Mein Zimmer, eins der schönsten in ganz Thamel, lag in der dritten Etage des Star. Aus dem östlichen Fenster konnte man die großen, voller Fledermäuse hängenden Bäume des Königspalastes und das Wirrwarr der Geschäfte von Thamel überblicken. An zahlreichen Stellen sprenkelte großes Immergrün das Durcheinander der Gebäude; von meiner Höhe aus wirkte Thamel tatsächlich wie eine Stadt aus Bäumen. In der Ferne konnte ich die grünen Hügel sehen, die das Tal von Katmandu umschlossen, und bevor sich am Morgen die Bewölkung bildete, konnte man im Norden sogar einige weiße Gipfel des Himalaja sehen.
Das Zimmer selbst war einfach: ein Bett und ein Stuhl unter dem Licht einer einzelnen nackten Glühbirne, die an der Decke hing. Aber was braucht man sonst noch? Sicher, das Bett war uneben; aber wenn ich die Schaumstoffunterlage meiner Kletterausrüstung darüber legte, um die Unebenheiten auszugleichen, ging es. Und ich hatte mein eigenes Badezimmer. Es stimmt zwar, daß die sitzlose Toilette ziemlich undicht war, doch da der Duschstrahl direkt auf den Boden fiel und die Dusche ebenfalls leckte, spielte das keine große Rolle. Es entspricht auch den Tatsachen, daß die Dusche aus zwei Teilen bestand, einem Wasserhahn in Hüfthöhe und einem Duschkopf unter der Decke, und daß der Duschkopf nicht funktionierte, so daß ich mich unter den Hahn auf den Boden setzen mußte, wenn ich duschen wollte. Doch das war in Ordnung — es war alles in Ordnung —, weil das Wasser warm war. Der Durchlauferhitzer hing direkt über der Toilette an der Wand, und das Wasser, das aus dem Hahn kam, war so warm, daß ich beim Duschen noch kaltes Wasser zugeben mußte. Schon dadurch war dieses Badezimmer eines der schönsten in Thamel.
Auf jeden Fall waren dieses Zimmer und Bad seit etwa einem Monat meine Burg gewesen, während ich darauf wartete, daß meine nächste Reisegruppe von der Want To Take You Higher Ltd. eintraf. Als ich es mit dem gestohlenen Brief in der Hand betrat, mußte ich über Kleider, Kletterausrüstung, den Schlafsack, Lebensmittel, Bücher, Landkarten — alles, was ich eben vom Stuhl gefegt hatte — hinwegsteigen und neben der Fensterbank Platz für den Stuhl schaffen. Dann setzte ich mich und versuchte, den in der Mitte gebogenen alten Umschlag zu öffnen, ohne ihn aufzureißen.
Nichts da. Es war kein nepalesischer Umschlag, und auf der Lasche klebte echter Leim. Ich tat, was ich konnte, doch die CIA wäre nicht stolz auf mich gewesen.
Acht Blatt linierten Papiers kamen heraus, wie die meisten Briefe zweimal gefaltet und dann noch einmal von dem Regal gebogen. Auf beiden Seiten beschrieben. Die Handschrift war winzig, neurotisch regelmäßig und so leicht zu lesen wie ein Taschenbuch. Die erste Seite trug das Datum 2. Juni 1985. Soviel zu meiner Vermutung über sein Alter, aber ich hätte geschworen, daß der Umschlag vier oder fünf Jahre älter aussah. Das macht eben der Staub von Katmandu. Ein Satz im ersten Abschnitt war dick unterstrichen: ›Du darfst niemandem davon erzählen!!‹ Mann, heavy! Ich warf jedoch einen Blick aus dem Fenster. Ein Brief voller Geheimnisse! Einfach klasse! Ich kippte den Stuhl zurück, strich die Seiten glatt und fing an zu lesen.
2. Juni 1985 Lieber Freds,
ich weiß, es ist ein Wunder, auch nur eine Postkarte von mir zu bekommen, geschweige denn einen so langen Brief, wie dieser es werden wird. Aber mir ist etwas Erstaunliches zugestoßen, und Du bist mein einziger Freund, von dem ich weiß, daß er es für sich behalten wird. Du darfst niemandem davon erzählen!!! Okay? Ich weiß, daß Du nichts verraten wirst — seit wir Zimmergenossen im Uniwohnheim waren, bist Du der einzige, mit dem ich im Vertrauen über alles sprechen kann. Und ich bin froh, einen Freund wie Dich zu haben, denn ich habe herausgefunden, daß ich es wirklich jemandem erzählen muß, wenn ich nicht wahnsinnig werden will.
Wie Du Dich vielleicht erinnerst, habe ich kurz nach Deinem Weggang an der Davis-Universität meinen Magister in Zoologie gemacht und mehr Jahre, als ich mich erinnern möchte, dort an meinem Doktor gearbeitet, bevor ich die Nase voll hatte und ausstieg. Ich wollte nichts mehr mit dem Universitätsbetrieb zu tun haben, doch im letzten Herbst bekam ich einen Brief von einer Freundin, mit der ich mir ein Büro geteilt hatte, von einer gewissen Sarah Hornsby. Sie würde an einer zoologisch-botanischen Expedition ins Himalaja-Gebirge teilnehmen, einem Lager nach dem Vorbild der Cronin-Expedition, bei der sich zahlreiche Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen in einer so unbefleckten Wildnis häuslich niederließen, wie man sie hier noch findet. Sie wollten, daß ich sie wegen meiner ›umfassenden Erfahrung in Nepal‹ begleitete, womit gemeint war, daß sie mich als Sirdar wollten und mein akademischer Abschluß nichts damit zu tun hatte. Das war mir ganz recht. Ich nahm den Job an und hackte auf das bürokratische Unterholz in Katmandu los. Einwanderungsbehörde, Tourismusministerium, Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz, die ganze schreckliche Prozedur, die eindeutig von jemandem entworfen worden war, der zuviel Kafka gelesen hatte. Doch schließlich hatte ich es überstanden, und im Frühlingsanfang flog ich mit vier Tierverhaltensforschern, drei Botanikern und einer Tonne Vorräte nach Norden. Auf dem Flughafen erwarteten uns 22 einheimische Träger und ein echter Sirdar, und es ging los.
Ich werde nicht sagen, wohin genau wir marschierten. Es hat nichts mit Dir zu tun; es wäre nur zu gefährlich, es schriftlich festzuhalten. Jedenfalls befanden wir uns ziemlich hoch oben in der Nähe einer dieser Wasserscheiden, in der Nähe des Himalajagrats und der Grenze zu Tibet. Du weißt, wie diese Täler enden: die Nebentäler steigen immer höher, und schließlich folgt eine letzte verschachtelte Schlucht — die Talausläufer erstrecken sich zu den höchsten Gipfel. An einer Stelle, an der sich drei dieser blinden Täler treffen, schlugen wir unser Basislager auf, und die Mitglieder der Gruppe konnten sich bachaufwärts oder -abwärts wenden, je nach ihrem Projekt. Es gab einen Trampelpfad zum Lager und eine Brücke über den Bach, doch die drei oberen Täler waren Wildnis, und es war nicht einfach, durch den Wald in sie hineinzukommen. Doch genau das suchten diese Leute — fast unberührte Wildnis.
Nachdem sie das Lager aufgeschlagen hatten, kehrten die Träger zurück; nur wir acht blieben. Meine alte Freundin Sarah Hornsby war die Ornithologin — sie ist ziemlich gut in ihrem Beruf, und ich habe eine Weile mit ihr zusammengearbeitet. Doch sie hatte einen Freund dabei, den Säugetierkundigen (nein, nicht, was Du denkst, Freds) Phil Adrakian. Ich konnte ihn von Anfang an nicht besonders gut leiden. Er war der Expeditionsleiter und ein absoluter Mr. Tierverhalten — aber er hatte so seine Schwierigkeiten, da oben überhaupt Säugetiere zu finden. Valerie Budge war die Entomologin — kein Problem für sie, Forschungsobjekte zu finden, was? (Ja, sie war ein toller Käfer. Noch eine Expertin.) Und Armaat Ray war der Herpetologe, obwohl er schließlich hauptsächlich Phil bei der Errichtung des Tarnverschlags half, aus dem wir die Nachttiere beobachten wollten. Die Botaniker hießen Kitty, Dominique und John; sie verbrachten sehr viel Zeit miteinander in einem großen Zelt voller Pflanzenmuster.
Also — Lagerleben mit einer zoologischen Expedition. Ich nehme nicht an, daß Du so etwas je erlebt hast. Verglichen mit einer Bergtour ist es alles andere als aufregend, das kann ich Dir sagen. Bei dieser Expedition verbrachte ich die erste oder die beiden ersten Wochen damit, über die Brücke zu gehen und die besten Wege durch den Wald in die drei Hochtäler zu suchen; danach half ich hauptsächlich Sarah bei ihrem Projekt. Doch die ganze Zeit über machte ich mir einen Spaß daraus, diese Gruppe zu beobachten — als Verhaltenskundler der Tierverhaltenskundler, sozusagen.
Nachdem ich es einmal versucht hatte und zum Schluß gekommen war, daß es der Mühe nicht wert sei, interessierte mich in erster Linie, warum andere damit weitermachen. Tieren hinterherjagen, dann die kleinste Kleinigkeit erklären, die man festgestellt hat, und schließlich mit allen heftig über mögliche Erklärungen dafür streiten — als Berufung? Warum, zum Teufel, tut jemand sowas?
Ich sprach mit Sarah darüber, eines Tages, als wir oben im mittleren Tal waren und Bienenstöcke suchten. Ich sagte ihr, ich hätte mir ein Einstufungssystem zurechtgebastelt.
Sie lachte. »Klassifikationslehre! Man kann seiner Ausbildung nicht entkommen.« Und forderte mich auf, ihr darüber zu erzählen.
Zuerst, sagte ich, kämen die, die ein echtes und starkes Interesse an Tieren hätten. Sie gehörte auch dazu, sagte ich; wenn sie einen Vogel vorbeifliegen sah, legte sich ein Ausdruck auf ihr Gesicht … als ob sie ein Wunder sähe.
Sie war sich nicht so sicher, ob ihr das gefiel; man muß schon wissenschaftlich unvoreingenommen sein, Du verstehst. Aber sie gestand mir ein, daß es diesen Typ mit Sicherheit gab.
Dann, sagte ich, wären da die Pirschjäger. Diese Leute krochen gern wie spielende Kinder im Gebüsch herum, um andere Geschöpfe zu jagen. Ich fuhr damit fort, ihr zu erklären, warum ich dies für einen starken Trieb hielt; ich hatte den Eindruck, daß das Leben, zu dem es führte, sehr dem ähnelte, das unsere primitiven Vorfahren eine Million lange Jahre geführt hatten. In Lagern leben, Tiere im Wald verfolgen: die Rückkehr zu dieser Lebensweise gibt einem ein besonders befriedigendes Gefühl.
Sarah pflichtete mir bei und wies darauf hin, daß man, wenn man heutzutage des Lagerlebens überdrüssig war, auch einfach verschwinden, ein warmes Bad nehmen, einen Kognak trinken und sich Beethoven anhören konnte, wie sie es ausdrückte.
»Genau!« sagte ich. »Und selbst hier im Lager gibt’s ein ganz interessantes Nachtleben; ihr habt eueren Dostojewski und eure Diskussionen über E. O. Wilson … das Beste beider Welten. Ja, ich glaube, die meisten von euch sind irgendwo Pirschjäger.«
»Aber du sagst immer ›ihr‹«, wandte Sarah ein. »Warum stehst du außerhalb davon, Nathan? Warum bist du ausgestiegen?«
Und hier wurde es ernst; ein paar Jahre lang hatten wir denselben Weg beschritten, was nun nicht mehr der Fall war, da ich ihn verlassen hatte. Ich dachte sorgfältig nach, wie ich es ihr erklären sollte. »Vielleicht wegen des dritten Typs, den Theoretikern. Denn wir müssen uns daran erinnern, daß die Tierverhaltensforschung ein sehr respektables akademisches Fachgebiet ist! Es muß seine intellektuelle Rechtfertigung haben; man kann nicht einfach vor den akademischen Rat treten und sagen: ›Ehrwürdige Kollegen, wir tun das, weil es uns gefällt, wie Vögel zu fliegen und es Spaß macht, in Büschen herumzukriechen!‹«
Sarah lachte darüber. »Das stimmt.«
Und ich erwähnte die Ökologie und das Gleichgewicht der Natur, Populationsbiologie und die Erhaltung der Arten, Evolutionstheorie und wie das Leben zu dem wurde, was es ist, Soziobiologie und die ihr zugrundeliegenden tierischen Sozialverhaltensformen … Aber sie hielt dagegen und wandte ein, dies seien wichtige Themen.
»Soziobiologie?« fragte ich. Sie zuckte zusammen. Ich gestand dann ein, daß es tatsächlich einige ausgezeichnete Argumente für das Studium der Tierwelt gäbe, behauptete jedoch, für einige Menschen sei diese Richtung die wichtigste des Fachs. »Für die meisten Angehörigen unserer Abteilung sind die Theorien wichtiger als die Tiere geworden«, sagte ich. »Sie suchen im Feld lediglich weitere Daten für ihre Theorien! Sie interessieren sich nur für ihre Veröffentlichungen oder Konferenzen, und viele leisten nur Feldarbeit, weil man beweisen muß, daß man dazu imstande ist.«
»Oh, Nathan«, sagte sie. »Du klingst zynisch, aber Zyniker sind nur enttäuschte Idealisten. Ich habe dich auch so in Erinnerung — du warst ein großer Idealist!«
Ich weiß, Freds, Du wirst ihr zustimmen: Nathan Howe, der Idealist. Und vielleicht bin ich das auch. Das habe ich ihr auch gesagt: »Aber, zum Teufel, die Atmosphäre in der Fakultät hat mich krank gemacht. Theoretiker, die einander wegen ihrer Lieblingsideen in den Rücken fallen und sich so wissenschaftlich wie möglich geben, wenn sie eigentlich gar nichts Wissenschaftliches zu sagen haben! Man kann diese Theorien nicht überprüfen, indem man ein Experiment entwirft und feststellt, ob es sich wiederholen läßt, und man kann die Faktoren nicht isolieren oder variieren oder kontrollieren — es geht immer nur um Beobachtungen und nicht überprüfbare Hypothesen! Und doch benehmen sie sich wie harte Wissenschaftler, erstellen mathematische Modelle und alles, wie Chemiker oder so. Das ist nur Wissenschaftlichkeit.«
Sarah schüttelte einfach den Kopf über mich. »Du bist zu idealistisch, Nathan. Du willst alles perfekt haben. Aber so einfach ist das nicht. Wenn man Tiere studieren will, muß man Kompromisse eingehen. Was dein Klassifikationssystem betrifft, solltest du einen Beitrag für die Soziobiologische Rundschau darüber schreiben! Aber bedenke, es ist nur eine Theorie. Wenn du das vergißt, fällst du in deine eigene Grube.«
Das hatte was für sich, und außerdem hatten wir ein paar Bienen entdeckt und mußten uns beeilen, ihnen den Bach hinauf zu folgen. So fand das Gespräch ein Ende. Doch als an den folgenden Abenden Valerie Budge im Zelt erklärte, wieso das Verhalten der menschlichen Gesellschaft ziemliche Ähnlichkeit mit dem der Ameisen habe — oder als Sarahs Freund Adrakian, frustriert von seinem Mangel an Funden, zu langen analytischen Ausführungen ansetzte, als sei er der bedeutendste Theoretiker seit Robert Trivers — warf sie mir manchmal einen Blick und ein Lächeln zu, und ich wußte, daß ich einen gewissen Eindruck erzielt hatte. Obwohl Adrakian gern große Worte in den Mund nahm, beeindruckte er mich kaum; seine Worte hätten einem Träger keine Rückenschmerzen bereitet, wenn Du weißt, was ich meine. Ich verstand gar nicht, was Sarah an ihm fand.
Eines Tages kurz nach diesem Gespräch kehrten Sarah und ich ins mittlere Hochtal zurück, um wieder nach Bienenstöcken zu suchen. Es war ein wolkenloser Morgen, ein klassischer Waldspaziergang im Himalaja: über die Brücke, an den Felsen im Bachbett entlangwandern, von Teich zu Teich hinaufsteigen; dann weiter hinauf zwischen feuchten Bäumen und durchs Unterholz. Dann über die Wand des unteren Tals und auf den Grund des oberen Tals, in dessem großen Rhododendronwald es viel klarer und sonniger war. Die Rhododendronblüten schimmerten noch auf jedem Zweig, und bei der pinkfarbenen Leuchtkraft der Blumen und den langen Kegeln des Sonnenlichts, die durch die Blätter fielen und grobe schwarze Rinde erhellten, orange Pilze und hellgrüne Farne, kam man sich vor, als würde man durch einen Traum wandeln. Und tausend Meter über uns bäumte sich majestätisch ein schneebedecktes Hufeisen aus Gipfeln auf. Der Himalaja — Du weißt schon.
Also waren wir guten Mutes, als wir, dem Bachbett folgend, dieses Hochtal hinauf marschierten. Und wir hatten auch Glück. Hinter einer Biegung mit leichtem Gefälle verbreitete sich der Bach zu einem langen schmalen Teich, über dessen südlichem Ufer sich eine Klippe aus gelbgestreiftem Granit erhob, durchzogen von großen horizontalen Rissen. Und aus diesen Rissen ergossen sich Bienenschwärme. Teile der Klippe schienen schwarz zu pulsieren, Wolken von Bienen trieben vor ihnen, und über dem leisen Geräusch des Flusses konnte man das sanfte Summen der Bienen hören, die ihrer Arbeit nachgingen. Aufgeregt setzten Sarah und ich uns auf einen Felsen in der Sonne, holten unsere Ferngläser hervor und begannen nach Vogelleben Ausschau zu halten. Goraks talaufwärts auf dem Schnee, ein Lämmergeier, der über die Gipfel segelte, Finken, die wie immer herumhüpften — und dann sah ich es. Ein gelber Fleck, etwas größer als der größte Kolibri. Ein Singvogel auf einem Ast, der vor den Bienenstöcken baumelte. Und schon flog er hinab, zu einem heruntergefallenen Stück Bienenwachs; pick, pick, pick, und das Wachs war verschwunden. Ein Honigsauger. Ich stieß Sarah an und zeigte ihn ihr, doch sie hatte ihn schon gesehen. Wir standen lange Zeit über still da und beobachteten ihn.
Edward Cronin, der Leiter einer früheren Expedition ins Himalajagebiet, hatte eine der ersten umfassenden Studien über Honigsauger erstellt, und ich wußte, daß Sarah seine Beobachtungen überprüfen und die Arbeit fortsetzen wollte. Honigsauger sind ungewöhnliche Vögel; sie haben sich darauf spezialisiert, mit Hilfe einiger Bakterien in ihrem Magen- und Darmsystem vom überflüssigen Wachs der Honigwaben zu leben. Dieses Ernährungskunststück hat kaum ein anderes Geschöpf auf Erden fertiggebracht, und die Vögel haben offensichtlich einen guten Zug getan, da ihnen damit eine sehr große Nahrungsquelle offensteht, für die sich niemand sonst interessiert. Das macht sie zu einem sehr wertvollen Studienobjekt, wenngleich man ihnen bislang noch keine große Beachtung geschenkt hatte — was Sarah nun zu ändern hoffte.
Als der Honigsauger, schnell und gelb, außer Sicht geflogen war, rührte sich Sarah endlich — atmete tief ein, beugte sich zu mir und umarmte mich. Küßte mich auf die Wange. »Danke, daß du mich hierher geführt hast, Nathan.«
Es war mir unangenehm. Der Freund, Du weißt schon — und Sarah war ein viel feinerer Mensch als er … Und außerdem fiel mir ein, daß sie damals, als wir uns dieses Büro geteilt hatten, eines Abends ganz aufgelöst hereingestürzt gekommen war, weil der damalige Freund ihr gestanden hatte, eine andere zu haben, und eins führte zum anderen, und … na ja, ich will nicht darüber sprechen. Aber wir waren gute Freunde gewesen. Und ich erinnerte mich noch gut daran. Also war es für mich nicht nur ein Küßchen auf die Wange, wenn Du weißt, was ich meine. Außerdem bin ich bestimmt ganz unbeholfen und umständlich geworden, wie es so meine Art ist.
Auf jeden Fall freuten wir uns ziemlich über unsere Entdeckung, und danach kehrten wir eine Woche lang täglich zur Honigklippe zurück. Es war wirklich nett. Dann wollte Sarah einige Studien fortsetzen, die sie über die Goraks begonnen hatte, und so marschierte ich ein paar Mal allein zur Honigklippe hinauf.
An einem dieser Tage, als ich allein unterwegs war, passierte es. Der Honigsauger zeigte sich nicht, und ich wanderte den Bach hinauf, um zu sehen, ob ich dessen Quelle finden konnte. Wolken rollten vom unteren Tal heran, und es sah ganz danach aus, als würde es später regnen, doch dort oben, wo ich war, schien noch die Sonne. Ich fand den Ursprung des Baches — ein von einer Quelle gespeister Teich am Fuß eines Geröllhanges — und beobachtete, wie er sich in die Welt ergoß. Einer dieser stillen Augenblicke im Himalaja, in denen die Welt eine gewaltige Kapelle zu sein scheint.
Dann erhaschte eine Bewegung auf der anderen Seite des Teiches meine Aufmerksamkeit, dort im Schatten zweier knorriger Eichen. Ich erstarrte, obwohl ich auf freier Fläche stand und jeder mich sehen konnte. Dort unter einer der Eichen, in dunklen Schatten im Sonnenlicht, beobachtete mich ein Augenpaar. Es befand sich etwa auf gleicher Höhe wie das meine. Ich befürchtete, es könne ein Bär sein, und unterzog im Geiste die Bäume hinter mir einer Überprüfung, ob man sie erklettern konnte, als sich die Augen erneut bewegten — sie blinzelten. Und dann sah ich, daß um die Iris das Weiße sichtbar war. Ein Dörfler auf Jagd? Wohl kaum. Mein Herz begann in meiner Brust zu hämmern, und ich mußte unwillkürlich schlucken. Da in den Schatten war doch ein Gesicht? Ein bärtiges Gesicht?
Natürlich hatte ich eine Vorstellung, womit ich gerade einen Blick wechseln mußte. Der Yeti, der Bergmensch, das schwer faßbare Geschöpf des Schnees. Der scheußliche Schneemensch, um Gottes willen! Mein Herz hatte nie schneller geschlagen. Was sollte ich tun? Das Weiß seiner Augen … Paviane haben weiße Augenlider, die sie schließen, um zu drohen, und wenn man sie direkt ansieht, sehen sie das Weiße der Augen und glauben, man würde sie bedrohen; die entfernte Möglichkeit berücksichtigend, daß dieses Wesen ein ähnliches Verhaltensmuster hatte, senkte ich den Kopf und betrachtete es indirekt. Ich schwöre, es schien mein Nicken zu erwidern.
Dann blinzelte ich erneut, nur, daß die Augen diesmal nicht darauf reagierten. Das bärtige Gesicht war verschwunden. Ich atmete wieder, lauschte so angestrengt ich konnte, hörte jedoch nichts bis auf das Murmeln des Baches.
Nach zwei oder drei Minuten überquerte ich den Bach und sah mir den Boden unter der Eiche an. Er war moosbewachsen, und auf einigen Teilen des Mooses hatte etwas gestanden, das mindestens so schwer sein mußte wie ich; aber eindeutige Spuren fand ich natürlich nicht. Und auch nicht in einigem Umkreis um die Eiche.
Ich marschierte benommen zum Lager zurück; ich nahm kaum etwas wahr und fuhr bei jedem Geräusch zusammen. Du kannst Dir vorstellen, wie ich mich fühlte … nach so einem Erlebnis!
Und an demselben Abend, als ich versuchte, still meinen Eintopf zu essen und nichts von dem verlauten zu lassen, was geschehen war, richtete sich die Unterhaltung der Gruppe auf das Thema Yeti. Ich ließ fast die Gabel fallen. Es war wieder Adrakian — ihn ärgerte die Tatsache, daß er trotz der zahlreichen Spuren in dieser Gegend bislang nur ein paar Eichhörnchen und in einiger Ferne einen oder zwei Affen gesehen hatte. Natürlich hätte es geholfen, wenn er die eine oder andere Nacht mal in dem Tarnverschlag zugebracht hätte. Auf jeden Fall wollte er ein Thema zur Sprache bringen, bei dem er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und als der Experte die Bühne für sich beanspruchen konnte. »Ihr wißt ja, daß diese Hochtäler der eigentliche Lebensraum des Yetis sind«, erklärte er prosaisch.
Dabei wäre mir fast die Gabel aus der Hand gefallen. »Es muß natürlich als beinahe sicher gelten, daß es sie gibt«, fuhr Adrakian mit einem komischen Lächeln fort.
»Ach, Philip«, sagte Sarah. Sie sagte das dieser Tage ziemlich oft zu ihm, was mich nicht im geringsten störte.
»Es stimmt.« Dann führte er die Indizien an, die wir natürlich alle kannten: die Spuren im Schnee, die Eric Shipton fotografiert hatte, die Argumente, mit denen George Schaller die Idee unterstützt hatte, die Fußabdrücke, die Cronins Expedition gefunden hatte, die zahlreichen anderen Hinweise… »Wie wir nun aus erster Hand wissen, gibt es hier Tausende Quadratkilometer undurchdringlicher Gebirgs wildnis.«
Natürlich mußte er mich nicht mehr überzeugen. Und die anderen waren vollauf bereit, die Vorstellung in Betracht zu ziehen. »Wäre es nicht toll, wenn wir einen fänden!« sagte Valerie. »Wir machen ein paar Fotos …«
»Oder wenn wir eine Leiche fänden«, sagte John. Botaniker denken in Begriffen immobiler Objekte.
Phil nickte langsam. »Oder wenn wir einen lebendig gefangennehmen könnten …«
»Wir würden berühmt«, sagte Valerie.
Theoretiker. Vielleicht werden sogar ihre Namen lateinisiert und Bestandteil der Bezeichnung der neuen Spezies. Gorilla montani adrakianias-budgeon.
Ich konnte einfach nicht anders; ich mußte das Wort ergreifen. »Wenn wir eindeutige Beweise für die Existenz des Yetis fänden, wäre es unsere Pflicht, sie beiseite zu schaffen und zu vergessen«, sagte ich, vielleicht eine Spur zu laut.
Alle starrten mich an. »Warum denn das?« fragte Valerie.
»Um des Yetis willen, natürlich«, sagte ich. »Als Tierverhaltensforscher liegt euch doch wahrscheinlich etwas am Wohlergehen der Tiere, die ihr studiert, oder? Und der Ökosphären, in denen sie leben? Doch wenn die Existenz des Yetis bestätigt würde, wäre es für beide katastrophal. Es würde eine Invasion von Expeditionen geben, Touristen, Wilderer … Yetis in Zoos, in Käfigen der Primatenzentren, in Laboratorien unter dem Messer, ausgestopft in Museen …« Ich erregte mich zusehends. »Ich meine, was für einen wirklichen Wert haben Yetis überhaupt für uns?« Sie starrten mich nur an: Wert? »Ihr Wert liegt in der Tatsache, daß sie unbekannt sind, außerhalb der Wissenschaft stehen. Sie sind Teil der Wildnis, die wir nicht berühren können.«
»Ich verstehe, was Nathan meint«, sagte Sarah in das darauffolgende Schweigen, mit einem Blick, der dazu führte, daß ich den Faden verlor. Ihre Zustimmung war mir viel, viel wichtiger, als ich erwartet hätte …
Die anderen schüttelten die Köpfe. »Eine nette Einstellung«, sagte Valerie. »Aber unsere Studien würden weder die Ökosphäre noch die Spezies besonders gefährden. Und denke nur einmal darüber nach, wie sie unser Wissen über die Entwicklung der Primaten vergrößern würden!«
»Der Fund eines Yetis wäre ein wichtiger Beitrag für die Wissenschaft«, sagte Phil mit einem Blick auf Sarah. Und er war wirklich dieser Meinung; das muß ich ihm lassen.
»Und er würde unsere Chancen auf eine Professur auch nicht schaden«, sagte Armaat verschlagen.
»Das auch«, gestand Phil ein. »Aber in Wirklichkeit kommt es darauf an, daß man der Wahrheit verpflichtet ist. Wenn wir einen Yeti fänden, wären wir gezwungen, es publik zu machen, weil dem nun einmal so war — ganz gleich, was wir darüber denken. Ansonsten würden wir Fakten unterdrücken und manipulieren und so weiter.«
Ich schüttelte den Kopf. »Es gibt Werte, die wichtiger sind als wissenschaftliche Integrität.«
Und das Gespräch schlug nun diese Wendung ein und beschränkte sich hauptsächlich darauf, die unterschiedlichen Ansichten zu wiederholen. »Du bist ein Idealist«, sagte Phil einmal zu mir. »Man kann keine Zoologie betreiben, ohne die Versuchstiere bis zu einem gewissen Grad zu stören.«
»Vielleicht bin ich deshalb ausgestiegen«, sagte ich. Und mußte mich davon abhalten, fortzufahren. Wie konnte ich sagen, daß er bis hin zu dem Punkt, wo er alles tun würde, um sich eine Reputation zu verschaffen, von dem gewaltigen Druck in diesem Beruf korrumpiert wurde, ohne dem Streitgespräch eine häßliche Wendung zu geben? Unmöglich. Und Sarah würde mit mir an den Pranger gestellt werden. Ich seufzte lediglich. »Was ist mit den Versuchsobjekten?«
»Man würde sie betäuben, studieren und in ihre angestammte Umgebung zurückbringen«, sagte Valerie ungehalten. »Und vielleicht eins in Gefangenschaft halten, wo es ein viel angenehmeres Leben führen würde als in der Wildnis.«
Völlig korrumpiert. Selbst die Botaniker schauten bei dieser Behauptung unbehaglich drein.
»Wir müssen uns wohl keine Sorgen machen«, sagte Armaat mit seinem verschlagenen Lächeln. »Dieses Tier ist angeblich nachtaktiv.« Weil Phil ja keine Anstalten gemacht hatte, sich des Nachts auf die Lauer zu legen, Du verstehst schon.
»Genau deshalb will ich im Hochtal einen Hochsitz errichten«, schappte Phil, der Armaats Nadelstiche allmählich überdrüssig war. »Nathan, du mußt mitkommen und mir dabei helfen.«
»Und den Weg suchen«, sagte ich. Die anderen stritten weiter, und Sarah ergriff meine Position oder erwies sich ihr gegenüber zumindest als einsichtig; ich zog mich zurück, besorgt um die Gestalt in den Schatten, die ich an diesem Tag gesehen hatte. Phil beobachtete mich argwöhnisch, als ich ging.
Also bekam Phil seinen Willen, und wir errichteten einen winzigen Hochsitz in dem oberen Tal westlich von dem, in dem ich den Yeti entdeckt hatte. Wir verbrachten mehrere Nächte oben auf einer alten Eiche und beobachteten jede Menge geflecktes Rotwild und in der Dämmerung ein paar Affen. Phil hätte zufrieden sein können, wurde jedoch immer verdrossener. Aus einigen seiner Äußerungen war mir ersichtlich geworden, daß er die ganze Zeit über gehofft hatte, den Yeti zu finden; er erflehte diese große Entdeckung geradezu.
Und eines Nachts geschah es. Der Mond war auf beiden Seiten konvex, und die dünnen Wolken ließen den größten Teil seines Lichts durch. Etwa zwei Stunden vor der Morgendämmerung war ich leicht eingenickt, und Adrakian stieß mich mit dem Ellbogen an. Wortlos deutete er auf das hintere Ufer eines kleinen Teiches im Bach.
Sich bewegende Schatten im Schatten. Ein Schimmer Mondlicht auf dem Wasser — dann eine aufrecht stehende Gestalt. Einen Augenblick lang sah ich deutlich den Kopf, einen großen, seltsam geformten Schädel. Er wirkte fast menschlich.
Ich wollte eine Warnung rufen; statt dessen verlagerte ich mein Gewicht auf der Plattform. Sie knarrte ganz leise, und augenblicklich war die Gestalt verschwunden.
»Du Idiot!« flüsterte Phil. Im Mondlicht sah er aus, als könne er einen Mord begehen. »Ich folge ihm!« Er sprang aus dem Baum und zog einen Gegenstand, den ich für eine Betäubungspistole hielt, aus seiner Jackentasche.
»Im Dunkeln wirst du da draußen nichts finden!« flüsterte ich, doch er war schon fort. Ich kletterte hinab und folgte ihm — über meine Absicht war ich mir selbst nicht ganz im klaren.
Na ja, Du kennst ja den nächtlichen Wald. Keine Chance, Tiere zu sehen oder auch nur schnell vorwärts zu kommen. Eins muß ich Adrakian zugestehen — er war schnell und leise. Ich verlor ihn fast augenblicklich, und danach hörte ich nur noch gelegentlich das Knacken eines Zweiges in der Ferne. Über eine Stunde verstrich, und ich wanderte ziellos umher. Als ich zum Bach zurückkehrte, war der Mond untergegangen, und am Himmel dämmerte es schon.
Ich ging um einen großen Flußstein am Ufer herum und wäre fast direkt in einen Yeti gelaufen, der von der anderen Seite kam, als schritten wir auf einem belebten Bürgersteig aus und wären beide in dieselbe Richtung gegangen, um uns auszuweichen. Er war etwas kleiner als ich; dunkles Fell bedeckte seinen Körper und Kopf, ließ jedoch das Gesicht frei — ein Fleck rosa Haut, der im schwachen Licht ziemlich menschlich wirkte. Seine Nase war sowohl die eines Menschen als auch die eines Primaten — breit, aber aus dem Gesicht hervorstehend — und wirkte wie eine Erweiterung des Hinterhauptwulstes, der seinen Schädel von einer Schläfe zur anderen umzog. Sein Mund war breit, und sein Kinn unter einem krausen Bart noch breiter, aber nichts davon lag außerhalb der Parameter, die für eine menschliche Erscheinung zutreffen. Er hatte dicke wulstige Brauen hoch über den Augen, so daß sein Blick von permanenter Überraschung zu künden schien, wie bei einer Katze, die ich einmal gehabt hatte.
Ich bin überzeugt, daß er in diesem Augenblick wirklich überrascht war. Wir beide standen still wie Bäume und schwankten leicht im Wind unserer Begegnung — aber sonst rührte sich keiner. Ich atmete nicht einmal. Was sollte ich tun? Ich stellte fest, daß er einen kleinen geglätteten Stock in der Hand hielt und im Fell seines Halses einige kleine Gegenstände an einer Schnur hingen. Sein Gesicht, Werkzeug, Schmuck: ein Teil von mir, der Teil, der nicht schockiert war, dachte (ich nehme an, im Grund meines Herzens bin ich noch Zoologe): Sie sind nicht nur Primaten, sie sind Hominide.
Wie um diese Vorstellung zu bestätigen, sprach er zu mir. Er summte kurz; knarrte; schnüffelte ein paar Mal; zog die Lippen zurück (und enthüllte dabei einen gewaltigen Eckzahn) und pfiff ganz leise. In seinen Augen lag eine Frage, so ruhig, sanft und intelligent vorgebracht, daß ich kaum glauben konnte, sie nicht verstehen und beantworten zu können.
Ich hob ganz langsam die Hand und wollte »Hallo!« sagen. Dumm, ich weiß, aber was sagt man, wenn man einen Yeti trifft? Auf jeden Fall kam nichts bis auf ein ersticktes »Harn« dabei heraus.
Er neigte wißbegierig den Kopf und wiederholte das Geräusch. »Harn. Harn. Harn.«
Plötzlich riß er den Kopf hoch und sah an mir vorbei, bachaufwärts. Er öffnete weit den Mund und stand lauschend da. Er starrte mich an und versuchte mich einzuschätzen. (Ich schwöre, ich weiß genau, daß dem so war!)
Bachaufwärts krachten Äste, und er nahm mich am Arm, und hopp, waren wir am Rand des Baches und im Wald. Hals über Kopf durch die Bäume, und wir lagen hinter einem umgestürzten Baum flach auf dem Boden, nebeneinander auf feuchtem, nachgiebigem Moos. Mein Arm tat weh.
Phil Adrakian erschien unten im Bachbett; er wirkte ziemlich mitgenommen. Er hatte sich im Unterholz verfangen und an mehreren Stellen das Nylon seiner Jacke aufgerissen, so daß ihm beim Gehen weiße Flocken hinterherwehten. Und er war irgendwo in Schlamm gefallen. Der Yeti kniff die Augen zusammen, als er ihn beobachtete, und wollte von ihm eindeutig nicht gesehen werden.
»Nathan!« rief Phil. »Naaaa-thannnn!« Er war anscheinend noch immer voller Tatkraft. »Ich habe einen gesehen! Nathan, wo bist du, verdammt!« Er ging rufend bachabwärts, und der Yeti und ich blieben liegen, bis er an uns vorbeigegangen war.
Ich weiß nicht, ob ich je einen zufriedeneren Augenblick erlebt habe.
Als er um eine Biegung des Baches verschwunden war, setzte der Yeti sich auf und lehnte sich wie ein müder Lagerarbeiter gegen den Stamm. Die Sonne ging auf, und er grunzte, pfiff, atmete langsam und beobachtete mich. Was dachte er? In diesem Augenblick hatte ich nicht die geringste Ahnung. Er machte mir sogar angst; ich konnte mir nicht vorstellen, was jetzt geschehen würde.
Er zerrte mit den Händen, die länger und schmaler als menschliche waren, an meiner Kleidung. Er griff nach seinem Halsband und zog es über den Kopf. Große Muscheln hingen an einer Schnur aus geflochtenem Hanf. Es waren Fossilien, die Kammuscheln ähnelten — Überbleibsel der Tage, da sich der Himalaja unter Wasser befunden hatte. Was fand der Yeti an ihnen? Ich konnte es nicht sagen. Aber er schätzte sie anscheinend, und sie waren Teil einer Kultur.
Lange Zeit über sah er sein Halsband nur an. Dann legte er es mir sehr vorsichtig über den Kopf, um meinen Hals. Meine Haut brannte schier, so heftig errötete ich, ich sah nur noch verschwommen durch Tränen, meine Kehle schmerzte — ich kam mir vor, als sei Gott hinter einem Baum hervorgetreten und habe mich gesegnet, völlig grundlos, Du verstehst? Ich hatte es nicht verdient.
Ohne weitere Umstände sprang er auf und ging krummbeinig davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ich stand allein im Morgenlicht, und mir war nur das Halsband geblieben, das schwer auf meiner Brust hing. Und ein wunder Arm. Also war es passiert, ich hatte es nicht geträumt. Ich war gesegnet worden.
Nachdem ich wieder einigermaßen zu Sinnen gekommen war, marschierte ich bachabwärts und zum Lager zurück. Als ich dort ankam, steckte das Halsband tief in einer der gefütterten Taschen meiner Jacke, und ich hatte mir eine Geschichte zurechtgelegt.
Phil war bereits da und redete auf die ganze Gruppe ein. »Da bist du ja!« rief er. »Wo, zum Teufel, warst du? Ich dachte schon, sie hätten dich geschnappt!«
»Ich habe nach dir gesucht«, sagte ich, und es fiel mir nicht schwer, Verwirrung vorzutäuschen. »Wen meinst du mit sie?«
»Die Yetis, du Narr! Du hast ihn auch gesehen, streite es nicht ab! Und ich bin ihm gefolgt und sah ihn noch mal, da oben am Bach!«
Ich zuckte die Achseln und musterte ihn zweifelnd. »Ich habe nichts gesehen.«
»Du warst nicht an der richtigen Stelle. Du hättest mit mir kommen sollen.« Er wandte sich den anderen zu. »Wir verlagern das Camp ganz still für ein paar Tage nach dort oben. Das ist eine noch nie dagewesene Gelegenheit!«
Valerie nickte, Armaat nickte, selbst Sarah schaute überzeugt drein. Die Botaniker schienen froh zu sein, endlich etwas zu erleben.
Ich wandte ein, daß es schwierig sei, mit so vielen Leuten talaufwärts zu ziehen, und daß wir das Leben stören würden, was es dort oben auch geben mochte. Und ich deutete an, Phil habe einen Bären gesehen. Aber Phil wollte nichts davon hören. »Was ich gesehen habe, war ein Yeti.«
Also wurden trotz meiner Proteste Pläne geschmiedet, das Lager ins Hochtal zu verlegen und eine intensive Suche nach dem Yeti durchzuführen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Weitere Proteste von mir würden nur den Argwohn wecken, ich hätte genau dasselbe wie Phil gesehen. Ich war nie sehr einfallsreich darin, mir Ausflüchte auszudenken, um die Pläne anderer zu durchkreuzen; hauptsächlich deshalb hatte ich die Universität verlassen.
Ich war am Ende meiner Weisheit angelangt, als mir das Wetter mit einem frühen Monsun-Regensturm zu Hilfe kam. Das brachte mich auf eine Idee. Die Wasserscheide für unser Tal war steil und tief, und ein Tag mit so heftigem Regen, wie wir ihn hatten, würde das Wasser in unserem Bach schnell steigen lassen. Wir mußten die Brücke überqueren, um die drei Hochtäler zu erreichen, und zwei weitere, um zum Landefeld zurückzukehren.
Da hatte ich meine Chance. Mitten in der Nacht schlich ich mich aus dem Lager und zur Brücke. Sie entsprach der üblichen Bauart der Einheimischen: Haufen großer Steine an beiden Ufern, die drei halbierte Baumstämme stützten. Der Bach umspülte bereits die unteren Steine, und ein kurzes Stochern mit einem langen Ast ließ den Haufen auf unserer Seite zusammenbrechen. Ein seltsames Gefühl, eine Brücke zu zerstören, eins der wertvollsten Menschenwerke im Himalaja, aber ich machte mich trotzdem mit Eifer daran. Die Baumstämme lösten sich schnell voneinander und fielen ins Wasser, und der unterste trieb davon. Es war kein Problem, die beiden anderen ebenfalls auf den Weg zu schicken. Dann schlich ich mich ins Lager und ins Bett zurück.
Und damit war die Sache gelaufen. Am nächsten Tag schüttelte ich angesichts der Entdeckung bedauernd den Kopf und erwähnte beiläufig, das Hochwasser würde flußabwärts noch schlimmer sein. Ich fragte, ob wir genug Vorräte hatten, um die Monsunzeit zu überstehen, was natürlich nicht der Fall war; und noch eine Stunde Regen reichte aus, um Armaat und Valerie und die Botaniker zu überzeugen, daß die Expedition zu Ende war. Phils schrille Proteste gingen unter, und wir brachen das Lager ab und machten uns am folgenden Morgen auf den Weg, in einem leichten Nebel, der sich am Mittag in strahlenden Sonnenschein aufgelöst hatte. Doch bis dahin waren wir schon ein gutes Stück weit gekommen und gingen weiter.
Da hast Du es, Freds. Liest Du noch? Ich habe die Expedition der alten Kollegen, die mich angeheuert haben, belogen, ihnen Fakten unterschlagen und sie schließlich sogar verscheucht. Aber Du wirst verstehen, daß ich nicht anders konnte. Dort oben leben intelligente, sehr friedfertige Wesen. Die Zivilisation würde sie vernichten. Und dieser Yeti, der sich mit mir versteckt hat — irgendwie wußte er, daß ich auf ihrer Seite war. Ich würde wirklich mein Leben geben, um diese Wahrheit zu verbergen. Man kann solche Wesen einfach nicht betrügen.
Auf dem Rückweg bestand Phil beharrlich darauf, einen Yeti gesehen zu haben, und ich fuhr damit fort, die Vorstellung lächerlich zu machen, bis mich Sarah schließlich seltsam musterte. Und ich muß Dir leider berichten, daß sie und Phil wieder zusammenkamen, als wir uns J- und damit dem Ende unserer Reihe näherten. Vielleicht tat er ihr leid, vielleicht wußte sie irgendwie, daß ich unredlich handelte. Es würde mich nicht wundern; sie kennt mich ziemlich gut. Aber aus welchem Grund auch immer, es war deprimierend. Und man kann nichts dagegen tun. Ich mußte für mich behalten, was ich wußte, und lügen, ganz gleich, wie sehr es dieser Freundschaft schadete, und ganz gleich, wie sehr es schmerzte. Als wir also J- erreichten, verabschiedete ich mich von ihnen. Ich war mir ziemlich sicher, daß der Geldmangel, unter dem die Zoologie krankt, sie eine ganze Weile von hier fernhalten würde; das war also kein Problem. Und was Sarah betraf — na ja, verdammt, ich verabschiedete mich etwas vorwurfsvoll von ihr. Und ich fuhr per Anhalter nach Katmandu, anstatt zu fliegen, um von ihr fortzukommen und die Dinge etwas abkühlen zu lassen.
Die Nächte auf dieser Fahrt waren so lang, daß ich mich schließlich entschloß, Dir diesen Brief zu schreiben, um mich zu beschäftigen. Ich habe auch gehofft, es würde mir helfen, das alles niederzuschreiben, doch in Wirklichkeit habe ich mich nie einsamer gefühlt. Die Vorstellung, wie Du über meine Geschichte durchdrehst, ist mir ein Trost — ich kann mir bildlich vorstellen, wie Du durchs Zimmer springst und aus voller Lunge brüllst: »DU WILLST MICH VERARSCHEN!«, wie Du es früher immer getan hast. Ich hoffe, Dir alle fehlenden Details persönlich mitteilen zu können, wenn ich Dich diesen Herbst in Katmandu sehe. Bis dahin
Dein Freund Nathan