VIII Der Mond

Um den Planeten zog sich in einer gewaltigen, aber unstabilen Ebene ein Ring von Eisbrocken. Die von Lakatos und Biela kurz vor dem Abtauchen der EURYDIKE angestellten Berechnungen erwiesen sich als zutreffend. Der Eisring, infolge von Perturbationen, die in der Schwerkraft der Quinta ihre Ursache hatten, durch einen großen und drei kleinere Spalten zertrennt, konnte nicht länger als tausend Jahre existieren, denn er hatte seinen Durchmesser vergrößert und gleichzeitig an Masse verloren. Den äußeren Saum erweiterte die Fliehkraft, der innere wurde durch die Reibung der Atmosphäre in Tausende Brocken und Dampf verwandelt, so daß ein Teil des mit Hilfe einer unbekannten Methode in den Weltraum geschleuderten Wassers in unaufhörlichen Regengüssen auf den Planeten zurückkehrte. Es war schwerlich anzunehmen, daß die Quintaner sich mit Absicht eine solche sintflutartige Pluvialzeit bereitet hatten. Der Ring hatte ursprünglich drei oder vier Trillionen Tonnen Eis enthalten und verlor jährlich viele Milliarden. Dahinter steckten Rätsel in Serie. Der Ring störte das Klima des gesamten Planeten. Außer den heftigen Regenfällen legte sich sein mächtiger Schatten bei der Umrundung der Sonne einmal auf die nördliche, einmal auf die südliche Halbkugel. Er hielt das Sonnenlicht zurück und senkte damit nicht nur die Durchschnittstemperatur, sondern brachte überdies die Passatzirkulation in der Atmosphäre durcheinander. Die Grenzräume beiderseits des Schattens wimmelten von Gewittern und Wirbelstürmen.

Wenn die Bewohner den Spiegel der Ozeane gesenkt hatten, mußten sie über ausreichende Energie verfügt haben, um den Sturzbächen oder vielmehr Springfluten die zweite kosmische Geschwindigkeit zu verleihen und die Eismassen damit aus der Nähe des Planeten zu fegen, damit sie sich, von der Sonne geschmolzen, spurlos auflösten oder als Eismeteore unter den Asteroiden verschwanden. Energiemangel hätte die Projektanten von dem ungeschickten Werk abgehalten, es wäre eine Aufgabe von elementarer Leichtigkeit gewesen, das Scheitern vorauszusagen. Etwas anderes als ein Versehen planetarer Technologie mußte den vor vielen Jahren begonnenen Arbeiten Einhalt geboten haben. Diese Schlußfolgerung drängte sich unabweislich auf.

Der Ring, eine flache Scheibe mit einem Loch von fünfzehn-tausend Kilometern Durchmesser, in dem der umgürtete Planet steckte, bestand in den mittleren Partien aus Eisblöcken, an den äußeren Rändern jedoch aus kleinen, polarisierten Kristallen. Auch das mußte Resultat eines vorsätzlichen Eingriffs sein. Kurz, der Ring war bei seinem Entstehen in Bewegung und Gestalt gelenkt, er war in die stationäre Äquatorebene gesteuert worden, bildete jedoch auf der Innenseite, oben über dem Äquator, eine chaotische, breiige Masse. Insgesamt sah er aus wie ein kosmisches Bauwerk, das mitten in der Arbeit aufgegeben worden war. Aber weshalb?

Aus den Ozeanen erhoben sich zwei große Kontinente, dazu ein kleinerer, der immerhin die dreifache Größe Australiens hatte, aber am nördlichen Polarkreis lag und daher von den Kundschaftern Norstralien genannt wurde. Die Infralokatoren hatten auf den Kontinenten wärmere Stellen entdeckt, die nicht seismischen Ursprungs waren, offenbar also auf den Wärmeausstoß großer Kraftwerke zurückgingen. Diese verwendeten weder Bodenschätze wie Erdöl oder Kohle noch Brennstoffe nuklearen Typs. Die ersteren hätten sich durch Emissionen verraten, die die Luft verschmutzen, die letzteren liefern radioaktive Asche.

Mit deren sicherer Entsorgung hatte die Erde in der ersten Phase der Kernenergetik bekanntlich die größten Schwierigkeiten. Für Techniker indes, die imstande waren, einen Teil der Ozeane aus der Gravitation zu trichtern, wäre es ein Kinderspiel gewesen, die radioaktiven Abfälle in den Raum zu schießen. Das Eis des Ringes wies jedoch nicht die Spur von Radioaktivität auf Die Quintaner hatten entweder eine andere Form der nuklearen oder überhaupt eine total andersgeartete Energetik. Aber was für eine?

Der Planet zog einen Gasschweif hinter sich her. Er war ausgiebig mit Wasserdampf gesättigt, der hauptsächlich dem Ring entstammte.

Der HERMES machte auf einer stationären Umlaufbahn hinter der Sexta fest. Sie ähnelte dem Mars, war aber größer und besaß eine dichte Atmosphäre, die durch unaufhörliche vulkanische Ausdünstungen und gasförmige Zyanverbindungen vergiftet wurde. Zur Observation der Quinta waren sechs Orbiter entsandt worden, die pausenlos Beobachtungsdaten übermittelten. GOD setzte daraus ein detailliertes Bild der Quinta zusammen. Das Merkwürdigste war das Funkrauschen.

Auf den großen Kontinenten arbeiteten wenigstens ein paar hundert starke Sender, aber es gab keinerlei Anzeichen einer Phasen- oder Frequenzmodulation. Sie strahlten nur ein chaotisches weißes Rauschen aus. Die Antennen ließen sich genau lokalisieren, sie sendeten gerichtet oder isotrop, als hätten die Quintaner beschlossen, sämtliche Kanäle des elektromagnetischen Nachrichtenverkehrs von den Ultrakurz- bis zu den Kilometerwellen zu verstopfen.

Sie konnten nur leitungsgebundenen Fernmeldeverkehr haben — aber wozu diente ihnen dieses Rauschen, das Gigawatt kostete? Als noch wunderlicher — die „Wunderlichkeiten“ des Planeten wuchsen mit den Fortschritten, die seine Beobachtung machte — erwiesen sich die künstlichen Satelliten. Man zählte nahezu eine Million, auf Umlaufbahnen, die hoch und niedrig waren, fast kreisförmig oder elliptisch und im Aphel weit über den Mond hinausreichend. Die Sonden des HERMES verzeichneten auch Satelliten in ihrer eigenen Nähe, einige kaum acht bis zehn Millionen Kilometer entfernt.

Diese Satelliten unterschieden sich beträchtlich durch Ausmaße und Masse. Die größten waren wahrscheinlich leer eine Art unlenkbarer, im Vakuum aufgeblasener Ballons. Ein Teil von ihnen war durch das Entweichen der Gase in sich zusammengefallen. Alle paar Tage bot sich das effektvolle Schauspiel der Kollision eines der toten Satelliten mit dem Eisring, ein Schillern in allen Farben des Regenbogens, wenn die Sonnenstrahlen in den aufstiebenden Eiskristallen dispersierten. Die so entstandene Wolke zerging langsam im Raum.

Niemals stießen gegen den Ring der Quinta jedoch die Satelliten, die Aktivität zeigten, sei es allein dadurch, daß sie sich auf erzwungenen Bahnen bewegten, die ständige Kurskorrekturen verlangten, sei es dadurch, daß sie wie riesige Ballen von Metallfolie auf unbegreifliche Weise ständig ihre Form änderten.

Auf der holographischen, dreidimensionalen Karte sahen die Satelliten auf den ersten Blick wie ein riesiger, um den Planeten kreisender Schwärm von Bienen, Hornissen und winzigen Fliegen aus. Dennoch war das vielschichtige Gewimmel nicht chaotisch verstreut, sondern ließ einfache Regelmäßigkeiten erkennen: Die Satelliten auf den nahen Umlaufbahnen zogen oftmals zu zweien oder zu dreien dahin, während andere — zumal auf stationärer Bahn, wenn jeder Körper mit der Planetenoberfläche gleichläuft — sich wie in Figuren eines Tanzes zur Sonne hin-und von ihr wegbewegten.

Im Zuge des Eingangs der Ortungsdaten schuf GOD ein Koordinatensystem, eine Art sphärischen Systems von Diagrammen. Die Unterscheidung „toter“ und „lebender“, passiv dahindriftender also und gelenkter oder selbststeuernder Satelliten war eine harte Nuß — das Problem vieler mikroskopisch kleiner Massen, die sich im Schwerefeld der Quinta, ihres Mondes und ihrer Sonne bewegten. Schärfere Beobachtung machte schließlich ungezählte Überreste von Raketen und Satelliten aus, die häufig auf die Sonne stürzten. Einige von ihnen besaßen Ringkörper, aus denen feine Dor-nen ragten. Die größten, auf halber Strecke zwischen dem Planeten und seinem Mond, zeigten eine gewisse Aktivität. Die Dornen waren Dipolantennen, ihre Emission ließ sich aus dem Geräuschhintergrund des Planeten filtern und isolieren — als Rauschen in kürzesten Wellen, außerhalb des Funkwellenbereichs. Ein Teil davon entfiel auf harte Röntgenstrahlung, die nicht zur Oberfläche der Quinta dringen konnte, da sie von der Atmosphäre geschluckt wurde. Jeden Tag fügte GOD der Sammlung von Informationen eine neue Portion hinzu, und Nakamura, Polassar, Rotmont und Steergard zerbrachen sich die Köpfe über dieses Rätsel, das sich aus Rätseln zusammensetzte. Die Piloten mischten sich nicht in die wissenschaftlichen Erwägungen ein, sie hatten sich bereits eine Meinung gebildet, die sich kurz und bündig zusammenfassen ließ: Die Quinta war ein Planet von Ingenieuren, die von irgendeiner Manie besessen waren. Oder derber ausgedrückt: SETI hatte Milliarden investiert und sich abgestrampelt, um eine Zivilisation zu finden, die übergeschnappt war. Allerdings witterten auch sie in diesem Wahnsinn Methode. Das Bild eines bis zur Absurdität getriebenen „Radiokriegs“ bot sich an: Niemand konnte etwas senden, weil alle Seiten einander zudeckten. Die Physiker suchten GOD mit Hypothesen auf die Sprünge zu helfen, die sich den Antipoden der Menschheit zukehrten: Unterschieden sich die Bewohner der Quinta in Anatomie und Physiologie von den Menschen vielleicht so grundsätzlich, daß Bild und Sprache bei ihnen ersetzt waren durch andere, nichtakustische, außervisuelle Sinne oder Codes? Vielleicht durch den Tastsinn?

Den Geruch? Eine mit der Schwerkraft zusammenhängende Wahrnehmung? War das Rauschen die Übertragung von Energie, nicht von Informationen? Lief die Information durch Wellenleiter, in astro-physisch nicht aufklärbaren Strömen?

Sollte man aufhören, dieses scheinbar sinnlose elektromagnetische Geheul auf alle mögliche Weise zu filtern, und lieber das ganze analytische Programm einer grundlegenden Revision unterziehen? GOD antwortete mit der ihm eigenen seelenlosen Geduld. Er wußte eine Menge über menschliche Emotionen, besaß selbst aber gar keine.

„Falls es sich um Energietransport handelt, muß es Abnehmersysteme und ein gewisses Schwundminimum geben Verluste also, denn eine hundertprozentige Ausbeute gibt es nicht. Auf dem Planeten sind jedoch keinerlei Verbraucheranlagen zu sehen, die in einem Verhältnis zur gesendeten Leistung stünden. Der Teil von ihr, der imstande ist, die Atmosphäre zu durchdringen, hat die vielen Orbiter zum Ziel. Andere Sender und andere Orbiter jedoch verdecken diese gezielte Strahlung, und dies auf perfekte Weise. Es ist ein Vorgang, als wollten Menschen in einer riesigen Menge miteinander reden, alle auf einmal und immer lauter schreiend. Als Resultante ergibt sich selbst dann, wenn jeder der Sprecher ein Weiser ist, ein wildes Gebrüll. Zweitens können Wellenbänder, die der Nachrichtenübertragung dienen, bei vollständiger Füllung der Übertragungskanäle wie weißes Rauschen wirken, aber das Rauschen auf der Quinta offenbart einen interessanten Charakter. Es ist nicht das „absolute Chaos“, sondern eher die Resultante gegenläufiger Emissionen. Jeder Sender hält höchst präzise seine Wellen-lange. Andere Sender verdecken oder dämpfen ihn durch die Phasenumkehrung der Sendeamplitude.“ GOD veranschaulichte diesen elektromagnetischen Sachverhalt, indem er das Funkspektrum in die optische Zone verschob. An die Stelle des ruhigen Weiß der Planetenscheibe trat ein vielfarbiges Flimmern. Als GOD die kohärenten Emittoren auf Grün, die Relais auf Weiß und die „Kontraemittoren“ auf Purpurrot stellte, überzog sich die Scheibe der Quinta mit einem Gerangel von Farben. Das verlaufende Purpurrot erfaßte die Retranslatoren und färbte deren Weiß rosa, zugleich aber strömte auch Grün hinein, ein verschwimmendes Spinnengewebe von Farben entstand, zuweilen eine die Oberhand gewann, sogleich aber weder verwischt wurde. Mittlerweile kamen Informationen von den Sonden, die zur Fernaufklärung des Quinta-Mondes entsandt worden waren. Zwei der fünf Geräte waren verlorengegangen, man wußte nicht, auf welche Weise, denn der Verlust hatte sich im Periselenium ereignet, das vom HERMES aus nicht einsehbar war. Steergard sprach Harrach einen Verweis aus, weil der Patrouille unvorsichtigerweise keine Nachhut beigegeben war, die eine ständige Überwachung auch im Raum jenseits des Mondes ermöglicht hätte. Die übrigen drei Sonden hatten den Trabanten umflogen und ihre Aufnahmen, da sie mit ihren Signalen nicht durch das Rauschen drangen, per Lasercode übermittelt. Die Information war zunächst so gedrängt, daß tausend Bits in einem Impuls pro Nanosekunde enthalten waren. Nach einer knappen Minute dieser Emission meldete GOD, im Aposelenium kämen auf die Patrouille drei quintanische Orbiter zu, die wegen ihrer geringen Größe bisher unbemerkt geblieben wären. Jetzt fielen sie durch die Wärme der in Gang gesetzten Triebwerke und die Beschleunigung gemäß dem Doppier-Effekt auf. Nichts wies darauf hin, daß der Befehl, die Patrouille abzufangen, vom Planeten ausgesandt worden war. Dazu hätte die Zeit wohl kaum gereicht. Die heißen Punkte legten es offenkundig auf einen frontalen Zusammenstoß an. Der Kommandant befahl, einen solchen zu vermeiden. Die Dreierpatrouille warf daraufhin Attrappen aus, spie eine Menge metallener Folien und Ballons vor sich hin. Die Abfangraketen ließen sich dadurch nicht beirren, die Patrouille schoß eine Natriumwolke ab und sprühte Sauerstoff hinein. Die quintanischen Raketen verschwanden in einem Feuerball, die eigenen kamen in einer Spirale heil daraus hervor, kehrten aber nicht zum Raumschiff zurück, sondern prallten gegeneinander und zerstoben. Steergard rief sämtliche Beobachtungssonden an Bord zurück, und GOD führte die Ergebnisse der Erkundung vor.

Auf der wüsten, von Kratern zerklüfteten, abgewandten Mondhalbkugel zuckte ein Feuer mit dem Spektrum von Kernplasma hin und her, so schnell, daß es, von einem gehörig geballten Magnetfeld nicht festgehalten, in den Raum geflogen und dort augenblicklich erloschen wäre. Was pendelte dort mit einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Sekunde zwischen zwei alten Kratern hin und her? Was steckte hinter diesem Irrlicht?

GOD versicherte, der Planet habe den HERMES nicht entdeckt und spüre ihm also auch nicht nach. Es gebe darauf keinerlei Hinweis. Er verzeichnete ein kontinuierliches Rauschen, das nur von einem Knattern übertönt wurde, wenn Satelliten in die Atmosphäre eintraten und auf den Eisschild prallten — er benutzte ja die Gashülle der Sexta als Linse für die Radioskope.

Die Ansichten, was weiter zu tun sei, waren geteilt. Die Quintaner sollten weiter in Unkenntnis gehalten werden, die Tarnung sollte fortdauern, bis wenigstens ein Zipfelchen der zahllosen Rätsel gelüftet war. Man wog ab, ob man eine unbemannte Landefähre auf die andere Seite des Mondes schicken oder mit dem Raumschiff dort niedergehen sollte. Über die Chancen der Alternative wußte GOD soviel wie die Menschen: im Grunde gar nichts. Nach der von der Patrouille vorgenommenen Erkundung schien der Mond unbewohnt zu sein, obgleich er eine Atmosphäre besaß, die er, von anderthalbfacher Masse des Erdmondes, nicht halten konnte. Ihre Zusammensetzung bereitete überdies weiteres Kopfzerbrechen: Edelgase — Argon, Krypton und Xenon mit einer Beimischung von Helium. Ohne künstliche Zufuhr hätte sich diese Atmosphäre innerhalb weniger Jahrhunderte verflüchtigt.


Das Plasmafeuer zeugte noch mehr von technischen Arbeiten. Dennoch blieb der Mond stumm, er besaß auch kein Magnetfeld, und Steergard entschloß sich zur Landung. Sollte es dort irgendwelche Geschöpfe geben, so nur unterirdisch, tief unter der von Kratern und Calderen zerklüfteten Felskruste. Erstarrte Lavameere erglänzten in einem Kranz n Streifen, die sich vom größten Krater, aus der Nähe des Pols, nach allen Seiten streckten.

Steergard faßte den Entschluß zur Landung, nachdem er den HERMES zuvor zum Kometen gemacht hatte. An den Längsseiten des Rumpfes öffneten sich die Kingstonventile und stießen Schaum aus, der, durch Gasspritzen aufgebläht, das ganze Raumschiff einhüllte wie ein großer Kokon unregelmäßig geronnener Blasen.

Der HERMES steckte in der schwammigen, porösen Masse wie ein Kern in der Frucht.

Selbst aus der Nähe sah er wie ein langer, von Kratertrichtern übersäter Gesteinsbrocken aus.

Die Reste der geplatzten Blasen machten diese Kruste der eines Asteroiden ähnlich, der seit Urzeiten von Staubwolken und Meteoren bombardiert worden war.

Der unerläßliche Antriebsausstoß sollte dem Kometenschweif gleichen, der sich im Verlauf des Fluges ins Perihel zentrifugal von der Sonne wegwandte. Diese Illusion wurde durch die Ausstoßdeflektoren erzielt. Eine genaue Spektralanalyse hätte zwar einen Impuls und eine Zusammensetzung der Gase aufgedeckt, wie sie bei Kometen nicht vorkommen, aber eine solche Eventualität war einfach nicht auszuschließen. Der HERMES ging mit hyperbolischer Geschwindigkeit von der Sexta zur Bahn der Quinta, schließlich gab es, wenngleich selten, derlei schnelle, keinem System zugehörige Kometen. Nach zweiwöchiger Reise bremste er hinter dem Mond ab und fuhr die Manipulatoren mit den Fernsehaugen aus. Die Illusion eines alten, zerschundenen Felsens war vollkommen — erst unter einem energischen Schlag gab das vorgebliche Gestein elastisch nach wie ein Ballon.

Die Landung selbst ließ sich nicht tarnen. Mit dem Heck voran in die Mondatmosphäre tauchend, verbrannte der HERMES die Hülle der Düsen, und den Rest besorgte die atmosphärische Reibung. Sie riß die glutheiße Maskierung herunter; nackt, flammenspeiend, setzte der gepanzerte Koloß seine sechs weitgespreizten Pranken auf den Grund, dessen Festigkeit er zuvor mit einer Salve von Geschossen geprüft hatte. Eine gute Weile ging es rings um das Raumschiff wie ein Regen nieder: Die verbrannte Tarnhülle fiel herab. Danach bot sich ein Blick über die gesamte Umgebung, bis an den Horizont. Das Plasmapendel lag hinter dem gebauchten Rand eines großen Kraters. Der Druck betrug vierhundert Hektopascal, man konnte die Flugaufklärung mit Helikoptern unternehmen. Ohne Tarnung, vor aller Augen. Das Spiel begann, der Einsatz war bekannt — die Regeln nicht.

Den acht Helikoptern, die in ein tausend Meilen messendes Rund geschickt worden waren, geschah nichts. Aus ihren Aufnahmen entstand eine Karte, die die achttausend Quadratkilometer um den Landeort erfaßte. Die Karte eines typischen Himmelskörpers ohne Luft, chaotisch verstreute Krater und Trichter, teilweise gefüllt mit vulkanischem Tuff. Nur im Nordosten hatten die Videogeräte eine bewegte Feuerkugel im Bild festgehalten. Sie schoß über felsigen Grund, in den sie entlang ihrer Bahn einen flachen, heißen Hohlweg geschmolzen hatte. Dieses Gelände wurde nochmals von den Helikoptern aufgesucht, die im Flug und vom Boden aus Messungen und Spektralanalysen vornahmen. Einer wurde mit Absicht in die Nähe der Sonnenkugel gesteuert. Bevor er verglühte, gab er genau Temperatur und Strahlungsleistung durch — sie lag im Terajoule-Bereich. Versorgt wurde sie von einem Wechselmagnetfeld. Es erreichte 1010 Gauß.

Nach Tiefenuntersuchungen des Magmabodens unter dem Hohlweg ließ Steergard von GOD ein Schema des dort entdeckten Netzes von Knotenpunkten anfertigen, von denen sich bis tief unter die Lithosphäre zahlreiche Schächte senkten.

Der Kommandant zeigte sich von der Diagnose kaum überrascht. Der Zweck der gewaltigen Anlage war unklar. Es unterlag jedoch keinem Zweifel, daß die Arbeiten mitten im vollen Gange eingestellt, alle zu den Schächten und Strecken führenden Eingänge geschlossen oder vielmehr durch Sprengen verschüttet worden waren, nachdem man zuvor das schwere Gerät hineingestürzt hatte. Die Mikrosonne aus Plasma wurde über ein Flußführungssystem durch thermo-elektrische Umformer gespeist, die Energie der Asthenosphäre entnommen — etwa fünfzig Kilometer unter dem äußeren Mantel der Mondkruste.

Steergard schickte zwecks genauer Untersuchungen zwar schwere Allüberallschreiter in das Gelände und durfte sich auch ihrer Rückkehr freuen, ordnete aber für sofort den Start an. Die Physiker, vom Ausmaß des unter dem Mondboden liegenden Energiekomplexes fasziniert, wären gern länger geblieben, um möglicherweise sogar an die verspundeten Tunnel heranzukommen.

Steergard blieb hart. Es gab zu viele Unbekannte: der Zustand der aufgefangenen Satelliten, der mit solchem Aufwand mitten in der Wüste betriebene, unbegreifliche Bau, die — falls Kenntnislosigkeit sich steigern läßt — noch unbegreiflichere, gleichsam in der Panik einer Evakuierung erfolgte Aufgabe dieser Arbeiten. Was alles er auch zur Erklärung anführte, den Gedanken, der ihm dämmerte, behielt er für sich.

Die detaillierte Untersuchung einer fremden Technologie führte zu nichts. Die Fragmente gaben kein schlüssiges Bild, so wenig wie die Splitter eines zerbrochenen Spiegels. Sie sind das unleserliche Ergebnis dessen, was sie zerschlug. Das Dilemma steckte nicht in den Werkzeugen dieser Zivilisation, sondern in dieser selbst. Als Steergard beim Gedanken daran die ganze Last der ihm übertragenen Aufgabe fühlte, fragte Arago über das Wechselsprechgerät an, ob er ihn aufsuchen dürfe.

„Für ein kurzes Gespräch gern, denn in einer knappen Stunde starten wir“, gab er zur Antwort, obwohl er dieses Gespräch durchaus nicht wünschte. Arago erschien sogleich. „Hoffentlich störe ich wirklich nicht…“

„Natürlich stören Sie, Hochwürden“, sagte Steergard und bot dem Geistlichen, ohne aufzustehen, einen Sessel an. „Im Hinblick allerdings auf den Charakter Ihrer Mission… Ich höre.“

Der Dominikaner blieb ganz ruhig.

„Ich folge weder außerordentlichen Befugnissen noch einer Mission. Ich bin auf diesen Platz gesetzt worden wie Sie auf den Ihren. Nur mit einem Unterschied. An meinen Entscheidungen hängt nichts, an den Ihren alles.“

„Das weiß ich.“

„Die Bewohner dieses Planeten sind wie ein lebender Organismus, den man beliebig untersuchen, aber nicht fragen darf nach dem Sinn seiner Existenz.“

„Von einer Qualle wird man keine Antwort erwarten, aber von einem Menschen?“

Steergard sah ihn an, in seinem Blick lag mehr als nur Interesse. Er schien begierig nach einem wichtigen Wort. „Von einem Menschen ja, von der Menschheit nicht. Quallen tragen keine Verantwortung. Jeder von uns aber ist verantwortlich für das, was er tut.“

„Ich kann mir denken, was hinter diesen Worten steckt. Hochwürden wollen wissen, wozu ich entschlossen bin.“

„So ist es.“

„Wir lüften das Visier.“

„Im Verlangen nach Verständigung?“

„Ja.“

„Und wenn die anderen dieses Verlangen nicht erfüllen können?“

Steergard stand auf, betroffen, denn Arago hatte durchschaut, was er zu verbergen gesucht hatte. Er stand so nahe vor dem Mönch, daß er fast dessen Knie berührte. „Was also ist zu tun?“ fragte er leise.

Arago erhob sich. Ganz gerade stehend, nahm er Steergard bei der Rechten und drückte sie. „Es liegt in guter Hand“, sagte er und ging hinaus.

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