterben. Sterben und Schluss.

Das Zimmer war klein und besaß nur ein einziges Fenster ohne Glasscheibe; es ging auf die riesige, rötlich-graue Wüste hinaus, die gestrüppüberwuchert und von Ruinen übersät war. Die ausgeblichenen Tapeten hatten sich stellenweise von den Wänden gelöst; das Parkett war geborsten und in einer Ecke verkohlt. Von den früheren Bewohnern zeugte nur noch eine große Fotografie unter gesprungenem Glas, auf der bei genauerem Hinsehen ein älterer Herr mit albernem Backenbart

Hätten doch seine Augen all das nicht gesehen! Könnte er doch jetzt nur aufheulen oder verrecken wie der letzte räudige Hund! Aber Maxim hat befohlen: »Waffe reinigen! Jedes Mal«, hatte er gesagt und mit dem Finger hart auf den Tisch geklopft, »jedes Mal, wenn du anfängst durchzudrehen, setzt du dich hin und reinigst deine MP.« Also musste er es tun. Maxim war Maxim. Ohne ihn hätte Gai sich längst zum Sterben hingelegt. Er hatte Maxim gebeten: »Lass mich nicht allein, wenn es mich packt, bleib bei mir, hilf mir.« Aber nein, Maxim hatte entgegnet, Gai müsse sich jetzt selbst helfen. Es sei nicht lebensgefährlich und würde auf jeden Fall vorbeigehen. Aber er müsse sich eben überwinden und versuchen, damit fertigzuwerden.

Gut, dachte Gai müde, versuche ich eben, damit fertigzuwerden. Maxim ist Maxim. Kein Mensch, kein Schöpfer, kein Gott - eben Maxim. Er hatte noch gesagt: »Werde wütend! Wenn es dich wieder erwischt, denke daran, woher du es hast, wer es dir angetan hat und warum. Und dann werde wütend, sammle Hass in dir an! Du wirst ihn bald brauchen: bist nicht allein, von deiner Sorte gibt’s vierzig Millionen, die verdummt wurden, verstrahlt und vergiftet.« Das war schwer zu glauben, Massaraksch. Sein ganzes Leben lang hatte Gai in der Truppe verbracht, immer hatten sie gewusst, wo es langging, es war alles so einfach, alle waren zusammen gewesen. Und es hatte gutgetan, einer von Millionen zu sein, so zu sein wie alle. Aber nein, da musste Maxim kommen, ihn für sich einnehmen und ihm die Karriere verpfuschen, ihn buchstäblich am Kragen aus dem Glied zerren und in dieses neue Dasein verfrachten, wo er das Ziel nicht verstand und auch nicht, wovon sie leben sollten, wo man, Massaraksch und Massaraksch, über alles selbst nachdenken musste! Früher hatte er keine Ahnung gehabt, was es heißt, selbst nachzudenken!

Quietschend öffnete sich die verzogene Tür, und ein kleines, eifriges Gesicht schaute herein. Man hätte es sogar hübsch nennen können, wären nicht der kahle Schädel und die entzündeten, wimpernlosen Lider gewesen. Es war Tanga, die Tochter der Nachbarn.

»Onkel Mak befiehlt, Sie sollen zum Platz kommen. Alle sind schon versammelt, nur auf Sie warten sie noch.«

Gai warf ihr einen finsteren Blick zu. Ein gebrechlicher kleiner Körper in einem Kleid aus grobem Sackleinen, braungefleckte Strohhalmärmchen, krumme Beine, in den Knien geschwollen - er spürte Brechreiz, und zugleich schämte er sich seines Widerwillens. Sie war ein Kind, und wer trug schließlich die Schuld?! Er wandte die Augen ab.

»Ich komme nicht. Sag, dass ich mich nicht gut fühle. Ich bin krank.«

Die Tür knarzte, und als er wieder hochsah, war das Mädchen verschwunden. Verdrossen warf er die Maschinenpistole auf die Pritsche, trat ans Fenster und lehnte sich hinaus. Er sah, wie die Kleine in schnellem Tempo durch einen Hohlweg zwischen Mauerresten wirbelte - die frühere Straße. Ein dicker Knirps heftete sich ihr an die Fersen, humpelte ein paar

Die Mutanten lebten in kleinen Gemeinschaften. Manche nomadisierten - ernährten sich von der Jagd, suchten einen besseren Ort oder gar den Weg nach Norden. Dabei mussten sie allerdings die Maschinengewehre der Gardisten umgehen und die entsetzlichen Regionen, in denen sie den Verstand verloren oder auf der Stelle an schrecklichen Kopfschmerzen starben. Andere hatten sich auf Farmen und Gehöften niedergelassen, die nach den Explosionen noch standen. Eine Atombombe war direkt über der Stadt explodiert, zwei andere in der Umgebung - dort befand sich jetzt ein riesiges, kilometerlanges Feld einer grell glänzenden Schlacke. Die sesshaften Mutanten bauten dürftigen, degenerierten Weizen an, bestellten seltsame Gärten, in denen die Tomaten klein waren wie Beeren und die Beeren groß wie Tomaten, und züchteten grausiges Vieh, das man nicht anschauen mochte, geschweige denn essen. Sie waren ein bedauernswertes Volk, diese Missgeburten des Südens, über die man allen möglichen Unsinn faselte, über die auch er, Gai, alles Mögliche erzählt hatte. In Wirklichkeit waren es stille, kränkelnde und völlig entstellte Karikaturen von Menschen. Normal sahen nur die Greise aus, doch von ihnen gab es nur noch wenige, und sie siechten dahin, würden bald sterben. Ihre Nachkommen wirkten erst recht wie Todeskandidaten. Kinder wurden viele geboren, aber fast alle starben schon bei der Geburt oder als Säuglinge. Die am Leben blieben, waren schwach, fürchterlich missgestalt

Gai setzte das Magazin ein, stützte die Wange auf die Faust und versank in Gedanken. Ja, Maxim …

Diesmal hat er sich allerdings etwas völlig Absurdes vorgenommen. Er will die Mutanten sammeln, bewaffnen und mit ihnen die Garde zurückdrängen, fürs Erste bis hinter die Blaue Schlange. Ein Witz, wahrhaftig! Sie stehen kaum auf ihren Beinen; viele sterben schon bei geringfügiger Anstrengung: Da hebt einer einen Sack voll Korn und fällt tot um. Er aber will sie gegen die Garde führen. Unausgebildet sind sie, schwach und fügsam - was sollen sie ausrichten? Selbst wenn er ihre Aufklärer einbezöge, brauchte es gegen diese ganze Armee - von Maxim mal abgesehen - nur einen Rittmeister, und wäre Maxim dabei, einen Rittmeister mit Kompanie. Anscheinend weiß Maxim das auch. Und trotzdem ist er einen geschlagenen Monat durch den Wald gelaufen, von Siedlung zu Siedlung, von Gemeinschaft zu Gemeinschaft, um die alten und geachteten Leute, auf die man hört, zu agitieren. Ist gerannt und hat mich überallhin mitgeschleppt, kennt keine Ruhe. Die Alten wollen nicht recht und lassen auch ihre Aufklärer nicht ziehen. Und nun soll ich zu dieser Versammlung, aber ich gehe nicht.

Langsam hellte sich die Welt wieder auf. Ihm wurde schon nicht mehr ganz so schlecht, wenn er umher sah, das Blut pulsierte schneller durch die Adern, und er hatte die vage Hoffnung, die Versammlung könne scheitern, Maxim käme herein und würde sagen: Schluss, hier haben wir nichts mehr zu schaffen. Und dass sie weiterführen nach Süden, in die

Bei dem Gedanken an Radioaktivität griff Gai in seinen Rucksack, zog eine Schachtel mit gelben Tabletten heraus und warf sich zwei davon in den Mund. Sie schmeckten so entsetzlich bitter, dass er eine Grimasse schnitt - scheußliches Zeug, aber notwendig, denn alles hier war verseucht. In der Wüste würde er sie wohl handvollweise lutschen müssen. Dank an den Herzogprinzen: Ohne seine Pillen wäre er, Gai, erledigt. Der Herzogprinz war ein Mordskerl, verlor nie den Kopf, verzweifelte nie an dieser Hölle, sondern half und heilte, machte Krankenbesuche und hatte sogar eine Medikamentenfabrik errichtet. Außerdem hatte er erzählt, das Land der Unbekannten Väter sei nur ein Stück, ein kleiner Zipfel des früheren Imperiums, und auch die Hauptstadt sei damals eine andere gewesen. Sie liege dreihundert Kilometer weiter südlich, und noch heute gebe es dort beeindruckende Ruinen.

Die Tür sprang auf, und Maxim stürmte ins Zimmer - in kurzer Hose, flink, braungebrannt und offensichtlich ziemlich verärgert. Gai schmollte und blickte zum Fenster hinaus.

»Jetzt spiel mir nichts vor«, sagte Maxim. »Los, gehen wir.«

»Ich will nicht«, erwiderte Gai. »Hol doch alle der Teufel! Sie widern mich an, ich kann nicht.«

»Unsinn!«, schnitt ihm Maxim das Wort ab. »Wunderbare Menschen sind das. Sie schätzen dich. Benimm dich nicht wie ein Kleinkind.«

»Von wegen ›schätzen‹«, murrte Gai.

»Und wie sie dich schätzen! Erst neulich hat der Herzogprinz darum gebeten, dass du hierbleibst. ›Ich‹, hat er gesagt, ›sterbe bald und es braucht einen richtigen Mann, um mich zu ersetzen.‹«

»Na ja, ersetzen …«, knurrte Gai, spürte aber, wie sich seine Stimmung unwillkürlich besserte.

»Boschku hat mich auch angesprochen. Er hat Hemmungen, sich direkt an dich zu wenden. ›Gai sollte bei uns bleiben‹, meinte er, ›er könnte uns unterrichten und beschützen, er würde gute Jungs ausbilden.‹ Du weißt, wie Boschku redet?«

Gai errötete beinahe vor Freude, räusperte sich und murmelte - wobei er noch immer düster aus dem Fenster starrte: »Also schön. Soll ich die MP mitnehmen?«

»Nimm sie mit«, riet Maxim. »Kann alles Mögliche passieren.«

Gai klemmte sich die Maschinenpistole unter den Arm, und sie verließen das Zimmer - er voran, Maxim dicht hinter ihm. Sie stiegen die morsche Treppe hinunter, wichen den Kindern aus, die vor der Tür im Staub spielten, und gingen die Straße entlang zum Platz. Ach, »Straße«, »Platz« - davon existierten nur noch die Namen … So viele Menschen waren auf einen Schlag umgekommen. Es hieß, früher sei hier eine große, schöne Stadt gewesen mit Museen, einem Theater, einem Zirkus, mit Hunderennen. Die Kirchen sollen besonders schön gewesen sein; aus aller Welt seien Leute gekommen, um sie anzusehen. Und jetzt - nichts als Müll. Man begreift nicht einmal, was sich früher wo befand. Anstelle des Zirkus gibt es einen Sumpf mit Krokodilen. In der ehemaligen U-Bahn leben jetzt Vampire, und nachts ist es gefährlich, durch die Stadt zu gehen. Diese Schweine! Sie haben das Land zugrunde gerichtet. Und nicht genug, dass sie die Menschen verstümmelt und niedergemetzelt haben - sie mussten

Wie der Herzogprinz berichtete, lebten bis zum Krieg Tiere im Wald, die Hunden ähnelten - er hatte zwar vergessen, wie sie hießen, aber es waren intelligente, gutmütige Tiere. Sie verstanden alles, und sie zu dressieren war das reinste Vergnügen. Dann aber fing man an, sie für Kriegszwecke auszurichten: sich mit Minen unter Panzer zu legen, Verwundete wegzuschleppen, Behälter mit biologischen Kampfstoffen zum Gegner zu bringen und so weiter. Dann fand sich ein schlauer Bursche, der ihre Sprache entschlüsselte. Denn sie hatten tatsächlich eine Sprache, noch dazu eine ziemlich komplizierte. Sie ahmten gerne nach, und ihr Kehlkopf war so beschaffen, dass man einige von ihnen sogar die menschliche Sprache lehren konnte - nicht alles natürlich, doch fünfzig bis siebzig Wörter behielten sie. Auf jeden Fall waren es wundersame Tiere. Man sagt, sie seien ausgestorben. Wir hätten mit ihnen befreundet sein sollen, hätten voneinander lernen und uns gegenseitig helfen können. Aber nein, man brachte ihnen bei zu kämpfen, militärische Informationen des Gegners auszukundschaften. Und dann begann der Krieg, und man scherte sich nicht mehr um sie, überhaupt scherte man sich um gar nichts mehr. Schon tauchten die Vampire auf - ebenfalls Mutanten, aber keine menschlichen, sondern tierische und äußerst gefährlich. Für das Sondergebiet Süd wurde sogar ein Befehl ausgegeben, wie sie bekämpft werden sollten. Aber der Herzogprinz sagt gerade heraus: Mit uns allen hier geht’s zu Ende, nur die Vampire werden überleben.

Gai fiel ein, wie Boschku und seine Jäger einmal einen Hirsch im Wald erlegt hatten, der auch von den Vampiren verfolgt worden war, so dass sie sich schließlich um die Beute schlugen. Aber was waren die Mutanten schon für Kämpfer: Jeder schoss einmal aus seiner uralten Flinte; dann warfen sie die Waffen weg, setzten sich hin und bedeckten ihre Augen

Aber es geht ja nicht nur um die Vampire! Was es hier für Fledermäuse gibt! Die, zum Beispiel, die dem »Hexenmeister« dienen. Fliegendes Grauen ist das - keine Maus! Und wer trippelt nachts durch die Dörfer und stiehlt die Kinder? Dabei betritt er nicht einmal das Haus: Die Kinder kommen von allein, im Schlaf, zu ihm heraus. Zugegeben, das kann dummes Geschwätz sein, aber einiges habe ich auch schon gesehen. Ich weiß noch wie heute, wie der Herzogprinz uns den nächstgelegenen Einstieg zur Festung zeigen wollte. Wir gehen also hin. Vor uns liegt eine friedliche grüne Lichtung, darauf ein kleiner Hügel und darunter die Höhle. Als wir genauer hinsehen - Herr im Himmel!: Die Wiese vor dem Schacht ist mit verendeten Vampiren übersät, mindestens zwanzig Stück. Aber nicht etwa verstümmelt oder verwundet; kein Tropfen Blut hängt am Gras. Und das Erstaunlichste: Maxim untersucht sie und meint, sie sind nicht tot, nur starr, als hätte sie jemand hypnotisiert. Wer denn?, fragt sich. Nein,

Sie hatten den Platz erreicht - eine große, öde Fläche mit einem halb zerschmolzenen schwarzen Denkmal in der Mitte. Dann gingen sie auf das unversehrte Häuschen zu, in dem für gewöhnlich die Ältesten zusammentrafen, um Gerüchte auszutauschen, über die Aussaat und die Jagd zu beraten oder einfach ein bisschen zusammenzusitzen, zu dösen und den Erzählungen des Herzogprinzen über frühere Zeiten zu lauschen.

In einem großen, sauberen Zimmer warteten bereits die anderen. Keinen von ihnen mochte man ansehen. Sogar der Herzogprinz, der kein Mutant war, hatte ein Gesicht voller Brandnarben und war völlig entstellt. Maxim und Gai traten ein, grüßten und setzten sich in den Kreis, direkt auf den Fußboden. Boschku, der neben der Kochstelle hockte, nahm einen Kessel vom Feuer und schenkte jedem von ihnen einen guten, starken, wenn auch ungesüßten Tee ein. Gais Tasse war besonders schön, aus unbezahlbarem Königsporzellan. Er stellte sie vor sich hin, stützte den Kolben seiner MP zwischen die Knie, lehnte die Stirn gegen den gekerbten Lauf und schloss die Augen, um niemanden ansehen zu müssen.

Der Herzogprinz eröffnete die Versammlung. Er war weder Herzog noch Prinz, sondern der ehemalige Chefchirurg der

»Freunde«, begann der Herzogprinz. »Wir haben heute Vorschläge unseres Freundes Mak zu erörtern. Sehr wichtige Vorschläge. Wie wichtig sie sind, könnt ihr daran ermessen, dass Hexenmeister selbst gekommen ist und vielleicht auch mit uns sprechen wird.«

Gai hob den Kopf. Tatsächlich: Den Rücken gegen die Wand gelehnt, saß Hexenmeister höchstselbst in einer Ecke. Sah man ihn an, überlief es einen eiskalt, doch ihn nicht anzusehen war unmöglich. Ein bemerkenswerter Mensch! Selbst Maxim schaute gewissermaßen zu ihm auf; einmal hatte er zu Gai gesagt: »Hexenmeister, Bruderherz, das ist jemand!« Hexenmeister war klein von Wuchs, untersetzt, gepflegt, hatte kurze, kräftige Arme und Beine und wirkte insgesamt

Hexenmeister sah niemanden an. Der Nachtvogel auf seiner Schulter trat, blind und plump, von einem Bein aufs andere. Und von Zeit zu Zeit holte Hexenmeister Bröckchen aus der Tasche und schob sie ihm in den Schnabel; der Vogel erstarrte für einen Augenblick, reckte dann seinen Hals und schluckte.

»Es sind sehr wichtige Vorschläge«, fuhr der Herzogprinz fort, »und deshalb bitte ich euch, aufmerksam zuzuhören. Du, Boschku, koche recht starken Tee, mein Freund, denn wie ich sehe, nicken manche von euch schon ein. Das aber wollen wir verhindern. Nehmt alle Kraft zusammen, womöglich entscheidet sich jetzt euer Schicksal.«

Die Versammelten raunten zustimmend. Einen Glotzäugigen zerrten sie an den Ohren von der Wand weg, wo er es sich zum Schlafen bequem gemacht hatte, und setzten ihn in die erste Reihe. »Aber ich wollte doch gar nicht …«, murmelte er, »das war nur so, ich meine, man sollte sich kurz fassen, sonst habe ich, ehe es zum Ende kommt, den Anfang schon wieder vergessen.«

»Gut«, stimmte der Herzogprinz zu. »Also kurz: Die Soldaten drängen uns nach Süden, in die Wüste. Sie kennen kein Pardon und lassen nicht mit sich reden. Aus den Familien, die sich nach Norden durchzuschlagen versuchten, ist keiner zurückgekehrt. Wir müssen annehmen, dass alle umgekommen sind. Das heißt, in zehn, fünfzehn Jahren werden wir endgültig in die Wüste abgedrängt sein und dort, ohne Wasser und etwas zu essen, sterben. Man erzählt, dass dort auch Menschen leben. Ich glaube nicht daran, doch viele der verehrten Ältesten glauben es und versichern, die Wüstenbewohner seien genauso grausam und blutrünstig wie die Soldaten. Wir hingegen lieben den Frieden und können nicht kämpfen. Viele von uns werden sterben und den endgültigen Untergang

Man weckte den Bäcker, drückte ihm eine heiße Tasse in die fleckige Hand. Er verbrühte sich, schimpfte, und der Herzogprinz fuhr fort: »Unser Freund Mak zeigt einen Ausweg. Er kam von der Seite der Soldaten. Er hasst sie und sagt, dass wir von ihnen keine Gnade erwarten dürfen; sie alle wurden von ihren Tyrannen verdummt und sind besessen von dem Wunsch, uns zu vernichten. Anfangs wollte Mak uns bewaffnen und in den Kampf führen, doch er musste sich überzeugen, dass wir zu schwach dafür sind. Nun hat er beschlossen, zu den Wüstenbewohnern vorzudringen - auch er glaubt an sie - und sie dafür zu gewinnen, mit ihm gegen die Soldaten ins Feld zu ziehen. Was wird nun von uns verlangt? Wir sollen das Vorhaben billigen, die Wüstenbewohner durch unser Gebiet passieren lassen und sie, solange der Krieg andauert, mit Lebensmitteln versorgen. Zudem bittet unser Freund Mak, ihm zu erlauben, alle unsere Aufklärer, sofern sie dies wünschen, zu versammeln, damit er sie kämpfen lehrt und hinter die Blaue Schlange bringt, um dort den Aufstand zu beginnen. So steht es, kurz gesagt. Wir müssen uns jetzt entscheiden, und ich bitte um Wortmeldungen.«

Gai sah Maxim von der Seite an. Maxim saß mit untergeschlagenen Beinen da - groß, braungebrannt und unverrückbar wie ein Fels. Fast wirke er wie ein riesiger Akkumulator, der sich jeden Moment entladen konnte. Er starrte in den hintersten Winkel, zu Hexenmeister, spürte aber sofort Gais Blick und wandte ihm das Gesicht zu. Und auf einmal wurde Gai bewusst, dass Maxim nicht mehr derselbe war wie früher. Lange schon vermisste er das vertraute, strahlende Lächeln

»Irgendwie habe ich’s nicht verstanden«, meldete sich eine kahlköpfige Missgeburt, der Kleidung nach kein Hiesiger. »Was will er eigentlich? Dass die Barbaren aus der Wüste zu uns kommen? Die werden uns doch alle ermorden, ich kenne sie! Sie werden alle erschlagen, keinen einzigen am Leben lassen!«

»Sie kommen entweder in friedlicher Absicht«, erläuterte Mak, »oder überhaupt nicht.«

»Lieber überhaupt nicht«, erwiderte der Glatzkopf. »Mit den Barbaren sollte man sich nicht einlassen. Da wäre es besser, gleich in die Maschinengewehre der Soldaten zu laufen. Man würde wenigstens wie von eigener Hand sterben; mein Vater war Soldat.«

»Das stimmt natürlich«, begann Boschku nachdenklich. »Aber andererseits wäre es ja auch möglich, dass die Barbaren die Soldaten vertreiben und uns nicht anrühren. Dann ginge es uns allen besser.«

»Warum sollen sie uns nicht anrühren?«, widersprach der Glotzäugige. »Seit jeher rühren alle uns an, und jetzt plötzlich nicht?«

»Er wird es doch mit ihnen besprechen«, erklärte Boschku. »So in etwa: Rührt die Waldbewohner nicht an oder bleibt, wo ihr seid.«

»Wer? Wer wird das besprechen?« Der Bäcker drehte sich um.

»Na, Mak. Mak wird eine Absprache mit ihnen treffen.«

»Ach, Mak. Nun, wenn Mak es tut, lassen sie uns vielleicht in Frieden.«

»Möchtest du Tee?«, fragte Boschku. »Schläfst ja ein, Bäcker.«

»Verschon mich mit deinem Tee!«

»Trink doch, wenigstens ein Tässchen. Ist doch nicht schwer.«

Der Glotzäugige stand abrupt auf. »Ich gehe«, sagte er. »Das hier führt zu nichts! Sie bringen Mak um, und uns verschonen sie erst recht nicht. Wozu auch? So oder so ist’s bald aus mit uns. In meiner Gemeinschaft werden seit zwei Jahren keine Kinder mehr geboren. Bis ich sterbe, möchte ich in Ruhe leben, das genügt mir. Entscheidet, wie ihr denkt, mir ist alles gleich.«

Gekrümmt und unbeholfen stolperte er hinaus und fiel fast über die Schwelle.

»Ja, Mak.« Blutegel wiegte den Kopf. »Verzeih, aber wir glauben niemandem. Wie kann man den Barbaren trauen? Sie leben in der Wüste, kauen Sand, trinken Sand, grässliche Gestalten, wie aus Eisendraht geflochten, können weder lachen noch weinen. Was sind wir schon für sie? Moos unter den Füßen! Nehmen wir an, sie kommen und besiegen die Soldaten. Dann lassen sie sich hier nieder - und brennen uns den Wald ab. Denn was sollen sie damit? Sie lieben die Wüste. Jedenfalls wäre auch das für uns das Ende. Nein, ich traue dem nicht, ich glaub’s nicht, Mak. Dein Vorhaben bringt nichts.«

»Stimmt«, pflichtete ihm der Bäcker bei. »Wir brauchen das nicht, Mak. Lass uns in Ruhe sterben, schone uns. Du hasst

Gai blickte wieder zu Maxim hinüber und wandte verwirrt die Augen ab.

Denn Maxim wurde rot. Er wurde so rot, dass ihm die Tränen rollten, senkte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit einer Hand.

»Das stimmt nicht«, sagte er. »Ich bedaure euch. Aber eben nicht nur euch. Ich …«

»Nein, Mak«, fiel ihm der Bäcker ins Wort. »Du sollst nur uns bemitleiden. Wir sind die allerunglücklichsten Menschen der Welt, und du weißt das. Vergiss deinen Hass. Habe Mitleid, sonst nichts.«

»Wieso sollte er Mitleid haben«, ließ sich Haselnussstrauch vernehmen, der bis zu den Augen mit schmutzigen Binden umwickelt war. »Er ist doch selbst Soldat. Wann hätten denn je Soldaten mit uns gefühlt? Der Soldat ist noch nicht geboren, der sich erbarmen würde.«

»Aber, aber, meine Lieben!«, unterbrach ihn streng der Herzogprinz. »Mak ist unser Freund. Er will uns Gutes, unsere Feinde vernichten.«

»Doch heraus kommt dabei Folgendes«, meldete sich der kahlköpfige Fremde. »Sogar wenn wir annehmen, dass die Barbaren stärker sind als die Soldaten und diese schlagen, ihre verfluchten Türme zerstören und den gesamten Norden erobern. Sollen sie. Uns ist’s darum nicht leid. Sollen sie sich gegenseitig abschlachten. Aber: Was nützt uns das? Mit uns ist es dann endgültig vorbei, denn dann haben wir im Süden Barbaren und im Norden Barbaren, und über uns auch. Nur - sie brauchen uns nicht, und deshalb werden sie uns alle umbringen. Das ist die eine Variante. Jetzt nehmen wir an, die Soldaten wehren den Angriff der Barbaren ab und werfen sie

Die Versammelten lärmten und redeten durcheinander. Der Kahlkopf habe es richtig dargelegt, alles stimme … Er aber war noch nicht fertig.

»Lasst mich doch ausreden!«, rief er aufgebracht. »Was macht ihr für einen Lärm? Das ist ja nicht alles! Es gibt noch die Möglichkeit, dass sich Soldaten und Barbaren gegenseitig abschlachten. Dann, scheint es, könnten wir leben. Doch nein, es klappt wieder nicht. Wegen der Vampire! Solange die Soldaten da sind, verstecken sie sich. Sie fürchten die Kugeln, denn die Soldaten haben Befehl, auf die Vampire zu schießen. Sind aber die Soldaten nicht mehr am Leben, besteht für uns keine Rettung. Die Vampire fressen uns mit Haut und Haaren auf.«

Dieser Gedanke traf die Anwesenden wie ein Blitz.

»Recht hat er«, tönten Stimmen. »Wie schlau sie aber auch sind, dort, in ihren Sümpfen … Ja, Brüder, die Vampire haben wir vergessen. Aber sie schlafen nicht, sie warten, bis ihre Zeit gekommen ist. Soll’s laufen, wie es läuft, Mak, wir brauchen das nicht. Zwanzig Jahre lang haben wir mehr schlecht als recht gelebt und werden noch zwanzig durchhalten, vielleicht länger.«

»Auch die Aufklärer haltet von ihm fern!«, begann der Kahle noch einmal. »Selbst wenn sie es anders wollen. Ihnen ist alles gleich, sie wohnen ja nicht einmal zu Hause. Sechsfinger steckt Tag und Nacht drüben, plündert dort und trinkt - es ist eine Schande! Sie haben’s gut, brauchen die verfluchten Türme nicht zu fürchten, denn sie kriegen keine Schmerzen. Doch was wird aus der Gemeinschaft? Das Wild zieht nach Norden. Wer anders kann es uns von dort zutreiben als die Aufklärer? Gebt sie ihm nicht! Nehmt sie lieber an die Kandare,

»Nicht fortlassen, nicht fortlassen«, bekräftigte die Menge. »Was sollen wir ohne sie machen? Wir haben sie geboren und großgezogen, sie mit Essen und Trinken versorgt, das müssen sie doch fühlen; aber nein, sie schauen weg und tun einfach, was sie wollen.«

Der Glatzköpfige beruhigte sich endlich, sank auf seinen Platz und schlürfte gierig den kalt gewordenen Tee. Auch die anderen wurden still, saßen reglos da und waren bemüht, Maxim nicht anzusehen.

Boschku nickte verzagt. »Wie unglückselig aber auch unser Leben ist! Nirgendwoher kommt Rettung. Was haben wir nur getan, und wem?«

»Unsere Geburt war sinnlos, daran liegt’s«, sagte Haselnussstrauch. »Gedankenlos hat man uns in die Welt gesetzt, zur Unzeit.« Er hielt seine leere Tasse hoch. »Auch wir zeugen ohne Notwendigkeit. Für den Untergang. Ja, ja, für den Untergang.«

»Das Gleichgewicht«, krächzte plötzlich jemand laut. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt, Mak. Aber sie wollten mich nicht verstehen.«

Es war nicht festzustellen, woher diese Stimme kam. Alle schwiegen, die Augen leidvoll niedergeschlagen. Nur der Vogel auf Hexenmeisters Schulter trippelte hin und her und klappte seinen gelben Schnabel auf und zu. Hexenmeister selbst bewegte sich nicht, hielt die Lider geschlossen und die trockenen schmalen Lippen zusammengepresst.

»Ich hoffe, nun begreifen Sie!« Es schien, als führe der Vogel fort. »Sie wollen dieses Gleichgewicht stören. Schön, das wäre möglich, es liegt in Ihrer Macht. Aber man fragt sich: wozu? Bittet Sie jemand darum? Sie haben richtig entschieden,

Der Vogel plusterte sich auf und steckte den Kopf unter den Flügel, die Stimme aber dröhnte weiter, und nun wurde Gai bewusst, dass Hexenmeister sprach, ohne den Mund zu öffnen oder auch nur einen Muskel im Gesicht zu verziehen. Es war unheimlich, nicht nur für Gai, sondern für alle Anwesenden, sogar für den Herzogprinzen. Einzig Mak musterte Hexenmeister finster und sogar herausfordernd.

»Die Ungeduld des alarmierten Gewissens!«, deklamierte Hexenmeister. »Ihr Gewissen ist verwöhnt durch Ihre ständige Aufmerksamkeit! Es stöhnt schon beim kleinsten Mangel, und Ihr Verstand beugt sich ihm ehrfürchtig, statt es zornig in seine Schranken zu weisen. Kaum empört es sich über eine bestehende Ordnung der Dinge, sucht er gehorsam und eilfertig Wege, um diese Ordnung zu verändern. Doch die Ordnung folgt ihren eigenen Gesetzen; und diese resultieren aus den Bestrebungen riesiger Menschenmassen. Will man also die Ordnung ändern, muss man bei den Bestrebungen anfangen. Folglich haben wir auf der einen Seite die Bestrebungen der Massen, andererseits aber Ihr Gewissen, das Ihre Bestrebungen widerspiegelt. Ihr Gewissen drängt Sie, die Dinge umzuordnen - was bedeutet, die Gesetzmäßigkeiten einer Ordnung zu verletzen, die aus dem Streben der Masse entstanden sind; das aber heißt, die Bestrebungen von Millionen nach dem Bild und der Analogie Ihres eigenen Trachtens zu wandeln. Das ist lächerlich und antihistorisch. Ihr vom Gewissen umnebelter, betäubter Verstand hat seine Fähigkeit verloren, das reale Wohl der Menge von einem imaginären, durch Ihr Gewissen diktierten Wohl zu unterscheiden. Seinen Verstand jedoch muss man klar halten. Wenn Sie das nicht wollen oder nicht können - umso schlimmer für Sie! Und

Hexenmeister verstummte, und alle Köpfe drehten sich zu Maxim. Gai hatte nicht recht fassen können, was diese Rede bedeutete. Wahrscheinlich war sie der Nachhall eines alten Streits, und bestimmt hielt Hexenmeister Maxim für einen klugen, aber launischen Menschen, der eher seinen Grillen folgte als der Notwendigkeit. Das kränkte. Maxim war zwar ein merkwürdiger Mensch, aber er schonte sich nie, wollte allen immer Gutes tun - nicht aus einer Laune heraus, sondern aus tiefster Überzeugung. Freilich, die vierzig Millionen, die durch die Strahlen verdummt waren, wünschten keinerlei Veränderung. Aber sie wurden an der Nase herumgeführt. Das war ungerecht.

»Ich kann Ihnen nicht zustimmen«, widersprach Maxim kalt. »Brennt das Gewissen, stellt es dadurch Aufgaben, die der Verstand zu erfüllen hat. Das Gewissen zeigt Ideale, der Verstand sucht Wege zu ihnen. Das ist ja gerade seine Aufgabe! Ohne Gewissen würde er nur für sich arbeiten, leerlaufen. Was aber den Widerspruch zwischen meinem Streben und dem der Masse angeht - es gibt ein eindeutiges Leitbild: geistige und physische Freiheit des Menschen. In dieser Welt sind sich die Massen dieses Ziels noch nicht bewusst, und der Weg dorthin ist schwer. Aber irgendwann muss man beginnen. Gerade Menschen mit einem aufmerksamen Gewissen sollten die Massen wachrütteln, sie nicht in einem viehischen Zustand schlafen lassen, sondern zum Kampf gegen die Unterdrückung führen. Selbst wenn die Massen diese Unterdrückung nicht empfinden.«

»Richtig«, Hexenmeister stimmte unerwarteterweise bereitwillig zu, »das Gewissen zeigt tatsächlich Ideale. Aber sie heißen eben deshalb Ideale, weil sie in krassem Missverhältnis

»Massaraksch!«, zischte Maxim, tiefrot im Gesicht und böse, wie Gai ihn nie gesehen hatte. »Ja, Massaraksch! Ja! Alles ist genau so, wie Sie es sagen. Was bleibt mir anderes übrig? Jenseits der Blauen Schlange sind die Menschen wandelnde Holzklötze. Vierzig Millionen Sklaven.«

»Richtig, richtig«, pflichtete Hexenmeister bei. »Eine andere Sache aber ist, dass Ihr Plan als solcher nichts taugt. Die Barbaren werden an den Türmen scheitern und zurückweichen, und unsere Aufklärer sind ohnehin zu nichts Ernsthaftem in der Lage. Mit Ihrem Plan könnten Sie sich genauso gut mit dem Inselimperium verbünden … Aber darum geht

Hexenmeister erhob sich unerwartet gewandt, und der Vogel auf seiner Schulter setzte sich und spreizte die Flügel. Dann ging er mit leichtem, gleitendem Schritt an der Wand entlang und verschwand hinter der Tür. Und sofort folgten ihm die Versammelten: ächzend, stöhnend, schwer atmend, ohne von dem Gesagten viel verstanden zu haben, doch augenscheinlich froh, dass alles beim Alten blieb. Dass Hexenmeister ein gefahrvolles Unterfangen verhindert, also Mitleid mit ihnen gezeigt hatte und nicht zuließ, dass man sie kränkte. Dass sie nun weiterleben konnten wie bisher, zumal noch eine Ewigkeit vor ihnen lag, zehn Jahre etwa, womöglich mehr. Als Letzter verschwand Boschku mit seinem leeren Teekessel. Nur Gai, Maxim und der Herzogprinz blieben im Zimmer, und in einer Ecke, von der geistigen Anstrengung ermattet und in tiefem Schlaf, der Bäcker. Gais Kopf war verwirrt, seine

»Sind Sie jetzt sehr niedergeschlagen, Mak?«, fragte der Herzogprinz schuldbewusst.

»Nein, nein, nicht sehr«, antwortete Maxim. »Eher umgekehrt: Ich bin erleichtert. Hexenmeister hat Recht, mein Gewissen ist noch nicht bereit für solche Unternehmungen. Wahrscheinlich muss ich noch länger umherziehen, mich umschauen. Das Gewissen trainieren.« Er lachte unangenehm. »Was würden Sie mir raten, Herzogprinz?«

Der Alte stand ächzend auf, rieb sich die mittlerweile taub gewordenen Hüften und wanderte durch das Zimmer.

»Erstens rate ich Ihnen, nicht in die Wüste zu gehen«, begann er. »Sogar wenn es Barbaren gibt, finden Sie dort nicht, was Sie brauchen. Vielleicht lohnt es sich aber tatsächlich, Kontakt zu den Inselbewohnern zu knüpfen, wie Hexenmeister vorgeschlagen hat - obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht weiß, wie das zu bewerkstelligen wäre. Wahrscheinlich müsste man zum Meer vordringen und dort beginnen - sofern das Inselimperium nicht auch ein Mythos ist und man zudem nicht weiß, ob seine Bewohner überhaupt mit Ihnen reden wollen. Am besten fände ich, Sie würden in den Norden zurückkehren und dort im Alleingang handeln. Bedenken Sie, was Hexenmeister gesagt hat: Sie sind stark, Sie sind eine Kraft, und jeder wird versuchen, diese Kraft für seine Zwecke zu nutzen. Die Geschichte unseres Reichs kennt nicht wenige Fälle, in denen es starke und mutige Einzelgänger bis auf den Thron geschafft haben. Wenn auch gerade sie es waren, die dann die grausamsten Traditionen der Tyrannei begründet haben. Aber das betrifft Sie ja nicht, Sie sind nicht so und werden es kaum werden. Wenn ich Sie recht verstehe, ist auf einen Aufstand

»Ich fürchte, das ist nichts für mich«, sagte Maxim zögernd. »Ich kann nicht erklären, warum, aber ich weiß es. Ich will diese Zentrale nicht beherrschen. In einem allerdings haben Sie Recht: Mir bleibt weder hier noch in der Wüste etwas zu tun. Die Wüste ist zu weit entfernt, und hier gibt es niemanden, auf den ich mich stützen könnte. Ich muss noch viel kennenlernen: Pandea, Honti, die Berge, das Inselimperium. Haben Sie von den weißen Submarines gehört? Nein? Aber ich habe davon gehört, auch Gai. Und wir kennen einen, der sie gesehen und gegen sie gekämpft hat. Das heißt: Sie können kämpfen. Also gut.« Maxim sprang auf. »Wir wollen keine Zeit verlieren. Danke, Herzogprinz. Sie haben uns sehr geholfen. Gehen wir, Gai.«

Sie traten auf den Platz hinaus und blieben vor dem angeschmolzenen Denkmal stehen. Traurig sah Gai sich um. Die gelben Ruinen flirrten vor Hitze, es war dunstig und schwül, es stank, und doch mochte er diese Welt nicht verlassen. Sie war schrecklich, aber schon so vertraut. Er hatte keine Lust, sich wieder durch die Wälder zu schleppen und sich all den dunklen Zufällen auszusetzen, die einen dort auf Schritt und Tritt erwarteten. Lieber würde er in sein winziges Zimmer zurückkehren, mit der kahlköpfigen Tanga spielen, ihr endlich das versprochene Pfeifchen aus einer leeren Patronenhülse basteln … Jawohl, Massaraksch, für das arme Mädchen wäre ihm ein Schuss in die Luft nicht zu schade.

»Wohin wollen Sie jetzt gehen?«, fragte der Herzogprinz, wobei er sein Gesicht mit dem abgetragenen, verblichenen Hut gegen den Staub schützte.

»Nach Westen«, antwortete Maxim. »Zum Meer. Ist das weit von hier?«

»Dreihundert Kilometer.« Der Herzogprinz wurde nachdenklich. »Und man muss durch stark verseuchte Gebiete. Hören Sie, vielleicht machen wir es so …« Dann verstummte er plötzlich und schwieg. Gai trat schon ungeduldig von einem Bein aufs andere. Maxim aber hatte es nicht eilig, er wartete. »Ach, wozu brauch ich es«, sagte schließlich der Herzogprinz. »Um ehrlich zu sein, habe ich es für mich bewahrt. Ich dachte, wenn es ganz schlimm kommt, wenn die Nerven versagen, setze ich mich rein und fliege nach Hause, selbst wenn man mich dort erschießt. Aber was soll es jetzt noch, es ist zu spät.«

»Ein Flugzeug?« Maxim blickte den Herzogprinz voller Hoffnung an.

»Ja. Der ›Bergadler‹. Sagt Ihnen dieser Name etwas? Nein, natürlich nicht. Und Ihnen, junger Mann? Auch nicht. Seinerzeit war das der berühmteste Bomber, meine Herren. Seiner Kaiserlichen Hoheit Prinz Kirnus persönlicher Vier-Goldbanner-Leibbomber ›Bergadler‹. Ich erinnere mich, die Soldaten mussten das auswendig lernen. ›Soldat Sowieso, nenne den persönlichen Bomber Seiner Kaiserlichen Hoheit!‹ Und er sagte es auf, ja, diesen Bomber habe ich. Erst wollte ich damit die Verwundeten evakuieren, doch es waren zu viele. Dann, als sie alle tot waren … Ach, was soll ich’s erzählen. Nehmen Sie ihn, mein Freund. Fliegen Sie. Der Treibstoff reicht für halb um die Welt.«

»Danke«, sagte Maxim. »Danke, Herzogprinz. Ich werde Sie nie vergessen.«

»Was heißt, mich …«, murmelte der Alte. »Wenn Sie etwas erreichen, mein Freund, dann vergessen Sie diese Leute hier nicht.«

»Ich erreiche etwas«, versprach Maxim. »Ich schaffe es, Massaraksch! Es muss klappen, Gewissen hin, Gewissen her. Und ich vergesse nie jemanden.«



16

Gai war noch nie mit einem Flugzeug geflogen, und es war überhaupt das erste Mal, dass er eines sah. Polizeihubschrauber oder die Flugplattformen des Stabs waren ihm öfter vor Augen gekommen. Einmal hatte er sogar an einer Razzia aus der Luft teilgenommen; seine Gruppe war einfach in einen Hubschrauber verfrachtet und an der Chaussee wieder abgesetzt worden. Dort drängte ein Haufen Sträflinge, die wegen der schlechten Verpflegung rebellierten, in Richtung Brücke. Dieser Flug war Gai in sehr unangenehmer Erinnerung geblieben, denn der Hubschrauber war sehr niedrig geflogen und hatte sie dermaßen durchgeschüttelt, dass sich ihnen fast die Eingeweide umstülpten. Hinzu kamen das ohrenbetäubende Getöse des Rotors, der Benzingestank und das Maschinenöl, das von überallher spritzte.

Aber das hier war etwas ganz anderes.

Der »Bergadler«, Leibbomber Seiner Kaiserlichen Hoheit, versetzte Gai in Erstaunen. Es war ein ungeheures Vehikel, und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es überhaupt in die Luft aufsteigen könnte. Der schmale Rumpf, verziert mit zahlreichen goldenen Emblemen, war lang wie eine Straße. Ehrfurchtgebietend und majestätisch breiteten sich die mächtigen Tragflächen aus, unter denen eine ganze Brigade hätte Unterschlupf finden können. Sie waren dachhoch, und dennoch berührten die Blätter der sechs riesigen Propeller beinahe die Erde. Der Bomber stand auf drei Rädern, jedes davon mehr als fünf Meter hoch, zwei Räder trugen den Bug, das dritte stützte das Heck. Wie ein silbernes Band ragte eine leichte Aluminiumleiter hinauf in die schwindelerregende Höhe der gläsern glänzenden Pilotenkabine. Ja, es war ein würdiges Symbol des alten Imperiums, ein Symbol großer Vergangenheit, ein Symbol der Macht über den ganzen Kontinent. Gai hatte den Kopf in den

»Ein anderes habe ich nicht«, erwiderte der Herzogprinz trocken. »Aber es ist der beste Bomber der Welt. Seinerzeit hat Seine Kaiserliche Hoheit mit ihm …«

»Ja, ja, selbstverständlich«, stimmte Maxim eilig zu. »Ich war nur so überrascht.«

Oben in der Kabine kannte Gais Entzücken keine Grenzen. Nicht nur, dass sie rundherum verglast war - hinzu kamen die vielen ihm unbekannten Instrumente, erstaunlich bequeme und weiche Sessel, mysteriöse Hebel und Schalter, Bündel verschiedenfarbiger Kabel, und merkwürdige Helme, wie er sie nie zuvor gesehen hatte, lagen für sie bereit. Der Herzogprinz gab Maxim hastig ein paar Instruktionen, wobei er auf die Instrumente zeigte und die Hebel bewegte. Zerstreut murmelte Mak: »Ja, schon klar, schon klar …« Gai hatten sie in einen Sessel gesetzt und ihm die Maschinenpistole auf die Knie gelegt, damit sie, Gott behüte, ja keine Schramme abbekäme. So saß er da, machte große Augen und schaute überwältigt von einer Seite der Kabine zur anderen.

Der Bomber stand in einem alten, heruntergekommenen Hangar am Waldrand; davor erstreckte sich ein großes und vollkommen ebenes graugrünes Feld - ohne den kleinsten Hügel, den kleinsten Busch; dahinter, etwa fünf Kilometer entfernt, begann wieder Wald. Und über all dem lag der weiße Himmel, der vom Pilotensitz aus ganz nahe schien, nur einen Steinwurf entfernt. Gai war sehr aufgeregt und hatte später fast keine Erinnerung mehr an den Abschied vom Herzogprinzen. Der Alte sagte wohl etwas, und Maxim sagte etwas, sie lachten auch, der Herzogprinz vergoss ein paar Tränen, das Türchen schlug zu. Gai bemerkte plötzlich, dass er schon mit

Die Messgeräte leuchteten auf, es knallte, rumorte, knatterte, die Kabine bebte, und lautes Dröhnen erfüllte alles ringsum. Der Herzogprinz, klein, weit unten inmitten der niedergedrückten Sträucher und des sich wellenden Grases, griff mit beiden Händen nach seinem Hut und wich zurück. Gai drehte sich um. Die riesigen Propellerblätter waren verschwunden, zu trüben Kreisen verschmolzen, und auf einmal geriet das große Feld dort unten in Bewegung und glitt ihnen entgegen, schneller und schneller. Fort war der Herzogprinz, fort der Hangar - es gab nur noch das Feld, das ungestüm auf sie zuraste, erbarmungsloses Rütteln, Donnern und Tosen … Als Gai mühsam den Kopf wandte, merkte er entsetzt, dass die gigantischen Flügel gleichmäßig schlingerten und jeden Augenblick abzubrechen drohten - aber plötzlich hörte das Rütteln auf, das Feld stürzte in die Tiefe, und ein watteweiches Gefühl durchflutete Gai vom Kopf bis zu den Füßen. Und dann war das Feld schon nicht mehr zu sehen, auch der Wald war weg, verwandelt in eine schwarzgrüne Bürste, eine endlose Flickendecke, und diese Decke blieb langsam zurück. Und da begriff Gai, dass er flog.

Begeistert blickte er zu Maxim hinüber. Mak hatte den linken Arm lässig auf die Seitenlehne gestützt und bewegte mit der rechten Hand sacht den größten und wohl wichtigsten Hebel. Seine Augen waren zusammengekniffen, die Lippen geschürzt, so als pfiffe er. Ja, er war ein großer Mensch. Groß und unerreichbar. Wahrscheinlich kann er alles, überlegte Gai. Er steuert diese komplizierte Maschine, obwohl er sie heute zum ersten Mal im Leben sieht. Das ist ja schließlich kein Panzer oder Lastwagen, sondern ein Flugzeug - einer der legendären Bomber. Ich wusste nicht mal, dass es sie noch gibt. Er aber geht damit um wie mit einem Spielzeug, als

Maxim fühlte Gais Blicke auf sich ruhen, spürte seine Begeisterung und Ergebenheit. Er wandte ihm das Gesicht zu, lächelte breit, so wie früher, und Gai konnte sich nur mühsam zurückhalten, Maxims mächtige braungebrannte Pranke zu packen, sie an sich zu drücken und dankbar zu küssen. O mein Gebieter, mein Schild und mein Stolz, befiehl - ich stehe vor dir, bin hier, bin bereit. Ich schleudre mich ins Feuer, lass mich eins werden mit der Flamme. Tausenden von Feinden, weit aufgerissenen Rachen, Millionen von Kugeln entgegen. Wo sind sie, wo sind deine Gegner? Wo sind diese abscheulichen Schwachköpfe in ihren grässlichen schwarzen Uniformen? Wo ist dieser boshafte Winzling von Offizier, der gewagt hat, die Hand gegen dich zu erheben? O du schwarzer Schurke, ich zerfetze dich mit meinen Nägeln, ich beiße dir die Kehle

… Gai atmete schwer und zerrte am Kragen seines Overalls. Seine Ohren klangen, die Welt vor den Augen schwankte und verschwamm. Noch lag sie im Nebel, aber er löste sich rasch auf. Nur die Muskeln schmerzten noch, und es kratzte unangenehm im Hals. Dann sah Gai Maxims Gesicht, es war dunkel, finster, fast brutal. Die Erinnerung an etwas Wonnevolles tauchte in ihm auf und verflog im selben Augenblick wieder. Dafür hatte Gai jetzt das große Bedürfnis, die Hacken zusammenzuschlagen und strammzustehen. Aber er begriff, dass das unpassend war, und auch, dass Maxim sich ärgerte.

»Habe ich was angestellt?«, fragte er schuldbewusst und blickte sich zaghaft um.

»Ich habe was angestellt«, antwortete Maxim. »Ich hatte diesen Mist ganz vergessen.«

»Was denn?«

Maxim drehte sich wieder zum Steuerpult, legte die Hand auf einen Hebel und sah nach vorn.

»Die Türme«, sagte er schließlich.

»Was für Türme?«

»Ich habe zu weit nach Norden gehalten«, knurrte Maxim. »Wir sind in einen Strahlenstoß geraten.«

Gai wurde verlegen. »Hab ich die Hymne gegrölt?«

»Schlimmer«, erwiderte Maxim. »Aber lassen wir das. Von nun an passen wir besser auf.«

Gai wandte sich voller Scham ab, versuchte sich zu erinnern, was er getan hatte, und betrachtete die Welt, die unter ihm lag. Türme waren nicht mehr zu sehen, ebenso wenig der Hangar und das Feld, von dem aus sie aufgestiegen waren. Die Flickendecke rutschte langsam unter ihnen weg, und dann kam ein Fluss, eine trübe, metallisch blinkende Schlange, die weiter vorne ganz im Nebel verschwand. Und irgendwo dort musste das Meer wie eine Wand zum Himmel emporragen … Was habe ich nur zusammengeschwatzt?, dachte Gai. Großen Blödsinn wahrscheinlich, denn Maxim ist sehr verstimmt und beunruhigt. Massaraksch, womöglich sind meine Angewohnheiten aus der Gardistenzeit wieder hervorgebrochen, und ich habe ihn gekränkt? Wo ist nur dieser verfluchte Turm! Die Gelegenheit wäre günstig, eine Bombe darauf zu werfen.

Plötzlich schlingerte das Flugzeug. Gai biss sich auf die Zunge, und Maxim umklammerte den Hebel jetzt mit beiden Händen. Irgendetwas stimmte nicht, etwas war geschehen. Beklommen blickte Gai nach hinten und registrierte erleichtert, dass der Flügel noch an seinem Platz war und auch die Propeller sich noch drehten. Dann aber sah er hoch und bemerkte, dass sich im fahlweißen Himmel über ihnen langsam rußschwarze Flecken verteilten. Wie Tusche im Wasser …

»Was ist das?«, fragte er.

»Weiß nicht«, sagte Maxim. »Merkwürdige Sache.« Er fügte noch zwei Wörter hinzu, die Gai nicht verstand, und erklärte dann zögerlich: »Eine Attacke von Himmelsgestein. Aber das ist Unsinn, so etwas gibt es nicht. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei null Komma null null … Ja, ziehe ich es denn an?«

Er wiederholte die unverständlichen Wörter und verstummte.

Gai wollte fragen, was Himmelsgestein ist, doch da bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus eine seltsame Bewegung rechts unten. Er schaute genauer hin. Über der schmutziggrünen Decke des Waldes schwoll langsam und schwerfällig eine gelbliche Blase an. Er begriff nicht sofort, dass es Rauch war; dann blitzte es in ihrem Inneren, ein langer schwarzer Gegenstand glitt daraus empor, und in derselben Sekunde krümmte sich unheimlich der Horizont, stand wie eine Mauer vor ihnen, und Gai musste sich an den Armlehnen festhalten. Die Maschinenpistole rutschte von seinen Knien und polterte über den Fußboden. »Massaraksch!«, hörte er Maxims Stimme in den Kopfhörern. »Gott im Himmel! Ich Idiot!« Der Horizont richtete sich wieder aus. Gai suchte nach dem gelben Qualm, konnte ihn aber nirgends entdecken. Er blickte nach vorn und sah plötzlich, wie direkt vor ihnen eine Fontäne verschiedenfarbiger Funken aufspritzte. Wieder blähte sich eine gelbe Wolke, blitzte Feuer, wieder stieg ein langer schwarzer Gegenstand in die Höhe und barst zu einer blendend weißen Kugel. Gai schlug die Hände vor die Augen. Die weiße Kugel verblasste, bekam schwarze Flecken und wurde zu einem gigantischen Klecks. Der Boden unter ihren Füßen stürzte fort. Gai riss den Mund auf und rang nach Luft, für einen Moment schien ihm, als stülpte sich sein Magen um. In der Kabine war es dunkel geworden, schwarze Rauchschwaden schwebten auf sie zu und seitlich vorbei. Wieder änderte sich der Horizont, nun lag der

Gai wartete ein wenig und hob dann vorsichtig den Kopf, bemüht, das Gesicht nicht der Zugluft auszusetzen. Maxim war an seinem Platz. Den Körper gespannt, hielt er noch immer mit beiden Händen den Hebel fest und starrte auf die Armaturen, dann wieder nach vorn. Unter seiner braunen Haut zeichneten sich die Muskeln ab. Der Bomber flog jetzt seltsam, mit unnatürlich emporgerecktem Bug. Die Motoren schwiegen. Gai sah nach hinten und erstarrte.

Ein Flügel brannte.

»Feuer!«, schrie er und versuchte aufzuspringen. Doch der Gurt hielt ihn fest.

»Sitz ruhig!«, sagte Maxim durch die Zähne. Er wandte sich nicht um.

Gai riss sich zusammen und starrte geradeaus. Sie hatten schon sehr an Höhe verloren. Schwarze und grüne Flecken flimmerten vor seinen Augen. Und vorn erhob sich bereits die schimmernde, stahlgraue Oberfläche des Meeres. Zerschellen werden wir!, durchfuhr es ihn, und sein Herz stockte.

»Zapple nicht so«, sagte Maxim. »Halt dich fest. Gleich …«

Der Wald unter ihnen war plötzlich fort. Gai sah die gekräuselte Wasserfläche direkt auf sich zurasen und kniff die Augen zusammen.

Ein Stoß. Dann ein Knirschen. Furchterregendes Zischen. Noch ein Stoß. Und noch einer. Alles ist aus. Vorbei. Aus und vorbei … Gai schreit auf vor Entsetzen. Eine gewaltige Kraft packt ihn und versucht, ihn aus dem Sessel zu reißen, zusammen mit dem Gurt, schleudert ihn dann aber enttäuscht zurück, und alles ringsum zerspringt und bricht, Brandgeruch breitet sich aus, warmes Wasser sprüht … Dann endlich Stille. Wenig später Rieseln und Plätschern. Etwas prasselt, zischt. Langsam hebt und senkt sich der Boden. Jetzt kann man wohl wieder die Augen öffnen und sich ansehen, wie es da ist, im Jenseits …

Gai schlug die Augen auf und erblickte Maxim, der, über ihn gebeugt, seinen Gurt löste. »Kannst du schwimmen?«

Aha, wir sind also am Leben.

»Kann ich«, antwortete Gai.

»Dann los.«

Gai stand vorsichtig auf. Er erwartete heftige Schmerzen in seinem gemarterten, zerquälten Körper, aber der erwies sich als völlig unversehrt. Der Bomber schaukelte sacht im Wasser. Sein linker Flügel fehlte, der rechte baumelte noch an einem durchlöcherten Stück Metall. In gerader Linie vor dem

Maxim nahm die Maschinenpistole, warf sie sich über die Schulter und stieß die Luke auf. Im selben Augenblick flutete Wasser herein, es stank fürchterlich nach Benzin, und der Boden unter den Füßen kippte langsam in Schieflage.

»Vorwärts!«, kommandierte Maxim, und Gai, der sich neben ihm seinen Weg bahnte, sprang gehorsam in die Wellen.

Er versank bis über den Kopf, tauchte auf, prustete und paddelte auf die Küste zu. Sie war nahe, ein fester, begehbarer Strand und ohne Gefahr zu erreichen. Maxim hielt sich in der Nähe, zerteilte lautlos das Wasser. Massaraksch, auch schwimmen konnte er wie ein Fisch, als wäre er im Meer geboren. Gai keuchte und strampelte aus aller Kraft mit Armen und Beinen. Sein Overall und die Stiefel behinderten ihn, und er war froh, als er mit dem Fuß auf sandigen Grund stieß. Bis zum Ufer blieb zwar noch ein ganzes Stück, aber er stellte sich mit beiden Füßen auf den Grund und ging den Weg dorthin zu Fuß - mit vorgestreckten Armen, durch schmutziges, ölbeflecktes Wasser. Maxim schwamm weiter, er überholte ihn und betrat als Erster den glatten, ebenmäßigen Sand. Er stand schon breitbeinig da und sah zum Himmel, als Gai auf ihn zu wankte. Dort oben zerflossen die schwarzen Flecken …

»Wir haben Glück gehabt«, sagte Maxim. »Etwa zehn Stück haben sie hochgejagt.«

»Was ist?« Gai schnippte gegen seine Ohren, um das Wasser herauszuschütteln.

»Raketen. Die hatte ich ganz vergessen. Wie viele Jahre haben sie gewartet, dass wir über sie hinwegfliegen - jetzt war es so weit. Wieso habe ich bloß nicht daran gedacht!«

Gai fiel ein, dass auch er es hätte wissen müssen. Schon vor zwei Stunden hätte er Mak warnen sollen: Wir können nicht drüberfliegen, der Wald ist voller Raketenschächte … Nein,

»Na gut«, sagte Gai. »Wie ich sehe, kommen wir nicht bis zum Inselimperium. Was machen wir jetzt?«

»Zunächst einmal nehmen wir unsere Medizin ein. Nimm«, antwortete Maxim.

»Weshalb?«, fragte Gai. Er mochte die Pillen vom Herzogprinzen überhaupt nicht.

»Das Wasser ist hochgradig verseucht«, erklärte Maxim. »Meine Haut brennt. Gib gleich jedem von uns vier oder fünf Stück.«

Hastig holte Gai eines der Röhrchen heraus, schüttete sich zehn von den gelben Kügelchen in die Hand, und jeder von ihnen schluckte fünf.

»Und jetzt los«, befahl Maxim. »Nimm deine MP.«

Gai griff nach seiner Maschinenpistole, spuckte das beißend Bittere aus, das sich in seinem Mund gesammelt hatte, und ging hinter Maxim am Ufer entlang. Sie sanken im Sand ein, und es war heiß, so heiß, dass der Overall im Nu trocknete; nur in den Stiefeln gluckste noch das Wasser. Maxim schritt schnell und sicher voraus, als wüsste er genau, wohin sie zu gehen hätten - dabei war nichts weiter zu sehen als das Meer zur Linken, der weite Strand zur rechten und vor ihnen vereinzelte Dünen, hinter denen immer wieder zerzauste Spitzen von Waldbäumen hervorlugten.

Sie legten etwa drei Kilometer zurück, und die ganze Zeit über grübelte Gai, wohin sie gingen und wo sie sich überhaupt befanden. Fragen wollte er nicht, er wollte es selbst herausfinden. Aber auch nachdem er sich alle Details ins Gedächtnis gerufen hatte, erriet er nur, dass irgendwo vor ihnen das Mündungsgebiet der Blauen Schlange lag und sie sich nach Norden bewegten - und er verstand bis jetzt weder

Maxim antwortete bereitwillig, sie hätten keine konkreten Pläne und könnten nur auf Zufälle und Gelegenheiten warten. Zudem bliebe die Hoffnung, dass ein weißes Submarine sich dem Ufer näherte und sie es eher erreichten als die Gardisten. Da es jedoch ein sehr zweifelhaftes Vergnügen sei, im heißen trockenen Sand auf diesen Moment zu warten, müssten sie versuchen, den Kurort zu erreichen, der ganz in der Nähe liegen müsse. Die Stadt sei natürlich längst zerstört, aber die Brunnen würden sicher noch funktionieren, und sie hätten ein Dach über dem Kopf. Sie würden im Kurort übernachten und dann weitersehen. Möglich, dass sie viele Dutzend Tage an dieser Küste verbringen müssten.

Vorsichtig wandte Gai ein, der Plan erscheine ihm etwas merkwürdig. Mak stimmte ihm zu und fragte ihn seinerseits, ob nicht er, Gai, einen anderen, besseren wüsste? Gai verneinte, vergaß aber nicht, Mak vor den Panzerpatrouillen der Garde zu warnen, die, soweit er wisse, die Küste entlang weit nach Süden vordrangen. Maxims Miene verfinsterte sich. Er knurrte, das sei schlecht, und sie dürften sich keinesfalls überrumpeln lassen; dann befragte er ihn detailliert nach der Taktik der Patrouillen. Als Gai ihm berichtete, dass die Panzer weniger das Ufer als vielmehr das Meer kontrollierten und man sich in den Dünen leicht vor ihnen verbergen konnte, beruhigte sich Mak und pfiff sogar einen kleinen Marsch vor sich hin, den Gai noch nicht kannte.

Im Takt dieses Marsches stapften sie weitere zwei Kilometer. Inzwischen überlegte Gai, was sie tun konnten, würden sie tatsächlich von einer Streife bemerkt. Dann legte er seinen Plan Maxim dar.

»Wenn sie uns entdecken«, begann er, »erzählen wir ihnen, die Missgeburten hätten mich entführt, du hättest sie verfolgt und mich ihnen wieder abgejagt. Dann wären wir durch den Wald geirrt und seien schließlich hier gelandet.«

»Und was nützt uns das?« Maxim schien nicht sonderlich begeistert.

»Das nützt uns«, antwortete Gai verärgert, »dass sie uns wenigstens nicht an Ort und Stelle erschießen.«

»Nein«, sagte Maxim bestimmt. »Erschießen lasse ich mich nicht mehr, und auch dich wird keiner erschießen.«

»Und wenn sie einen Panzer haben?«

»Ja, na und? Pah, ein Panzer …«

Maxim schwieg kurze Zeit und fügte dann nachdenklich hinzu: »Weißt du, es wäre gar nicht schlecht, einen Panzer zu kapern.«

Offensichtlich gefiel ihm dieser Gedanke.

»Ausgezeichnete Idee, Gai«, fuhr Maxim fort. »So machen wir’s. Wir nehmen ihnen einen Panzer weg. Sobald sie auftauchen, ballerst du mit der MP in die Luft, ich lege die Hände auf den Rücken, und du treibst mich direkt zu ihnen. Der Rest ist meine Sache. Aber halte dich im Hintergrund, komm mir nicht in die Quere, und gib vor allem keinen Schuss mehr ab.«

Gai fing Feuer und schlug gleich vor, auf den Dünen weiterzugehen, damit man sie schon von fern sehen könnte. Sie kletterten nach oben.

Und erblickten sofort ein weißes Submarine.


Hinter den Dünen lag eine kleine flache Bucht, und das Unterseeboot ragte etwa hundert Meter vom Ufer entfernt aus dem Wasser. Einem Submarine ähnelte es allerdings gar nicht, noch weniger war es weiß. Gai vermutete zunächst, es handle sich um den Kadaver eines riesigen zweihöckrigen Tieres oder um einen bizarren Felsen. Maxim aber begriff gleich, was sie

So war es auch. Als sie die Bucht erreichten und zum Wasser hinunterstiegen, sah Gai die Rostflecken, sowohl am langen Rumpf als auch an den Aufbauten. Die weiße Farbe war abgeblättert und der Geschützstand seitlich weggekippt, so dass die Kanonenmündung auf das Wasser wies. In der Panzerung klafften schwarze Löcher mit rußigen Rändern. Dort lebte sicher nichts mehr.

»Ist das ein weißes Submarine?«, fragte Maxim. »Hast du schon mal welche gesehen?«

»Meiner Meinung nach ist es eins«, antwortete Gai. »An der Küste habe ich nie gedient, aber uns wurden Fotos gezeigt und Mentogramme. Man hat sie uns auch beschrieben. Sogar einen Mentofilm gab es - ›Panzer bei der Küstenverteidigung‹. Es ist eins. Man kann es sich so vorstellen: Es wurde bei Sturm in die Bucht getrieben, ist dort gestrandet, und dann kam eine Patrouille. Siehst du, wie sie es zerschossen haben? Das ist keine Außenhaut mehr, das ist ein Sieb.«

»Sieht ganz so aus«, murmelte Maxim, während er es eingehend betrachtete. »Schauen wir’s uns an?«

Gai wurde verlegen. »Wir könnten, natürlich«, sagte er unsicher.

»Was ist?«

»Wie soll ich’s dir erklären?«

Wirklich, wie sollte er es erklären? Einmal nachts, in der dunklen Kaserne, hatte Korporal Serembesch, der alte Haudegen, erzählt, auf den weißen Submarines befänden sich keine gewöhnlichen Seeleute: Es seien Tote, die entweder eine zweite Dienstzeit ableisteten, oder im Dienst so feige gewesen waren, dass sie vor lauter Angst gestorben seien und jetzt auf diese Weise ihren Dienst zu Ende bringen mussten. Meeresdämonen durchstöberten den Meeresgrund, um die Ertrunkenen

»Weißt du«, begann Gai eindringlich, »es gibt manchen Aberglauben, alle möglichen Legenden. Ich will sie dir nicht erzählen, aber Rittmeister Tschatschu hat einmal erwähnt, die Submarines seien verseucht und es sei strikt verboten, an Bord zu gehen. Es existiert sogar ein solcher Befehl. Es heißt, abgeschossene Submarines würden …«

»In Ordnung.« Maxim ließ ihn nicht ausreden. »Du bleibst hier, und ich gehe. Mal sehen, was das für eine Seuche ist.«

Gai öffnete den Mund, doch ehe er ein Wort sagen konnte, war Maxim ins Wasser gesprungen und untergetaucht. Er blieb verschwunden; Gai stockte schon der Atem vom langen Warten, als der schwarzhaarige Schopf endlich wieder zum Vorschein kam - vor der abgeblätterten Bordwand, genau unter einem Einschussloch. Gewandt und mühelos, wie eine Fliege die Wand, erklomm Maxim das schiefe Deck, schwang sich im Nu auf den Bugaufbau - und verschwand. Gai schnappte nach Luft, trat von einem Fuß auf den anderen und ging dann am Wasser hin und her, ohne die Augen von dem Unterseeboot abzuwenden.

Es war still, nicht einmal Wellen gab es in dieser leblosen Bucht, nur einen leeren weißen Himmel, unbelebte weiße Dünen - alles heiß, trocken und starr. Hasserfüllt musterte

Plötzlich zuckte er zusammen, der Stiefel fiel ihm aus der Hand, denn er hörte einen langgezogenen, unheimlichen Ton … Er klang, als kratzten Teufel mit schartigen Messern über eine sündige Seele. O Gott! Aber nein, es war nur die verrostete Luke gewesen, die sich quietschend geöffnet hatte … Also nein, wahrhaftig, sogar der Schweiß ist mir ausgebrochen. Maxim hat die Luke geöffnet, also wird er gleich herausklettern … Nein, er kommt doch nicht …

Einige Minuten lang reckte Gai den Hals, spitzte die Ohren und spähte zu dem Submarine hinüber. Stille. Die gleiche schauerliche Stille wie zuvor, ja, noch schauerlicher als vor dem Rostgeheul. Womöglich war die Luke nicht geöffnet, sondern zugeschlagen worden? Oder sie war von selbst zugefallen? Angststarren Auges sah Gai folgendes Bild vor sich:

Absolut still. Zum Schreien hatte Gai keine Kraft mehr.

Ohne den Blick von dem Submarine zu wenden, tastete Gai nach der MP, entsicherte sie mit zitternden Fingern und jagte einen Schuss in die Bucht. Es knallte kurz und kraftlos, wie durch Watte. Aus der glatten Wasseroberfläche spritzten kleine Fontänen hoch, Kreise liefen auseinander. Gai hob den Lauf etwas höher und drückte noch einmal ab. Dann hörte er etwas: Die Kugeln hämmerten auf Metall, Querschläger kreischten, das Echo hallte. Und - nichts. Absolut nichts. Kein Laut, als wäre er allein, schon immer allein gewesen. Als hätte es ihn auf rätselhafte Weise hierherverschlagen, als wäre er im Fieberwahn an diesen unbelebten Ort geraten und könnte nun nicht mehr aufwachen und zur Besinnung kommen. Und müsste für immer allein hierbleiben.

Vollkommen außer sich vor Angst, ging Gai - so wie er war, mit einem Stiefel - ins Wasser, anfangs langsam, dann immer schneller, schließlich rannte er, zog die Beine nach oben, bis zum Gürtel schon im Wasser, schluchzte laut und schimpfte vor sich hin. Der rostige Koloss rückte näher. Mal schleppte sich Gai vorwärts, das Wasser mit den Armen vor sich wegschaufelnd, mal stürzte er sich ins Wasser und schwamm. Er erreichte das Schiff, versuchte hochzuklettern, schaffte es aber nicht, schwamm dann um das Heck herum, klammerte sich an den Leinen fest und zog sich auf Deck. Dabei stieß er immer wieder gegen die rostige Bordwand, so dass die Haut an Armen und Beinen aufriss und abschürfte.

Stille.

Das Deck war leer. An den durchlöcherten, rostigen Wänden klebten trockene Wasserpflanzen - was aussah, als sei das Metall von filzigem Haar überzogen. Der Bugaufbau hing wie ein großer Pilz über Gais Kopf, und seitlich klaffte ein breiter Riss in der Panzerung. Gai lief zur Rückseite des Aufbaus und entdeckte die noch feuchten Eisenbügel, die nach oben zur Luke führten. Er warf sich die Maschinenpistole über die Schulter und stieg hinauf. Es dauerte lange; eine halbe Ewigkeit stieg er in dieser bedrückenden Stille seinem unvermeidlichen, ewigen Tod entgegen. Er kletterte bis ganz nach oben und verharrte dort auf allen vieren. Das Ungeheuer erwartete ihn schon - mit weit offenem, wohl seit hundert Jahren nicht mehr geschlossenem Schlund, dessen Scharniere schon wieder Rost angesetzt hatten: Bitte näher zu treten! Gai kroch zur Luke und blickte ins Dunkel hinab. In seinem Kopf drehte sich alles, ihm wurde übel. Aus dem eisernen Rachen quoll die Stille wie eine kompakte Masse hervor - Jahr um Jahr angestaute, modrige Stille. Plötzlich stellte Gai sich vor, wie dort, in dieser gelben, der Fäulnis anheimgefallenen Welt, und von der tonnenschweren Stille fast erdrückt, sein Freund Mak kämpfte, allein gegen alle, wie er mit letzter Kraft um sein Leben rang, wie er rief: »Gai! Gai!« Und wie die Stille lächelnd seinen Ruf verschluckte und sich wieder auf ihn wälzte, ihn unter sich erdrückte, würgte, zerquetschte. Gai konnte es nicht mehr ertragen und kletterte in die Luke.

Er weinte, schluchzte, beeilte sich, verlor aber dann den Halt und stürzte polternd einige Meter in die Tiefe. Er fand sich in einem eisernen Schacht wieder - trübe beleuchtet von ein paar verstaubten Lämpchen. Auf dem Boden lag feiner Sand, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Gai

»Was schreist du denn?«, fragte Maxim verärgert, der wie aus dem Nichts auf einmal vor ihm stand. »Was ist passiert? Hast du dir in den Finger geschnitten?«

Gai blieb stehen und senkte die Arme. Er war einer Ohnmacht nahe und musste sich gegen das Schott stützen. Sein Herz hämmerte wild, wie Trommelwirbel dröhnten die Schläge in seinen Ohren, und die Stimme versagte ihm den Dienst. Maxim sah ihn einige Zeit verwundert an und schien dann zu verstehen. Er zwängte sich in den Gang - wieder quietschte durchdringend die Tür - und trat zu ihm, packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn, drückte ihn an sich und umarmte ihn. Einige Sekunden lang lag Gai in seligem Vergessen an seiner Brust, bis er allmählich zu sich kam.

»Ich dachte … man hätte dich hier … dass du hier … dass man dich …«

»Schon gut, schon gut«, beruhigte ihn Maxim sanft. »Es ist meine Schuld, ich hätte dich gleich rufen sollen. Aber hier gibt es so seltsame Dinge, verstehst du.«

Gai machte sich frei, wischte sich mit seinem nassen Ärmel über die Nase, fuhr sich mit der nassen Hand übers Gesicht - und schämte sich.

»Du kommst und kommst nicht«, sagte er böse, mit niedergeschlagenem Blick. »Ich rufe, schieße. War es wirklich so schwer zu antworten?«

»Massaraksch, ich habe nichts gehört«, erwiderte Maxim schuldbewusst. »Weißt du, es gibt ein großartiges Radio hier. Ich habe gar nicht gewusst, dass man so leistungsstarke bei euch baut.«

»Radio, Radio …«, brabbelte Gai und schob sich durch die halbgeöffnete Tür. »Du amüsierst dich, während ich deinetwegen fast um den Verstand komme. Was ist das hier?«

Gai stand jetzt in einem ziemlich großen Raum. Auf dem Boden lag ein vermoderter Teppich, an der Decke hingen drei halbrunde Leuchten, von denen aber nur eine brannte. In der Mitte stand ein runder Tisch, um ihn herum einige Sessel. An den Wänden waren merkwürdige gerahmte Fotos und Bilder zu sehen; die Reste einer Samttapete hingen in Fetzen herab. In einer Ecke knackte und heulte ein großer Rundfunkempfänger - etwas Derartiges hatte Gai noch nie gesehen.

»Das hier ist der Gemeinschaftsraum«, antwortete Maxim. »Schau dich um, hier gibt’s einiges zu sehen.«

»Und die Besatzung?«, fragte Gai.

»Keiner da. Weder Lebende noch Tote. Die unteren Räume sind alle unter Wasser. Ich vermute, sie liegen dort.«

Gai blickte ihn erstaunt an. Maxim hatte sich abgewandt, er schien niedergeschlagen.

»Ich muss dir etwas sagen«, begann er. »Es war wahrscheinlich besser für uns, dass wir es nicht bis zum Inselimperium geschafft haben. Sieh dich mal um.«

Er setzte sich ans Radio und betätigte die Feinregler. Gai wusste nicht, womit er beginnen sollte, und ging schließlich zur Wand hinüber und betrachtete die Fotos. Einige Zeit konnte er mit ihnen gar nichts anfangen. Dann verstand er: Es waren Röntgenaufnahmen. Die Zähne gebleckt, grinsten ihn Schädel an, unscharf, einer wie der andere. Auf jeder Aufnahme prangte eine unleserliche Unterschrift - wie auf einem Autogramm. Die Mitglieder der Mannschaft? Berühmtheiten? Gai zuckte mit den Schultern. Onkel Kaan würde sich damit vielleicht auskennen, aber unsereins, als einfacher Mensch?

In der hinteren Ecke hing ein großes Plakat, sehr malerisch und schön, ein Dreifarbdruck … freilich etwas angeschimmelt … Es zeigte das blaue Meer, aus dessen Wellen - einen Fuß schon auf dem schwarzen Ufer - ein stattlicher Mann trat; er trug eine unbekannte Uniform, war sehr muskulös

Je länger Gai das Plakat betrachtete, desto weniger gefiel es ihm. Es erinnerte ihn an ein anderes, das früher in der Kaserne gehangen hatte: Ein schwarzer Supergardist, ebenfalls mit sehr kleinem Kopf und gewaltigen Muskeln, schnitt einer abscheulichen orangefarbenen Schlange, die aus dem Meer tauchte, mit einer riesengroßen Schere den Kopf ab. Auf der einen Klinge stand »Kämpfende Garde«, auf der anderen »Unsere ruhmreiche Armee«. Soso, sagte Gai zu sich, während er einen letzten Blick auf das Plakat warf. Das werden wir noch sehen. Wir werden sehen, wer wem Zunder gibt, Massaraksch!

Er wandte sich von dem Plakat ab, drehte sich um und blieb wie versteinert stehen: Von dem hübschen lackierten Regal gegenüber starrten ihn die glasigen Augen eines bekannten Gesichts an: Dunkelblonde Ponyfransen über den Augenbrauen, auffällige Narbe auf der rechten Wange, quadratische Gesichtsform - das war Rittmeister Pudurasch, ein Nationalheld. Er war Befehlshaber einer Kompanie in der Brigade der Toten-doch-Unvergessenen gewesen; er hatte elf weiße Submarines versenkt und war in ungleichem Kampf gefallen. Sein Porträt, geschmückt mit einem Kranz Strohblumen, hing in jeder Kaserne, seine Büste zierte jeden Appellplatz. Und hier nun - geschrumpft, die Haut gelb und leblos - war sein Kopf, aber warum? Gai wich zurück, ja, der Kopf war echt. Und daneben stand noch einer: ein fremdes, spitzes Gesicht.

»Mak!«, stöhnte Gai. »Hast du das gesehen?«

»Ja«, antwortete Maxim.

»Das sind Köpfe!«, stotterte Gai. »Richtige Köpfe.«

»Sieh dir die Alben auf dem Tisch an.«

Mühsam löste Gai seinen Blick von der schaurigen Sammlung, drehte sich um und trat zögerlich an den Tisch. Im Radio schrie jemand in einer fremden Sprache, Musik ertönte, und dann sprach wieder jemand mit einer sich einschmeichelnden, samtweichen, ausdrucksvollen Stimme.

Gai nahm das erstbeste Album und schlug den festen Lederdeckel auf. Ein Porträt. Ein merkwürdiges langes Gesicht mit weichem Backenbart von den Wangen bis zu den Schultern, die Haare über der Stirn wegrasiert, eine Hakennase, ungewöhnlicher Schnitt der Augen. Ein unangenehmes Gesicht, man konnte sich nicht vorstellen, dass es lächelte. Eine unbekannte Uniform, darauf in zwei Reihen Medaillen und Abzeichen. War bestimmt ein hohes Tier. Gai blätterte weiter. Derselbe Kerl inmitten anderer, ebensolcher, auf der Kommandobrücke eines weißen Submarine. Auch hier schaut er finster, die anderen dagegen grinsen breit. Unscharf im Hintergrund eine Art Strandpromenade, Gebäude, verschwommene Silhouetten von Palmen oder Kakteen. Nächste Seite. Gai stockte der Atem: ein brennender »Drache« mit schief gerutschtem Turm; aus der offenen Luke hängt der Körper eines Panzergardisten, zwei andere liegen abseits übereinander, und auf ihnen steht breitbeinig dieser Kerl, eine Pistole in der gesenkten Hand und auf dem Kopf eine Kappe, die nach vorne spitz zuläuft. Vom »Drachen« steigt dichter schwarzer Rauch auf. Gai erkannte die Gegend sofort: Es war dieses Ufer, mit seinem Sandstrand und den Dünen dahinter. Gai war innerlich aufs Äußerste angespannt, als er das Blatt wendete - nicht ohne Grund. Nun sah er eine Gruppe Mutanten, etwa zwanzig

Dieselben Mutanten, schon verkohlt. Der Typ steht abseits, mit dem Rücken zu den Leichen, und riecht an einer Blume, während er sich anscheinend mit jemandem unterhält.

Ein riesiger Baum im Wald, behängt mit toten Körpern. Manche hängen an den Armen, andere an den Beinen. Diesmal sind es keine Missgeburten - einer trägt den karierten Overall eines Zöglings, ein anderer eine schwarze Gardistenjacke.

Ein Greis, an einen Pfahl gebunden. Das Gesicht verzerrt, er schreit, hat die Augen zusammengekniffen. Auch hier wieder dieser Kerl - sorgsam überprüft er eine medizinische Spritze.

Und noch mehr erhängte, brennende, versengte Mutanten, Sträflinge, Gardisten, Fischer, Bauern, Männer, Frauen, Greise, Kinder. Ein ganzer Strand voll kleiner Kinder und der Kerl, wie er hinter einem schweren MG hockt. Sie schleifen Frauen … wieder der Kerl mit der Spritze, die untere Gesichtshälfte von einer weißen Maske verdeckt … ein Haufen abgeschnittener Köpfe, der Kerl stochert mit einem Spazierstock in dem Haufen. Hier lächelt er … Eine Panoramaaufnahme: das Ufer, vier brennende Panzer auf den Dünen, im Vordergrund zwei kleine schwarze Gestalten mit erhobenen Armen. Es reichte. Gai schlug das Album zu und schleuderte es von sich. Einige Sekunden saß er still, dann warf er fluchend alle Alben auf den Boden.

»Mit denen willst du dich einigen?!«, schrie er Maxim an, der ihm den Rücken zuwandte. »Die willst du zu uns bringen?

Maxim schaltete das Radio ab.

»Spiel nicht verrückt«, sagte er. »Ich will überhaupt nichts mehr. Und du hast keinen Grund, mich anzubrüllen. Ihr seid selbst schuld, habt eure Chancen verschlafen, Massaraksch, habt alles ruiniert, ausgeraubt, seid verroht wie Vieh! Was soll man jetzt mit euch machen?« Er stand plötzlich vor Gai, packte ihn am Schlafittchen. »Was soll ich jetzt mit euch tun?«, fauchte er. »Was? Was? Du weißt es nicht? Rede doch!«

Gai schwieg und versuchte zaghaft, sich aus dem Griff zu lösen. Maxim ließ ihn los.

»Ich kann’s dir sagen«, fuhr er düster fort. »Keinen darf man hierherbringen. Überall sind Bestien. Die müsste man jagen.« Er hob eins der Alben vom Boden auf und schlug heftig die Seiten um. »Was für eine Welt habt ihr versaut!«, sagte er. »Was für eine Welt! Sieh her!«

Gai schielte über Maks Arm. Diesmal erblickte er keine Gräuel, sondern Landschaftsaufnahmen aus verschiedenen Gegenden. Farbfotos von erstaunlicher Schärfe und Schönheit: blaue Buchten, gesäumt von üppigem Grün, strahlend weiße Städte am Meer, ein Wasserfall in einer Bergschlucht, eine erstklassige Autobahn mit einem Strom verschiedenfarbener Wagen, irgendwelche alten Schlösser, Schneegipfel über den Wolken, jemand, der auf Skiern fröhlich hangabwärts gleitet, lachende Mädchen, die in der Brandung spielen.

»Wo ist das alles geblieben?«, fragte Maxim. »Was habt ihr damit gemacht, ihr verfluchten Kinder von verfluchten Vätern? In Stücke geschlagen, verkommen lassen, gegen Eisen eingetauscht, Menschenskind …« Er legte das Album auf den Tisch. »Gehen wir.«

Wütend stemmte er sich gegen die Tür, stieß sie weit auf - sie knarzte und kreischte - und stürmte durch den Gang.

Auf Deck fragte er: »Hast du Hunger?«

»Hm, ja«, antwortete Gai.

»Gut«, sagte Maxim. »Gleich werden wir essen. Schwimmen wir los.«

Gai erreichte als Erster das Ufer, streifte sofort seinen Stiefel ab, zog sich aus und breitete die Sachen zum Trocknen auf den Sand. Maxim blieb noch im Wasser, und Gai beobachtete ihn besorgt: Allzu tief tauchte sein Freund, zu lange blieb er unter Wasser. Das durfte man nicht, es war gefährlich, wie konnte ihm die Atemluft reichen? Endlich kam Mak heraus: Er zog einen großen, wuchtigen Fisch an den Kiemen hinter sich her. Der guckte verdattert, als könne er nicht fassen, dass ihn jemand mit bloßen Händen gefangen hatte. Maxim schleuderte ihn auf den Sand. »Ich denke, der ist richtig, wenig radioaktiv. Bestimmt auch ein Mutant. Schluck deine Tabletten, ich mache ihn inzwischen zurecht. Man kann ihn roh essen, ich bring’s dir bei - Sashimi heißt das. Kennst du nicht? Gib mal das Messer her.«

Dann, als sie sich satt gegessen hatten - nichts dran auszusetzen, war durchaus genießbar - und nackt im heißen Sand lagen, fragte Maxim nach langem Schweigen: »Wenn wir einer Patrouille in die Arme gelaufen wären und uns ergeben hätten, wohin hätten sie uns gebracht?«

»Wie - ›wohin‹? Dich dahin, wo du deine Strafe zu verbüßen hast, mich an meinen Dienstort … Wieso?«

»Ist das sicher?«

»Sicherer geht’s nicht. Die entsprechende Instruktion stammt vom Generalkommandeur persönlich. Warum fragst du?«

»Jetzt gehen wir die Gardisten suchen«, sagte Maxim.

»Um einen Panzer zu kapern?«

»Nein. Wir nehmen deine Legende: Du wurdest von Missgeburten geraubt, und der Zögling hat dich gerettet.«

»Wir ergeben uns?« Gai setzte sich auf. »Wie denn das? Ich auch? Ich soll zurück unter die Strahlen?«

Maxim schwieg.

»Dann werde ich ja wieder zur Marionette«, flüsterte Gai hilflos.

»Nein«, sagte Maxim. »Das heißt ja, natürlich, aber es wird nicht mehr so sein wie früher. Du wirst zwar ein bisschen zur Marionette, aber jetzt wirst du an etwas anderes, an das Richtige glauben. Das ist natürlich auch nicht besonders gut, aber schon besser, viel besser …«

»Aber warum?«, schrie Gai verzweifelt. »Warum ist das nötig?«

Maxim fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Siehst du, Gai, mein Freund … Es ist Krieg! Entweder haben wir Honti überfallen, oder Honti hat uns angegriffen, ich weiß es nicht. Aber mit einem Wort: Es ist Krieg.«

Entsetzt starrte Gai ihn an. Krieg … ein Atomkrieg, andere gibt es ja nicht mehr … Rada … Gott, aber weshalb denn? Wieder alles von vorn, wieder Hunger, Leid, Flüchtlinge …

»Wir müssen jetzt dort hin«, fuhr Maxim fort. »Die Mobilmachung ist bereits verkündet, alle sind zu den Waffen gerufen. Sogar die Zöglinge wurden amnestiert. Jetzt heißt es ab ins Glied. Und wir beide, Gai, sollten zusammen sein. Du bist ja bei einer Strafeinheit. Es wäre schön, wenn ich dir unterstellt würde.«

Gai hörte kaum zu. Die Finger in die Haare gekrallt, wiegte er sich hin und her und wiederholte immer wieder: »Weshalb. Weshalb. Verflucht sollt ihr sein! Dreiunddreißigmal verflucht.«

Maxim rüttelte ihn an der Schulter. »Nimm dich zusammen«, sagte er streng. »Lass dich nicht gehen! Wir müssen jetzt kämpfen, zum Zusammenklappen bleibt keine Zeit.« Er erhob sich und wischte wieder über sein Gesicht. »Freilich, eure verdammten Türme. Aber Krieg, ein Atomkrieg! Massaraksch, aber auch die Türme werden ihnen nicht helfen …«

»Beeilen Sie sich, Fank, beeilen Sie sich!«


Beeilen Sie sich, Fank, beeilen Sie sich! Ich komme zu spät.

Zu Befehl. Rada Gaal … Sie wurde dem Kompetenzbereich des Herrn Generalstaatsanwalt entzogen und befindet sich in unserer Hand.

Wo?

Bei uns, in der Villa »Kristallschwan«. Ich erachte es als meine Pflicht, noch einmal meine Zweifel am Sinn dieser Aktion auszudrücken. Diese Frau wird uns kaum helfen können, mit Mak fertigzuwerden. Solche wie sie vergisst man leicht, und selbst wenn er …

Sie meinen, Schlaukopf sei dümmer als Sie?

Nein, aber …

Weiß Schlaukopf, wer die Frau entführt hat?

Ich fürchte, ja.

Schön, soll er’s wissen … Das wäre dazu wohl alles. Was weiter?

Sandi Tschitschaku hat den Hampelmann getroffen. Der Hampelmann ist offenbar bereit, ihn mit dem Onkel zusammenzubringen, sofern …

Stop. Was für ein Tschitschaku? Der Breitstirnige Tschik?

Ja.

Der Untergrund interessiert mich im Moment nicht. Was Mak betrifft, war das alles? Dann Folgendes: Dieser verfluchte Krieg hat alle Pläne durcheinandergebracht. Ich verreise jetzt und komme in dreißig, vierzig Tagen wieder. In dieser Zeit, Fank, müssen Sie den Fall Mak abschließen. Bei meiner Rückkehr hat der Mann hier zu sein, in diesem Haus. Übertragen Sie ihm eine Funktion, soll er arbeiten. Beschneiden Sie seine Freiheiten nicht, aber geben Sie ihm zu verstehen - sehr, sehr dezent -, dass Radas Schicksal an seinem Verhalten hängt. Verhindern Sie um jeden Preis, dass sich die beiden sehen. Zeigen Sie ihm das Institut, erzählen Sie, woran

Ja. Wie steht es mit Bewachung?

Lassen wir. Sie wäre zwecklos.

Beschatten?

Nur äußerst vorsichtig. Oder lieber gar nicht. Verschrecken Sie ihn nicht. Hauptsache: Er darf keine Lust bekommen, das Institut zu verlassen. Massaraksch, in so einer Zeit muss ich verreisen. War das jetzt alles?

Eine letzte Frage, verzeihen Sie, Wanderer.

Ja?

Wer ist er eigentlich? Wozu brauchen Sie ihn?

Der Wanderer stand auf, trat ans Fenster und sagte, ohne sich umzuwenden: Ich fürchte ihn, Fank. Dieser Mensch ist sehr, sehr, sehr gefährlich.



17

Zweihundert Kilometer vor der hontianischen Grenze steckte der Militärzug auf dem Abstellgleis einer schmutzigen, tristen Station fest. So lief der frischgebackene Untersoldat Sef, nachdem er sich mit dem Wachposten gütlich geeinigt hatte, schnell zum Hydranten, um Wasser für das Kochen zu holen, und kehrte mit einem Kofferradio zurück. Er berichtete, auf der Station herrsche das reine Chaos, man verlade zwei Brigaden gleichzeitig, die Generale schnauzten einander an und

Im beheizten Güterwagen reagierte man auf diese Nachricht mit einem deftigen, patriotischen Gelächter. Alle vierzig Mann scharten sich sogleich um Sef und versuchten, einen Platz zu ergattern, fluchten und schlugen, wenn gedrängelt wurde, einander ins Gesicht, beschwerten sich übereinander, bis Maxim schließlich raunzte: »Ruhe, ihr Dreckskerle!« Da wurden sie still. Sef schaltete das Radio ein und suchte nacheinander alle Sender.

Bald erfuhren sie sehr interessante Dinge. Erstens stellte sich heraus, dass der Krieg noch gar nicht angefangen hatte. Der Sender »Die Stimme der Väter«, der die ganze letzte Woche hindurch über blutige Schlachten auf dem eigenen Territorium lamentierte, hatte schlichtweg gelogen. Keinerlei blutige Schlachten waren geschlagen worden. Die »Hontianische Patriotische Liga« posaunte entsetzt in die Welt hinaus, diese Banditen und Usurpatoren - die sogenannten Unbekannten Väter - nähmen die niederträchtige Provokation ihrer Knechte, der berüchtigten »Gerechtigkeitsunion von Honti« zum Vorwand, ihre gepanzerten Horden an der Grenze zum leidgeprüften Honti zu konzentrieren. Die »Gerechtigkeitsunion« ihrerseits belegte die »Hontianischen Patrioten« - diese bezahlten Agenten der Unbekannten Väter - ebenfalls mit den schlimmsten Beschimpfungen. Sie schilderte ausführlich, wie man die von den vorangegangenen Kämpfen ermatteten Einheiten mit überlegenen Kräften über die Grenze gedrängt und ihnen die Möglichkeit verwehrt hatte zurückzukehren. Dies wiederum diene den sogenannten Unbekannten Vätern als Vorwand für eine barbarische Invasion, die man nun jede Minute erwarten müsse. Sowohl die »Liga« als auch die »Union« hielten es dabei in fast übereinstimmenden

Der pandeische Rundfunk hingegen beschrieb die Lage in ruhigen Tönen und erklärte unumwunden, dem Staat Pandea sei jedwede Entwicklung dieses Konflikts recht. Die privaten Stationen in Honti und Pandea unterhielten ihre Zuhörer mit fröhlicher Musik und frivolen Quizsendungen, und die beiden Regierungssender der Unbekannten Väter übertrugen ununterbrochen Reportagen von Hasskundgebungen im Wechsel mit Soldatenmärschen. Sef erwischte auch fremdsprachige Sendungen, die aber nur er verstand. So teilte er den anderen mit, dass das Fürstentum Ondol offensichtlich noch existiere, mehr noch - dass es seine räuberischen Angriffe auf die Insel Hazzalg fortsetze. (Außer Sef hatte keiner im Waggon je von diesem Fürstentum oder von der genannten Insel gehört.) Vor allem aber konnten sie über den Empfänger die wechselseitigen, unvorstellbar groben Beschimpfungen der Befehlshaber verschiedener Truppenteile und -verbände mithören, die sobald wie möglich über die zwei völlig ramponierten Eisenbahnlinien ins Hauptaufmarschgebiet vordringen wollten.

»Wieder sind wir nicht zum Krieg bereit, Massaraksch«, sagte Sef und schaltete das Radio aus. Damit war die Diskussion eröffnet.

Man widersprach ihm. Nach Ansicht der meisten rückte mit ihnen eine gewaltige Streitmacht vor, und die Hontianer würden schnell erledigt sein. Für die Kriminellen war das Wichtigste, die Grenze zu überschreiten: Dann sei wieder jeder sein eigener Herr, und sie könnten jede eroberte Stadt drei Tage lang plündern. Die Politischen, also die Entarteten, sahen die Lage düsterer; sie erwarteten von der Zukunft nichts Gutes und erklärten ohne Umschweife, man führe sie

Sef war hungrig und wütend, er wollte schlafen, aber Maxim hinderte ihn daran. »Schlafen kannst du später«, sagte er streng. »Morgen sind wir vielleicht schon an der Front, und bis jetzt haben wir noch über nichts gesprochen.« Sef brummte in seinen Bart, dass es nichts zu bereden gäbe, der Morgen sei klüger als der Abend. Maxim habe doch selbst Augen im Kopf und müsse sehen, in welcher Lage sie sich befänden - mit diesen Kerlen sei unmöglich etwas anzufangen. Maxim wandte ein, davon sei vorerst auch keine Rede, doch habe er immer noch nicht begriffen, weshalb dieser Krieg angezettelt worden sei und wem er nütze, und Sef solle doch bitte schön nicht schlafen, wenn man sich mit ihm unterhalte, sondern seine Meinung äußern.

Sef jedoch hatte dazu keine Lust. Wie käme er denn dazu? Er müsse sehr dringend etwas fressen und hätte es wohl mit einem Milchbart zu tun, der nicht die einfachsten Schlüsse ziehen könne und noch dazu auf Revolution aus sei. Dann knurrte er, gähnte und kratzte sich, wickelte seine Fußlappen neu, schimpfte wieder, und wurde dann - ermuntert, angespornt und getrieben - endlich gesprächig und legte Mak seine Auffassung über die Gründe des Krieges dar.

Seiner Meinung nach gab es mindestens drei, wobei diese sich entweder zu gleichen Teilen auswirkten, oder einer die anderen dominierte. Womöglich existierte sogar noch ein vierter, der aber ihm, Sef, bisher nicht eingefallen sei. In erster Linie ginge es um die Ökonomie, denn jeder wisse: Ist die Wirtschaft räudig, fängt man am besten einen Krieg an, um allen auf einmal das Maul zu stopfen. Wildschwein, der den Einfluss der Ökonomie auf die Politik von vorne bis hinten studiert hatte, habe diesen Krieg schon vor fünf Jahren vorausgesagt. Die Türme seien das eine - Mangel etwas ganz anderes: Einem Hungrigen könne man nicht lange einreden, er sei satt; das verkrafte seine Psyche nicht. Und ein verrücktes Volk zu regieren mache wenig Spaß, zumal Verrückte unempfänglich seien gegen die Strahlung. Der zweite mögliche Grund sei ideologischer Natur. Die Staatsideologie im Land der Väter fuße auf einer äußeren Bedrohung. Anfangs sei das einfach nur eine Lüge gewesen, um Disziplin in die Nachkriegs-Anarchie zu bringen. Dann aber hätten sich diejenigen von der Macht zurückgezogen, die diese Lüge erfunden hatten, ihre Nachfolger aber glaubten nun tatsächlich, Honti wolle ihre Reichtümer plündern. Und wenn man bedenke, dass Honti eine ehemalige Provinz des alten Reiches sei, die sich in schweren Zeiten für unabhängig erklärt hatte, kämen noch kolonialistische Aspekte hinzu: die Dreckskerle wieder zurück ins Reich zu holen und sie vorher hart zu bestrafen. Und schließlich sei noch ein innenpolitischer Grund denkbar. Es gebe schon viele Jahre Streit zwischen dem Departement für Volksgesundheit und den Militärs. Im Prinzip ginge es darum, wer wen schlucke. Das Volksgesundheitsdepartement sei eine unersättliche, ja, unheimliche Organisation. Wenn sich die Kriegshandlungen nun aber einigermaßen erfolgreich entwickelten, könnten die Herren Generale diesen Verein mühelos an die Kandare nehmen. Käme bei dem Krieg jedoch nichts Gescheites heraus, gerieten die Generale unter Druck. Insofern könne

Als Sef an diesem Punkt angelangt war, polterten und ruckten die Puffer, und der Wagen erzitterte. Von draußen waren Schreie, Pfiffe und Hufgetrappel zu hören, und dann setzte sich der Zug mit der Panzer-Strafbrigade in Bewegung. »Und wieder gab’s kein Fressen, keinen Schnaps …«, grölten die Kriminellen.

»Gut«, setzte Maxim das Gespräch fort. »Das klingt alles sehr glaubhaft. Aber wie stellst du dir den Verlauf des Krieges vor, wenn er nun doch beginnt? Was passiert dann?«

Sef raunzte aggressiv, er sei ja wohl kein General, erklärte dann aber trotzdem, wie sich die Dinge für ihn darstellten: »Den Hontianern ist es gelungen, sich in der kurzen Atempause zwischen Welt- und Bürgerkrieg durch einen mächtigen Atomminengürtel gegen ihre einstige Kolonialmacht abzugrenzen. Außerdem verfügen sie zweifellos über Atomartillerie, und ihre Machthaber waren klug genug, diese Reichtümer nicht während des Bürgerkriegs zu verpulvern, sondern für uns aufzusparen. Demzufolge wird sich unsere Invasion etwa folgendermaßen abspielen: An die Spitze des Marsches stellen sie drei oder vier Strafbrigaden der Panzertruppen, lassen reguläre Armee-Einheiten nachdrängen, und hinter den Armisten folgen die Sperrabteilungen der Gardisten mit schweren Panzern, auf denen Emitter installiert sind. Entartete wie ich stürmen vorwärts, um den Strahlenschlägen zu entgehen; die Kriminellen und die Armee drängen in der ihnen suggerierten Kampfbegeisterung nach

Der Zug fuhr jetzt schneller, der Waggon schaukelte heftig. In der Ecke gegenüber saßen die Kriminellen über einem Würfelspiel; die Lampe unter der Decke schlenkerte, und auf einer der unteren Schlafpritschen brabbelte jemand monoton - wahrscheinlich betete er.

Es stank nach Schweiß, Schmutz und Latrine, der Tabakrauch brannte in den Augen.

»Ich denke, dass man das im Generalstab berücksichtigt«, fuhr Sef fort, »und deshalb wird es keine forcierten Angriffe

Sie schwiegen. Dann fragte Maxim: »Bist du sicher, dass wir richtig handeln? Dass hier unser Platz ist?«

»Befehl vom Stab«, knurrte Sef. »Befehl, schön und gut«, wandte Maxim ein, »aber wir haben auch Köpfe auf den Schultern. Möglicherweise wäre es richtiger gewesen, mit Wildschwein zusammen abzuhauen. Vielleicht wären wir in der Hauptstadt nützlicher.«

»Vielleicht«, murmelte Sef. »Vielleicht auch nicht. Du hast doch gehört, Wildschwein rechnet mit Atombombenabwürfen. Dabei werden viele Türme fallen und freie Regionen entstehen. Wenn es aber nicht zu Bombardements kommt? Keiner weiß Genaues, Mak. Ich kann mir gut vorstellen, was für ein Durcheinander jetzt im Stab herrscht. Die Rechten wittern Morgenluft: Jeden Moment können in der Regierung Köpfe rollen, und dann wird dieses ganze Gesindel auf die frei gewordenen Plätze drängen.« Er versank in Gedanken, zauste sich den Bart. »Wildschwein hat von Atombomben gefaselt, aber ich glaube, er ist nicht ihretwegen in der Hauptstadt. Ich kenne ihn, er will diesen Elitaristen schon lange an den Kragen. Gut möglich, dass auch im Stab die Köpfe rollen.«

»Auch dort geht es also drunter und drüber«, sagte Maxim langsam. »Auch sie sind nicht vorbereitet.«

»Wie könnten sie?«, erwiderte Sef. »Die einen träumen davon, die Türme zu vernichten, andere wollen sie behalten. Der Untergrund ist keine politische Partei - ein Mischmasch ist das, Salat mit Seepilzen!«

»Ja, ich weiß«, sagte Maxim, »ein einziger Salat …«

Der Untergrund war nicht nur keine Partei, er war nicht einmal ein Bündnis von Parteien. Die Umstände hatten den Stab in zwei unversöhnliche Lager gespalten: in die absoluten Gegner der Türme und in die absoluten Befürworter. Alle diese Leute standen mehr oder weniger in Opposition zur bestehenden Ordnung, aber, Massaraksch, wie unterschiedlich waren ihre Beweggründe!

Da gab es die Biologisten, denen es völlig gleich war, wer sich an der Macht befand - der Papa; der Spross einer Familie großer Geldleute; der Anführer eines Clans von Bankiers und Industriellen oder eine demokratische Union der Werktätigen. Sie wollten allein, dass die verfluchten Türme verschwänden und sie endlich wieder wie Menschen leben könnten, das heißt, wie früher, in der Vorkriegszeit. Dann gab es die Aristokraten - Überreste der privilegierten Klassen des alten Reichs. Sie bildeten sich immer noch ein, es läge hier ein langanhaltendes Missverständnis vor, und das Volk sei dem legitimen Erben des Kaiserthrons - einem trostlosen, groben Kerl, der soff und an Nasenbluten litt - bis heute treu. Nur diese gemeinen Türme, eine verbrecherische Erfindung von eidbrüchigen Professoren der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, hinderten das gute, einfache Volk daran, seine aufrichtige Ergebenheit für den legitimen Herrscher zum Ausdruck zu bringen. Und dann gab es noch die Revolutionäre, die ebenfalls für die bedingungslose Zerstörung der Türme eintraten - hiesige Kommunisten und Sozialisten, wie zum Beispiel Wildschein. Sie waren in der Theorie beschlagen und von den Klassenkämpfen der Vorkriegszeit kampfgestählt; für sie war die Zerstörung der Türme nur eine notwendige Voraussetzung für die Rückkehr zum natürlichen Verlauf der Geschichte, das Fanal für eine Reihe von Revolutionen, an deren Ende eine gerechte Gesellschaftsordnung stehen sollte. Ihnen hatten sich auch die aufrührerisch gestimmten Intellektuellen wie Sef oder der tote Gel Ketschef

Zum anderen Lager des Untergrunds zählten die Elitaristen, die Liberalen und die Aufklärer. Sie alle waren für die Beibehaltung der Türme. Die Elitaristen - der äußerste rechte Flügel des Untergrunds - waren, wie Sef es ausdrückte, eine Bande von Machtgierigen, die es in die Regierung drängte und dabei bisher keinen Erfolg gehabt hatten: Ein gewisser Kalu der Spitzbube, früher ein prominenter Führer dieser faschistischen Gruppierung, hatte es mittlerweile bis ins Departement für Propaganda geschafft. Die Politbanditen waren bereit, mit aller Gewalt und ohne Bedenken bei der Wahl ihrer Mittel gegen jede Regierung zu kämpfen, der sie nicht selbst angehörten. Die Liberalen waren eigentlich gegen die Türme und gegen die Unbekannten Väter; am meisten jedoch fürchteten sie einen Bürgerkrieg. Sie waren patriotisch, sorgten sich um Ruhm und Macht des Staates und befürchteten daher, die Vernichtung der Türme werde ins Chaos führen, zur Schändung der Heiligtümer und zum irreparablen Zerfall der Nation. Was nun die Aufklärer anging, so waren das zweifellos ehrliche, aufrichtige und kluge Leute. Sie hassten die Tyrannei der Unbekannten Väter, waren kategorisch gegen die Verwendung der Türme zum Betrug an den Massen, hielten sie aber für ein machtvolles Werkzeug zur Erziehung des Volkes. Der heutige Mensch sei von Natur aus ein Wilder, sagten sie, ein Tier. Ihn mit klassischen Methoden zu erziehen, würde viele Jahrhunderte dauern. Ziel der Aufklärer war es daher, das Tier im Menschen auszubrennen, seine animalischen Instinkte abzutöten, ihn das Gute und die Nächstenliebe zu lehren und ihm den Hass auf Unwissenheit, Lüge und Gleichgültigkeit einzuflößen. Diese edle Aufgabe, so die Aufklärer, könne man mit Hilfe der Türme im Laufe einer einzigen Generation bewältigen.

Kommunisten gab es nur wenige - fast alle waren im Krieg oder während des Umsturzes umgebracht worden. Die Aristokraten nahm niemand ernst; die Liberalen wiederum waren zu passiv und wussten oft selbst nicht, was sie wollten. Die einflussreichsten Gruppierungen mit den meisten Anhängern stellten daher die Biologisten, die Elitaristen und die Aufklärer dar. Sie hatten allerdings nahezu nichts gemeinsam. So bestand der Untergrund aus den unterschiedlichsten Gruppierungen, die zwar allesamt für parlamentarische Regierungsformen eintraten, aber weder über ein einheitliches Programm noch über eine einheitliche Führung, eine einheitliche Strategie oder Taktik verfügten.

»Ja, ein Salat«, wiederholte Maxim. »Traurig. Ich hatte gehofft, ihr würdet trotz allem den Krieg irgendwie nutzen - die Schwierigkeiten, die mögliche revolutionäre Situation.«

»Der Untergrund hat doch überhaupt keine Ahnung.« Sefs Gesicht wurde finster. »Woher soll der Untergrund denn wissen, was das bedeutet - Krieg mit Emittern im Nacken?«

»Keinen Heller seid ihr wert!« Maxim konnte sich nicht mehr beherrschen.

Jetzt brauste auch Sef auf. »He, du!«, schimpfte er. »Mal sachte, ja! Wer bist du denn, dass du unseren Wert bestimmen dürftest? Woher kommst du, Massaraksch, dass du dieses und jenes von uns forderst? Du willst einen Kampfauftrag? Bitte sehr: Alles sehen, überleben, zurückkehren, Bericht erstatten. Das erscheint dir zu einfach? Wunderbar. Umso besser für uns. Und jetzt Schluss damit. Ich will schlafen.«

Er drehte Maxim den Rücken zu und herrschte plötzlich die Würfelspieler an: »He, ihr Totengräber! Schlafenszeit! Los, auf die Pritschen!«

Maxim legte sich auf den Rücken, schob die Hände unter den Kopf und starrte an die niedrige Decke des Waggons; dort kroch irgendetwas. Leise und böse beschimpften sich die »Totengräber«,

Alles hier ist morsch, dachte Maxim. Kein einziger lebendiger Mensch. Kein klarer Kopf. Wieder bin ich reingefallen, weil ich auf jemanden, auf irgendetwas gebaut habe. Hier darf man auf nichts hoffen. Auf keinen Menschen sich verlassen. Nur auf sich selbst. Doch was bin ich allein? Soweit ich die Geschichte kenne, kann einer allein absolut nichts erreichen. Vielleicht hat Hexenmeister Recht? Vielleicht sollte ich mich raushalten? Ruhig und ohne Gefühl, von der Höhe meines Wissens um die unausbleibliche Zukunft zusehen, wie es siedet, brodelt und zerschmilzt. Wie sich die naiven, linkischen, ungeschickten Kämpfer erheben, um kurz danach zu fallen. Beobachten, wie der Krieg sie zu Damaszener Klingen schmiedet und zur Härtung in Ströme blutigen Drecks taucht. Zusehen, wie es Leichen auf die Schmiedeschlacke hagelt? Nein, ich kann das nicht. Schon in solchen Kategorien zu denken, ist widerwärtig. Grauenhafte Sache - dieses festgefügte Gleichgewicht der Kräfte. Aber Hexenmeister hat auch gesagt, ich sei stark, eine Kraft in diesem Gleichgewicht. Und da es einen konkreten Feind gibt, findet diese Kraft jetzt ihren Angriffspunkt … Nein, die werden mich hier plattmachen, durchfuhr es ihn plötzlich. Bestimmt. Aber nicht morgen!, sagte er sich entschieden. Erst, wenn ich als Kraft in Erscheinung getreten bin, nicht vorher. Und auch das wollen wir erst mal sehen. Das Zentrum, dachte er, die Zentrale. Die

Im Traum sah er die Sonne, den Mond, die Sterne. Alle auf einmal, so ein seltsamer Traum war das.


Ihm war nur kurze Ruhe vergönnt. Der Zug hielt, quietschend rollte die schwere Tür zur Seite, und eine kräftige Stimme schnauzte: »Vierte Kompanie, raustreten!« Die Uhr zeigte fünf Uhr morgens, es tagte, war neblig, feiner Regen sprühte. Krampfhaft gähnend und von Kälteschauern geschüttelt, kletterten die Männer der Strafbrigade träge aus dem Waggon. Die Korporale standen schon bereit. Ungeduldig und wütend packten sie die Männer an den Beinen, zerrten sie auf

Irgendwie fanden die Abteilungen dann zusammen und nahmen vor den Waggons Aufstellung. Ein armes Würstchen, das sich im Nebel verirrt hatte, lief umher und suchte seinen Zug - von allen Seiten schrie man auf ihn ein. Und Sef, unausgeschlafen und schlecht gelaunt, krächzte mürrisch, aber vernehmlich: »Nur zu, nur zu, stellt uns auf, wir fechten euch heute richtig was aus!« Ein Korporal, der gerade vorbeilief, versetzte ihm eine Ohrfeige, woraufhin Maxim seinen Fuß vorstreckte - und schon lag der Korporal im Dreck. Die Männer lachten laut und voller Genugtuung los. »Brigade, stillgestanden!«, brüllte ein Unsichtbarer. Mit sich überschlagenden Stimmen trugen die Bataillonskommandeure das Kommando weiter. Dann griffen es die Kompaniechefs auf. Die Zugführer aber hasteten immerzu hin und her, denn keiner stand still: Die Strafsoldaten hatten die Hände in die Ärmel gesteckt, waren vor Kälte ganz in sich zusammengekrochen und tänzelten auf der Stelle, und die Glücklichen, die mit Reichtümern gesegnet waren, rauchten. In den Reihen wurde gemunkelt, dass man ihnen heute bestimmt wieder nichts zu fressen gebe und sie sich doch einfach zum Teufel scheren sollten mit ihrem Krieg. »Brigade, rührt euch!«, schrie nun Sef laut. »Zur Pause wegtreten!« Die Mannschaften wollten schon auseinanderlaufen, als die Korporale abermals hin und her hetzten, und man auf einmal glänzende schwarze Mäntel sah: An den Waggons entlang kamen Gardisten gerannt, in auseinandergezogener Reihe, die Maschinenpistolen im Anschlag. Erschrockenes Schweigen folgte, die Mannschaften nahmen hastig Aufstellung, richteten sich aus. Jemand von den Strafsoldaten faltete nach alter Gewohnheit

Eine eiserne Stimme tönte leise, aber gut vernehmbar aus dem Nebel: »Wenn einer von euch Saukerlen das Maul aufreißt, wird geschossen.« Alle erstarrten. Die Minuten zogen sich, schleppten sich dahin, voller Anspannung und böser Erwartung. Der Dunst lichtete sich nun etwas, ließ ein schäbiges Bahnhofsgebäude, feuchte Schienen und Telegrafenmasten erkennen. Rechts, vor der Front der Brigade, hob sich dunkel eine kleine Gruppe von Männern ab. Sie sprachen leise miteinander, dann bellte jemand gereizt: »Befehl ausführen!«

Maxim schielte nach hinten. Dort standen reglos die Gardisten, starrten misstrauisch und hasserfüllt unter ihren Kapuzen hervor.

Aus dem Grüppchen löste sich eine plumpe Figur im Tarnanzug. Es war der Befehlshaber der Strafbrigade, Ex-Oberst der Panzertruppen Anipsu, degradiert und in Haft genommen wegen Schwarzhandels mit staatlichem Kraftstoff.

Er stellte sich vor die Soldaten, fuchtelte mit seinem Stock, riss den Kopf herum und begann seine Rede: »Soldaten! Nein - ich habe mich nicht versprochen: Ich wende mich an euch als Soldaten, obwohl wir alle - ich inbegriffen - noch immer den Abschaum der Gesellschaft bilden. Seid dankbar, dass man euch erlaubt, an den heutigen Kämpfen teilzunehmen. In einigen Stunden werdet ihr fast alle krepiert sein, und das ist gut so. Diejenigen aber, die davonkommen, erwartet ein herrliches Leben: Verpflegung nach Soldatensatz, Schnaps und so weiter. Gleich werden wir Stellung beziehen, und ihr steigt in eure Fahrzeuge. Verlangt wird eine Kleinigkeit - etwa hundertfünfzig Kilometer auf den Ketten vorzudringen. Zu Panzerschützen taugt ihr wie Flaschen zum Hammer, das wisst ihr selbst, aber dafür ist alles, was ihr bekommt, euer. Nehmt es. Das sage ich euch, euer Kampfgefährte Anipsu. Einen Weg zurück gibt es nicht, nur einen

Mit Hilfe der Gardisten gelang es den Korporalen, die Brigade zu einem Marschblock zu formieren. Wieder erscholl das Kommando »Stillgestanden!«. Maxim stand nun dicht beim Brigadekommandeur. Der Ex-Oberst war vollkommen betrunken. Auf seinen Stock gestützt, schwankte er hin und her, wackelte mit dem Kopf und wischte sich immer wieder mit der Faust über seine brutale Visage. Die Bataillonskommandeure, ebenfalls völlig betrunken, hielten sich hinter seinem Rücken - einer kicherte wie blöde, ein anderer versuchte mit stumpfsinniger Hartnäckigkeit, sich eine Zigarette anzustecken, und der dritte griff immerzu nach seiner Pistolentasche und stierte mit blutunterlaufenen Augen in die Reihen. In der Kolonne schnupperte man neidisch dem Geruch des Alkohols hinterher, beifällige Bemerkungen wurden laut. »Los, los …«, knurrte Sef. »Wir fechten’s euch schon aus.« Ärgerlich boxte Maxim ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Halt den Mund«, presste er durch die Zähne. »Es reicht jetzt.«

Unterdessen traten zwei Männer auf den Oberst zu - ein Rittmeister mit Pfeife im Mund und ein massiger Ziviler, in Hut und langem Mantel, den Kragen hochgeschlagen. Der Zivilist kam Maxim irgendwie bekannt vor, und er musterte ihn genauer. Gerade sagte der Mann etwas halblaut zum Oberst. »Hä?«, fragte der und sah den Dicken mit trübem Blick an. Wieder sagte der Zivilist etwas und wies mit dem Daumen über die Schulter auf die Strafbrigade. Der Rittmeister paffte derweil gleichgültig seine Pfeife. »Wozu das?«, bellte der

Und die Brigade setzte sich in Bewegung. In einer aufgeweichten, kettenzerfahrenen Spur stiegen die Strafsoldaten rutschend und sich aneinander festhaltend zu einem morastigen Talweg hinab. Sie bogen ein und entfernten sich allmählich von der Bahnlinie; dann stießen die Zugführer hinzu. Gai ging neben Mak. Er war blass und schwieg lange, obwohl Sef ihn sofort gefragt hatte, was man so höre. Der Talweg wurde allmählich breiter, Strauchwerk zeichnete sich ab, dann ein Wäldchen. Am Wegrand stand, die Ketten in den Schlamm gewühlt, ein riesiger, klobiger Panzer: uraltes Modell, völlig anders als die Patrouillenpanzer des Küstenschutzes, mit kleinem quadratischem Turm und winziger Kanone. Neben ihm hantierten düster dreinschauende Männer in ölverschmierten

»Hör mal, Zugführer«, murmelte Sef, »gibt man uns wirklich nichts zu fressen?«

Gai holte einen Brotkanten aus der Tasche und drückte ihn Sef in die Hand.

»Das ist alles«, sagte er. »Bis zum Grabe.«

Sef ließ das Brot in seinem Bart verschwinden, und sofort begannen seine Kiefer zu mahlen. Ein Wahnsinn ist das, dachte Maxim. Alle wissen, dass sie in den sicheren Tod gehen, und trotzdem gehen sie. Heißt das, sie hoffen noch auf etwas? Hat vielleicht jeder einen Plan? Aber nein, sie wissen ja nichts von der Strahlung … Jeder denkt, irgendwo da vorne biege ich ab, springe aus dem Panzer und werfe mich auf die Erde, sollen doch die anderen Idioten vorstürmen. Und was die Strahlung betrifft, so müsste man Flugblätter schreiben, es auf öffentlichen Plätzen hinausschreien, es über den Rundfunk verbreiten. Freilich laufen die Radios nur auf zwei Frequenzen - egal, dann nutzen wir eben die Sendepausen. Überhaupt sollte man die Leute nicht mehr gegen die Türme einsetzen, sondern für die Konterpropaganda. Aber das kommt alles noch, später … Jetzt darf ich mich nicht ablenken lassen, muss auf alles achten, die kleinste Spalte suchen. Am Bahnhof waren keine Panzer und keine Kanonen, sondern nur die

Sie ließen das Wäldchen hinter sich und hörten auf einmal ununterbrochenes Lautsprechergemurmel, das Knattern von Auspuffen und Gezeter. Auf einem nach Norden hin sanft ansteigenden, grasbewachsenen Hang standen drei Reihen Panzer. Zwischen ihnen patrouillierten Soldaten, ballten sich graublau die Abgaswolken.

»Da sind ja unsere Särge!«, rief jemand in den vorderen Reihen laut und fröhlich.

»Sieh dir an, was sie uns geben«, sagte Gai. »Vorkriegspanzer, Reichsplunder, Konservenbüchsen. Hör mal, Mak, müssen wir wirklich hier verrecken? Denn das ist der sichere Tod.«

»Wie weit ist es von hier bis zur Grenze?«, fragte Maxim. »Und was ist überhaupt hinter dem Hügel?«

»Eine Ebene«, antwortete Gai. »Flach wie ein Tisch. Etwa drei Kilometer entfernt liegt die Grenze, dahinter wieder Hügel, sie ziehen sich.«

»Kein Fluss?«

»Nein.«

»Schluchten?«

»N-nein, ich erinnere mich nicht. Weshalb?«

Maxim griff nach seiner Hand und drückte sie fest.

»Verlier nicht den Mut, Gai. Alles wird gut.«

Voll verzweifelter Hoffnung blickte ihn Gai an. Seine Augen waren eingesunken, die Jochbeine traten hervor. »Meinst du wirklich?«, flüsterte er. »Ich sehe allerdings keinen Ausweg. Die Waffe haben sie mir weggenommen, in den Panzern sind nur Übungsgranaten, und die Maschinengewehre fehlen. Vor uns liegt der Tod und hinter uns auch.«

»Aha«, bemerkte Sef hämisch und stocherte in seinen Zähnen. »Machst dir wohl in die Hosen? Das ist was anderes, als Sträflingen aufs Maul zu schlagen.«

Die Kolonne zwängte sich in eine der Lücken zwischen den Panzerreihen und stoppte. Es wurde schwierig, sich zu unterhalten. Direkt auf dem Boden hatte man riesige Lautsprecher aufgestellt, aus denen ein sonorer Bass vom Tonband verkündete: »Dort, hinter dem Hang der Talsenke, wartet der tückische Feind. Nur vorwärts, vorwärts. Die Hebel anziehen - und vorwärts. Gegen den Feind … Dort, hinter dem Hang der Talsenke, wartet der tückische Feind. Nur vorwärts, vorwärts. Die Hebel anziehen - und vorwärts …« Mitten im Wort brach die Stimme, und der Oberst brüllte los. Er stand auf

»Soldaten!«, brüllte der Oberst. »Genug die Zunge gewetzt. Vor euch stehen die Panzer. An die Maschinen! Vor allem die Fahrer, auf die anderen pfeif ich. Jeder aber, der zurückbleibt …« Er holte seine Pistole hervor und zeigte sie hoch. »Klar, ihr verlausten Schweine? Meine Herren Kompanieführer, bringen Sie die Besatzungen zu den Panzern!«

Sie drängten durcheinander. Der Oberst, der auf dem Kühler hin und her schwankte, grölte noch immer, war aber nicht mehr zu hören, weil die Lautsprecher wieder vom Feind faselten, der auf sie warte … Alle Strafsoldaten stürzten nun zur dritten Panzerreihe, wo es zu einer Prügelei kam. Beschlagene Stiefel wirbelten durch die Luft; die graue Menge wimmelte um die Panzer. Einige setzten sich nun ruckelnd in Bewegung, und die Soldaten, die noch darauf herumkletterten, stürzten hinunter. Der Oberst war vor Anstrengung blau angelaufen und gab über die Köpfe hinweg einen Schuss ab. Sofort liefen aus dem Wald in schwarzer Kette die Gardisten herbei.

»Gehen wir.« Maxim nahm Gai und Sef fest bei den Schultern und führte sie im Laufschritt zu einem Panzer am äußersten Rand der ersten Reihe; er war voller Flecken, dunkel und ließ das Rohr kraftlos hängen.

»Warte«, stammelte Gai verwirrt und blickte sich um. »Wir gehören doch zur vierten Kompanie, die steht da hinten, in der zweiten Linie.«

»Komm schon, los, komm!« Maxim wurde ärgerlich. »Vielleicht willst du auch noch den Zug befehligen?«

»Einmal Soldat, immer Soldat«, knurrte Sef.

Plötzlich packte jemand Maxim hinten am Gürtel. Ohne hinzusehen, versuchte er, sich wieder loszureißen, aber es gelang ihm nicht. Er drehte sich um. Mit einer Hand an ihn geklammert, mit der anderen die blutige Nase wischend, humpelte

»Ach«, sagte Maxim. »Dich hatte ich ganz vergessen. Los, los, nicht zurückbleiben.«

Er ärgerte sich, dass er in dem ganzen Durcheinander seinen vierten Mann vergessen hatte, dem laut Plan eine nicht unbedeutende Rolle zukam. Doch nun knatterten die Maschinenpistolen der Garde los, sprangen pfeifend Kugeln über die Panzerungen. Sie duckten sich und rannten weiter. Hinter ihrem Panzer blieben sie stehen.

»Hört auf mein Kommando!«, befahl Maxim. »Haken, wirf den Motor an. Sef, in den Turm! Gai, überprüfe die unteren Luken. Aber sorgsam, sonst reiß ich dir den Kopf ab!«

Er ging um den Panzer herum und untersuchte die Ketten. In der Nähe wurde geschossen und gebrüllt, die Lautsprecher brabbelten monoton, aber Maxim hatte den festen Vorsatz, sich durch nichts ablenken zu lassen. Gerade schärfte er sich ein: »Lautsprecher - Gai - nicht vergessen«. Die Ketten waren mehr oder weniger in Ordnung, aber die Antriebsräder machten ihm Sorge. Was soll’s, dachte er, wird schon gehen, lange will ich ja nicht mit ihm fahren. Gai kroch geschickt unter dem Panzer hervor, schmutzig und mit zerschundenen Händen.

»Die Luken sind eingerostet!«, rief er. »Ich habe sie nicht zugemacht, sollen sie offen bleiben. Richtig so?«

»Dort, hinter dem Hang der Talsenke, wartet der tückische Feind!«, mahnte die Tonbandstimme. »Nur vorwärts, vorwärts. Hebel anziehen …«

Maxim packte Gai am Kragen und zog ihn zu sich heran.

»Liebst du mich wie einen Bruder?«, fragte er und blickte seinem Freund fest in die Augen. »Vertraust du mir?«

»Ja«, antwortete Gai.

»Höre nur auf mich. Gehorche sonst niemandem. Alles, was sie sagen, ist Lüge. Ich bin dein Freund, ich allein. Merk dir das. Ich befehle: Merk dir das.«

Gai, ganz verwirrt, nickte ein paarmal und wiederholte leise: »Ja, ja. Ja. Nur du. Sonst niemand.«

»Mak!«, schrie ihnen jemand direkt in die Ohren.

Maxim wandte sich um. Vor ihm stand der Zivilist im langen Regenmantel, jetzt allerdings ohne Hut. Massaraksch … quadratisches Gesicht, auf dem sich die Haut schälte, rote, verquollene Augen … Fank! Eine blutige Schramme auf der Wange, die Lippe zerschlagen …

»Massaraksch!« Fank versuchte, den Lärm zu übertönen. »Sind Sie taub geworden, oder was? Erkennen Sie mich?«

»Fank!«, sagte Maxim. »Woher kommen Sie denn?«

Fank wischte sich das Blut von der Lippe. »Verschwinden wir!«, rief er. »Schnell!«

»Wohin?«

»Fort, zum Teufel! Los!«

Er packte Maxim am Overall und zerrte ihn weg. Maxim aber schob seine Hand zurück.

»Sie bringen uns um!«, schrie er. »Die Gardisten!«

Fank schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Passierschein für Sie!« Und er ergänzte, weil Maxim sich nicht rührte: »Ich suche Sie im ganzen Land. Habe Sie kaum gefunden. Kommen Sie, schnell!«

»Ich bin nicht allein«, schrie Maxim.

»Ich verstehe nicht!«

»Ich bin nicht allein!«, wiederholte Maxim noch lauter. »Wir sind zu dritt. Allein gehe ich nicht!«

»Reden Sie keinen Blödsinn! Was soll dieser idiotische Edelmut? Sind Sie lebensmüde?« Fank schluckte, griff sich an die Kehle, und seine Worte erstarben im Husten.

Maxim sah um sich. Gai ließ kein Auge von ihm - bleich, mit zitternden Lippen, an seinen Ärmel geklammert; er hatte alles gehört.

Zwei Gardisten trieben mit Kolbenhieben einen blutbeschmierten Strafsoldaten in den Nachbarpanzer.

»Es ist ein Passierschein!« Fanks Stimme überschlug sich. »Einer!« Er hob einen Finger.

Maxim schüttelte den Kopf.

»Wir sind zu dritt!« Er zeigte drei Finger. »Ohne sie gehe ich nirgendwohin.«

Jetzt schob sich Sefs mächtiger Bart wie ein Reisigbesen aus der Seitenluke. Fank fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Offenbar wusste er nicht, was er tun sollte.

»Wer sind Sie?«, rief Maxim. »Wozu brauchen Sie mich?«

Fank warf ihm einen flüchtigen Blick zu und musterte Gai. »Soll der hier mit?«, fauchte er.

»Ja. Und dieser auch!«

Fanks Augen wurden wild. Er griff unter seinen Mantel, zog eine Pistole hervor und richtete ihren Lauf auf Gai. Mit aller Kraft schlug Maxim seine Hand nach oben, und die Pistole flog hoch in die Luft. Maxim, der selbst noch nicht begriffen hatte, was geschehen war, schaute ihr verstohlen hinterher. Fank krümmte sich und barg die verletzte Hand in seiner Achselhöhle. Und da schlug Gai ihm, knapp und präzise, so wie er es in den Übungen gelernt hatte, gegen den Hals, und Fank stürzte nieder, das Gesicht nach unten. Neben ihnen standen plötzlich Gardisten, verschwitzt, zähnefletschend und nahezu ausgezehrt von ihrer Wut.

»In den Panzer!«, herrschte Maxim Gai an, bückte sich und packte Fank unter den Armen.

Fank war schwer und passte nur mit Mühe durch die Luke. Als Maxim ihm hinterherkletterte, bekam er wie zum Abschied noch einen Kolbenschlag versetzt. Im Panzer war es so kalt und dunkel, wie in einer Gruft. Es roch intensiv nach Diesel.

Sef zerrte Fank von der Luke weg und legte ihn auf den Fußboden. »Was ist das für einer?«, murrte er.

Bevor Maxim antworten konnte, hatte Haken, der den Starter lange und vergeblich gequält hatte, endlich den Motor

Maxim spürte, wie er um den Leib gefasst und hinuntergezogen wurde. Er bückte sich und sah in Gais weit aufgerissene, irr starrende Augen - wie damals im Bomber. Gai hängte sich an ihn, murmelte ununterbrochen vor sich hin. Sein Gesicht war abstoßend und hatte nichts mehr von seiner Jungenhaftigkeit, dem naiven Mut; Maxim las darin nur Wahnsinn und die Bereitschaft zu töten. Es geht los, dachte er voll Abscheu und versuchte, den armen Gai von sich wegzuschieben. Es geht los … Sie haben die Emitter eingeschaltet …

Ruckelnd und vibrierend wühlte sich der Panzer zum Kamm hinauf. Unter seinen Ketten flogen dicke Grasklumpen hervor. Hinter ihnen war durch die dunkle Rauchwolke nichts mehr zu erkennen; vor ihnen breitete sich eine graue lehmige Ebene aus, schimmerten in der Ferne die flachen Hügel auf hontianischer Seite, und die Panzerlawine rollte mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf sie zu. Reihen gab es nicht mehr, alle Fahrzeuge rasten um die Wette, stießen einander an, drehten sinnlos ihre Türme. Einer der Panzer verlor in voller Fahrt eine Kette, kreiste dann auf der Stelle und kippte um. Nun riss auch die zweite Kette und flog wie eine schwere, glänzende Schlange durch die Luft; die Triebräder

Dann besann sich Maxim. Es war an der Zeit, die Steuerung zu übernehmen. Er ließ sich hinuntergleiten, klopfte im Vorübergehen Gai auf die Schulter, klammerte sich an einen Metallbügel und sah sich in dem engen, ruckelnden Kasten um. Fast erstickte er am Gasolingestank. Jetzt entdeckte er Fanks totenbleiches Gesicht mit den verdrehten Augen und Sef, der sich unter dem Granatenbehälter zusammengekrümmt hatte. Er stieß Gai, der ihn wieder bedrängte, zurück und kroch durch zum Fahrer.

Haken hatte die Hebel angezogen und gab Vollgas. Er sang und grölte so laut, dass er das Getöse des Panzers übertönte und Maxim sogar die Worte seines »Dankesliedes« verstehen konnte. Maxim musste ihn jetzt irgendwie zur Ruhe bringen, seinen Platz einnehmen und in all dem Qualm ein geeignetes Versteck finden - einen Hohlweg, eine tiefe Furche oder einen Hügel, wo sie vor den Atomexplosionen Deckung fänden. Aber es lief nicht nach Plan. Kaum hatte Maxim versucht, die verkrampften Fäuste des Fahrers von den Hebeln zu lösen, als

Durch die Kontrollluke war fast nichts zu sehen - nur ein kleiner Ausschnitt des spärlich mit Gras bewachsenen Lehmbodens und, weiter entfernt, ein dichter dunkler Schleier, der von einem Brand herrührte. Unmöglich, in diesem Rauch etwas auszumachen. Es blieb nur eins: die Geschwindigkeit zu drosseln und so lange vorsichtig weiterzufahren, bis der Panzer die Hügel erreichte. Aber auch das war gefährlich, denn die Atomminen konnten auch vorher explodieren, und dann würden sie erblinden, verbrennen … Gai drängte sich mal von rechts, mal von links an ihn heran, schaute ihn an und lauerte auf Befehle.

»Macht nichts, mein Freund …«, brummte Maxim, als er ihn mit den Ellenbogen zurückschob. »Das geht vorbei … Alles geht vorbei, alles … Hab noch ein wenig Geduld …«

Gai sah, dass Mak etwas sagte, und weinte vor Kummer, dass er wieder, genau wie damals im Bomber, kein einziges Wort verstand.

Der Panzer fuhr jetzt durch dichte schwarze Rauchschwaden. Links brannte ein Soldat. Gleich darauf musste Maxim scharf ausweichen, um nicht über einen von Ketten schon fast zerquetschten Toten zu fahren. Ein schiefer Grenzpfahl tauchte aus dem Qualm auf und verschwand wieder, dann folgten niedergerissene, zerfetzte Drahtsperren. Aus einem fast unsichtbaren Graben reckte sich kurz ein Mann in einem seltsamen weißen Helm, schüttelte wütend seine erhobenen Fäuste und verschwand wieder, als hätte ihn die Erde verschluckt. Der Schleier vor ihnen lichtete sich nun ein wenig,

»Sei still!«, befahl Maxim. »Hol diese Leute raus und lege sie neben den Panzer … Halt, ich bin noch nicht fertig. Sei vorsichtig, es sind meine geliebten Freunde, unsere geliebten Freunde.«

»Und wohin willst du?«, fragte Gai entsetzt.

»Ich bleibe hier, in der Nähe.«

»Geh nicht fort«, jammerte Gai. »Oder erlaube, dass ich mitkomme.«

»Du gehorchst mir nicht«, sagte Maxim streng. »Tu, was ich verlangt habe. Vorsichtig. Denk dran, es sind unsere Freunde.«

Gai klagte laut, doch Maxim hörte schon nicht mehr hin. Er kletterte hinaus und lief auf einen der Hügel zu. Nach wie vor drängten die Panzer nach vorn, angestrengt heulten ihre Triebwerke, rasselten die Ketten, donnerten hin und wieder die Kanonen. Hoch am Himmel pfiff eine Granate vorbei. Gebückt lief Maxim den Hügel hinauf, kauerte dort zwischen den Sträuchern nieder und gratulierte sich noch einmal zu der gelungenen Wahl dieses Standorts.

Unten, nur einen Steinwurf von ihm entfernt, lag zwischen zwei Hügeln eine breite Passage, durch die sich eine lange Kolonne von Panzern schob; sie kamen aus der rauchbedeckten Ebene, bogen in die Passage ein und fuhren, dicht gedrängt und Kette an Kette, hintereinander her. Die Panzer waren flach, fast wie plattgedrückt, und wuchtig, hatten mächtige niedrige Türme und lange Kanonen. Das war keine Strafbrigade mehr, das war die reguläre Armee. Verblüfft, fast wie betäubt, beobachtete Maxim dieses Schauspiel; es kam ihm schaurig und unwirklich vor - wie ein Historienfilm. Die Luft schwang und zitterte vom Krachen und Heulen, der Hügel bebte unter seinen Füßen wie ein erschrecktes Tier, und doch schien es ihm, als bewegten sich die Panzer in einem düstren und drohenden Schweigen. Er wusste, dass dort, unter den Panzerplatten, verrückt gewordene Soldaten vor Begeisterung grölten, doch da alle Luken fest verschlossen waren, wirkten die Fahrzeuge wie hermetische Barren unbeseelten Metalls. Nachdem die letzten Fahrzeuge verschwunden waren, drehte sich Maxim um und blickte zurück zu seinem eigenen Panzer, der sich zwischen den Bäumen zur Seite geneigt hatte. Er wirkte wie ein ärmliches Blechspielzeug, wie eine hinfällige Parodie auf das echte Kriegsgerät, das er gerade beobachtet hatte. Ja, dort unten zog eine Macht vorbei, um auf eine

Als er um den Panzer gebogen war, blieb er stehen.

Da lagen sie nebeneinander: Fank, der mit seinem bläulichweißen Gesicht einem Toten ähnelte; Sef, vor Schmerz gekrümmt und stöhnend, die schmutzig-fahlen Finger in den roten Schopf gekrallt, und der heiter lächelnde Haken mit den leblosen Augen einer Puppe. Der Befehl war präzise ausgeführt worden. Doch dort, etwas weiter entfernt, lag auch Gai auf dem Boden - zerschunden und blutbesudelt, das gekränkte, starre Gesicht vom Himmel abgekehrt und die Arme ausgebreitet. Um ihn herum war das Gras zerdrückt und niedergetreten, ein weißer Helm darauf plattgequetscht und mit dunklen Flecken übersät, und aus den zerknickten Sträuchern ragten Füße in Stiefeln.

»Massaraksch …«, murmelte Maxim, schaudernd bei dem Gedanken, dass hier vor wenigen Minuten zwei knurrende, heulende Hunde auf Leben und Tod aneinandergeraten waren, jeder zum Ruhme seines Herrn …

Und in dem Moment antwortete die andere Macht mit einem Gegenschlag.

Er traf Maxim in die Augen. Er schrie auf vor Schmerz, kniff mit aller Kraft die Lider zusammen - und stürzte auf Gai, von dem er wusste, dass er nicht mehr lebte, und den er dennoch mit seinem Körper zu schützen versuchte. Es war ein Reflex; er hatte nichts gedacht, nichts empfunden, nur den Schmerz gespürt und das eigene Fallen. Und dann schaltete sich sein Gehirn aus.

Als er wieder zu sich kam, war er schweißüberströmt, seine Kehle trocken, und sein Kopf dröhnte, als hätte man einen Knüppel darauf zerschlagen. Vermutlich hatte alles nur kurze Zeit gedauert, wenige Sekunden, aber ringsum hatte sich alles verändert. Die Welt war flammend rot, zugeschüttet mit Blättern

Maxim sprang auf, befreite sich von den vielen Zweigen, die auf ihm lagen, und rannte zu Gai. Er packte ihn, riss ihn an sich, blickte ihm in die glasigen Pupillen, schmiegte seine Wange an die seine und verfluchte dreimal diese Welt, in der er so einsam war, so hilflos, und wo die Toten für immer starben, weil es nichts gab und man keine Möglichkeit hatte, sie wieder zum Leben zu erwecken. Er weinte wohl auch, trommelte mit seinen Fäusten auf die Erde, trat auf dem weißen Helm herum - bis Sef einen langgezogenen Schmerzensschrei von sich gab, und er wieder zu sich kam. Ohne sich umzusehen und nichts fühlend außer Hass und Mordlust, schleppte er sich wieder den Hang hinauf zu seinem Beobachtungsstand.

Auch hier hatte sich alles verändert. Die Sträucher waren verschwunden, der Lehm gesintert - er qualmte und knackte, und der Nordhang des Hügels brannte. Noch weiter im Norden verschmolz der tiefrote Himmel mit einer dichten Wand aus schwarzbraunem Rauch, und über dieser Wand stiegen grell orangefarbene, ölig-fettige Wolken auf, die sichtlich anschwollen. Tausende und Abertausende von Tonnen glühender Asche - bis in ihre Atome hinein verbrannte, eingeäscherte

Maxim blickte hinab zu der Passage zwischen den Hügeln. Sie war leer. Der kettenzerwühlte, vom Atomschlag verbrannte Lehm schwelte noch, und Tausende von Flämmchen - glühende Blätter und abgerissene, brennende Äste - tanzten darauf. Die Ebene im Süden wirkte jetzt weit und öde. Sie war nicht mehr geschwärzt von den Abgasen, sondern rot unter dem roten Himmel und gesprenkelt von reglosen schwarzen Schächtelchen - den Panzern der Strafbrigade. Und auf dieser Ebene näherte sich nun eine dünne, durchbrochene Linie von seltsamen Fahrzeugen.

Sie ähnelten Panzern, trugen aber anstelle von Geschütztürmen hohe Gitterkegel mit rundlichen, matt schimmernden Gebilden an der Spitze. Sie bewegten sich schnell vorwärts und federten weich über die Unebenheiten. Sie waren weder schwarz wie die Panzer der Strafsoldaten noch graugrün wie die Armeepanzer, sondern gelb - leuchtend, fröhlich gelb, wie die Streifenwagen der Garde. Die rechte Flanke der Kolonne war schon hinter den Hügeln verschwunden, so dass Maxim insgesamt nur acht Emitter zählte. Die Fahrzeuge machten einen dreisten, unverschämten Eindruck: als fühlten sie sich als die Herren der Lage. Sie fuhren zwar in den Kampf, hielten aber weder Tarnung noch Deckung für notwendig. Stattdessen stellten sie die grelle Farbe, den hässlichen, fünf Meter hohen Buckel und das Fehlen jeglicher Kriegsausrüstung demonstrativ zur Schau. Wer ein solches Fahrzeug steuerte, wähnte sich in vollkommener Sicherheit. Aber darüber dachten sie gewiss nicht nach, sondern jagten einfach vorwärts. Mit ihren Strahlenpeitschen trieben sie die eiserne Herde vor sich her, die jetzt durch ein Inferno rollte, und vermutlich

Er ging hoch aufgerichtet. Ihm war klar, dass er die schwarzen Treiber würde gewaltsam aus ihren Eisenkisten reißen müssen, und er wollte es tun. Nie im Leben hatte er etwas so gewollt, wie nun diese Verbrecher in die Finger zu bekommen. Als er unten angelangt war, rollte das gelbe Fahrzeug direkt auf ihn zu und fixierte ihn aus den Periskopen. Der Gitterkegel schaukelte heftig, aber nicht im selben Rhythmus wie der Unterbau. Jetzt erkannte Maxim, dass sich auf der Spitze des Emitters eine silbrige Kugel wiegte, dicht gespickt mit langen blanken Nadeln.

Sie dachten gar nicht daran zu halten. Maxim machte ihnen den Weg frei und ließ sie vorbeifahren. Dann lief er ein paar Meter nebenher und sprang auf die Panzerung.

FÜNFTER TEIL Erdenmensch


18

Der Generalstaatsanwalt hatte einen leichten Schlaf, und das Summen des Telefons weckte ihn sofort. Ohne die Augen zu öffnen, griff er nach dem Hörer und sagte heiser: »Ich höre.«

Als bäte er um Entschuldigung, säuselte der Referent: »Es ist sieben Uhr, Eure Exzellenz.«

»Ja.« Der Staatsanwalt hielt die Augen noch immer geschlossen. »Ja. Danke.«

Er schaltete das Licht ein, schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Einige Zeit saß er so, den Blick auf seine dürren bleichen Beine geheftet, und dachte traurig und erstaunt darüber nach, dass er, obwohl er nun schon auf die sechzig zuging, sich keines Tages entsinnen konnte, an dem man ihn hätte ausschlafen lassen. Immer hatte ihn jemand geweckt. Als er Rittmeister war, war es dieses Rindvieh von Offiziersbursche, der ihn nach den Besäufnissen aus dem Schlaf riss. Als er Vorsitzender des Sondergerichts war, trieb ihn dieser Dummkopf von Sekretär mit seinen nicht unterschriebenen Urteilen aus dem Bett. Als Gymnasiast wurde er von seiner Mutter geweckt, damit er zum Unterricht ging, und das war die scheußlichste Zeit, das schlimmste Erwachen. Und immer hatte es geheißen: Es muss sein! Es muss sein, Euer Wohlgeboren. Es muss sein, Herr Vorsitzender. Es muss sein, Söhnchen.

Die warme Milch stand schon auf dem Tisch, und unter der gestärkten Serviette stand ein kleines Schälchen mit Salzgebäck. Beides war Medizin für ihn, doch bevor er sie nahm, trat er an den Safe, öffnete ihn, holte eine grüne Mappe heraus und legte sie neben sein Frühstück. Während er das knusprige Gebäck aß und die Milch dazu trank, sah er die Mappe genau durch - bis er sich davon überzeugt hatte, dass sie seit dem Vorabend von niemandem geöffnet worden war. Wie viel sich verändert hat, fuhr es ihm durch den Kopf. Nur drei Monate sind vergangen, und wie hat sich alles verändert. Unwillkürlich starrte er zu dem gelben Telefon hinüber, konnte sekundenlang den Blick nicht lösen. Das Telefon schwieg, es war leuchtend und schön wie ein buntes Spielzeug - und angsteinflößend wie eine tickende Bombe, die sich nicht entschärfen ließ …

Krampfhaft und mit beiden Händen umklammerte der Staatsanwalt die grüne Mappe und schloss die Augen. Er spürte, wie die Angst in ihm hochstieg, und wollte sie schnell bezwingen. Nein, so ging das nicht: Er musste jetzt absolute Ruhe bewahren, kühl und nüchtern überlegen. Eine Wahl habe ich ohnehin nicht. Also muss ich’s riskieren. Ein Risiko, was soll’s. Das gab es immer und wird es immer geben, nur minimal muss man es halten. Und das werde ich tun. Ja, Massaraksch, minimal werde ich’s halten! Sie sind nicht davon überzeugt, Schlaukopf? Ach, Sie zweifeln? Sie zweifeln ständig, Schlaukopf, das steckt eben in Ihnen, Sie Prachtexemplar … Versuchen wir, Ihre Zweifel zu zerstreuen. Haben Sie von einem gewissen Maxim Kammerer gehört? Tatsächlich,

Er aß das letzte Gebäck und trank in einem Zug die Milch aus.

Dann sagte er laut: »Fangen wir an.«

Er schlug die Mappe auf. Die Vergangenheit dieses Menschen liegt im Dunkeln. Natürlich ist das kein sonderlich guter Anfang für eine Bekanntschaft. Aber wir beide wissen ja zum Glück nicht nur, wie man von der Vergangenheit auf die Gegenwart, sondern auch, wie man von der Gegenwart auf die Vergangenheit schließt. Und wenn wir etwas über die Vergangenheit unseres Mak wissen müssen, dann rekonstruieren wir sie eben aus der Gegenwart. Extrapolation nennt man das. Unser Mak beginnt seine Gegenwart damit, dass er aus dem Straflager flieht. Ganz plötzlich. Unerwartet. Genau in dem Augenblick, da der Wanderer und ich die Hände nach ihm ausstrecken. Hier, der panische Bericht des Generalkommandanten - das klassische Gezeter eines Idioten, der Unsinn verzapft hat und jetzt seine Strafe fürchtet. Er sei vollkommen unschuldig, habe immer nach Vorschrift gehandelt und nicht gewusst, dass das Objekt sich freiwillig zu den Pionieren, den Todeskandidaten, gemeldet hätte. Das Objekt aber habe es getan und sei im Minenfeld umgekommen. Er hat es nicht gewusst. Der Wanderer und ich haben es auch nicht gewusst. Aber man hätte es wissen müssen. Das Objekt ist unberechenbar, von ihm hatten Sie Derartiges zu erwarten, Herr Schlaukopf. Ja, damals war ich verblüfft, inzwischen aber wissen wir, was sich ereignet hat: Jemand hatte unserem Mak die Funktion der Türme erklärt, so dass er beschloss, das Land der

Der Staatsanwalt griff zum nächsten Bericht. Ach, dieser Wanderer! Dieses Genie … So hätte ich mich verhalten sollen, so wie er. Ich jedoch war mir sicher, dass Mak umgekommen ist. Süden bleibt nun mal Süden. Aber der Wanderer überschwemmte das ganze Flussgebiet mit seinen Agenten. Ach, der dicke Fank. Seinerzeit habe ich ihn nicht erwischt, ihn nicht an die Kandare nehmen können; der kahle Fettwanst ist mager geworden, während er durch das Land hetzte, schnüffelte und suchte. Sein »Huhn« ist an der Sechsten Trasse am Fieber verreckt; »Tapa das Hähnchen« haben die Bergbewohner geschnappt, und dann ist die Fünfundfünfzig - keine Ahnung, wer dahintersteckt - den Piraten an der Küste ins Netz gegangen. Vorher allerdings hatte sie noch melden können, dass Mak dort gewesen war, sich dann einer Patrouille gestellt hatte und in seine Kolonne zurückgeführt worden war.

So handeln Leute mit Köpfchen: Sie glauben nichts und schonen niemanden. Auch ich hätte mich so verhalten sollen - alle anderen Dinge liegen lassen und mich nur Mak widmen, denn ich hatte ja schon damals begriffen, was der für eine Kraft besitzt. Stattdessen habe ich mich mit Hampelmann angelegt und verloren, und dann habe ich mich auf diesen idiotischen Krieg eingelassen und auch verloren. Und jetzt würde ich wieder den Kürzeren ziehen, doch nun habe ich Glück: Mak ist in der Stadt aufgetaucht, in der Höhle des Löwen, Wanderer, und ich habe früher davon erfahren als der

Der Staatsanwalt spürte Freude in sich aufsteigen, verdrängte sie jedoch sofort. Wieder diese Emotionen, Massaraksch. Ruhig, Schlaukopf, ruhig. Du lernst einen neuen Menschen kennen, und der heißt Mak. Du musst sehr objektiv sein, umso mehr, als dieser neue Mak dem alten überhaupt nicht mehr gleicht. Er ist erwachsen geworden und weiß nun, was man unter Finanzen und Kinderkriminalität versteht. Klüger ist er jetzt, härter. Er hat es bis in den Stab des Untergrunds geschafft (Referenzen: Memo Gramenu und Allu Sef) und seine Mitstreiter wie ein Blitz aus heiterem Himmel mit dem Vorschlag überrascht, Gegenpropaganda zu betreiben. Der Stab hat aufgeheult, denn das bedeutete, dem gesamten Untergrund die wahre Funktion der Türme zu enthüllen, doch Mak hat sie überzeugt. Er hat ihnen Angst gemacht, sie verwirrt; dann haben sie seinen Vorschlag angenommen und ihn mit der Ausarbeitung beauftragt. Schnell und sicher hat er die Situation analysiert. Und sie haben verstanden, mit wem sie zu tun haben. Oder haben es gespürt. Da, die letzte Meldung: Die Fraktion der Aufklärer hat ihn zur Erörterung eines Umerziehungsprogramms hinzugebeten, und er war gern dazu bereit. Hatte gleich eine Menge Ideen. Nicht wer

Der Staatsanwalt lehnte sich im Sessel zurück.

Und da ist noch etwas, was wir brauchen. Ein Bericht über seine Lebensweise: Er arbeitet jetzt viel, sowohl im Labor als auch zu Hause, sehnt sich aber immer noch nach diesem Mädchen, Rada Gaal. Er treibt Sport, hat fast keine Freunde, raucht nicht, trinkt kaum und isst mäßig. Andererseits verrät seine Lebensweise eine klare Neigung zum Luxus. Er kennt seinen Wert: Den Dienstwagen, der ihm in seiner Position zusteht, hat er als etwas Selbstverständliches angenommen und obendrein noch Leistung und äußere Form bemängelt. Auch mit der Zweizimmerwohnung ist er unzufrieden, hält sie für zu eng und bar jeglichen Komforts. Sein Zuhause hat er mit echten Bildern und Antiquitäten ausgestattet und dafür fast seinen gesamten Vorschuss aufgebraucht. Und so weiter. Gutes Material, sehr gutes Material. Übrigens, über wie viel Geld verfügt er zurzeit? Aha, Bereichsleiter im Laboratorium für chemische Synthese. Haben ihm keine schlechte Funktion gegeben. Und sicherlich eine noch bessere in Aussicht gestellt. Ich wüsste gern, was sie ihm gesagt haben, wozu ihn der Wanderer braucht. Fank weiß das, dieses fette Schwein, aber er wird es nicht sagen, eher verreckt er. Wüsste man doch nur, könnte man ihm doch nur aus der Nase ziehen, was er weiß! Mit welcher Freude würde ich ihn anschließend umlegen. Wie er mir das Leben vergällt hat, dieser Dreckskerl. Auch diese Rada hat er mir weggenommen. Dabei käme sie mir jetzt so gut zupass. Rada … Was sie für eine Waffe wäre

Der Staatsanwalt zuckte zusammen: Leise klingelte das gelbe Telefon. Es klingelte nur, weiter nichts. Leise, sogar melodisch. Erwachte für den Bruchteil einer Sekunde zum Leben und erstarrte wieder, als hätte es sich nur in Erinnerung rufen wollen. Ohne es aus den Augen zu lassen, fuhr sich der Staatsanwalt mit zitternden Fingern über die Stirn. Nein, das war eine Fehlverbindung. Natürlich, eine Fehlverbindung. Es kann ja alles Mögliche passieren - ein Telefon ist ein komplizierter Apparat, irgendein Funke konnte übergesprungen sein. Er wischte sich die Finger am Morgenmantel ab. Und im selben Moment klingelte das Telefon los - wie ein Schuss aus nächster Nähe, wie ein Messer an der Kehle, ein Sturz vom Dach auf den Asphalt. Der Staatsanwalt nahm den Hörer ab. Er wollte es nicht, bemerkte nicht einmal, dass er es tat, ja, bildete sich sogar ein, es nicht zu tun, sondern auf Zehenspitzen schnell ins Schlafzimmer zu laufen, sich anzukleiden, den Wagen aus der Garage zu fahren und so schnell es ging davonzujagen … Aber wohin?

»Generalstaatsanwalt.« Er räusperte sich heiser.

»Schlaukopf? Hier ist der Papa.«

Jetzt … Jetzt also … Gleich würde es heißen: Wir erwarten dich in einer Stunde …

»Ich habe deine Stimme erkannt«, murmelte er kraftlos. »Grüß dich, Papa.«

»Hast du den Bericht gelesen?«

»Nein.«

Nicht? Dann komm her, wir tragen ihn dir vor …

»Aus!«, sagte der Papa. »Wir haben’s mit dem Krieg versaut.«

Der Staatsanwalt schluckte. Er musste irgendetwas sagen. Ganz schnell etwas sagen, am besten einen Witz machen. Ein dezentes Witzchen. Gott, verhilf mir zu einem Witz!

»Du schweigst? Und was hatte ich dir gesagt? Lass die Finger davon. Halte dich an die Zivilisten - die Zivilisten, nicht ans Militär. Ach, Schlaukopf …«

»Du bist der Papa«, presste der Staatsanwalt hervor. »Kinder sind nun mal ihren Eltern gegenüber ungehorsam.«

Der Papa kicherte. »Kinder … Und wo steht geschrieben: ›Wenn dein Kind dir den Gehorsam verweigert …‹ Wie heißt es weiter, weißt du’s nicht, Schlaukopf?«

Gott, mein Gott! »Tilge es vom Antlitz der Erde.« So hatte er es damals auch gesagt: »Tilge es vom Antlitz der Erde«, und der Wanderer hatte die schwere schwarze Pistole vom Tisch genommen und zweimal abgedrückt, und das Kind hatte nach seiner durchschossenen Glatze gegriffen und war auf den Teppich gestürzt.

»Hast du dein Gedächtnis verloren?«, meldete sich der Papa. »Ach, Schlaukopf, was wirst du jetzt tun?«

»Ich habe mich geirrt«, krächzte der Staatsanwalt. »Ein Irrtum … Nur wegen Hampelmann …«

»Hast dich geirrt … Na gut, denke darüber nach, Schlaukopf. Überlege. Ich ruf nochmal an.«

Schluss. Weg war er. Und keine Ahnung, wo man ihn erreichen könnte, weinen, ihn anflehen. Aber das wäre dumm. Das hat noch keinem geholfen. Gut, warte … Wart’s nur ab, du Schwein! Mit voller Wucht schlug er seine offene Hand auf die Tischkante, damit sie blutete und schmerzte, damit sie aufhörte zu zittern … Es half ein wenig. Dann aber bückte er sich, öffnete mit der anderen Hand die unterste Schublade, zog den Flachmann heraus, öffnete den Stöpsel mit den Zähnen und nahm ein paar Schluck. Ihm wurde heiß. So … Ruhig … Wir werden ja sehen. Es ist wie beim Wettlauf: Wer ist schneller? Den Schlaukopf kriegt ihr nicht so einfach, er

Ich habe euren Meister. Ich habe Mak. Einen Menschen, der die Strahlen nicht fürchtet. Für den es keine Barrieren gibt. Der die Dinge umordnen will. Der uns hasst. Ein unbeschriebenes Blatt und folglich allen Verführungen offen. Einer, der mir glauben und mich noch treffen wollen wird. Er möchte es ja jetzt schon. Meine Agenten haben ihm gegenüber mehrfach betont, dass der Generalstaatsanwalt gut und gerecht ist, ein echter Kenner der Gesetze und ein wahrer Hüter des Rechts; dass die Väter ihm nicht grün sind und ihn nur dulden, weil sie einander misstrauen. Meine Agenten haben mich ihm gezeigt, heimlich, unter günstigen Umständen. Und mein Gesicht hat ihm gefallen. Die Hauptsache aber ist: Unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit haben sie ihm bedeutet, dass ich weiß, wo die Zentrale ist. Er hat sich hervorragend im Griff - doch in diesem Moment, meinten die Agenten, hat er sich verraten. Über so einen Mann verfüge ich! Einen, der unbedingt die Zentrale einnehmen möchte - und es tun könnte, er als Einziger. Das heißt, bis jetzt habe ich ihn noch nicht, aber die Netze sind geworfen, der Köder ist geschluckt. Und heute ziehe ich die Angel ein. Oder ich bin erledigt … erledigt … erledigt …

Jäh fuhr er herum und starrte entsetzt auf das gelbe Telefon.

Seine Phantasie ließ sich nicht länger zügeln. Wieder sah er dies kleine Zimmer, bespannt mit violettem Samt - stickig, säuerlich riechend, fensterlos. Darin ein kahler, schäbiger Tisch und fünf vergoldete Stühle … Wir, alle anderen, standen: ich, der Wanderer mit den Augen eines begierigen Mörders und

Er zog den Vorhang zurück und lehnte die Stirn an das kühle Glas. Seine Angst hatte er fast erstickt, und um sie endgültig zu besiegen, stellte er sich vor, wie Mak gewaltsam den Maschinenraum der Zentrale stürmte.

Aber das hätte auch Wasserblase mit seiner Leibwache tun können, mit dieser Bande aus Brüdern und Cousins, Neffen, dicken Freunden und Protegés, diesem grässlichen Pack, das noch nie von einem Gesetz gehört hatte und immer nur der einen Regel gefolgt war: Schieße immer als Erster … Man musste schon der Wanderer sein, um die Hand gegen Wasserblase

Er unterbrach sich und trat wieder an den Tisch, warf einen Blick auf das gelbe Telefon, schmunzelte, hob dann den Hörer vom grünen Telefon ab und wählte die Nummer des Stellvertretenden Leiters des Departements für spezielle Untersuchungen.

»Kaulquappe? Guten Morgen, hier Schlaukopf. Wie geht’s? Was macht der Magen? … Na, wunderbar … Der Wanderer ist noch nicht zurück? … Aha. Na gut … Man hat mich eben von oben angerufen und aufgefordert, euch ein bisschen zu inspizieren … Nein, nein, ich denke, eine reine Formalität, ich verstehe sowieso nichts von eurem Kram. Bereite aber schon mal einen Bericht vor … einen Entwurf für das Inspektionsgutachten und so weiter. Und sorge dafür, dass alle an ihren Plätzen sind, wenn ich komme, nicht wie beim vorigen Mal … Hm … Gegen elf, wahrscheinlich … Richte es so ein, dass ich um zwölf wieder gehen kann, mit allen Unterlagen … Na, bis nachher. Gehen wir leiden … Du leidest doch auch? Oder habt ihr womöglich längst ein Schutzmittel und versteckt es nur vor der Obrigkeit? Na, na, war ein Scherz … Bis dann.«

Er legte den Hörer auf und sah auf die Uhr. Viertel vor zehn. Laut seufzend schleppte er sich ins Badezimmer. Wieder dieser Albtraum … ein halbstündiger Alb, gegen den es keinen Schutz gab. Keine Rettung. Der einem die Freude am Leben raubte. Was für ein Jammer: Den Wanderer würde man verschonen müssen.

Die Wanne war bereits voll mit heißem Wasser. Der Staatsanwalt legte seinen Morgenmantel ab, zog das Nachthemd aus und schob sich eine Schmerztablette unter die Zunge. So verlief nun das ganze Leben. Ein Vierundzwanzigstel davon war die Hölle. Mehr als vier Prozent. Die Vorladungen in den Palast nicht mitgerechnet. Na, die würden ja bald wegfallen. Die vier Prozent aber bleiben. Übrigens, das werden wir noch sehen! Wenn alles geregelt ist, befasse ich mich selbst mit dem Wanderer. Dann stieg er in die Wanne, machte es sich bequem und entspannte sich. Gerade wollte er sich ausmalen, wie er sich den Wanderer vorknöpfen würde … Aber er kam nicht mehr dazu. Der bekannte Schmerz schlug in seinen Scheitel ein, schob sich die Wirbelsäule hinunter, krallte sich in jede Zelle, in jeden Nerv und begann daran zu reißen - systematisch, grausam, im Takt seines rasenden Herzens.

Als alles vorbei war, lag er noch ein wenig in matter Erschöpfung. Die Höllenqualen hatten auch ihren Vorteil - jede halbe Stunde Albdruck schenkte ihm ein paar Minuten paradiesischer Wonne. Dann stieg er aus dem Wasser, trocknete sich vor dem Spiegel ab und nahm durch die halbgeöffnete Tür seine frische Wäsche vom Kammerdiener entgegen. Er zog sich an, kehrte ins Arbeitszimmer zurück, trank noch ein Glas warme Milch, diesmal mit Mineralwasser vermischt, und aß dann einen klebrigen Brei mit Baumhonig. Er saß kurze Zeit still, um endgültig zu sich zu kommen, rief dann den Referenten vom Tagesdienst an und trug ihm auf, den Wagen vorfahren zu lassen.

Zum Departement für spezielle Untersuchungen führte eine von üppigen, künstlich anmutenden Bäumen gesäumte Regierungstraße, die um diese Tageszeit völlig leer war. Ohne an den Ampeln zu halten, raste der Chauffeur dahin; ab und zu schaltete er die durchdringende basstiefe Sirene ein. Drei Minuten vor elf rollten sie vor das hohe Eisentor des Departements. Ein Gardist in Paradeuniform trat zu ihnen, bückte sich, erkannte den Staatsanwalt und salutierte. Sogleich tat sich das Tor auf und gab den Blick auf einen üppigen Garten frei, auf weiße und gelbe Wohnblöcke und, dahinter, den gigantischen Glasbau des Instituts, der die Form eines Parallelepipeds hatte. Langsam fuhren sie die Straße entlang, die mit strengen Warnhinweisen zur Geschwindigkeitskontrolle gesäumt war, vorbei an einem Kinderspielplatz, dem Flachbau einer Schwimmhalle und einer fröhlich bunten Klubgaststätte. Ringsum: Grün, Wolken von Grün, dazu die wunderbarste reine Luft und, Massaraksch, ein erstaunlicher Duft; nirgendwo sonst gab es den, weder im Wald noch auf dem Feld. Dieser Wanderer! Das alles hat er sich ausgedacht. Höllische Gelder sind dafür verpulvert worden, aber wie sehr man ihn hier liebt. So muss man leben, so sich einrichten! Unsummen hat es gekostet, der Schwager war damals sehr unzufrieden, ja, ist es jetzt noch. Ein Risiko? Natürlich. Der Wanderer hat etwas riskiert, aber dafür ist sein Departement jetzt auch sein Departement: Hier verrät ihn keiner, stellt ihm niemand Fallen. Fünfhundert Menschen arbeiten hier für ihn, hauptsächlich junge Leute. Sie lesen keine Zeitungen, hören kein Radio - sie haben keine Zeit dafür … Sehen Sie, diese wichtigen wissenschaftlichen Untersuchungen … Strahlung ist hier gar nicht nötig, schießt am Ziel vorbei, genauer gesagt, sie trifft ein ganz anderes. Ja, Wanderer, ich an deiner Stelle würde mir mit den Schutzhelmen noch viel Zeit lassen. Womöglich tust du das auch? Wahrscheinlich. Aber, was viel wichtiger ist: Wie kriegt man dich zu fassen? Wenn sich bloß

Der Wagen hielt, der Referent riss die Tür auf. Der Staatsanwalt stieg aus und ging die Stufen zum verglasten Vestibül hinauf. Kaulquappe und seine Lakaien erwarteten ihn schon. Der Staatsanwalt drückte, gebührende Langeweile im Gesicht, Kaulquappe schlaff die Hand, warf einen Blick auf die Lakaien und gestattete ihnen, ihn zum Lift zu geleiten. Sie betraten ihn nach Protokoll: zuerst der Herr Generalstaatsanwalt, nach ihm der Herr Stellvertretende Departementsleiter, danach der Lakai des Generalstaatsanwalts und der ranghöchste Lakai des Herrn Stellvertretenden Leiters. Die Übrigen verblieben im Vestibül. In Kaulquappes Arbeitszimmer begab man sich ebenfalls förmlich: zuerst der Herr Staatsanwalt und hinter ihm Kaulquappe. Den Lakai des Herrn Generalstaatsanwalts und den Oberlakai Kaulquappes ließen sie hinter der Tür zur Anmeldung zurück. Der Staatsanwalt ließ sich sogleich matt in einen Sessel sinken; Kaulquappe hingegen wurde unruhig, drückte auf den Knöpfen an seiner Tischkante herum und befahl - als nun eine ganze Horde von Sekretären im Zimmer erschien -, Tee zu servieren.

Um sich zu erheitern, beobachtete der Staatsanwalt Kaulquappe ein wenig. Kaulquappe machte den Eindruck, als habe er etwas verbrochen: Er vermied, seinem Gast in die Augen zu sehen, fuhr sich über die Haare und rieb sich krampfhaft die Hände; außerdem hüstelte er unnatürlich und machte andauernd sinnlose, hektische Bewegungen. So war Kaulquappe

Der Staatsanwalt wusste das alles sehr gut: Er hatte Kaulquappe schon dreimal auf die allergründlichste Weise überprüft. Und doch ertappte er sich - während er ihm zusah und sich über ihn amüsierte - bei dem Gedanken, dass Kaulquappe, dieser gerissene Kerl, bestimmt wisse, wo sich der Wanderer befand, und habe nun schreckliche Angst, man könnte ihm dieses Wissen entlocken. Der Staatsanwalt beherrschte sich nicht länger.

»Gruß vom Wanderer«, sagte er lässig, wobei er mit den Fingern auf die Armlehne trommelte.

Kaulquappe warf ihm einen kurzen Blick zu, senkte aber sofort wieder die Augen. »Hm, ja …« Er biss sich auf die Lippe. »Hm, gleich bringt man den Tee …«

»Er hat darum gebeten, dass du ihn anrufst.« Der Staatsanwalt tat noch lässiger.

»Was? Ah, gut … Der Tee wird heute einmalig. Die neue Sekretärin ist geradezu darauf spezialisiert. Das heißt also … ähm … wo soll ich ihn denn anrufen?«

»Ich verstehe nicht«, sagte der Staatsanwalt.

»Ich meine, dass … äh … wenn ich ihn anrufen soll, muss ich doch … ähm … seine Nummer wissen. Er hinterlässt doch nie seine Nummer.« Rot angelaufen vor lauter Qual, hantierte Kaulquappe herum, klopfte mit den Händen auf den Tisch und fand schließlich einen Bleistift. »Wo soll ich anrufen?«

Der Staatsanwalt gab auf. »War nur Spaß.«

»Was … äh … wieso …« Kaulquappes Miene verriet nun in schneller Abfolge die verdächtigsten Emotionen. »Ah! Ein Spaß?« Er lachte gekünstelt. »Da hast du mich ja pfiffig … So ein Spaß! Und ich dachte schon … Ha-ha-ha … Ach, da ist ja auch schon das Teechen!«

Der Staatsanwalt nahm aus den sehr gepflegten Händen der sehr gepflegten Sekretärin ein Glas starken heißen Tee entgegen und sagte: »Schön, jetzt hatten wir unseren Spaß. Aber meine Zeit ist knapp. Wo hast du den Schrieb?«

Nach vielen überflüssigen Bewegungen zog Kaulquappe den Entwurf des Inspektionsprotokolls hervor und gab ihn dem Staatsanwalt. Urteilte man danach, wie er sich wand und krümmte, strotzte das Schriftstück von Falschinformationen, diente dem Ziel, die Inspektoren in die Irre zu führen, und war überhaupt in rein subversiver Absicht verfasst worden.

»So …« Der Staatsanwalt lutschte an einem Stück Zucker. »Was hast du hier … Protokoll der Revision … Laboratorium für Interferenz … Laboratorium für Spektraluntersuchungen … Laboratorium für Integralemission … Ich begreife kein Wort, so ein Kauderwelsch! Wie findest du dich in diesem Kram zurecht?«

»Ich … äh … weißt du, ich werde ja auch nicht draus klug. Ich bin doch von der Ausbildung her … äh … Verwalter, meine Aufgabe … ähm … ist die allgemeine Leitung.«

Kaulquappe verbarg seine Augen, biss sich auf die Lippen, wühlte in seinen Haaren - und schon war sonnenklar, dass es sich hier mitnichten um einen Verwalter handelte, sondern um einen hontianischen Spion der höchsten Qualifikation … Was für ein Typ!

Der Staatsanwalt wandte sich wieder dem Protokoll zu. Er machte eine tiefgründige Bemerkung zur Überziehung der Mittel durch die Gruppe für Leistungssteigerung und fragte, wer Soi Barutu sei - etwa ein Verwandter des bekannten Propaganda-Schriftstellers Moru Barutu? Er kritisierte

Den Abschnitt, der die Arbeit des Sektors Strahlenschutz betraf, überflog er noch flüchtiger. »Ihr tretet auf der Stelle«, erklärte er. »Hinsichtlich des physikalischen Schutzes habt ihr überhaupt nichts erreicht, und was den physiologischen Schutz angeht - noch weniger. Überhaupt ist physiologische Abwehr nicht das, was wir brauchen - warum sollte sich wohl jemand auseinanderschnippeln lassen? Was für ein Unsinn! Die Chemiker hingegen sind tüchtig, haben eine weitere Minute rausgeschunden. Im vorigen Jahr eine, im vorvorigen anderthalb. Was folgt daraus? Es folgt, dass ich, wenn ich eine Pille schlucke, mich statt dreißig Minuten nur noch zweiundzwanzig quäle. Nicht schlecht. Fast dreißig Prozent. Notiere meine Meinung: Das Tempo für die Arbeiten am physikalischen Schutz erhöhen, die Mitarbeiter der Abteilung für chemischen Schutz fördern und motivieren. Das war’s.«

Er warf Kaulquappe die Blätter hin.

»Lass das sauber abtippen, auch meine Einschätzung. Und nun führe mich pro forma, na, sagen wir … äh … bei den Physikern war ich letztes Mal. Bring mich also zu den Chemikern, ich sehe mir an, wie es so bei ihnen ist.«

Kaulquappe sprang auf und hämmerte wieder auf seine Knöpfe. Der Staatsanwalt erhob sich mit dem Ausdruck äußerster Erschöpfung.

In Begleitung von Kaulquappe und dem Tagesreferenten schlenderte er durch die Labors der Abteilung für chemischen

Beanstandungen gab es keine. Alle im Labor waren am Arbeiten oder gaben sich den Anschein - das wusste man bei ihnen nie so genau. An den Geräten blinkten Lämpchen, in den Gefäßen brodelten Flüssigkeiten, es stank und irgendwo quälte man Tiere. Die Räume waren hell, sauber und geräumig. Die Menschen wirkten ruhig und wohlgenährt, Enthusiasmus zeigten sie aber nicht. Sie begegneten dem Inspektor korrekt, aber ohne Zuneigung - auf jeden Fall ließen sie die geziemende Unterwürfigkeit vermissen.

Und fast in jedem Raum - ob Büro oder Labor - hing ein Porträt des Wanderers: über dem Arbeitsplatz, neben Tabellen und Grafiken, an der Wand zwischen den Fenstern, über der Tür, manchmal sogar unter Glas auf dem Tisch. Es waren Fotografien, Bleistift- und Kohlezeichnungen, und eins der Bilder war sogar in Öl. Man sah den Wanderer beim Ballspiel, den Wanderer, wie er eine Vorlesung hielt oder wie er in einen Apfel biss. Mal sah man den Wanderer streng, mal nachdenklich, dann müde oder wütend - und schließlich einen Wanderer, der aus vollem Halse lachte. Diese Bastarde hatten sogar Cartoons auf ihn gezeichnet und sie an die auffälligsten Stellen geheftet. Der Staatsanwalt versuchte sich vorzustellen, dass er ins Arbeitszimmer des Unterjustizrates Filtik träte und dort eine Karikatur auf sich entdeckte. Massaraksch, das war unvorstellbar, unmöglich!

Während er lächelte, auf Schultern klopfte und Hände drückte, dachte er die ganze Zeit, dass er seit vorigem Jahr nun schon das zweite Mal hier war, und alles anscheinend unverändert vorfand, er aber früher nie auf diese Details geachtet

Weiter: Es war der Wanderer, der die Verschwörung der glatzköpfigen Wasserblase aufdeckte - einer unheimlichen Figur, die fest im Sattel gesessen und mit aller Kraft versucht hatte, dem Wanderer als Chef der Abwehr das Wasser abzugraben - und ihm dabei sehr gefährlich wurde. Doch der Wanderer brachte ihn zur Strecke, allein, hat keinem anderen vertraut. Er ist immer offen aufgetreten, hat sich nie versteckt, nur im Alleingang gehandelt - keine Koalitionen, keine Pakte, keine Bündnisse. Drei Chefs des Militärdepartements hat er nacheinander gestürzt - es blieb ihnen nicht einmal die Zeit, »piep« zu sagen, so schnell wurden sie nach oben zitiert und entlassen - bis er erreichte, dass Hampelmann auf den Posten kam -, Hampelmann, der panische Angst hat vorm Krieg. Und vor einem Jahr hat er das Projekt »Gold« vereitelt, das vom Reichsverband für Industrie und Finanzen vorgelegt worden war. Damals schien es, als würde man den Wanderer jeden Augenblick davonjagen, denn den Papa hatte die Vorlage begeistert. Aber irgendwie konnte der Wanderer ihm schließlich doch beweisen, dass der Nutzen des Projekts nur

Und diese weiß bekittelten Rotznasen zeichnen Karikaturen auf ihn!

Der Referent riss die nächste Tür auf, und der Staatsanwalt erblickte seinen Mak. Im weißen Kittel, einen Streifen auf dem Ärmel, hockte er auf dem Fensterbrett und sah hinaus. Würde sich irgendein Justizrat erlauben, während der Dienstzeit auf dem Fensterbrett zu sitzen und Däumchen zu drehen, könnte man ihn ruhigen Gewissens als Nichtstuer und Saboteur abschieben. Im gegebenen Fall aber, Massaraksch, durfte man nichts sagen. Denn, packst du ihn am Schlafittchen, antwortet er glatt: »Erlauben Sie! Ich mache gerade ein Gedankenexperiment. Gehen Sie und stören Sie nicht!«

Der große Mak drehte also Däumchen. Er warf den Eintretenden einen flüchtigen Blick zu und wollte gerade wieder zum Fenster hinausblicken, als er sich noch einmal umwandte und sie genauer betrachtete. Er hat mich erkannt, durchfuhr es den Staatsanwalt. Du hast mich erkannt, mein kluges Kerlchen. Er lächelte Mak höflich zu, klopfte dem jungen Laboranten auf die Schulter, der den Rechner bediente, blieb mitten im Zimmer stehen und schaute sich um.

»Nun, meine Herren«, fragte er in den Raum zwischen Mak und Kaulquappe hinein, »was tut sich hier?«

»Herr Sim« - Kaulquappe lief rot an, zwinkerte und rieb sich die Hände - »erläutern Sie dem Herrn Inspektor, womit Sie - äh …«

»Ich kenne Sie doch«, sagte der große Mak und stand auf einmal zwei Schritte neben dem Staatsanwalt. »Entschuldigen Sie, wenn ich nicht irre, sind Sie der Generalstaatsanwalt?«

Ja, man hatte es nicht leicht mit ihm, denn mit einem Schlag war der sorgfältig durchdachte Plan zum Teufel: Mak dachte gar nicht daran, etwas zu verbergen; er hatte keine Angst, war einfach nur neugierig. Dabei sah er, groß wie er war, auf den Generalstaatsanwalt herab wie auf ein merkwürdiges, exotisches Tier …

Der Staatsanwalt musste improvisieren. »Ja.« Er zeigte sich kühl, verwundert und hörte auf zu lächeln. »Soweit mir bekannt ist, bin ich tatsächlich der Generalstaatsanwalt, obwohl ich nicht verstehe.« Er runzelte die Stirn und blickte Mak aufmerksam an. Der grinste breit. »Ja, natürlich!«, rief der Staatsanwalt aus. »Mak Sim. Maxim Kammerer! Aber, entschuldigen Sie, man hat mir doch gemeldet, Sie seien im Straflager umgekommen. Massaraksch, wie kommen Sie hierher?«

»Eine lange Geschichte.« Mak winkte ab. »Übrigens bin auch ich erstaunt, Sie hier zu sehen. Ich hätte nicht vermutet, dass unsere Arbeit das Justizdepartement interessiert.«

»Ihre Arbeit interessiert Leute, von denen man es am wenigsten erwartet«, erwiderte der Staatsanwalt. Er fasste Mak am Arm, führte ihn etwas weiter weg zu einem Fenster und fragte flüsternd: »Wann können Sie uns die Pillen geben? Ich meine die richtigen, für alle dreißig Minuten.«

»Sind Sie denn auch …?«, fragte Mak. »Ach, ja, natürlich …«

Der Staatsanwalt schüttelte leidvoll den Kopf und verdrehte seufzend die Augen.

»Unser Segen und unser Fluch«, sagte er. »Das Glück unseres Staates und der Kummer seiner Regierenden. Massaraksch, ich bin schrecklich froh, dass Sie am Leben sind, Mak! Ich muss gestehen, dass Ihr Fall einer der wenigen in meiner Laufbahn war, die ein bitteres Gefühl der Unzufriedenheit in mir hinterließen. Nein, nein, versuchen Sie nicht, das zu bestreiten: Nach den Buchstaben des Gesetzes waren Sie schuldig, von dieser Seite her ist alles in Ordnung. Sie haben einen Turm angegriffen, wohl sogar einen Gardisten getötet - dafür streichelt einem niemand über den Kopf. Und doch … Ich gestehe, meine Hand hat gezittert, als ich Ihr Urteil unterschrieb, wie wenn ich ein Kind hätte verurteilen müssen, nehmen Sie’s mir nicht übel. Und letzten Endes war das Ganze doch unser Einfall gewesen, nicht Ihrer, und die Verantwortung liegt …«

»Ich nehm’s Ihnen nicht übel«, unterbrach ihn Mak. »Und Sie sind nicht weit von der Wahrheit entfernt, der Unfug mit diesem Turm war wirklich kindisch. Gott sei Dank hat man uns damals nicht erschossen.«

»Das war alles, was ich tun konnte«, sagte der Staatsanwalt. »Ich erinnere mich, ich war sehr betroffen, als ich von Ihrem Tod erfuhr …« Dann lachte er und drückte freundschaftlich Maks Arm. »Ich bin sehr froh, dass es so gut ausgegangen ist. Und sehr froh, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er sah auf die Uhr. »Hören Sie, Mak, weshalb sind Sie hier? Nein, nein, ich habe nicht vor, Sie festzunehmen, das ist nicht meine Sache, soll sich jetzt die Militärkommandantur mit Ihnen befassen. Doch was machen Sie hier, in diesem Institut? Sind Sie Chemiker? Noch dazu …« Er wies auf den Streifen.

»Ich bin von allem ein bisschen«, antwortete Mak. »Ein bisschen Chemiker, ein bisschen Physiker …«

»Ein bisschen im Untergrund.« Der Staatsanwalt lachte gutmütig.

»Ein kleines bisschen«, entgegnete Mak entschieden.

»Ein bisschen Zauberer …«, sagte der Staatsanwalt.

Mak musterte ihn aufmerksam.

»Ein bisschen Fantast«, fuhr der Staatsanwalt fort, »ein bisschen Abenteurer …«

»Das sind keine Fachgebiete«, wandte Mak ein, »sondern Eigenschaften jedes anständigen Wissenschaftlers, wenn Sie erlauben.«

»Und jedes anständigen Politikers«, fügte der Staatsanwalt hinzu.

»Eine ungewöhnliche Wortverbindung«, parierte Mak.

Der Staatsanwalt warf ihm einen fragenden Blick zu, begriff dann und lachte erneut.

»Ja, die politische Tätigkeit hat ihre Besonderheiten. Politik ist die Kunst, mit sehr schmutzigem Wasser etwas sauber zu waschen. Lassen Sie sich nicht auf Politik ein, Mak, sinken Sie nicht so tief, bleiben Sie bei Ihrer Chemie.« Er sah auf die Uhr und sagte verdrossen: »Verdammt, ich habe jetzt gar keine Zeit, und würde doch so gern mit Ihnen plaudern. Ich habe mir Ihre Akte angesehen; Sie sind eine sehr interessante Persönlichkeit, aber auch sicher sehr beschäftigt …«

»Ja«, stimmte Mak zu, »aber sicher nicht so beschäftigt wie der Generalstaatsanwalt.«

»Aha«, erwiderte der Staatsanwalt und lächelte. »Und dabei will Ihre Obrigkeit uns immerzu einreden, Sie würden Tag und Nacht arbeiten. Das kann ich zum Beispiel von mir nicht behaupten. Ein Generalstaatsanwalt hat mitunter freie Abende. Sie werden sich wundern, aber ich habe eine Menge Fragen an Sie, Mak. Ehrlich gesagt, wollte ich mich schon damals mit Ihnen unterhalten, nach dem Prozess. Aber die Akten, wissen Sie, diese endlosen Akten …«

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagte Mak. »Umso mehr, als auch ich Fragen an Sie habe.«

Na, na, wies ihn der Staatsanwalt im Stillen zurecht. Nicht so offenherzig, wir sind hier nicht allein. Laut aber erwiderte er hocherfreut: »Wunderbar! Soweit es in meinen Kräften steht … Doch jetzt, ich bitte um Entschuldigung, jetzt muss ich eilen.«

Dann drückte er die riesige Pranke - die Pranke seines Mak! Er hatte ihn gefangen, jawohl! Er zappelte schon an seiner Angel! Herrlich hat er mitgespielt, dachte er. Zweifellos möchte er mich treffen - und jetzt ziehe ich die Leine. Der Staatsanwalt blieb in der Tür stehen, schnippte mit den Fingern und wandte sich um.

»Verzeihen Sie, Mak, was machen Sie heute Abend? Mir fällt gerade ein, dass ich freihabe …«

»Heute?«, fragte Mak. »Ehrlich gesagt, ich wollte …«

»Kommen Sie zu zweit!«, rief der Staatsanwalt. »Das ist sogar noch besser. Ich mache Sie mit meiner Frau bekannt, und es wird ein reizender Abend. Ist Ihnen acht Uhr recht? Ich schicke Ihnen den Wagen. Abgemacht?«

»Abgemacht.«

Abgemacht, frohlockte der Staatsanwalt, während er durch die letzten Labors der Abteilung lief, lächelte, auf Schultern klopfte, Hände drückte. Abgemacht, dachte er, während er in Kaulquappes Arbeitszimmer das Protokoll unterschrieb. Abgemacht, Massaraksch, abgemacht, klang es auf dem Heimweg triumphierend in ihm nach.

Er gab dem Chauffeur entsprechende Instruktionen. Er befahl dem Referenten, das Departement zu informieren, dass der Herr Staatsanwalt beschäftigt sei. Er befahl ihm, niemanden zu empfangen, das Telefon abzuschalten und sich selbst zum Teufel zu scheren - aber bitte so, dass er die ganze Zeit über für ihn zu erreichen sei. Er bestellte seine Frau zu sich, küsste sie auf den Hals, wobei ihm flüchtig bewusst wurde, dass sie sich an die zehn Tage nicht gesehen hatten, und bat sie, ein Abendessen herzurichten, ein gutes, leichtes, delikates

Danach verschanzte er sich in seinem Arbeitszimmer, nahm sich wieder die grüne Mappe vor und dachte ein weiteres Mal alles durch, von Anfang an. Nur einmal wurde er gestört: als ein Kurier aus dem Militärdepartement den letzten Frontbericht brachte. Die Front war zusammengebrochen. Irgendjemand hatte die Hontianer auf die gelben Fahrzeuge aufmerksam gemacht, so dass sie in der vergangenen Nacht nahezu 95 % der Emitterpanzer mit Atomgranaten abgeschossen und vernichtet hatten. Über das Schicksal der durchgebrochenen Truppen liefen keine Nachrichten mehr ein. Das war das Ende. Das Ende des Krieges. Das Ende von General Schekagu und General Odu, vom Bebrillten, von Teekessel, Wolke und anderen, Unbedeutenderen. Gut möglich, dass es das Ende des Onkels war. Und selbstredend wäre es das Ende des Schlaukopfs - wenn er kein Schlaukopf wäre …

Er ließ den Bericht in einem Glas Wasser aufweichen und lief im Kreis durch sein Arbeitszimmer. Er war ungeheuer erleichtert. Zumindest wusste er jetzt genau, wann man ihn nach oben beordern würde. Als Erster wäre der Schwiegervater dran; dann würden sie mindestens einen Tag brauchen, um ihre Wahl zwischen Hampelmann und Zahn zu treffen. Dann dürften sie mit dem Bebrillten und Wolke beschäftigt sein. Also noch ein Tag. Teekessel erledigen sie nebenbei; General Schekagu hingegen würde sie allein mindestens zwei Tage kosten. Und danach, erst danach … Aber dann würde es für sie kein »Danach« mehr geben.

Er blieb in seinem Arbeitszimmer, bis sein Gast eintraf.

Dieser machte den allerbesten Eindruck. Er war großartig. Er war so großartig, dass die Frau des Staatsanwalts bei Maks Erscheinen gleich zwanzig Jahre jünger wurde. Sie war eine

»Aber warum sind Sie allein?«, fragte sie verwundert. »Mein Mann hatte von einem Abendessen für vier gesprochen …«

»In der Tat«, bestätigte der Staatsanwalt. »Ich hatte Sie so verstanden, dass Sie mit Ihrem Mädchen kämen. Ich erinnere mich an sie. Ihretwegen wäre sie fast ins Unglück geraten.«

»Sie ist ins Unglück geraten«, sagte Mak ruhig. »Aber darüber reden wir später, wenn Sie erlauben. Wohin soll ich mich setzen?«

Sie speisten lange, tranken ein wenig, waren heiter und lachten viel. Der Staatsanwalt erzählte den neuesten Klatsch. Seine Frau kolportierte gut gelaunt ein paar schlüpfrige Witze, und Mak beschrieb in humorigem Ton seinen Flug mit dem Bomber. Während der Staatsanwalt über diese Schilderung lachte, dachte er entsetzt, was wohl jetzt mit ihm wäre, wenn auch nur eine Rakete ihr Ziel getroffen hätte.

Als sie mit dem Essen fertig waren, entschuldigte sich die Frau des Staatsanwalts und schlug den Männern vor zu beweisen, dass sie in der Lage seien, zumindest eine Stunde ohne die Gesellschaft einer Dame auszukommen. Der Staatsanwalt nahm die Herausforderung an, fasste Mak am Arm und führte ihn in sein Arbeitszimmer, um mit ihm einen Wein zu trinken, wie ihn nur etwa dreißig Leute im Land kosten durften.

Sie machten es sich in einer gemütlichen Ecke bequem, saßen in weichen Sesseln an einem niedrigen Tisch, nippten

Ihm zitterten die Finger, schnell stellte er sein Glas auf den Tisch und begann ohne Umschweife: »Ich weiß, Mak, dass Sie im Untergrund kämpfen, Mitglied des Stabes und ein aktiver Gegner der herrschenden Ordnung sind. Außerdem sind Sie ein geflohener Sträfling und der Mörder einer Panzerbesatzung der Spezialabteilung … Nun zu mir. Ich bin der Generalstaatsanwalt, eine Vertrauensperson der Regierung, in die höchsten Staatsgeheimnisse eingeweiht - und ebenfalls ein Feind der bestehenden Ordnung. Ich biete Ihnen den Sturz der Unbekannten Väter an. Wenn ich sage ›Ihnen‹, dann meine ich Sie und nur Sie: Ihre Organisation betrifft das nicht. Ich bitte Sie zu verstehen, dass die Einmischung des Untergrunds die Sache nur verdirbt. Ich schlage Ihnen ein Komplott vor, das auf der Kenntnis des wichtigsten Staatsgeheimnisses basiert. Ich werde Ihnen dieses Geheimnis mitteilen. Einzig wir beide dürfen es wissen. Erfährt es ein Dritter, werden wir umgehend liquidiert. Bedenken Sie, dass es im Untergrund und seinem Stab von Spitzeln wimmelt. Kommen Sie also nicht auf die Idee, sich jemandem anzuvertrauen, insbesondere nicht Ihren nahen Freunden.«

In einem Zug leerte er sein Glas, ohne zu schmecken, was er da trank.

»Ich weiß, wo die Zentrale liegt. Sie sind der einzige Mensch, der in der Lage ist, sich dieser Zentrale zu bemächtigen. Ich biete Ihnen dafür, wie auch für die nächstfolgenden Schritte, einen ausgearbeiteten Plan an. Sie verwirklichen diesen Plan und stellen sich an die Spitze des Staates. Ich bleibe als Ihr politischer und ökonomischer Berater bei Ihnen, weil Sie von diesen Dingen nichts verstehen. Ihr politisches Programm ist mir in groben Zügen bekannt: die Verwendung der Zentrale zur Umerziehung des Volkes im Sinne von Humanität und Moral, und darauf aufbauend die Errichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung in baldiger Zukunft. Ich habe keine Einwände. Ich bin schon deshalb einverstanden, weil nichts schlimmer sein könnte als die gegenwärtige Situation. Das war’s. Ich habe alles gesagt. Jetzt haben Sie das Wort.«

Mak schwieg. Er drehte das teure Glas mit dem kostbaren Wein in der Hand und schwieg. Der Staatsanwalt wartete. Er hatte das Gespür für seinen Körper verloren. Ihm schien, als sei er gar nicht da, als schwebe er irgendwo in der Himmelsleere, sehe hinunter und erblicke dort eine gemütliche, gedämpft beleuchtete Zimmerecke, den schweigenden Mak und daneben, in einem Sessel, etwas Totes, Erstarrtes, Stummes …

Dann fragte Mak: »Wie groß ist meine Chance, die Eroberung der Zentrale zu überleben?«

»Fünfzig zu fünfzig«, antwortete der Staatsanwalt.

Genauer gesagt: Er glaubte es zu antworten, denn Mak runzelte die Stirn und wiederholte seine Frage, diesmal lauter.

»Fünfzig zu fünfzig.« Die Stimme des Staatsanwalts klang heiser. »Vielleicht mehr. Ich weiß es nicht.«

Wieder schwieg Mak lange.

»Gut«, sagte er endlich. »Wo befindet sich die Zentrale?«



19

Gegen Mittag klingelte das Telefon. Maxim nahm den Hörer ab. Die Stimme des Staatsanwalts sagte: »Bitte Herrn Sim.«

»Am Apparat«, erwiderte Maxim. »Guten Tag.«

Er spürte sofort, dass etwas Schlimmes geschehen war.

»Er ist zurück«, sagte der Staatsanwalt. »Handeln Sie sofort. Ist das möglich?«

»Ja«, presste Maxim durch die Zähne. »Aber Sie hatten mir etwas versprochen …«

»Ich habe noch nichts erreicht«, erwiderte der Staatsanwalt. In seinen Worten lag Panik. »Und jetzt ist es zu spät. Handeln Sie unverzüglich, Sie dürfen keine Minute warten. Hören Sie, Mak?«

»Gut«, stimmte Maxim zu. »War das Ihrerseits alles?«

»Er ist schon unterwegs. In dreißig, vierzig Minuten dürfte er bei Ihnen eintreffen.«

»Verstanden. Ist das jetzt alles?«

»Ja. Los, Mak, los. Gott mit Ihnen.«

Maxim warf den Hörer auf und überlegte einige Sekunden. Massaraksch, alles geht drunter und drüber. Aber ich werde schon noch Zeit finden zum Nachdenken. Er griff wieder nach dem Telefon.

»Professor Allu Sef, bitte.«

»Ich höre!«, bellte Sef.

»Hier ist Mak.«

»Massaraksch, ich hatte doch gebeten, mich heute in Ruhe zu lassen.«

»Halt die Luft an und hör zu. Fahr sofort runter in die Empfangshalle und warte dort auf mich.«

»Massaraksch, ich bin beschäftigt!«

Maxim knirschte mit den Zähnen und schielte zum Laboranten hinüber. Der arbeitete fleißig an seinem Rechner.

»Sef«, begann Maxim noch einmal. »Fahr sofort in die Halle. Verstehst du? Sofort!« Er unterbrach die Verbindung und wählte Wildschweins Nummer. Er hatte Glück: Wildschwein war zu Hause. »Hier Mak. Gehen Sie hinaus auf die Straße und warten Sie dort auf mich, ich habe eine dringende Angelegenheit.«

»Gut«, sagte Wildschwein. »Ich komme.«

Nachdem Maxim den Hörer aufgelegt hatte, griff er in eins der Schreibtischfächer und zog die erstbeste Akte heraus, blätterte darin und überlegte fieberhaft, ob er an alles gedacht hatte. Der Wagen steht in der Garage, die Bombe liegt im Kofferraum, der Benzintank ist gefüllt. Eine Waffe habe ich nicht - was soll’s, ich brauche keine. Die Papiere stecken in meiner Tasche, Wildschwein wartet. Sehr gut, dass mir Wildschwein eingefallen ist. Freilich, er kann ablehnen. Aber nein, das wird er nicht tun. Ich würde es auch nicht. Das wär’s … Anscheinend alles.

Er wandte sich an den Laboranten: »Ich muss weg. Sag, dass ich im Departement für Bauwesen bin. In ein, zwei Stunden komme ich zurück. Bis dann.«

Er klemmte sich die Akte unter den Arm, verließ das Labor und lief die Treppe hinunter. Sef rannte bereits in der Halle hin und her. Als er Maxim erblickte, blieb er stehen, verschränkte die Hände auf dem Rücken und zog eine Grimasse.

»Welcher Satan, Massaraksch …«, rief er von fern.

Ohne sich aufzuhalten, zog Maxim ihn zum Ausgang.

»Was ist los?« Sef sträubte sich. »Wohin? Weshalb?«

Maxim schob ihn durch die Tür und zerrte ihn auf dem Asphaltweg um die Ecke zu den Garagen. Ringsum war alles leer, nur ein Rasenmäher puffte und knatterte auf einem entfernten Wiesenstück.

»Wohin schleppst du mich denn?«, schrie Sef.

»Sei still«, sagte Maxim. »Und hör zu. Sammle sofort alle von uns. Alle, an die du rankommst. Zum Teufel mit deiner

»Und weiter?«, fragte Sef ungeduldig.

»In etwa dreißig Minuten wird der Wanderer zum Tor fahren …«

»Er ist zurück?«

»Unterbrich mich nicht. Ungefähr in dreißig Minuten wird der Wanderer auf das Tor zufahren. Wenn nicht, ist’s gut. Dann bleibt ihr einfach sitzen und wartet auf mich. Kommt er aber - erschießt ihn!«

»Bist du übergeschnappt?« Sef blieb stehen. Maxim ging weiter, und Sef lief ihm fluchend nach. »Wir werden doch alle abgeknallt, Massaraksch! Die Wache! Ringsum sind lauter Spitzel.«

»Tut, was in euren Kräften steht«, sagte Maxim. »Der Wanderer muss beseitigt werden.«

Sie waren vor der Garage angelangt. Er lehnte sich mit ganzer Kraft gegen den Riegel und schob die Tür auf.

»So eine Schnapsidee«, murrte Sef. »Weshalb? Warum den Wanderer? Ist doch ein recht anständiger Kerl, hier mögen ihn alle …«

»Wie du willst«, entgegnete Maxim kalt. Er öffnete den Kofferraum, fühlte durch das Ölpapier den Zeitzündermechanismus und schlug die Haube wieder zu. »Mehr kann ich dir jetzt nicht erklären. Wir haben eine Chance. Eine einzige.« Er setzte sich ans Steuer und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. »Und noch was: Erledigt ihr diesen anständigen Kerl nicht, erledigt er mich. Dir bleibt wenig Zeit. Handle, Sef.«

Er warf den Motor an und fuhr im Rückwärtsgang langsam aus der Garage.

Sef stand an der Tür. Zum ersten Mal sah Maxim ihn so: verblüfft, fassungslos, erschrocken. »Leb wohl, Sef«, flüsterte er für alle Fälle vor sich hin.

Der Wagen rollte zum Tor. Unbewegten Gesichts und ohne Eile notierte der Gardist die Nummer, öffnete den Kofferraum, schaute hinein, schloss ihn wieder, kehrte zu Maxim zurück und fragte streng: »Was führen Sie mit sich?«

»Ein Refraktometer.« Maxim hielt ihm seinen Passierschein und die Ausfuhrerlaubnis hin.

»Refraktometer RL-7, Inventarnummer …«, brabbelte der Gardist. »Ich schreib’s gleich auf.«

In aller Ruhe kramte er in seiner Tasche nach dem Notizbuch.

»Bitte etwas schneller, ich habe es eilig«, bat Maxim.

»Wer hat die Genehmigung unterschrieben?«

»Weiß ich nicht, wahrscheinlich der Verwaltungschef.«

»Sie wissen es nicht. Hätte er leserlich unterschrieben, wäre alles in Ordnung.«

Endlich öffnete er das Tor. Maxim lenkte seinen Wagen auf die Straße und holte aus ihm heraus, was er hergab. Misslingt es, dachte er, und bleibe ich am Leben, muss ich verschwinden. Verfluchter Wanderer, er hat’s gespürt, dieser Hundesohn, ist zurückgekehrt. Und was mache ich, wenn’s gelingt? Nichts ist vorbereitet, Schlaukopf hat weder einen Grundriss des Palastes noch Fotografien der Väter besorgen können. Die Jungs stehen nicht bereit, wir haben keinen Aktionsplan. Verdammter Wanderer! Drei Tage hätte ich noch zum Ausarbeiten des Plans gehabt. Wahrscheinlich muss ich es so machen: der Palast, die Väter, Telegraf und Telefon, die Bahnhöfe, eine Eildepesche an die Straflager - der General soll all unsere Leute sammeln und herkommen. Massaraksch, ich habe keine Ahnung, wie man die Macht ergreift. Und dann ist da ja noch die Garde, die Armee und der Stab, Massaraksch! Die werden doch sofort aktiv! Mit ihnen muss man anfangen. Nun, das ist Wildschweins Sache, er wird sich gern damit befassen, kennt sich ja aus. Aber irgendwo in der Ferne gibt’s noch die weißen Submarines. Massaraksch, es ist doch noch Krieg!

Er schaltete das Radio ein. Über einen schmissigen Marsch hinweg schrie ein Sprecher mit absichtlich heiserer Stimme: »… wieder und wieder ist vor der ganzen Welt die unendliche Weisheit der Unbekannten Väter demonstriert worden - diesmal ihre militärische Weisheit! Als sei von neuem das strategische Genie Gabellus und des Eisernen Kriegers erwacht! Als hätten sich von neuem die ruhmreichen Schatten unserer kriegerischen, unbesiegbaren Ahnen erhoben und an der Spitze unserer Panzerkolonnen in den Kampf gestürzt! Die hontianischen Provokateure und Kriegstreiber haben solch eine Niederlage erlitten, dass sie fortan niemals mehr wagen werden, die Nase über ihre Grenze zu stecken oder die Hand nach unserem heiligen Land auszustrecken! Armadas von Bombenflugzeugen, Raketen und Lenkgeschossen haben die hontianischen Möchtegern-Krieger auf unsere Städte gehetzt, doch hat nicht die Strategie brutaler Gewalt und gierigen Drucks gesiegt, sondern unsere weise Strategie der genauesten Berechnung und ständigen Bereitschaft zur Abwehr des Feindes. Nein, nicht vergebens haben wir Entbehrungen erduldet, als wir die letzten Groschen für die Stärkung der Verteidigung, für die Schaffung des undurchdringlichen Panzers der Raketenabwehr ausgegeben haben! ›Unser RAS hat auf der Welt nicht seinesgleichen‹, erklärte erst vor einem halben Jahr der Feldmarschall im Ruhestand, der zweifache Träger des Goldbannerordens Isa Petrozu. Alter Kämpfer, du hattest Recht. Keine einzige Bombe, keine Rakete, kein Geschoss sind auf das heilige Land der Unbekannten Väter gefallen! ›Das unüberwindliche Netz der Stahltürme ist nicht nur ein unbezwingbarer Schild, es ist ein Symbol des Genies und übermenschlichen Scharfsinns derjenigen, denen wir alles verdanken - unserer Unbekannten Väter‹, schreibt in der heutigen Ausgabe …«

Maxim schaltete das Radio aus. Ja, der Krieg ist wohl zu Ende. Aber wer weiß, was sie sich sonst noch alles überlegen.

»Guten Tag, Mak«, sagte er. »Was ist passiert?«

Maxim wendete und fuhr wieder auf die Hauptstraße. »Wissen Sie, was eine thermische Bombe ist?«, fragte er.

»Ich habe davon gehört«, erwiderte Wildschwein.

»Gut. Hatten Sie irgendwann mit Synchronzündern zu tun?«

»Gestern zum Beispiel.«

»Ausgezeichnet.«

Einige Zeit fuhren sie schweigend. Hier war viel Verkehr, und Maxim musste sich konzentrieren, um sich zwischen riesigen Lastwagen und alten, stinkenden Autobussen hindurchzulavieren, keinen Wagen zu streifen und sich von keinem streifen zu lassen, grünes Licht zu erwischen, und dann wieder grünes Licht zu erwischen, um zumindest die klägliche Geschwindigkeit zu halten, in der sie vorankamen. Schließlich schoss ihr Wagen auf die Waldchaussee hinaus - auf jene ihm gut bekannte, rechts und links von riesigen Bäumen gesäumte Autobahn.

Komisch, dachte Maxim plötzlich. Genau auf dieser Straße bin ich in die hiesige Welt gekommen, genauer gesagt, der arme Fank hat mich hineinchauffiert, und ich habe nichts begriffen und geglaubt, er sei Spezialist für Fremde aus dem All. Nun rolle ich auf derselben Straße vielleicht wieder aus dieser Welt hinaus - womöglich sogar aus aller Welt - und nehme zudem einen wertvollen Menschen mit. Er warf einen Blick

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Wildschwein«, sagte er.

»Tatsächlich?« Wildschwein drehte ihm sein hageres, gelbliches Gesicht zu.

»Wissen Sie noch, einmal, bei einer Sitzung des Stabes, haben Sie mich beiseitegenommen und mir ein paar wertvolle Ratschläge gegeben.«

»Ich erinnere mich.«

»Dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich habe Ihren Rat beherzigt.«

»Ja, das ist mir nicht entgangen. Sie haben mich damit sogar ein bisschen enttäuscht.«

»Aber Sie hatten damals Recht«, sagte Maxim. »Ich habe auf Sie gehört und dadurch nun die Möglichkeit, in die Zentrale vorzudringen.«

Wildschwein zuckte zusammen. »Jetzt?«, fragte er schnell.

»Ja. Wir müssen uns beeilen, ich konnte nichts vorbereiten. Möglich, dass man mich tötet und dann alles vergebens war. Für den Fall habe ich Sie mitgenommen.«

»Ich höre.«

»Ich gehe in das Gebäude, Sie bleiben im Wagen. Nach einiger Zeit wird es Alarm geben, eventuell sogar eine Schießerei. Das hat Sie nicht zu interessieren, Sie warten weiterhin im Wagen. Sie warten …« Maxim überschlug es in Gedanken. »Sie warten zwanzig Minuten. Erhalten Sie in dieser Zeit einen Strahlenschub, ist alles glatt gelaufen. Und Sie können glücklich lächelnd in Ohnmacht fallen. Wenn aber nicht - dann steigen Sie aus. Im Kofferraum liegt eine Bombe mit Synchronzünder, der auf zehn Minuten eingestellt ist.

Wildschwein dachte kurz nach.

»Gestatten Sie mir, jemanden anzurufen?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Maxim.

»Schauen Sie«, erklärte Wildschwein, »wenn Sie nicht umkommen, brauchen Sie Leute, die bereit sind zu kämpfen. Tötet man Sie aber, brauche ich diese Leute. Sie haben mich doch für den Fall mitgenommen, dass man Sie tötet. Allein kann ich nur einen Anfang machen, und die Zeit wird knapp sein, so dass die anderen beizeiten benachrichtigt werden sollten. Genau das will ich tun.«

»Reden Sie vom Stab?«, fragte Maxim feindselig.

»Ganz und gar nicht. Ich habe meine eigene Gruppe.«

Maxim schwieg. Der fünfstöckige graue Bau mit der Steinmauer davor war schon zu sehen. Maxim kannte ihn gut … Irgendwo dort huschte Fischi durch die Gänge, brüllte und geiferte aufgebracht das Nilpferd. Dort war die Zentrale. Der Kreis schloss sich.

»Einverstanden«, murmelte Maxim. »Am Eingang ist ein Münzfernsprecher. Wenn ich das Gebäude betreten habe - nicht früher! -, können Sie aussteigen und telefonieren.«

»Gut«, sagte Wildschwein.

Sie näherten sich der Autobahnausfahrt. Maxim erinnerte sich plötzlich an Rada und versuchte sich auszumalen, was mit ihr würde, wenn er nicht zurückkehrte. Schlecht würde es ihr ergehen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde man sie, im Gegenteil, auch freilassen. Dennoch wäre sie allein. Gai nicht da, ich nicht da. Armes Mädchen …

»Haben Sie Familie?«, fragte er Wildschwein.

»Ja. Meine Frau.«

Maxim biss sich auf die Lippe. »Verzeihen Sie, dass es sich so unglücklich gefügt hat«, bat er.

»Das macht nichts.« Wildschweins Stimme klang ruhig. »Ich habe mich verabschiedet. Ich verabschiede mich immer, wenn ich das Haus verlasse. Das hier ist also die Zentrale? Wer hätte das gedacht.«

Maxim hielt auf dem Parkplatz, nachdem er das Auto zwischen einen klapprigen Kleinwagen und eine Luxuslimousine der Regierung gezwängt hatte.

»Das war’s«, seufzte er. »Wünschen Sie mir Erfolg.«

»Von ganzem Herzen«, erwiderte Wildschwein. Seine Stimme brach, und er räusperte sich. »Dass ich diesen Tag noch erlebe …«

Maxim lehnte die Wange gegen das Steuer. »Schön wäre es, diesen Tag zu überleben«, sagte er. »Den Abend zu sehen …«

Wildschwein sah ihn besorgt an.

»Ich habe keine Lust zu gehen«, erklärte Maxim. »Gar keine Lust. Übrigens, Wildschwein, merken Sie sich und erzählen Sie auch Ihren Freunden, dass Sie nicht auf der inneren Oberfläche einer Kugel leben. Sie leben auf ihrer äußeren Oberfläche. Und es gibt eine Vielzahl solcher Kugeln auf der Welt. Auf einigen lebt man wesentlich schlechter als bei Ihnen, auf anderen sehr viel besser. Nirgendwo aber lebt man dümmer. Sie glauben mir nicht? Ach, scheren Sie sich zum Teufel … Ich muss los.«

Er stieß die Tür auf und stieg aus, überquerte den asphaltierten Parkplatz und ging, Stufe für Stufe, die steinerne Treppe hinauf. In seiner Tasche befand sich ein Passierschein für den Eingang, ausgestellt vom Generalstaatsanwalt, ein Passierschein für den Inneren Bereich, den der Staatsanwalt irgendwo für ihn gestohlen hatte, sowie eine einfache rosa Karte - als Ersatz für einen weiteren Passierschein, den der Staatsanwalt weder hatte ausstellen noch für ihn stehlen können. Es war heiß, der Himmel glänzte wie Aluminium. Dieser undurchdringliche Himmel der bewohnten Insel … Die steinernen Stufen sengten durch die Schuhsohlen, aber vielleicht

Er öffnete die Glastür und hielt dem Gardisten den ersten Passierschein hin. Dann ging er durch die Halle - vorbei an dem Mädchen mit der Brille, das noch immer am Stempeln war, und vorbei am Empfangschef mit dem lächerlichen Kopfputz, der sich am Telefon noch immer mit jemandem stritt. Bevor er in den Gang einbog, zeigte er einem anderen Gardisten den Passierschein für den Inneren Bereich. Der Gardist nickte ihm zu - sie waren schon, konnte man sagen, Bekannte, denn in den letzten drei Tagen hatte Maxim sich täglich hier gezeigt.

Weiter.

Er ging einen langen Flur ohne Türen entlang und bog dann nach links. Hier war er erst zum zweiten Mal. Das erste

Jetzt reichte er dem Korporal seinen Passierschein für den Innenbereich und warf einen Blick auf die zwei baumstarken Gardisten mit Maschinenpistolen, die unbeweglich zu beiden Seiten der gegenüberliegenden Tür standen. Dann schielte er zu der Tür, durch die er zu gehen hatte: »Abteilung für Sondertransporte«. Der Korporal studierte aufmerksam den Passierschein, drückte dann, die Augen immer noch auf den Schein gerichtet, einen Knopf in der Wand, und hinter der Tür ertönte ein Klingelzeichen. Sicher macht sich jetzt der Offizier bereit, der dort neben dem grünen Vorhang sitzt. Oder zwei Offiziere. Vielleicht sogar drei … Und warten darauf, dass ich hereinkomme. Erschrecke ich oder weiche zurück, stehen gleich der Korporal und die Gardisten vor mir, die die Tür ohne Schildchen bewachen. Und hinter dieser Tür hockt sicher ein ganzer Haufen von Soldaten …

Der Korporal gab ihm den Passierschein zurück. »Bitte. Halten Sie Ihre Papiere bereit.«

Maxim zog seine rosafarbene Pappe hervor, öffnete die Tür und trat ein.

Massaraksch!

So war das also.

Nicht ein Zimmer, sondern drei. In einer Flucht. Und erst ganz am Ende die grüne Portiere. Bis zu diesem Vorhang ein Teppichläufer. Mindestens dreißig Meter.

Und nicht zwei Offiziere, nicht drei Offiziere: Sechs!

Zwei Feldgraue im ersten Zimmer. Ihre Maschinenpistolen zielen auf ihn.

Zwei im Schwarz der Garde im zweiten Zimmer. Sie haben noch nicht auf ihn angelegt, sind aber dazu bereit.

Zwei Zivilisten neben dem grünen Vorhang. Einer hat den Kopf weggedreht und schaut irgendwohin zur Seite.

Los, Mak!

Und dann stürmte er vor. Es wurde eine Art Dreisprung aus dem Stand. Er konnte noch denken: wenn nur keine Sehne reißt … Heftig schlug die Luft gegen sein Gesicht.

Dann die grüne Portiere. Der Zivilist zur Linken sieht zur Seite, sein Hals ist ungeschützt. Die Handkante.

Der rechte blinzelt wohl gerade. Seine Lider sind unbeweglich und halb geschlossen. Von oben auf den Scheitel - und in den Lift.

Dunkel. Wo ist der Knopf? Massaraksch, wo ist der Knopf?

Langsam und dumpf hämmerte ein Maschinengewehr, gleich darauf ein zweites. Nichts zu mäkeln, ausgezeichnete Reaktion. »Tat-tat-tat … tat-tat-tat … tat-tat-tat …« Aber bis jetzt schießen sie nur gegen die Tür, dahin, wo sie mich gesehen haben. Sie haben noch nicht begriffen, was passiert ist. Handeln im Reflex.

Der Knopf!

Hinter dem Vorhang gleitet langsam und schräg ein Schatten zu Boden - einer der Zivilisten.

Massaraksch, da ist er ja, an der sichtbarsten Stelle!

Maxim drückte auf den Knopf, und die Kabine sank rasch hinab - ein Schnelllift. Jetzt fing das Bein an zu schmerzen. Doch eine Zerrung? Aber das ist im Moment unwichtig. Massaraksch, ich bin ja schon durch!

Der Lift hielt. Maxim sprang hinaus, und gleich darauf krachte und klirrte es im Schacht. Späne flogen. Von oben feuerten sie aus drei Läufen auf das Dach der Kabine. Gut, gut, schießt nur … Gleich wird ihnen klar, dass sie nicht schießen, sondern den Lift heraufholen und dann selbst hinunterfahren müssen. Das haben sie vergessen, haben den Kopf verloren …

Er blickte um sich. Massaraksch, wieder war es anders. Nicht ein Eingang, sondern drei. Drei völlig gleiche Tunnel … Aha, das sind einfach Reservegeneratoren. Einer ist in Betrieb, zwei werden gewartet. Welcher ist jetzt eingeschaltet? Anscheinend dieser.

Er rannte in den mittleren Tunnel. Hinter seinem Rücken rumorte der Fahrstuhl. Nein, nein, schon zu spät. Nicht das notwendige Tempo, ihr schafft es nicht … Obwohl, der Tunnel ist lang, und der Fuß tut weh. Da, eine Kurve, nun kriegt ihr mich sicher nicht mehr. Maxim lief bis zu den Generatoren, die unter einer Stahlplatte brummten, blieb stehen, ließ die Arme sinken und verharrte einige Sekunden. So, drei Viertel der Sache sind erledigt, sogar sieben Achtel. Nur noch ein Klacks, die Hälfte eines Vierunddreißigstels … Jetzt werden sie im Lift hinunterrasen und in den Tunnel stürmen, aber sie haben bestimmt von nichts eine Ahnung. Und dann wird die Depressionsstrahlung sie zurücktreiben. Was kann jetzt noch passieren? Dass sie eine Gasgranate in den Gang werfen. Kaum, woher sollten sie die haben. Alarm ist bestimmt schon ausgelöst. Die Väter könnten natürlich die Depressionsbarriere ausschalten. Aber dazu werden sie sich nicht entschließen und auch nicht mehr dazu kommen: Sie müssten sich erst zusammensetzen, alle fünf, müssten ihre fünf Schlüssel zusammenlegen und herausfinden, ob das Ganze nicht doch ein böser Streich eines der ihren ist oder eine Provokation. Nein wirklich, wer in aller Welt kann durch die Strahlenschranke hierher vordringen? Der Wanderer, sofern er heimlich einen Schutz entwickelt hat? Aber die sechs mit ihren Maschinenpistolen würden ihn aufhalten. Ansonsten käme keiner infrage. Na bitte, und während sie sich zanken und versuchen, Klarheit zu gewinnen, bin ich hier fertig.

Hinter der Tunnelbiegung hämmerten im Dunkeln die Maschinenpistolen. Ist erlaubt. Habe nichts dagegen … Maxim

Direkt vor dem Verteiler setzte er sich auf den Fußboden und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es war getan. Ein mächtiges Depressionsfeld senkte sich auf das ganze Land, vom Gebiet jenseits des Flusses bis zur hontianischen Grenze, vom Ozean bis zum Alabasterkamm.

Die Maschinenpistolen hinter der Biegung waren verstummt: Die Herren Offiziere befanden sich in Depression. Werde mir gleich ansehen, wie das ist, Offiziere in Depression …

Der Herr Staatsanwalt wird sich zum ersten Mal in seinem Leben über einen Strahlenschlag freuen. Aber ansehen wollte ich ihn nicht …

Und die Unbekannten Väter, die nicht rechtzeitig begriffen haben, was vor sich geht, krümmen sich jetzt vor Schmerz und haben alle Hufe von sich gestreckt, wie Rittmeister Tschatschu es zu nennen pflegte. Der liegt jetzt übrigens auch in tiefster Depression, und dieser Gedanke entzückt mich geradezu.

Sef und die Jungs haben sicher auch alle Hufe von sich gestreckt. Entschuldigt, Jungs, es muss sein.

Der Wanderer! Wie schön: Auch der schreckliche Wanderer liegt jetzt da, hat seine riesigen Ohren auf den Fußboden gebreitet … die größten Ohren im ganzen Land. Aber vielleicht haben sie ihn ja auch schon erschossen. Das wäre noch besser.

Und Rada, meine arme kleine Rada, ist auch in Depression. Macht nichts, mein Mädchen, das tut bestimmt nicht weh und geht ja auch schnell vorüber.

Wildschwein …

Er sprang auf. Wie viel Zeit war vergangen? Er stürzte durch den Tunnel zurück. Wildschwein hat sicher auch alle viere von sich gestreckt, aber wenn er die Schießerei vorhin gehört hatte, konnte er die Nerven verloren haben. Das war natürlich sehr unwahrscheinlich, denn Wildschwein hatte gute Nerven, aber wer weiß!

Er lief zum Lift und opferte noch eine Sekunde, um sich die Herren Offiziere in Depression anzusehen. Der Anblick war erschütternd: Alle drei hatten ihre Maschinenpistolen hingeworfen und weinten, ohne Kraft, auch nur die Tränen abzuwischen. Gut, dachte Maxim, weint ein bisschen, das ist gut, weint um meinen Gai, um Amsel, um Gel, um meinen Förster. Vermutlich habt ihr seit eurer Kindheit nicht mehr geweint, und mit Sicherheit nie um die, die ihr umgebracht habt. Also weint wenigstens vor eurem Tod.

Der Lift brachte ihn im Nu hinauf. Die Zimmerflucht war voller Menschen: Offiziere, Soldaten, Korporale, Gardisten, Zivile - alle bewaffnet, und alle lagen und saßen traurig herum, einige weinten laut, einer murmelte vor sich hin, schüttelte den Kopf und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. Und dort hatte sich jemand erschossen … Massaraksch, die Schwarzen Strahlen waren verheerend, nicht umsonst hatten die Väter sie nur für den Notfall vorgesehen.

Er lief ins Vestibül, sprang über sich kraftlos regende Gestalten hinweg und rannte die Steinstufen hinunter. Neben seinem Wagen blieb er stehen und atmete erleichtert auf. Wildschwein hatte die Nerven behalten: Er lag, die Augen geschlossen und halb zur Seite gekippt, auf dem vorderen Sitz.

Maxim holte die Bombe aus dem Kofferraum, streifte das Ölpapier ab, klemmte sie vorsichtig unter den Arm und kehrte ohne Eile zum Lift zurück. Sorgsam überprüfte er den Zünder, schaltete das Uhrwerk ein, legte die Bombe in die Kabine und drückte den Knopf. Die Kabine glitt hinunter; sie trug ein Flammenmeer mit sich in die Unterwelt, das in zehn Minuten explodieren würde. Genauer gesagt, in neun Minuten und einigen Sekunden …

Im Wagen richtete Maxim Wildschwein vorsichtig auf, setzte sich ans Steuer und fuhr den Wagen vom Parkplatz. Das graue Gebäude ragte drohend über ihm empor - schwer, plump und dem Untergang geweiht, voller Menschen, die zum Tode verurteilt und nicht mehr in der Lage waren, sich zu bewegen oder auch nur zu begreifen, was geschah.

Das ist das Nest, dachte Maxim, das schreckliche Schlangennest - vollgestopft mit Abschaum, mit eigens und sorgfältig ausgesuchtem, erlesenem Abschaum. Hier, an diesem Ort, hat man ihn konzentriert, damit er sein abscheuliches Werk verrichte - per Radio, im Fernsehen, über die Strahlentürme. Alle dort sind Feinde, und keiner von ihnen würde auch nur eine Sekunde zögern, mich, Wildschwein, Sef, Rada oder meine anderen Freunde, mir lieben Menschen, zu verraten, mit Kugeln zu durchsieben, zu kreuzigen … Und doch ist es gut, dass ich mich erst jetzt an sie erinnere. Vorher hätte mich dieser Gedanke gehindert, hätte Fischi vor mir gesehen, den einzigen Menschen in diesem zum Untergang verdammten Schlangennest … Ja, aber auch sie, Fischi … Was - Fischi? Was weiß ich denn über sie? Dass sie mich sprechen gelehrt

Er raste dieselbe Autobahn entlang, auf der Fank und er vor einem halben Jahr in der Luxuslimousine gefahren waren - vorbei an der endlosen Kolonne von Panzerspähwagen. Fank

Die Chaussee war voller Autos. Alle standen quer, schräg oder im Straßengraben. Die von der Depression niedergeschmetterten Fahrer und Passagiere saßen mit hängenden Köpfen auf den Trittbrettern, waren kraftlos von ihren Sitzen

Sie begegneten sich auf einem verhältnismäßig freien Stück der Chaussee und rasten aneinander vorbei; fast hätten sie sich gestreift. Maxim erkannte einen kahlen Schädel und gewaltige Segelohren, und bekam ein flaues Gefühl, weil nun wieder alles durcheinandergeriet. Der Wanderer! Massaraksch! Das ganze Land liegt in Depression, alle Entarteten sind besinnungslos, und dieses Scheusal, dieser Teufel hat sich wieder herausgewunden! Also hat er trotz allem einen Schutz erfunden. Und ich habe keine Waffe. Maxim sah in den Rückspiegel: Der lange gelbe Wagen wendete. Was hilft’s - muss ich eben ohne Waffe auskommen. Und was den Wanderer betrifft, so werden mich bestimmt keine Gewissensbisse quälen. Maxim drückte aufs Gaspedal. Tempo, Tempo. Los, mein Guter, schneller. Die niedrige gelbe Motorhaube glitt heran, wurde größer, schon konnte er die starren grünen Augen über dem Lenkrad erkennen … Jetzt, Mak!

Maxim spreizte die Beine, stützte sich ab, hielt einen Arm schützend vor Wildschwein und trat mit aller Kraft auf die Bremse.

Ohrenbetäubendes Heulen und Kreischen … Dann krachte die gelbe Kühlerhaube auf seinen Kofferraum, schob sich wie eine Ziehharmonika nach oben. Glas splitterte. Maxim stieß mit dem Fuß die Tür auf und ließ sich hinausfallen, spürte furchtbare Schmerzen in der Ferse, dem lädierten Knie, seinem Arm - und hatte es sogleich vergessen, denn der Wanderer stand schon vor ihm. Unmöglich, aber es war so. Dieser Satan, dieser Satan - lang, hager, gefährlich, mit zum Schlag erhobener Hand.

Maxim stürzte sich auf ihn, legte seine ganze Kraft in diesen Sprung, aber - daneben! Dann ein fürchterlicher Schlag gegen den Hinterkopf … Die Welt schwankte, kippte fast um, dann aber doch nicht … Und wieder stand der Wanderer vor ihm, wieder sah er den kahlen Schädel, die aufmerksamen grünen Augen, die zum Parieren des Schlags bereite Hand. Stopp, halt, er trifft daneben … He! Wohin guckt er denn? Na, so kriegst du mich nicht … Mit versteinerter Miene starrte der Wanderer über Maxims Kopf hinweg. Und schon griff Maxim ihn an, diesmal erfolgreich. Der lange Kerl knickte ein und sank langsam auf den Asphalt. Da schöpfte Maxim tief Atem und drehte sich um.

Den grauen Kubus der Zentrale konnte man von hier aus gut erkennen, aber es war kein Kubus mehr: Vor Maxims Augen stürzte er in sich zusammen. Zitternde, glutheiße Luft stieg über ihm auf, Dampf, Rauch. Und dann zuckte etwas gleißend Weißes, dessen Hitze Maxim bis hierher spüren konnte, fröhlich und beängstigend zugleich aus den langen vertikalen Rissen und Fensterlöchern …. Gut, das war also erledigt. Triumphierend wandte sich Maxim dem Wanderer zu. Der Teufel lag auf der Seite, hatte die langen Arme über dem Bauch gekreuzt und die Augen geschlossen. Vorsichtig trat Maxim näher. Wildschwein lehnte sich aus dem verbeulten Wagen heraus, zappelte und hantierte, um ins Freie zu gelangen. Maxim blieb neben dem Wanderer stehen, beugte sich hinab und überlegte, wie er zuschlagen müsste, um ihn sofort zu töten. Massaraksch, die verfluchte Hand wollte sich nicht gegen einen Liegenden erheben. Und da öffnete der Wanderer einen Spaltbreit die Augen und krächzte auf Deutsch: »Dummkopf! Rotznase!«

Maxim verstand ihn nicht gleich. Und als er ihn verstand, wurden ihm die Knie weich, und vor den Augen sah er schwarz …

Dummkopf …

Rotznase …

Dummkopf …

Rotznase …

Dann hörte er aus der grauen widerhallenden Leere heraus klar und deutlich Wildschweins Stimme: »Gehen Sie zur Seite, Mak, ich habe eine Pistole.«

Ohne hinzusehen, hielt Maxim ihn am Arm fest.

Mühsam setzte sich der Wanderer auf, die Arme noch immer auf den Leib gepresst. »Rotznase«, zischte er erschöpft. »Stehen Sie nicht da wie ein Ölgötze. Suchen Sie einen Wagen, bisschen flott. So stehen Sie doch nicht herum, bewegen Sie sich!«

Dumpf, wie durch Watte hindurch, schaute sich Maxim um. Die Chaussee belebte sich. Die Zentrale existierte nicht mehr - sie war zu einer Lache geschmolzenen Metalls geworden, zu Dampf, Gestank. Die Türme funktionierten nicht mehr, die Marionetten hörten auf, Marionetten zu sein. Die Menschen kamen zu sich, sahen erstaunt und finster um sich, traten neben ihren Autos von einem Fuß auf den anderen und versuchten zu verstehen, was mit ihnen geschehen war, wie sie hierherkamen und was jetzt zu tun sei.

»Wer sind Sie?«, fragte Wildschwein.

»Geht Sie nichts an«, keuchte der Wanderer auf Deutsch. Er hatte Schmerzen, stöhnte und rang nach Luft.

»Ich verstehe nicht.« Wildschwein hob den Lauf seiner Pistole.

»Kammerer«, sagte der Wanderer. »Stopfen Sie Ihrem Terroristen das Maul und suchen Sie einen Wagen.«

»Was für einen Wagen?«, fragte Maxim hilflos.

»Massaraksch«, ächzte der Wanderer. Irgendwie schaffte er es aufzustehen; nach wie vor gekrümmt und eine Faust gegen den Leib gestemmt, ging er mit unsicheren Schritten zu Maxims Auto und zwängte sich hinein. »Steigen Sie ein, schnell!«, sagte er ärgerlich, bereits hinter dem Lenkrad sitzend. Dann

»Eine thermische Bombe.«

»In den Keller oder die Vorhalle?«

»In den Keller.«

Der Wanderer stöhnte auf, saß eine Weile mit gesenktem Kopf da und ließ schließlich den Motor an. Der Wagen ruckelte und klirrte.

»Jetzt steigen Sie doch endlich ein!«, brüllte der Wanderer.

»Wer ist das?«, fragte Wildschwein. »Ein Hontianer?«

Maxim verneinte, öffnete mit einem Ruck die hintere Tür, die sich verklemmt hatte, und murmelte: »Steigen Sie ein.«

Er selbst ging um den Wagen herum und setzte sich neben den Wanderer. Das Auto ruckte, irgendetwas quietschte, barst; aber dann rollte es, plump schlingernd, die Chaussee entlang. Die nicht mehr schließenden Türen klapperten, und der Auspuff knallte laut.

»Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun?«, fragte der Wanderer.

»Moment«, bat Maxim. »Sagen Sie mir wenigstens: Wer sind Sie?«

»Ich bin Mitarbeiter des Galaktischen Sicherheitsdienstes«, antwortete der Wanderer. Es klang bitter. »Schon fünf Jahre sitze ich hier. Wir bereiten die Rettung dieses unglückseligen Planeten vor. Sorgfältig, behutsam, unter Berücksichtigung aller möglichen Folgen. Aller, verstehen Sie? Und wer sind Sie? Wer sind Sie, dass Sie Ihre Nase in fremde Angelegenheiten stecken, unsere Pläne durcheinanderbringen, schießen und sprengen - wer sind Sie?«

»Ich habe doch nicht gewusst …«, begann Maxim zaghaft. »Woher hätte ich wissen sollen …«

»Ja, natürlich, Sie haben nichts gewusst. Aber Sie wussten, dass eigenmächtige Einmischung verboten ist, immerhin gehören Sie zur Gruppe für Freie Suche … Sie hätten es wissen müssen. Auf der Erde verliert die Mutter seinetwegen den Verstand, pausenlos rufen irgendwelche Mädchen an, der Vater vernachlässigt seine Arbeit … Was wollten Sie denn als Nächstes tun?«

»Sie erschießen«, sagte Maxim.

»Was?!«

Der Wagen geriet ins Schleudern.

»Ja«, fuhr Maxim fort. »Was sollte ich denn machen? Man hatte mir erzählt, Sie seien der schlimmste Halunke hier, und …« Er lachte auf. »Und daran war nicht schwer zu glauben …«

Der Wanderer schielte zu ihm herüber. »Na gut. Und weiter?«

»Dann hätte die Revolution beginnen sollen.«

»Wieso denn das?«

»Die Zentrale ist doch zerstört und die Strahlung beseitigt.«

»Na und?«

»Jetzt werden sie schnell begreifen, dass man sie unterdrückt, dass ihr Leben elend ist, und sie werden sich erheben.«

»Wohin denn erheben?«, fragte der Wanderer missmutig. »Und wer wird sich erheben? Die Unbekannten Väter sind gesund und munter, die Garde ist heil und unversehrt, die Armee vollständig mobilisiert, im Land herrscht Kriegszustand. Worauf haben Sie denn gehofft?«

Maxim biss sich auf die Lippe. Er könnte diesem missmutigen Untier jetzt natürlich seine Pläne, Zukunftsvorstellungen und so weiter darlegen, doch was hätte das für einen Sinn? Da nun einmal nichts vorbereitet war, es sich einfach so ergeben hatte … »Worauf ich gehofft habe, ist nicht wichtig,

»Ihre Sache …«, murmelte der Wanderer. »Ihre Sache wäre gewesen, im Eckchen zu sitzen und zu warten, bis ich Sie dort wieder raushole …«

»Ja, natürlich«, sagte Maxim. »Nächstes Mal werde ich das berücksichtigen …«

»Sie fliegen noch heute zurück zur Erde«, sagte der Wanderer entschieden.

»Ich denke gar nicht dran«, widersprach Maxim.

»Sie fliegen heute zur Erde!«, wiederholte der Wanderer mit erhobener Stimme. »Auf diesem Planeten habe ich auch ohne Sie Sorgen genug. Nehmen Sie Ihre Rada und schwirren Sie ab.«

»Rada ist bei Ihnen?«, fragte Maxim schnell.

»Ja. Schon lange. Frisch und gesund, keine Sorge.«

»Danke dafür, danke«, sagte Maxim. »Vielen Dank.«

Der Wagen fuhr in die Stadt hinein. Auf der Hauptstraße hupte, brummte und qualmte es - ein fürchterlicher Stau. Der Wanderer bog in eine Gasse und fuhr durch die Elendsviertel der Stadt. Hier schien alles leblos. An den Ecken standen Militärpolizisten wie die Salzsäulen: die Hände auf dem Rücken, das Gesicht unterm Stahlhelm. Man hatte schnell auf die Ereignisse reagiert - Generalalarm, und alle befanden sich auf ihrem Platz, gleich nachdem sie aus der Depression erwacht waren. Vielleicht hätte ich nicht so eilig sprengen, sondern mich an den Plan des Staatsanwalts halten sollen?, überlegte Maxim. Nein, nein, Massaraksch! Soll alles laufen, wie es läuft. Er soll mich nicht zu Unrecht tadeln. Sie müssen sich jetzt selbst über alles klarwerden, und sie werden das schaffen, sobald es in ihren Köpfen dämmert. Der Wanderer steuerte wieder auf die Hauptstraße zurück.

Wildschwein klopfte ihm mit dem Pistolenlauf dezent auf die Schulter. »Seien Sie so freundlich und setzen mich bitte ab. Dort. Wo die Leute stehen …«

An einem Zeitungskiosk lehnten, die Hände tief in den Taschen ihrer langen grauen Regenmäntel, fünf Männer. Außer ihnen war niemand auf den Gehwegen - offenbar hatte der Depressionsstoß die Menschen verstört, und nun verbargen sie sich.

»Was haben Sie vor?«, fragte der Wanderer, während er abbremste.

»Frische Luft schnappen«, antwortete Wildschwein. »Heute ist selten schönes Wetter.«

»Er gehört zu uns«, erklärte Maxim ihm. (Der Wanderer bleckte furchterregend seine Zähne.) »In seiner Gegenwart können Sie über alles sprechen.«

Das Auto hielt am Straßenrand. Die Männer in den Regenmänteln begaben sich vorsichtshalber hinter den Kiosk. Man konnte sehen, wie sie von dort hervorlugten.

»Zu uns?« Wildschwein zog eine Braue hoch. »Wer ist das - wir?«

Maxim warf dem Wanderer einen verlegenen Blick zu. Der aber dachte nicht daran, ihm zu helfen.

»Ist schon gut«, sagte Wildschwein. »Ich glaube Ihnen. Wir werden uns zunächst mit dem Stab befassen. Mit ihm muss man anfangen, denke ich. Sie wissen, wovon ich rede - dort gibt es Leute, die man aus dem Weg räumen muss, solange sie die Bewegung noch nicht unter Kontrolle haben.«

»Ein richtiger Gedanke«, knurrte plötzlich der Wanderer. »Übrigens, scheint mir, kenne ich Sie. Sie sind Tik Fesku, genannt ›Wildschwein‹. Stimmt’s?«

»Richtig«, sagte Wildschwein höflich. Dann wandte er sich an Maxim. »Und Sie übernehmen die Väter. Das ist eine schwere Aufgabe, aber wie für Sie geschaffen. Wo sind Sie zu finden?«

»Warten Sie, Wildschwein«, hielt Maxim ihn zurück. »Fast hätte ich’s vergessen: In wenigen Stunden versinkt das ganze Land im Strahlenentzug. Viele Tage lang werden alle absolut hilflos sein.«

»Alle?«, fragte Wildschwein zweifelnd.

»Alle, außer den Entarteten. Diese Zeit, diese Tage müssen Sie nutzen.«

Wildschwein dachte nach.

»Wenn dem so ist, sehr gut«, sagte er. »Aber wir werden uns ja gerade mit den Entarteten befassen. Trotzdem, wo also kann man Sie erreichen?«

Maxim kam nicht zum Antworten.

»Über die alte Telefonnummer«, mischte sich der Wanderer ein. »Und am gewohnten Platz. Und Folgendes: Gründen Sie Ihr Komitee. Stellen Sie wieder die Organisation her, die im Kaiserreich bestanden hat. Ein paar von Ihren Leuten arbeiten bei mir im Institut. Massaraksch!«, schimpfte er auf einmal. »Weder Zeit haben wir noch die nötigen Leute greifbar. Der Teufel sollte Sie holen, Maxim!«

»Hauptsache, dass es die Zentrale nicht mehr gibt.« Wildschwein hatte Maxim die Hand auf die Schulter gelegt. »Sie sind ein Mordskerl, Mak. Danke.« Er drückte Maxims Schulter und kletterte ungelenk, mit Hilfe seiner Prothese, aus dem Wagen. Dann brach es plötzlich aus ihm heraus. »Mein Gott«, seufzte er und verharrte einen Moment mit geschlossenen Augen. »Gibt es sie wirklich nicht mehr? Das ist ja … das ist …«

»Schließen Sie die Tür«, sagte der Wanderer. »Fester, fester …«

Aus dem Stand raste das Auto davon. Maxim drehte sich um. Wildschwein stand inmitten der fünf grauen Mäntel und redete, wobei er mit der Pistole, die er in der gesunden Hand hielt, herumfuchtelte. Die Leute standen unbeweglich. Sie begriffen noch nicht oder konnten es nicht glauben.

Die Straße war jetzt leer. Dicht neben dem Gehsteig rollten ihnen Schützenpanzerwagen voller Gardisten entgegen, und weit vorn, dort, wo die Abzweigung zum Institut lag, versperrten bereits Fahrzeuge den Weg, liefen schwarze Gestalten hin und her. Und plötzlich leuchtete in der Kolonne der Schützenpanzerwagen ein grellgelbes Patrouillenfahrzeug mit langer Teleskopantenne …

»Massaraksch«, murmelte Maxim. »Diese Dinger habe ich ganz vergessen!«

»Du hast vieles vergessen«, sagte der Wanderer. »Du hast die mobilen Emitter vergessen, hast das Inselimperium vergessen und die Wirtschaft. Weißt du, dass im Land Inflation herrscht? Weißt du überhaupt, was Inflation ist? Ist dir bekannt, dass Hunger droht, dass der Boden nichts hergibt? Und dass wir es nicht geschafft haben, Getreide- und Medikamentenvorräte anzulegen? Weißt du, dass der Strahlenentzug in zwanzig Prozent der Fälle zum Wahnsinn führt?« Er wischte sich mit der Faust über die mächtige kahle Stirn. »Wir brauchen Ärzte, zwölftausend Ärzte. Wir brauchen Eiweißsynthetisatoren. Müssen fürs Erste unbedingt hundert Millionen Hektar des verseuchten Bodens deaktivieren, die Degeneration der Biosphäre aufhalten. Massaraksch, wir brauchen wenigstens einen Erdenmenschen auf den Inseln, in der Admiralität dieses Schurken. Keiner konnte sich bisher dort halten. Keiner hat es geschafft, auch nur zurückzukehren und zusammenhängend zu berichten, was sich dort tut …«

Maxim schwieg. Sie fuhren an die Wagen heran, die die Durchfahrt versperrten. Ein untersetzter, dunkelgesichtiger Offizier, der auf eine merkwürdig bekannte Art gestikulierte, kam zu ihnen herüber und verlangte krächzend die Dokumente. Verärgert und ungeduldig hielt ihm der Wanderer eine blanke Metallmarke unter die Nase. Der Offizier salutierte mürrisch und warf einen Blick auf Maxim. Es war der

»Gehört dieser Mann zu Ihnen, Exzellenz?«, fragte er.

»Ja. Befehlen Sie unverzüglich, mich durchzulassen.«

»Verzeihung, Exzellenz, aber dieser Mann …«

»Sofort durchlassen!«, schnauzte ihn der Wanderer an.

Brigadegeneral Tschatschu salutierte noch einmal verdrossen, machte kehrt und winkte den Soldaten. Einer der Lastwagen fuhr zur Seite, und der Wanderer steuerte den Wagen eilig durch die entstehende Lücke.

»So läuft das«, sagte er. »Sie sind bereit, waren es immer. Du aber dachtest - eins, zwei, und schon erledigt. Den Wanderer erschießen, die Unbekannten Väter hängen, Feiglinge und Faschisten aus dem Stab jagen - und Schluss mit der Revolution.«

»So habe ich nie gedacht«, widersprach Maxim. Er war sehr unglücklich, ja, niedergeschmettert, und fühlte sich hilflos und furchtbar dumm.

Der Wanderer blickte ihn von der Seite an und lächelte schief. »Na schön, schön«, sagte er. »Ich bin einfach wütend. Nicht auf dich - auf mich selbst. Ich bin für alles verantwortlich, was hier geschieht, und es ist meine Schuld, dass es so gekommen ist. Ich hab dich einfach nicht gekriegt.« Wieder lächelte er. »Flinke Jungs seid ihr da in der GFS …«

»Nein«, wehrte Maxim ab. »Machen Sie sich nicht solche Vorwürfe. Ich tue das ja auch nicht. Verzeihung, wie heißen Sie?«

»Nennen Sie mich Rudolf.«

»Ja, also … Ich quäle mich nicht mit Selbstvorwürfen. Und habe das auch nicht vor. Ich habe vor zu arbeiten, die Revolution durchzuführen.«

»Hab lieber vor, nach Hause zu fliegen«, riet ihm der Wanderer.

»Ich bin hier zu Hause«, rief Maxim ungeduldig. »Reden wir nicht mehr davon. Mich interessieren die mobilen Emitter. Was tun wir mit ihnen?«

»Mit ihnen muss man gar nichts tun«, erwiderte der Wanderer. »Überleg lieber, was wir mit der Inflation machen.«

»Ich frage nach den Emittern«, beharrte Maxim.

Der Wanderer seufzte. »Sie werden von Akkumulatoren gespeist«, erklärte er. »Und diese kann man nur bei mir im Institut laden. In drei Tagen sind sie leer. Aber in einem Monat dürfte eine Invasion beginnen … Normalerweise können wir die Submarines vom Kurs abbringen, so dass nur einzelne bis zur Küste durchkommen. Diesmal aber rüsten sie eine ganze Armada. Ich hatte auf die Depressionsstrahlung gebaut, aber jetzt müssen wir sie einfach versenken.« Er verstummte. »Du bist also zu Hause. Gut, nehmen wir’s mal an. Womit willst du dich jetzt konkret befassen?«

Sie fuhren am Departement vor. Das schwere Tor war fest verschlossen. In der Steinmauer klafften schwarze Schießscharten, die Maxim dort früher nicht gesehen hatte. Das Departement ähnelte jetzt einer Festung, die bereit war zum Kampf. Neben dem kleinen Pavillon standen drei Gestalten, und Sefs roter Bart leuchtete vor dem Grün wie eine exotische Blume.

»Ich weiß nicht«, sagte Maxim. »Ich werde tun, was erfahrene Leute von mir verlangen. Wenn nötig, befasse ich mich mit der Inflation. Wenn es sein muss, versenke ich Submarines. Meine wichtigste Aufgabe aber weiß ich sicher: Solange ich lebe, wird es hier niemandem mehr gelingen, eine Zentrale zu errichten. Auch nicht mit der allerbesten Absicht …«

Der Wanderer schwieg. Das Tor war ganz nahe. Sef zwängte sich durch die Hecke und trat auf den Weg. Über seiner Schulter hing eine Maschinenpistole. Schon aus dieser Entfernung konnte man sehen, dass er wütend war und nicht verstand,

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