VI Die Quinta

Vor dem Abtauchen meldeten die Radargeräte ein letztes Mal den HERMES: Er folgte am Himmelsgewölbe einer gewaltigen hyperbolischen Bahn und stieg immer hoher über den Schlauch der galaktischen Spirale, um im Hochvakuum mit lichtnaher Geschwindigkeit weiterzufliegen. Das Funkecho kam in zunehmenden Abständen — ein Zeichen, daß der HERMES den Wirkungen der Relativität unterlag und seine Bordzeit immer mehr von der der EURYDIKE abwich. Die Verbindung zwischen dem Aufklärer und dem Mutterschiff riß endgültig ab, als die Signale des automatischen Senders die Wellenlänge vergrößerten, sich zu kilometerlangen Bändern dehnten und schwanden. Das letzte verzeichnete der empfindlichste Indikator siebzig Stunden nach dem Start, als der Hades, von dem selbstmörderischen ORPHEUS getroffen, bereits in der Gravitationsresonanz bebte und die temporären Schlünde geöffnet hielt. Für viele Jahre mußte nun unbekannt bleiben, was immer dem Aufklärer und den in ihm eingeschlossenen Menschen zustieß. Den Schläfern im Embryonator wurde der Flug nicht lang, ihr Zustand war dem Tode ähnlich, bar sogar aller Träume, die ein Gefühl der verfließenden Zeit hätten geben können. Über den weißen Sarkophagen im Tunnel des Embryonators schien durch das Panzerglas des Periskops Alpha Harpyiae, ein blauer Riese, von den anderen Sternen der Konstellation weggeschossen durch eine seiner eigenen, asymmetrischen Explosionen — er war eine junge Sonne und hatte sich nach der nuklearen Zündung seines Innern noch nicht stabilisiert. Nach dem Verschwinden der EURYDIKE hatte GOD die Steuerung übernommen. Der HERMES war über die Ekliptik aufgestiegen und fiel nun wie ein Stein auf den Hades zu. Dabei entfernte er sich zunächst von den Sternen, die sein Ziel waren, um sie auf Kosten der Gravitation des Giganten dann um so leichter zu erreichen. Er umkreiste den Kollapsar nämlich so, daß er durch dessen Schwerefeld eine solide Beschleunigung erhielt. Bei Unterlichtgeschwindigkeit fuhr der HERMES die Einlaufe der Strömungsreaktoren aus, aber das Vakuum war so hoch, daß die eingefangenen Atome nicht zur Zündung ausreichten. GOD reicherte den Wasserstoff daher durch Tritiumspritzen an, bis die Synthese einsetzte. In die bis dahin schwarzen Trichter der Triebwerke trat ein immer schneller pulsierender, immer grellerer Schein, und die Feuersäulen des Heliums schössen ins Dunkel. Die Starthilfe, die der Laser der EURYDIKE dem Aufklärer gegeben hatte, war geringer gewesen als vorgesehen, denn einer der Hypergolbooster hatte nicht den richtigen Schub geliefert, der Heckspiegel war aus dem Kurs gekommen, und schließlich war die EURYDIKE wie vom Nichts verschlungen. GOD jedoch glich den Verlust durch die zusätzliche Leistung aus, die dem Hades gestohlen wurde.

Bei neunundneunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit wurde das Vakuum in den Einlaufen der Triebwerke dichter, Wasserstoff war reichlich vorhanden, die Dauerbeschleunigung vergrößerte die Masse des Aufklärers schon viel mehr als sein Antrieb. GOD hielt ohne die geringste Abweichung zwanzig g, doch der auf die vierfache Überlastung berechneten Konstruktion tat das nicht den geringsten Schaden. Kein lebender Organismus, der größer gewesen wäre als eine Laus, hätte bei diesem Flug das eigene Gewicht ausgehalten. Der Mensch hätte mehr als zwei Tonnen gewogen und unter dieser Presse beim Atmen nicht die Rippen bewegen können. Das Herz wäre geplatzt, denn es hätte eine Flüssigkeit pumpen müssen, die weit schwerer gewesen wäre als flüssiges Blei. Die Herzen hier jedoch schlugen nicht, die Männer atmeten nicht, obgleich sie nicht tot waren. Sie ruhten in eben der Flüssigkeit, die ihnen das Blut ersetzte. Pumpen, leistungsfähig auch bei hundertfacher Schwerkraft (die freilich die Embryonisierten nicht ausgehalten hätten), ließen Onax in den Gefäßen kreisen, die Herzen zogen sich ein-, zweimal pro Minute zusammen, arbeiteten aber nicht, sondern wurden nur bewegt vom Zustrom des lebenspendenden künstlichen Bluts.

Zum angemessenen Zeitpunkt nahm GOD eine Kursänderung vor, der HERMES flog jetzt direkt auf die korotierende Sternenballung der Galaxis zu. Er hatte einen Schutzschild ausgefahren, der sich in konstanter Entfernung von einigen Meilen vor dem Bug des Raumschiffs fortbewegte und als Strahlenpanzer diente. Ohne ihn wären bei der entwickelten Geschwindigkeit durch kosmische Strahlung zu viele Neuronen m den Gehirnen der Menschen zerstört worden. Der blaue Alpha-Stern war bereits achtern zurückgeblieben. Innerhalb des Tunneldecks im langen Heck des HERMES herrschte dennoch keine totale Finsternis, denn die Reaktorhüllen boten den Quanten geringen Durchlaß, und an den Wänden glomm die Tscherenkow-Strahlung. Dieses blasse Dämmerlicht hielt sich in scheinbarer Reglosigkeit, unveränderlich in völliger Stille. Nur zweimal zuckten jähe, grelle Blitze durch das dickwandige Fenster herein, das vom Embryonator durch eine Trennwand in den oberen Steuerraum führte.

Beim erstenmal war der bisher leere Kontrollmonitor des Schutzschilds weiß aufgeflammt und sofort erloschen. GOD, in einer Picosekunde hellwach, gab den entsprechenden Befehl. Der Strom warf Hebel herum, der Bug des Raumschiffs Öffnete sich und spie flammend einen neuen Schutzschild nach vorn, denn der alte war von einer Handvoll kosmischen Staubs beim Aufprall in eine lodernde Wolke berstender Atome verwandelt worden. Der HERMES flog durch ein Sonnenfeuerwerk, das sich weit nach achtern zog, und jagte weiter. Ein Automat fing nach wenigen Sekunden ein unerwünschtes seitliches Schwanken des neuen Schildes ab, immer langsamer leuchteten abwechselnd die Kontrollämpchen von Backbord und Steuerbord auf, es sah aus, als blinzle ein schwarzer Kater mit bernsteingelben Augen GOD verträglich und besänftigend zu. Dann blieb an Bord alles wieder ruhig bis zum nächsten Treffer durch eine Prise Meteoriten- oder Kometenstaubs, und die ganze Operation wiederholte sich auf genau die gleiche Weise. Endlich gaben die mit ihren Elektronen zappelnden Atome der Cäsiumuhren das ersehnte Zeichen. GOD brauchte dazu nicht auf Anzeigegeräte zu gucken, ihre Angaben waren ja seine Sinne, und er las sie mit dem Gehirn ab, das Witzbolde auf der EURYDIKE wegen seiner drei Zentimeter Durchmesser ein Hühnerhirn genannt hatten. GOD achtete auf die Anzeigen der Lumenüberwachung, um bei der Reduzierung des Schubs den Kurs zu halten. Die Triebwerke, gedrosselt und umgeschwenkt, begannen das Raumschiff abzubremsen. Auch dieses Manöver klappte vorzüglich: die Leitsterne auf den Fokatoren blieben ohne das kleinste Zucken an ihrem Platz, jede Korrektur der programmierten Flugbahn war also unnötig.

Die lichtnahe Geschwindigkeit sollte — ein Mikroparsek vor der Juno, dem äußersten Planeten — auf etwa achtzig Kilometer pro Sekunde, die Grenzgeschwindigkeit im Zeta-System, reduziert werden. Im Grunde war dazu nichts weiter nötig als die Umkehrung des Haupttriebwerks, bis es mangels Wasserstofftreibstoff von selbst erlosch, und der Umstieg auf die Bremsung mit Hypergol. GOD hatte jedoch noch rechtzeitig die Warnung der EURYDIKE empfangen und programmierte, bevor er die Reanimation in Gang setzte, die Bremsung um.

Sowohl das Feuer in den Wasserstoff-Helium-Düsen als auch die Flammen der selbstzündenden Treibstoffe wären in ihrer technischen und damit künstlichen Charakteristik leicht erkennbar gewesen. GOD aber hatte sich inzwischen ein „stark eingeschränktes Vertrauen zu den Brüdern im Geiste“ zur obersten Regel gemacht. Er kramte nicht in der Bibelkunde und analysierte nicht die Vorfälle zwischen Kain und Abel, sondern löschte die Staustrahl-Durchström-Triebwerke im Schatten der Juno, deren Gravitation er zur Drosselung der Geschwindigkeit und zur Änderung des Kurses nutzte. Der zweite, ein gasförmiger Planet der Zeta, diente ihm dann dazu, auf die parabolische Geschwindigkeit herunterzugehen. Erst dann setzte er die Reanimatoren in Betrieb. Gleichzeitig entsandte er ferngesteuerte Automaten, um die Bug- und Heckdüsen mit einer Tarnapparatur in Gestalt elektromagnetischer Mischer zu versehen. Von da an verschwammen die Triebwerksflammen: Ihre Strahlung wurde spektral zerstreut.


Die Bremsetappe, die das größte Feingefühl erforderte, lag in den Außenräumen des Systems jenseits der Juno. GOD plante und absolvierte sie so perfekt, wie es sich für den Computer einer unüberbietbaren Generation gehörte: Er durchquerte mit dem HERMES einfach die obersten Schichten der Atmosphäre des gasförmigen Riesen. Vor dem Raumschiff entstand ein Kissen glühenden Plasmas, in dem es an Geschwindigkeit verlor. GOD holte dabei aus der Klimatisierung des HERMES alles heraus, was nur möglich war, damit die Temperatur im Embryonator nicht um mehr als zwei Grad stieg.

Das Plasmakissen vernichtete augenblicklich den Schutzschild, der ohnehin abgeworfen und innerhalb der Planetenbahnen durch einen anderen als Schirm gegen Staub und Kometenreste ersetzt werden sollte. Der HERMES war in diesem Feuerbad wie geblendet, kühlte aber noch im Schattenkegel der Juno ab, und GOD bewirkte, daß die durch den Bremsvorgang ausgelösten Glutwolken, die beinahe Protuberanzen glichen, den Newtonschen Gesetzen gehorchten und auf den schweren Planeten niedersanken. Nicht nur die Anwesenheit, sondern auch die Spuren des HERMES waren damit verwischt. Das Raumschiff trieb mit gedrosselten Triebwerken im fernen Aphel, als im Embryonator sämtliche Lichter angingen und die Kopfstücke der Medcoms betriebsbereit über den Containern hingen. Laut Programm sollte als erster Gerbert aufwachen, damit er als Arzt eingreifen konnte, falls es notwendig wurde. Hier jedoch kam es zu einer Störung der Reihenfolge. Der biologische Faktor war trotz allem das schwächste Glied der so komplizierten Abläufe und Verrichtungen geblieben. Der Embryonator befand sich im Mitteldeck und war im Verhältnis zum ganzen Raumschiff eine winzige Nußschale, umgeben von vielschichtigen Panzerhüllen und einer Strahlenschutzisolation. Zwei Ausgangsklappen führten zu den Wohnräumen. Das Zentrum des HERMES, „Städtchen“ genannt, war durch Verbindungsschächte mit dem zweigeschossigen Steuerraum gekoppelt. Zwischen den Bugschotten lagen Decks mit einer Reihe von Laboratorien, die sowohl bei Schwerelosigkeit als auch unter Schwerkraft arbeiten konnten. Die Energievorräte steckten am Heck — in Annihilationscontainern, in dem Menschen unzugänglichen Maschinenraum und in Kammern besonderer Bestimmung. Zwischen Außen- und Innenpanzer des Hecks waren Baugruppen verborgen, die das Raumschiff landefähig machten: es setzte auf Ständer auf, die an die Beine von Gliederfüßern erinnerten. Vor der Landung mußte die Tragkraft des Bodens getestet werden, denn jede dieser gewaltigen Tatzen der Rakete hatte dreißigtausend Tonnen zu tragen. Mittschiffs auf der Steuerbordseite lagerten die Erkundungssonden und ihre Hilfsapparatur, auf der Backbordseite die Automaten für den Innenservice sowie Späh- und Suchgeräte für selbständige Fernaufklärung durch Flug oder Marsch — auch Großschreiter fehlten dabei nicht. Als GOD die Reanimationssysteme einschaltete, herrschte auf dem HERMES eine für diese Operation vorteilhafte Schwerelosigkeit, Bei Gerbert, der als erster behandelt wurde, waren Pulsschlag und Körpertemperatur bald wieder normal, aber er wachte nicht auf. GOD untersuchte ihn sorgfältig und zögerte mit einer Entscheidung. Er war verurteilt, selbständig zu handeln. Genau gesagt, er zögerte nicht, sondern verglich die Distribution der Erfolgs Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Eingriffe. Das Resultat der Anamnese war binomisch: Er konnte entweder Steergard, den Kommandanten, reanimieren oder aber den Arzt aus dem Embryonator nehmen und in den Operationssaal bringen. GOD handelte wie ein Mensch, der angesichts solcher Unbekannten eine Münze wirft. Wenn man nicht weiß, was besser ist, gibt es keine bessere Technik, als das Schicksal walten zu lassen. Der Randomisator wies auf den Kommandanten, und GOD hörte auf ihn. Zwei Stunden später zerriß Steergard die um seinen nackten Körper gespannte durchsichtige Folie und setzte sich, noch völlig benommen, in dem offenen Embryonator auf. Er blickte sich um, suchte denjenigen, der bereits über ihm stehen sollte. Der Lautsprecher sagte etwas zu ihm. Er wußte, daß dies eine Maschinenstimme war, daß mit Gerbert etwas passiert sein mußte, aber er verstand nicht recht die immer im Kreis wiederholten Satze. Er wollte aufstehen und rannte mit dem Kopf gegen den nicht völlig zurückgeklappten Deckel des Embryonators. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und die erste menschliche Äußerung im Zeta-System war ein saftiger Fluch. Klebrige weiße Flüssigkeit rann Steergard aus den Haaren über die Stirn, ins Gesicht und auf die Brust. Heftig richtete er sich auf- und schoß, die Beine angezogen, sich überkugelnd, den Tunnel zwischen sämtlichen Containern entlang bis zur Klappe m der Wand. Er lehnte sich mit dem Rücken an das weiche Polster in der Ecke zwischen Türsturz und Decke, wischte die an den Fingern klebenbleibende milchige Flüssigkeit von den Lidern und besah sich das zylindrische Innere des Embryonators. In einer Lücke zwischen den nun aufgeklappten Sarkophagen stand auch schon die Tür zum Baderaum offen. Steergard hörte sich in die Stimme der Maschine ein. Gerbert war wie alle anderen am Leben, aber nach Abschalten des Umbilikators nicht aufgewacht. Es konnte nichts Ernstes sein — sämtliche Enzephalographen und Elektrokardiographen zeigten die vorgesehene Norm. „Wo sind wir?“ fragte er.

„Hinter der Juno. Der Flug verlief ohne Störungen. Soll ich Gerbert in den Operationssaal bringen?“ Steergard dachte nach.

„Nein, ich kümmere mich selber um ihn. In welchem Zustand ist das Raumschiff?“

„Völlig funktionstüchtig.“

„Hast du Funksprüche von der EURYDIKE erhalten?“

„Jawohl.“

„Wichtigkeitsstufe?“

„Eins. Wortlaut vortragen?“

„Worum geht es?“

„Um eine Änderung des Verfahrens. Wortlaut angeben?“

„Wie lang sind diese Funksprüche?“

„3660 Glieder. Wortlaut vortragen?“

„Faß ihn zusammen!“

„Unbekannte kann man nicht zusammenfassen.“

„Wieviel Unbekannte?“

„Auch das ist eine Unbekannte!“

Während dieses Dialogs hatte sich Steergard von der Decke abgestoßen, um zu dem grünroten Licht über Gerberts Kryotainer zu gelangen. Als er am Durchgang zum Baderaum vorüberflog, sah er sich im Spiegel: ein muskulöser Körper, von Onax glänzend, der noch aus dem Rest der abgebundenen Nabelschnur tröpfelte — wie ein riesiges Neugeborenes, das von Fruchtwasser trieft. „Was ist passiert?“ fragte er, stemmte die bloßen Füße unter den Container und legte dem Arzt die Hände auf die Brust. Das Herz schlug regelmäßig. Auf den halbgeöffneten Lippen des Schlafenden stand weiß und klebrig der Onax. „Trage das vor, was feststeht“, sagte er. Gleichzeitig steckte er Gerbert die Daumen hinter die Kiefer und sah ihm in die Rachenhöhle. Er spürte die Wärme des Atems, fuhr mit dem Finger zwischen die Zähne und berührte vorsichtig den Gaumen. Gerbert zuckte zusammen und schlug die Augen auf. Sie standen voller reiner, glasklarer Tränen. Mit stiller Genugtuung konstatierte Steergard die Wirkung eines so primitiven Mittels, jemanden aus der Ohnmacht zu wecken. Gerbert war nicht aufgewacht, weil die Nabelschnur nicht völlig abgeschaltet war. Steergard klemmte den Katheter ab, der wegsprang und spritzend weiße Flüssigkeit entließ. Der Nabel schloß sich von selbst.

„Alles in Ordnung“, sagte Steergard, knetete die Brust des Arztes und spürte, wie sie ihm an den Händen klebte. Gerbert sah ihm mit weitgeöffneten Augen, wie vor Staunen erstarrt, ins Gesicht und schien nichts gehört zu haben. „GOD!“

„Jawohl.“

„Was ist passiert? Die EURYDIKE oder die Quinta?“

„Veränderungen auf der Quinta.“

„Zähl sie auf!“

„Die Aufzählung von Unklarem ist unklar.“

„Sag, was du weißt.“

„Vor dem Abtauchen traten schnell veränderliche Sprünge der Albedo auf, die Funkemission erreichte dreihundert Gigawatt weißen Rauschens. Auf dem Mond zuckt ein weißer Punkt, der für magnetisch gebundenes Plasma gehalten wird.“

„Irgendwelche Anweisungen?“

„Vorsicht und getarnte Erkundung.“

„Und konkret?“

„Nach eigenem Ermessen vorgehen.“

„Entfernung von der Quinta?“


„Eine Milliarde dreihundert Meilen in gerader Linie.“

„Tarnung?“

„Ausgeführt.“

„Mix?“

„Jawohl.“

„Hast du das Programm geändert?“

„Nur den Anflug. Das Raumschiff ist im Schatten der Juno.“

„Völlig funktionstüchtig?“

„Jawohl. Soll ich die Besatzung reanimieren?“

„Nein.

Hast du die Quinta beobachtet?“

„Nein. Ich habe die kosmische Geschwindigkeit in der Thermosphäre der Juno abgebremst.“

„Das ist gut. Jetzt schweig und warte.“

„Ich schweige und warte.“

Das laßt sich interessant an, dachte Steergard und massierte weiter die Brust des Arztes. Dieser seufzte und bewegte ich.

„Kannst du mich sehen?“ fragte ihn der nackte Kommandant. „Sprich nicht, blinzle!“ Gerbert blinzelte und lächelte.

Steergard war in Schweiß gebadet, aber er massierte weiter. „Diadochokynesis?“

schlug Steergard vor. Der Liegende schloß die Augen und tippte sich unsicher auf die Nasenspitze. Dann lächelten sie einander zu. Der Arzt zog die Beine an.

„Wulst du aufstehen? Laß dir Zeit.“

Statt einer Antwort packte Gerbert die Ränder seines Lagers und stemmte sich hoch. Er kam nicht zum Sitzen, der Schwung warf ihn in die Luft.

„Paß auf“, mahnte Steergard. „Null g. Nur langsam…“ Gerbert, inzwischen voll bei Bewußtsein, sah sich um. „Was ist mit den anderen?“ fragte er und schob die verklebten Haare aus der Stirn. „Die Reanimation ist im Gange.“

„Soll ich helfen, Doktor Gerbert?“ fragte GOD. „Nicht nötig“, sagte der Arzt und prüfte nacheinander die Kontrollgeräte über den Sarkophagen. Er drückte auf Brustkörbe, prüfte Augäpfel, untersuchte die Reaktion von Bindehäuten. Im Baderaum hörte er Wasser und Ventilatoren rauschen. Steergard duschte sich. Bevor der Arzt bei Nakamura, dem letzten der Schläfer, angelangt war, kam der Kommandant schon in Shorts und einem schwarzen Trikot aus seiner Kabine.

„Wie geht es den Leuten?“ fragte er.

„Alle gesund. Nur bei Rotmont die Spur einer Arrhythmie.“

„Bleib bei ihnen. Ich befasse mich mit der Post…“

„Gibt es Nachrichten?“

„Von vor fünf Jahren.“

„Gute oder schlechte?“

„Unverständliche. Ter Horab hat empfohlen, das Programm zu ändern. Sie haben vor ihrem Abtauchen etwas entdeckt — sowohl auf der Quinta als auch auf ihrem Mond.“

„Was bedeutet das?“

Steergard stand an der Tür. Der Arzt war Rotmont beim Aufstehen behilflich. Drei waren schon beim Duschen. Die anderen schwebten umher, erkannten einander, besahen sich im Spiegel und redeten durcheinander.

„Laß mich wissen, wenn sie zu sich gekommen sind. Zeit haben wir genug.“

Mit diesen Worten stieß sich der Kommandant von der Klappe ab, schoß zwischen den Nackten wie zwischen weißen Fischen hindurch und verschwand im Durchgang zum Steuerraum.


Nach Prüfung der Lage verließ Steergard mit kleinstem Schub den Schattenkegel und führte das Raumschiff auf eine Ebene der Ekliptik, um erste Beobachtungen anzustellen. Die Quinta war nahe der Sonne als Sichel zu sehen, ganz in Wolken gehüllt. Das Rauschen hatte sich auf vierhundert Gigawatt verstärkt. Die Fourier-Analysatoren konnten keinerlei Modulation nachweisen. Der HERMES hatte sich bereits mit einer Hülle überzogen, die jede nichtthermische Strahlung schluckte, so daß er mit Radar nicht zu orten war. Steergard wollte lieber übertriebene Vorsicht walten lassen, als sich auch nur das geringste Risiko zuschulden kommen lassen. Eine technische Zivilisation bedeutete Astronomie, diese wiederum empfindliche Bolometer, und so konnte selbst ein Asteroid, der wärmer war als das Vakuum, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Daher auch wurden in den Wasserdampf, der jetzt zum Manövrieren diente, Sulfide gemischt, an denen seismische Gase reich sind. Vulkanisch aktive Asteroiden sind zwar eine Rarität, zumal mit einer so kleinen Masse wie der des Aufklärers, aber der umsichtige Kommandant hatte Sonden in den Raum entsandt und auf das eigene Raumschiff gerichtet, um sich zu vergewissern, daß der für die fernere Korrektur des Fluges unerläßliche Gebrauch kleiner Dampftriebwerke selbst bei der beabsichtigten Annäherung an die Quinta nahezu unerkennbar war. Der Anflug sollte vom Mond aus erfolgen, um zunächst diesen genau zu untersuchen.

Alles war bereits im Steuerraum versammelt. Hier herrschte Schwerelosigkeit, und man kam sich vor wie im Innern eines großen Globus mit einem konischen Winkel, abgeschlossen von der Wand der Monitore. Die Sessel waren mit einem Haftbezug versehen — man brauchte, um festzusitzen, nur die Armstützen zu packen und den Körper an das Gewebe zu drücken. Wollte man aufstehen, mußte man sich kräftig abstoßen. Das war einfacher und besser als die Benutzung von Gurten. Zu zehnt saßen sie also da wie in einem kleinen Kinosaal, und die vierzig Monitore zeigten den Planeten, jeder in einem anderen Bereich des Spektrums. Der größte, zentrale Monitor konnte eine Synthese vornehmen und die monochromatischen Bilder je nach Befehl übereinanderlegen.

In den Lücken der von Passaten und Zyklonen geballten Wolken zeichneten sich undeutlich die stark zerklüfteten Küsten der Ozeane ab. Die einzelnen Filtereinstellungen ließen die Oberfläche einmal des Wolkenmeeres, dann wieder des darunter verborgenen Planeten erkennen. Gleichzeitig hielt GOD seinen eintönigen Vortrag. Er verlas den letzten Funkspruch der EURYDIKE.

Biela vermutete seismisch verursachte Beschädigungen der technischen Infrastruktur der Quintaner. Lakatos und einige andere standen zur sogenannten naturalistischen Hypothese: Die Bewohner des Planeten schleuderten einen Teil des Wassers der Ozeane in den Raum, um die Festlandsfläche zu vergrößern. Der vom Ozean auf seinen Boden ausgeübte Druck ließ nach, und infolgedessen wurde das Gleichgewicht in der Lithosphäre gestört. Der von innen kommende Druck rief große Brüche der Kruste hervor, die unter dem Ozean am dünnsten war. Deshalb hörte man auf, Wasser in den Kosmos zu befördern. Kurz, das ganze Unternehmen schlug katastrophal auf den Planeten zurück.

Andere hielten diese Hypothese schon deshalb für falsch, weil sie die anderen unverständlichen Erscheinungen nicht berücksichtigte. Überdies hätten Geschöpfe, die zu Arbeiten im Maßstab des ganzen Planeten fähig waren, die seismischen Folgen vorausgesehen. Berechnungen zufolge, denen als Ausgangsmodell die Erde diente, konnten kataklytische Bewegungen der Lithosphäre eintreten, wenn mindestens ein Viertel des Ozeanvolumens entfernt worden wäre. Selbst eine durch die Beseitigung von sechs Trillionen Tonnen Wasser verursachte Druckminderung wäre nicht imstande gewesen, globale Verwüstungen anzurichten. Eine Gegenhypothese vermutete eine Katastrophe nach dem Prinzip der Kettenreaktion oder der „Dominostein-Theorie“ als unerwünschten Effekt von Versuchen mit schlecht beherrschter Gravitologie. Andere Mutmaßungen sprachen von absichtlicher Destruktion einer veralteten technologischen Basis, einer Art Explosion, unbeabsichtigten Klimastörungen bei der Beförderung des Wassers in den Kosmos oder einem zivilisatorischen Chaos mit unbekannten Ursachen. In keiner dieser Hypothesen ließen sich alle beobachteten Phänomene so unterbringen, daß sie ein geschlossenes Ganzes bildeten. Daher gab der von Ter Horab vor dem Abstieg in den Hades abgesetzte Funkspruch den Kundschaftern die Vollmacht, völlig selbständig zu handeln und — falls sie es für richtig hielten — sämtliche festgelegten Programmvarianten außer Kraft zu setzen.

Загрузка...