Normalerweise, wenn das Raumschiff mit eigener Kraft flog, teilte sich allen an Deck und hauptsächlich in der Messe eine bessere Stimmung mit, beispielsweise weil man während der Mahlzeiten den gordischen Knoten vergessen konnte, der einem immer stärker die Kehle zuschnürte. Schon allein, daß man sich an den Tisch setzen, die Schüssel kreisen lassen, ganz normal Suppe auf den Teller und Bier ins Glas gießen, sich das Salz reichen und den Kaffee mit einem Löffelchen Zucker süßen konnte, bedeutete die Befreiung von Übungen, die in der Schwerelosigkeit unvermeidlich sind und — wie schon tausendfach gesagt wurde — eine derartige Loslösung aus den Banden der Gravitation, eine so vollkommene Freiheit bedeuten, daß dadurch nicht nur die Sitten und Gewohnheiten, sondern auch der Körper des Menschen bei jeder Bewegung zum Gespött wird. Ein zerstreuter Astronaut hat überall Beulen und blaue Flecken, ist von oben bis unten mit Getränken bekleckert und macht in seiner Kajüte Jagd auf durcheinanderwirbelnde Papiere. Befindet er sich jedoch ohne „Rückstoßmaterial“
in einem größeren Raum, so ist er hilfloser als ein Kleinkind: Dieses kann wenigstens davonkriechen, er aber hängt völlig in der Luft. Vergeßliche Leute können sich aus dieser Zwangslage nur dadurch retten, daß sie Armbanduhren und — falls das nicht ausreicht — Kleidungsstücke von sich stoßen, denn die Gesetze der Newtonschen Mechanik offenbaren sich in ihrer ganzen Absolutheit: Wenn auf einen ruhenden Körper keine Kraft wirkt, bringt ihn nichts in Bewegung als die Regel von Aktion und Reaktion. Als Harrach noch zu Scherzen aufgelegt war, sagte er einmal, der perfekte Mord ließe sich in einer Raumstation sehr leicht begehen und es sei zweifelhaft, daß ein Gericht den Mörder verurteilen könne: Man braucht den als Opfer Ausersehenen nur zu überreden, sich zum Baden nackt auszuziehen, und ihm dann einen so berechneten Schubs zu geben, daß er zwischen Wanden und Decke hängenbleibt und sich windet, bis er vor Hunger stirbt. Vor Gericht könne man dann aussagen, man sei gegangen, ihm ein Handtuch zu holen, und habe es vergessen. Ein Handtuch nicht abzuliefern ist kein Verbrechen, und überdies heißt es ja: Nullum crimen sine lege — das Strafrecht hat in seinen Konsequenzen die Schwerelosigkeit irgendwie nicht in Betracht gezogen…
Nachdem die neuen, von Tempe als „Kriegszustand“ bezeichneten Anordnungen ergangen waren, wollte nicht einmal bei der Abendmahlzeit Stimmung aufkommen.
Man hätte die Schiffsmesse für das Refektorium eines Klosters mit strengem Schweigegebot halten können. Die Männer schienen gar nicht wahrzunehmen, was sie aßen, sie schluckten es und überließen alles weitere ihren Mägen, sie selbst nämlich waren noch bei der Verdauung dessen, was Steer-gard ihnen am Nachmittag mitgeteilt hatte. Der Kommandant hatte den Operationsplan vorgelegt und dabei so leise gesprochen, daß er kaum zu hören war. Wer ihn kannte, wußte, daß sich in dieser eisigen Gelassenheit seine Wut äußerte.
„Die Einladung ist eine Falle. Wenn ich mich irre, was mir am liebsten wäre, dann kommt es zum Kontakt. Ich sehe jedoch keinerlei Anlaß, optimistisch zu sein. Es kann durchaus sein, daß es auf einem Planeten, wo seit mindestens hundert Jahren ein Krieg mit kosmischer Sphäromachie im Gange ist, einen neutralen Staat gibt, aber es ist unmöglich, daß er einen Gast aus dem Kosmos ohne das Einverständnis der im Kampf liegenden Mächte bei sich aufnehmen darf.
Dem Kommunique zufolge liegt dieses Einverständnis vor. Ich habe versucht, die Situation umzukehren, also anzunehmen, wir seien einer der Generalstäbe der Quinta, und die Fragen zu beantworten, wie dann auf einen Appell zu reagieren wäre, der von dem Eindringling an die gesamte Bevölkerung gerichtet worden ist.
Ein solcher Stab hat bereits einige Kenntnis vom Potential des Ankömmlings. Er weiß, daß dieser im Raum nicht zu liquidieren ist, denn das ist mit den verfügbaren Mitteln bereits versucht worden — vielleicht nicht mit allen Mitteln.
Der Stab weiß, daß der Eindringling in Wahrheit nicht aggressiv ist, obgleich er den Kontakt durch eine Demonstration der Stärke zu erzwingen suchte, zu deren Objekt er den unbewohnten Mond gemacht hat, obgleich er mit viel geringerem Aufwand gegen den Eisring losschlagen konnte, dem ohnehin nicht mehr viel zum Zusammenbruch fehlt. Der Stab weiß natürlich auch, daß der Lunoklasmus mit seinen katastrophalen Folgen — wenn nicht von ihm allein oder in zeitweiliger Allianz mit den Gegnern — auf jeden Fall seitens der Quinta verschuldet worden ist. Ich betone: Er weiß das ganz gewiß, denn man kann keine militärischen Aktionen von kosmischem Ausmaß unternehmen, wenn man sich nicht auf hochqualifizierte Wissenschaftler verlassen kann. Von da an stützen sich die Erkenntnisse des Stabs auf Indizien. Lange vor der Beherrschung der Gravitation kommt man hinter deren Eigenschaften, bis hin zu ihren extremen Formen wie dem Einbruch der Schwarzen Löcher. Die Art und Weise, in der wir den nächtlichen Angriff abgeschlagen haben, war für sie eine Überraschung, Wenn sie aber auch nur einigermaßen tüchtige Physiker haben, erkennen sie, daß die Gravitationsdefensive für das Raumschiff auf dem Planeten selbst genauso selbstmörderisch ist wie die Offensive. Aus der Relativität läßt sich keine Konfiguration eines in sich geschlossenen Schwerefelds ableiten, bei der sich das Raumschiff, indem es dieses Feld emittiert, zusammen mit dem Planeten nicht selbst vernichten würde. Ich habe vor, zwei Landefähren in das angebotene Gebiet zu schicken, und ich vermute, daß sie nicht die geringste Gefahr entdecken werden. Wenn der HERMES auf den Planeten gelockt werden soll, müssen die Landefähren zurückkehren. Sie dürfen dies nicht unverrichteterdinge tun — man wird für sie etwas inszenieren, um uns Vertrauen und Neugier zugleich einzuflößen. Gastfreundlich werden die Quintaner erklären, ein echter Kontakt sei nur zwischen lebendigen Wesen, nicht zwischen Maschinen möglich. Das ist schwer in Abrede zu stellen. Nehmen die Dinge also den Lauf, wie ich ihn dargestellt habe, wird der HERMES landen. Dann kommt es zur definitiven Entscheidung. Wir werden die Landefähren nach ihrer Rückkehr nicht an Bord nehmen, denn nach allem, was vorgefallen ist, will ich die Vorsicht hundertmal übertreiben, statt sie ein einziges Mal zu vernachlässigen. Sobald wir die Raketen also wiederhaben, kündigen wir unsere Landung an.
Ich komme jetzt auf die Details der Operation zu sprechen. Nachdem die Landefähren abgesetzt sind, fliegen wir mit halber Kraft von der Quinta zur Sexta. Beide stehen für uns günstigerweise m ähnlicher Opposition zur Sonne, die Sexta ist von unseren Sonden bereits untersucht worden, und wir wissen, daß sie keine Lufthülle hat, dafür aber seismisch stark aktiv ist, sich folglich weder für eine Besiedlung noch für die Einrichtung von Militärstützpunkten eignet. Der Planet selbst wäre gefährlicher gewesen als jeder Feind. Wir gehen in den Schatten der Sexta, und der HERMES, der aus diesem Schatten wieder herauskommt, wird von weitem in nichts von unserem Raumschiff zu unterscheiden sein. Aus der Nähe ist es was anderes, ich nehme jedoch an, daß sie ihm bis zum Eintritt in ihre Atmosphäre nichts in den Weg legen werden. Aus der Sicht der Sideristik könnten sie ihn schon in der Ionosphäre angreifen, aber daran glaube ich nicht.
Das Raumschiff ist nach einer normalen, weichen Landung eine viel kostbarere Beute als ein zertrümmertes Wrack, und es kann auch Angriffshandlungen weniger Widerstand leisten, als wenn es beim Landen das feuerspeiende Heck nach unten kehrt und dadurch manövrierfähig und fluchtbereit bleibt.
Dieser HERMES wird Funksignale senden und empfangen können, er wird ein Triebwerk haben, das die Landung ermöglicht, allerdings nur für einmal. Zwischen ihm und uns gibt es keinen direkten Kontakt. Ich komme zum Schluß: Unsere Antwort wird davon abhängen, wie er empfangen wird.“
„Sodom und Gomorrha?“ fragte Arago. Steergard musterte den Mönch eine gute Weile, ehe er mit unverhohlener Bosheit sagte: „Hochwürden, wir gehen nicht über das hinaus, was in der Heiligen Schrift steht. Nur greifen wir zu ihrer Erstausgabe. Die Nachauflage ist nicht mehr aktuell, denn so uns jemand einen Streich gab auf den rechten Backen, so haben wir ihm den anderen auch hingehalten, und das nicht nur einmal. Es gibt keine weitere Diskussion, sie wäre gegenstandslos, denn die Wahl zwischen dem Alten und dem Neuen Testament liegt nicht bei uns, sondern bei den Quintanern. Ist der Solaser umgestellt?“
Ei Salam bejahte.
„Und GOD arbeitet nach dem Programm SG? Gut, dann verhandeln wir jetzt über die Landefähren. Damit werden sich die Kollegen Rotmont und Nakamura befassen. Aber erst nach dem Abendessen.“
Niemand sah den Start der Landegeräte. Um Mitternacht unter automatischer Kontrolle abgeschossen, flogen sie der Quinta entgegen, während der HERMES ihnen sein Hinterteil zukehrte und bis Sonnenaufgang beschleunigte: Um die 70
Millionen Kilometer entfernte Sexta zu erreichen, brauchte er knapp achtzig Stunden bei hyperbolischer Geschwindigkeit. In den elektronischen Labors war bereits die Produktion der bei dem Erkundungsflug bisher nicht eingesetzten Disperten — „dispersive Diversanten“ — angelaufen, die auch Bienenaugen genannt wurden. Es waren Millionenschwärme mikroskopisch kleiner Kristalle; in einem Raum von einer Million Kubikmeilen vor der Sexta verteilt, sollten sie den Gesichtssinn des HERMES bilden, unsichtbare, ferne Augen, die von dem Raumschiff ausgestreut wurden. Auf der Erde dienten sie der Apikographie, Kristalle, die kleiner waren als ein Sandkorn, durchsichtige Nadeln, eine jede die Entsprechung eines Ommatidiums, eines Sehstäbchens des Insektenauges. Der HERMES zog diesen sehtüchtigen Schwanz hinter sich her, um sich hinter der Sexta zu bergen und von dort das Schicksal seiner computerisierten Gesandten zu verfolgen. Zugleich setzte das Raumschiff nach dem entsprechenden Abschnitt der Umlaufbahn Fernsehsonden mit starkstrahligem Antrieb aus, als seine „offiziellen Augen“
sozusagen, die von den Quintanern bemerkt werden konnten oder sogar sollten.
In der Steuerzentrale hatte zwar Tempe Dienst, aber Harrach hatte ihn unvermutet überfallen: Eine alte Zeitung hatte seinen Zorn erregt, dem er vor dem Kameraden Luft machen mußte. Das Blatt stammte aus der Zeit, als auf der Erde ein wütendes Gezänk über die Beteiligung von Frauen an der Expedition im Gange gewesen war.
Zuerst las Harrach einen Absatz über das Familienleben vor, das seinen ihm zustehenden Platz innerhalb der Expedition einnehmen sollte, dann folgten Beschimpfungen, die Vertreterinnen des ewig unrechtmäßig behandelten weiblichen Geschlechts gegen das angeblich von einer Mafia der Männer beherrschte SETI ausstießen. Harrach steigerte sich dabei in eine solche Empörung, daß er sich anschickte, die Zeitung in Fetzen zu reißen.
Tempe hielt ihm lachend die Hände fest — dieses Papier war im Sternbild der Harpyie immerhin eine Rarität, ein ehrwürdiges Dokument, von dem keiner wußte, wie es in Harrachs Gepäck geraten war. So jedenfalls behauptete er selbst. Tempe war anderer Meinung, behielt sie aber für sich. Harrach brauchte solche Artikel, um sein stürmisches Temperament abzureagieren. Der Blödsinn, der in jenem Verlangen nach Gleichberechtigung steckte, war allzu offensichtlich, als daß man ihn ernst nehmen konnte: Frauen, also Ehegattinnen, Mütter, also Kleinkinder, Kinderkrippe und Kindergarten, auf einem Raumschiff, das mit aufgeladenen Sideratoren dahinjagte und bei all seiner Stärke ein Nichts war gegen die fremde Zivilisation, die es mit ihrer seit Jahrhunderten m den Kosmos getragenen Sphäromachie an sich gesogen hatte! Ein Meer von Druckerschwärze war darüber vergossen worden. Die Moslems hatten zwölfjährige Jungen an die Front geschickt, aber keine Kinder, die noch in der Wiege lagen. Harrach bedauerte unendlich, der Verfasserin all dieses Blödsinns nicht sogleich unter vier Augen begreiflich machen zu können, was er von ihr hielt. Tempe saß wieder vor dem Steuerpult, prüfte den Kurs und die über die Monitore flimmernden Umrisse der sich bereits vergrößernden Sichel der Sexta, schielte hin und wieder zu Harrach, der seinen einzigen Zuhörer unverdrossen mit seinen Tiraden bombardierte, und sagte nichts — er wollte kein Öl ins Feuer gießen, zumal sie ja nicht allein waren: Auch im Steuerraum wachte GOD. Tempe kannte sich im Bau von Computern nicht so weit aus, um die Gewißheit zu haben, daß eine Maschine, die so scharfsinnig, intelligent und erinnerungsfähig war, nicht doch auch ein Fünkchen Persönlichkeit besaß. Die Versicherungen der Fachbücher und Fachleute genügten ihm nicht, er hätte sich gern selber vergewissern wollen, wußte aber nicht, wie. Außerdem hatte er wichtigere Probleme. War Nakamura tatsächlich imstande, mit Pater Arago mitzufühlen? Tempe schauderte allein bei dem Gedanken, er könnte in der Haut des Apostolischen Gesandten stecken.
Arago war inzwischen, den Anweisungen des Kommandanten folgend, mit Gerbert bei der Prüfung der Möglichkeit, ob die Quintaner durch die Untersuchung der Landefähren m den Stand gesetzt werden könnten, auf die biologischen Merkmale der Menschen zu schließen. Die Geräte waren zuvor von ihrer Entsendung zum Planeten sorgfältig sterilisiert worden, damit auf ihrer Oberfläche auch nicht eine Zelle der Epidermis eines Fingers, auch nicht eine der Bakterien zurückblieb, deren der Organismus des Menschen sich niemals restlos entledigen kann. Dabei waren es doch Automaten, an deren Bau keine Menschenhand beteiligt gewesen war. Ihre Energieversorgung und die Apparatur für den Informationsaustausch entsprachen dem Stand der irdischen Technik von vor achtzig Jahren.
Steergard hatte nicht die Absicht, diese elektronischen Gesandten nach ihrer Rückkehr wieder an Bord zu nehmen. Er hielt das für allzu riskant. Schon die ersten von HERMES aufgegriffenen alten Produkte dieser fremden Zivilisation hatten die erstaunliche Meisterschaft erkennen lassen, die die Quintaner in der Parasitärtechnologie erreicht haben mußten. Die Landefähren konnten also neben Informationen, die so bedeutsam wie harmlos waren, auch den Untergang mitbringen, nicht in Gestalt von unverzüglich angreifenden Erregern, sondern von Viren oder Ultraviren mit einem langen Zeitraum verborgener Aktivität. Der Kommandant erkundigte sich daher bei den Ärzten und Kirsting nach sicheren Mitteln zur Vorbeugung.
Der angeblich neutrale Staat, der sein Einverständnis zur Ankunft der Landefähren gegeben hatte, machte im Zuge der weiteren Verhandlungen den Vorbehalt, daß diese Raketen keine Verbindung mit dem HERMES haben dürften — diese Bedingung sei von den „Nachbarmächten“ gestellt worden. Als der Planet die beiden Sonden mit seiner Atmosphäre geschluckt hatte, schien er zugleich in sämtlichen Wellenbereichen das Rauschen zu verstärken. Eine Bestückung der Landefähren mit Lasern, die diese Rauschhülle durchdringen konnten, hätte die Abmachung verletzt, und dies wäre um so offenkundiger der Fall gewesen, wenn der HERMES das Wolkenmeer und das Radiochaos mit den Blitzen seiner eigenen Laser durchstochen hätte. Es blieb also nichts anderes übrig, als die Quinta hinter der Sexta hervor mit den Wolken der holographischen Augen zu beobachten. Die Operation war so synchronisiert, daß die beiden Sonden langsam am Himmelsgewölbe niedergingen und über der Quinta anlangten, als der HERMES in den Schatten der Sexta trat. Alle hatten sich m Erwartung der kritischen Stunde im Steuerraum versammelt. Der Planet, weiß von Wolken, füllte den Hauptmonitor voll aus, gut sichtbar waren die Schwärme der Kampfsatelliten, die in schwarzen Punkten über die Wolkenscheibe zogen. Dem Hypergoltreibstoff der beiden Raketen waren, damit man deren Eintritt in die Atmosphäre verfolgen konnte, Natrium und Technetium beigemischt worden: Ersteres gab dem Brennfeuer einen grellen, gelben Schein, letzteres machte sie identifizierbar durch seine Spektrallinie, die im Spektrum der hiesigen Sonne und der quintanischen Orbiter nicht vorkam. Seit dem Eintauchen in die Atmosphäre verschwammen die flammenden Fäden der Luftreibung und des Ausstoßes der Bremsraketen, woraufhin die Milliarden Augen, die in einer unsichtbaren, eine Million Meilen langen Mähne im Kielwasser des HERMES verstreut waren, alle Aufmerksamkeit entlang der Tangente auf den Punkt der vorgesehenen Landung richteten — nicht umsonst, denn nachdem beide Fahrzeuge im Abstand weniger Sekunden aufgesetzt hatten, meldeten sie das Ende ihrer Reise mit einem doppelten, absichtlich modulierten Natriumblitz, um sogleich zu verlöschen.
Damit trat die Operation in die nächste Phase. Der Bodenpanzer des HERMES Öffnete sich in zwei riesigen Klappen, und Kräne setzten einen gewaltigen Metallzylinder ins All. Er sollte das Laboratorium sein, in dem die Sonden nach ihrer Rückkehr ihre Quarantäne durchmachen sollten. Von diesem Kniff schien besonders Harrach sehr angetan: die anderen hatten Steergards Taktik gebilligt, die Zusammenarbeit ging in Eintracht, aber ohne Begeisterung voran: Zur Freude gab es keinen Grund. Der Erste Pilot hingegen dachte nicht daran, ein Hehl aus seiner haßerfüllten Genugtuung zu machen, daß dieser kriegerischen planetaren Bestie das Genick gebrochen werden sollte. Er konnte es kaum erwarten, daß die Landefähren zurückkehrten, am liebsten mit einer möglichst schlimmen Seuche an Bord — als hätte in der Absicht der Expedition eine brutale Konfrontation der Kräfte gelegen.
Tempe, der diesen Auslassungen zuhörte, hatte es mit einem Kommentar nicht eilig und dachte daran, was für psychische Veränderungen GOD zweifellos bei Harrach festzustellen hatte. Er schämte sich geradezu für seinen Kollegen, denn manchmal hätte auch er nicht mehr sagen können, was ihm Heber war: daß der in der Crew angestaute, verbissene Zorn sich als grundlos erwies oder daß die anderen ihnen die schlimmste der möglichen Entscheidungen nicht aufzwangen. Ja, auch er sah in dieser Zivilisation bereits einen Feind, das absolute Böse, das schon durch sein Wesen jede ihrer Maßnahmen rechtfertigte.
Nichts stand mehr unter Geheimhaltung. Der abgestellte und getarnte Solaser tankte Sonnenenergie nicht mehr für Signale, sondern für Laserschläge. Nach achtundvierzig Stunden ließ die holographische Wolke erkennen, daß die Abgesandten auf dem Rückflug waren. Sie sollten sich außerhalb der Bahn, auf der die Mondtrümmer kreisten, im Ultrakurzwellenbereich melden, was aber sichtlich nur einer tat. Von dem anderen kam totaler Funksalat. Steergard teilte seine Leute in drei Teams auf: Die Piloten hatten den falschen HERMES auf eine ins Perihel führende Bahn zu steuern. Die Physiker sollten die Landefähren in die zylindrische Kammer bugsieren, die ein paar Dutzend Meilen vom HERMES im Raum hing. Die Ärzte und Kirsting hatten, wenn das zweite Team es für zulässig hielt, die Landefähren biologisch zu untersuchen. Trotz dieser Aufteilung war die Crew bestens darüber informiert, wie es insgesamt stand. Harrach und Tempe steuerten den leeren Riesen, der sich, obwohl auf seinem Rücken noch die Schweißnähte glühten, gemächlich auf die Reise machte, und verständigten sich über Intercom ständig mit der Gruppe Nakamuras, die auf die Landefähren wartete.
Polassar schloß nicht aus, daß das Gestammel des einen Senders lediglich auf einen simplen Defekt zurückzuführen war, Harrach aber hielt es für das Werk der Quintaner, er war sich dessen sicherer, als daß er auf zwei Beinen ging — er wollte ganz einfach, daß die Tücke der Quintaner möglichst schnell ans Tageslicht kam und man ihnen mit dem Laser heimleuchten konnte. Tempe sagte dazu nichts, sondern erwog nur im stillen, ob ein so verbiesterter Mann noch die verantwortliche Funktion des Ersten Piloten ausüben konnte. Offensichtlich doch, da GOD dem Kommandanten nichts gemeldet hatte. Oder waren sie schon alle miteinander verrückt geworden?
Der Quarantänezylinder, von den ihn umkreisenden Scheinwerfern in helles Licht getaucht, nahm die Landefähren in sein klaffendes Maul. Automaten machten sich an eine erste Untersuchung, und die Physiker in der Über-wachungszentrale konnten nicht entscheiden, ob die Beschädigung der einen auf Zufall oder Absicht zurückzuführen war. Harrach brachte das auf die Palme, denn er wußte es besser: Faule Tricks der Quintaner! Nach einer Stunde stellte sich aber heraus, daß die Sonde einen Teil der Antenne und des Bugstrahlers eingebüßt hatte, als sie gegen einen Meteoritensplitter oder Metallbrocken gestoßen war. Derartige Kollisionen waren in diesem System nicht verwunderlich.
Auf dem hohlen Zwilling des HERMES glommen im Dunkel die letzten Schweißnähte, man hätte ihm schon Schub geben können, aber dafür mußten die Piloten den Befehl des Kommandanten abwarten. Dieser wiederum ließ nichts von sich hören, weil er auf das Ergebnis der Expertise wartete: In welchem Zustand waren die Landefähren zurückgekehrt, und — last but not least — welche Informationen hatten sie mitgebracht?
Die Informationen erwiesen sich als höchst bemerkenswert, und die Landefähren waren — von dem wohl doch durch höhere Einwirkung entstandenen Schaden abgesehen — unversehrt und durch nichts verseucht. Als Harrach das hörte, entfuhr ihm der Ausruf: „Was für eine Heimtücke!“
„Schließlich gab es sogar in Sodom einen gewissen Lot“, meinte Tempe. Er gierte geradezu nach den Neuigkeiten von der Quinta, aber die Steuerzentrale wurde damit einfach vernachlässigt. Endlich erbarmte sich Nakamura der Piloten und überspielte ihnen die Ergebnisse des Erkundungsflugs aus einer Vakuumkammer außerhalb des Raumschiffs. Es begann mit einem Märchen — demselben, das der Solaser dem Planeten übermittelt hatte. Dann folgte eine lange Serie von Landschaften, wahrscheinlich Naturreservaten, die von der Zivilisation unberührt geblieben waren. Meeresküsten, Wogen, die sich im Sand brachen, die rot hinter tiefhängenden Wolken versinkende Sonne, Waldmassive von einem viel dunkleren Grün als auf der Erde, Baumkronen, die fast dunkelblau waren.
Vor diesem wechselnden Hintergrund leuchteten Buchstaben auf.
AKZEPTIEREN LANDUNG EINER RAKETE BIS ZU EINER MASSE VON 300000 METRISCHEN TONNEN, FALLS IHR PASSIVITÄT UND GUTEN WILLEN GARANTIERT STOP
HIER FOLGT DAS KOSMODROM STOP
Aus einem schweren grünen Dunst hob sich, aus großer Höhe gesehen, mattglänzend wie erstarrtes Quecksilber, ein gewaltiges Plateau. In regelmäßigen Abständen standen darauf, Schachfiguren gleich, Stalagmiten, staunenswert schlanke, spitze Nadeln von untadeligem Weiß. Sie wuchsen. Jede an ihrem Fuß in ein goldflirrendes Spinnennetz gewoben, schoben sie sich aufwärts, bis sie zum Stillstand kamen. In der Ferne zogen an einem völlig wolkenlosen Himmel Vögel dahin, jeder mit vier langsam schlagenden Schwingen. Es mußten riesige Geschöpfe sein. Sie glichen Kranichen, die winterliche Gegenden verlassen. Unten, an den Stalagmiten — die Augen der Menschen hatten in ihnen bereits Raketen erkannt —, stob es von bunten und dunklen Flocken, die in Massen über breite Rampen in die weißen Raumschiffe strömten. Die Zuschauer strengten ihre Augen an, um endlich zu sehen, wie die Quintaner ausschauten: mit dem gleichen Ergebnis, wie ein Besucher vom Neptun es erzielt hätte, wenn er, eine Meile über einem überfüllten Olympiastadion schwebend, versucht hätte, hinter das Aussehen der Menschen zu kommen. Das bunte Gestöber wimmelte immer noch um die Rampe und strömte in die schneeweißen Raumschiffe. Auf deren Rümpfen leuchteten in senkrechten Reihen unleserliche Hieroglyphen. Die Menge lichtete sich, alle warteten auf den baldigen Start dieser weißen Flottille. Diese aber sank mit majestätischer Geruhsamkeit in sich zusammen. Die goldigbraunen Spinnenweben schoben sich morsch von den Rümpfen und legten sich in unregelmäßige Ringe. Nur die weißen Schnäbel ragten noch aus dem platten Quecksilbersee, bis auch sie in Brunnenschächte von düsterem Rot traten, über denen weder Tor noch Tür sich schloß, sondern nur der matte Glanz jenes Quecksilbers. Alles lag verlassen, bis sich vom unteren Rand her langsam ein Tausendfüßler auf den Bildschirm schob, keineswegs ein Lebewesen, sichtlich ein Automat. Aus seiner platten Schnauze schlugen Fontänen einer hellen, gelblichen Flüssigkeit, die breitlief und dabei zu sieden begann. Als sie völlig eingekocht war, wurde das Quecksilber schwarz wie ein Asphaltsee, der Tausendfüßler krümmte sich zu einem Bügel, daß sämtliche Beine der Bauchseite in der Luft hingen, kehrte sich direkt den zusehenden Menschen zu und riß weit seine vier Augen auf — sofern es überhaupt Augen und nicht Scheinwerfer waren. Wie große, runde, verwunderte Fischaugen aber sahen sie aus mit dem schmalen Ring der metallisch glänzenden Iris und der schwärzlich schimmernden Pupille. Dieses ganze automatisierte Gefährt schien mit sorgenvoller Überlegung die Menschen zu mustern. Es schien aus diesen vier Pupillen zu blicken, die nicht mehr rund waren, sondern sich schützten wie bei einer Katze. Zugleich aber kam aus ihrer Mitte ein schwaches bläuliches Zwinkern. Danach sank das Gerät auf die schwarze Unterlage zurück und trabte, die tausendfüßigen Hüften schwingend, aus dem Bild. Vom Himmel waren die Vögel verschwunden, an ihrer Stelle erschien ein Schriftzug:
DAS IST UNSER KOSMODROM STOP
SIND MIT EURER ANKUNFT EINVERSTANDEN STOP
FORTSETZUNG FOLGT
Diese Fortsetzung folgte dann auch tatsächlich, zunächst in Form von Blitz, Donner, Wolkenbruch und Regen, der schräg gegen stufenförmige Bauwerke peitschte, die durch unzählige Viadukte miteinander verbunden waren. Eine sonderbare Stadt in strömendem Regen — das Wasser schoß über die ovalen Dächer und aus den Wasserspeiern an den Köpfen von Brücken, die eigentlich Tunnel waren, elliptische Öffnungen, auf deren Mitte in flimmernden Strichen Lichter dahinschossen. Überlandverkehr? Nirgends ein lebendiges Wesen, Straßentunnel — andererseits stiegen die Gebäude übereinander wie in Metall gegossene toltekische Pyramiden; Straßen gab es dort gar nicht, das eigentliche Niveau der Stadt — falls es eine solche war — ließ sich nicht ausmachen, der Regen jagte in silbrigen Böen um die gigantischen Bauwerke, die Blitze zuckten, ohne daß darauf ein Donner folgte, und von den pyramidenförmigen Häusern floß das Wasser auf erstaunliche Weise ab: Es wurde von Rinnen aufgenommen, die an ihrem Ende so aufwärts gebogen waren, daß sie den ganzen Schwall in die Luft schickten, wo er sich wieder in den unablässig rinnenden Regen mischte. Einer der niederzuckenden Blitze brach plötzlich mittendurch und gerann zu feurigen Buchstaben:
GEWITTER SIND AUF UNSEREM PLANETEN EINE HÄUFIGE ERSCHEINUNG STOP
Das Bild wurde trüb und erlosch. Von schmutziggrauem Grund hoben sich zertrümmerte Konturen ab, in der Tiefe zuckte ein Durcheinander von Feuer und Wolken. Vielleicht auch von Qualm.
Schichtenweise türmten sich Bruchstücke riesiger Konstruktionen übereinander. Im Vordergrund lagen gleichmäßig aufgereiht weißliche Flecken, wie die nackten, schlammverschmierten Rümpfe zerrissener Geschöpfe. Über diesem eisenfarbenen Friedhof leuchteten Buchstaben auf:
DIESE STADT IST DURCH EUREN LUNOKLASMUS VERNICHTET WORDEN STOP
Die Aufschrift verschwand, das Bild wanderte über Ruinen, zeigte in Nahaufnahmen unbegreifliche Anlagen. Eine davon, die einen ungewöhnlich dicken Mantel aus Metall besaß, war geborsten, im Innern — das Teleobjektiv fuhr ganz nahe heran — steckten erneut zerfetzte Überreste. Es war nicht zu enträtseln, welche Gestalt sie zu Lebzeiten gehabt hatten, so wenig wie bei menschlichen Leichnamen, die halb verschlissen und lehmfarben aus einem Massengrab geborgen werden. Dann fuhr die Kamera jäh zurück und zeigte wieder ein endloses Trümmerfeld, durch das sich in tiefen Gräben massige Bagger fraßen, die Deckflüglern glichen. Mit rotgestreiften Kiefern gruben sie sich in den Schutt, mühsam, aber hartnäckig gingen sie gegen eine Fassade vor, die einst milchweiß wie Alabaster gewesen, jetzt aber rußgeschwärzt war. Endlich stürzte auch diese Wand ein, und Staub verhüllte mit braunroten Schwaden das ganze Bild. Eine Weile waren im Steuerraum nur hastige Atemzüge und das Ticken des Sekundenzeigers zu hören. Wieder wurde es hell, und ein sonderbares Diadem erschien, ein völlig durchsichtiger Kristall, mit einer Vertiefung, die nicht für einen menschlichen Kopf bestimmt war, brillantengleich funkelten Stiele und von alledem eingeschlossen der Dodekaeder eines blaßrosa Spinells. Über ihm erschien die Aufschrift:
DIE KRÖNUNG! ENDE
Es ging dennoch weiter. In gleißendem Halogenlicht standen auf einem sanften Berghang kopflose dunkle Krustentiere, einer Rinderherde gleich, die auf den Almen weidet. Der Blick suchte vergeblich herauszufinden, was sie waren: große Schildkröten? Gigantische Käfer? Das Bild glitt aufwärts, immer steiler hinauf zu einer Felswand mit schwarzen Öffnungen von Grotten und Höhlen, aus denen etwas rann — kein Wasser, sondern flüssiger Staub, eine gelbbraune Absonderung.
Vor einem lilafarbenen Hintergrund, der sich leicht wiegte, liefen Wörter vorüber.
AKZEPTIEREN EURE ANKUNFT MIT EINEM RAUMSCHIFF VON 300000 METRISCHEN TONNEN RUHEMASSE STOP
AUF ABGEBILDETEM KOSMODROM AA035 STOP
GEBT TERMIN AN STOP GARANTIEREN EUCH FRIEDEN UND VERGESSEN STOP
NACH EURER MERCATOR-PROJEKTION 135. LÄNGENGRAD 48. BREITENGRAD STOP ERWARTEN SIGNAL EURER ANKUNFT STOP STOP STOP
Der Monitor erlosch, und das Tageslicht überflutete den Steuerraum. Der Zweite Pilot, ganz blaß, die Hände unwissentlich an die Brust gepreßt, starrte immer noch auf den leeren Bildschirm. Harrach rang mit sich selber, der Schweiß rann ihm in dicken Tropfen von der Stirn und setzte sich in die dichten hellen Augenbrauen.
„Das… das ist… Erpressung“, stieß er hervor. „Uns geben sie die Schuld…
an dem… dort…“
Tempe fuhr auf, als sei er plötzlich geweckt worden, und besann sich sogleich.
„Weißt du was“, sagte er leise, „das stimmt ja alles… Hat uns jemand hierher eingeladen? Wir sind mitten in ihr Unglück geraten — um es zu vergrößern..“
„Hör auf!“ raunzte Harrach. „Wenn du Buße tun willst, dann geh zu deinem Pfaffen! Mich brauchst du nicht zu bekehren! Das ist nicht nur Erpressung, das ist noch viel ausgekochter! Oh, ich sehe schon, wie sie uns beim Kanthaken nehmen wollen — Mann, komm doch zu dir! Das war nicht unsere Schuld, sie selber…“
Tempe hielt es nicht mehr auf seinem Sitz. „Wenn hier einer l zu sich kommen muß, dann bist du es. Wie das Spiel auch endet — was wir getan haben, haben wir getan. Der Kontakt vernunftbegabter Wesen, du lieber Gott! Wenn du schon jemanden verwünschen mußt, dann fluche auf SETI und CETI und auf dich, weil du unbedingt ein „Psychonaut“ werden wolltest.
Am besten aber hältst du die Schnauze. Das ist das Gescheiteste, was du jetzt machen kannst.“ Am Nachmittag wurde SESAM mitsamt den Landefähren an Bord genommen. Arago verlangte von Steergard eine gemeinsame Beratung über das weitere Vorgehen. Der Kommandant schlug es rundweg ab. Keine Beratungen und Sitzungen, solange die definitive Phase des Programms nicht abgeschlossen war.
Mit einem Gamma-Laser abgestimmt, verschwand der falsche HERMES um die Wölbune der Sexta und ging mit voller Kraft zur Quinta, mit der er die verabredeten Signale tauschte.
Tempe hatte nach seinem Dienst den Kommandanten sprechen wollen und bekam eine Absage. Steergard saß allein in seiner Kabine und ließ niemanden zu sich. Der Pilot fuhr nach mittschiffs, hatte aber doch nicht den Mut, den Priester aufzusuchen. Auf halbem Wege kehrte er um und erkundigte sich über den Intercom nach Gerbert, denn dieser war nicht in seiner Kabine. Er saß mit Kirsting und Nakamura in der Messe. Das Raumschiff manövrierte, um einen gewissen Schub zu entwickeln; es blieb im Schatten der Sexta, und an Bord herrschte eine leichte Schwerkraft. Als Tempe sah, wie die anderen aßen, wurde ihm bewußt, daß er seit Sonnenaufgang nichts mehr zu sich genommen hatte. Er nahm sich Braten mit Reis und setzte sich schweigend zu den anderen, aber kaum daß er das Fleisch mit der Gabel berührt hatte, wurde ihm zum erstenmal im Leben speiübel vor diesen grauen Fasern. Etwas essen mußte er aber, und so nahm er, nachdem er seinen Teller in der Absauganlage der Küche geleert hatte, aus dem Automaten einen aufgewärmten Vitaminbrei — um wenigstens etwas im Magen zu haben. Niemand sprach ein Wort zu ihm. Erst als er Teller und Besteck in den Geschirrspülautomaten geworfen hatte, winkte Nakamura ihn mit seinem feinen Lächeln zu sich. Tempe setzte sich, der Japaner wischte sich mit einer Papierserviette den Mund. Sie warteten, bis Kirsting gegangen war und sie nur zu dritt mit Gerbert dasaßen. Der neigte, wie es seine Art war, den Kopf mit den glattgekämmten schwarzen Haaren zur Seite und sah den Piloten abwartend an. Tempe zuckte die Achseln zum Zeichen, daß er nichts, aber auch gar nichts zu sagen hatte.
„Die Welt verschwindet nicht dadurch, daß wir ihr den Rücken kehren“, sagte unvermittelt der Physiker. „Wo das Denken ist, ist auch die Grausamkeit. Beides geht miteinander her. Da man es nicht ändern kann, muß man es akzeptieren.“
„Warum läßt der Kommandant denn keinen zu sich?“ entfuhr es dem Piloten.
„Das ist sein gutes Recht“, erwiderte ungerührt der Japaner. „Der Kommandant muß — wie jeder von uns — sein Gesicht wahren. Auch wenn er allein ist. Doktor Gerbert leidet, der Pilot leidet, ich aber leide nicht. An Pater Arago wage ich nicht zu erinnern.“
Tempe verstand nicht. „Wieso… wieso leiden Sie nicht?“
„Ich habe kein Recht darauf“, erklärte Nakamura gelassen. „Die moderne Physik erfordert eine Vorstellungskraft, die vor nichts zurückscheut. Das ist nicht mein Verdienst, sondern eine Gabe meiner Vorfahren. Ich bin weder Prophet noch Hellseher. Ich bin rücksichtslos, wenn es gilt, rücksichtslos zu sein. Andernfalls dürfte ich nicht einmal Fleisch essen. Jemand hat einmal gesagt: Nemo me impune lacessit.
Schämt er sich dessen jetzt?“ Der Pilot wurde blaß. „Nein.“
„Das ist gut so. Ihr Freund und Kollege Harrach führt in der Maske des großen Zorns ein Theaterstück auf wie die Dämonen in unserem Kabuki-Theater. Man darf gegen die anderen weder Zorn noch Verzweiflung, weder Erbarmen noch Rache fühlen. Und Sie wissen jetzt schon selber, warum. Oder irre ich mich?“
„Nein“, sagte Tempe. „Wir haben dazu nicht das Recht.“
„Eben. Die Unterhaltung ist beendet.“ Er sah zur Uhr. „In siebenunddreißig Stunden setzt die HERMES auf.
Wer wird dann Dienst haben?“
„Wir beide. Laut Befehl.“
„Ihr werdet nicht allein sein.“
Nakamura stand auf, verneigte sich und ging. In der leeren Messe summte leise die Geschirrspülmaschine, die Klimaanlage erzeugte einen leichten Luftzug. Der Pilot sah verstohlen zu dem Arzt hin, der immer noch reglos dasaß: den Kopf in die Hände gestützt, starrte er vor sich hin. Tempe ließ ihn so sitzen, sagte kein Wort, als er die Messe verließ. Es gab nichts mehr zu sagen.
Die Landung des HERMES verlief überaus spektakulär. Am vorgesehenen Punkt des Planeten niedergehend, spie das Heck der Attrappe solches Feuer, daß es, von den weit ins All entsandten Myriaden von Augen übertragen, aussah, als steche eine glühende Nadel in die milchige Wolkenmasse und zerpflücke sie in rosig leuchtende Knäuel. In dieses von den Flammen ausgebrannte Fenster tauchte das Raumschiff, bis es verschwand. Die flaumigen Zotten der Zirrocumuh wanden sich zu einer Spirale und begannen bereits das Loch in der Wolkenhülle der Quinta zu schließen, als durch die immer noch vorhandenen Lücken ein greller gelber Schein brach. Zehn Minuten brauchte das mit Lichtgeschwindigkeit ausgesandte Signal, um von dem Planeten zum echten HERMES zu gelangen, und genau nach dieser Zeit meldete sich der auf die Sexta gerichtete Sender der Attrappe zum ersten und letztenmal. Die Wolken lösten sich an jener Stelle noch einmal auf, diesmal aber langsamer und sanfter, durch den Steuerraum mit den Menschen aber ging es wie ein kurzes, unterdrücktes Stöhnen.
Steergard, die Scheibe der Quinta mit ihrem unbefleckten Weiß im Rücken, rief GOD. „Gib mir eine Analyse der Explosion.“
„Ich habe nur das Emissionsspektrum.“
„Gib mir auf der Grundlage dieses Spektrums die Ursache der Explosion.“
„Sie wird ungewiß sein.“
„Das weiß ich.
Los!“
„Ich gehorche. Vier Sekunden nach Abschaltung des eigenen Schubs hat es den Reaktorkern zersprengt. Soll ich die Varianten der Ursache angeben?“
„Ja.“
„Erstens: Ins Heck traf ein Neutronenstrahl mit einem solchen Intervall schneller und langsamer Teilchen, daß der gesamte Reaktormantel durchschlagen wurde. Der Reaktor begann, obwohl er abgeschaltet war, als Brüter zu arbeiten, und im Plutonium lief eine exponentielle Kettenreaktion ab. Zweitens: Der Heckpanzer ist von einer Kumulationsladung mit einem kalten Anomalonsprengkopf durchschlagen worden. Soll ich die Priorität der ersten Variante nachweisen?“
„Ja.“
„Ein ballistischer Angriff hatte das gesamte Raumschiff vernichtet. Der Neutronenschlag durfte nur das Triebwerk zerstören, weil vorausgesetzt wurde, daß sich an Bord Wesen biologischer Natur befanden, die folglich durch eine Reihe strahlungssicherer Schotten vom Triebwerk getrennt sein würden. Soll ich die Spektren zeigen?“
„Nein. Sei jetzt still.“
Steergard merkte erst jetzt, daß er im weißen Schein der Quinta stand wie in einer Aureole. Ohne hinzusehen, schaltete er das Bild aus und schwieg eine Weile, als ordnete er in Gedanken die Worte der Maschine. „Will jemand das Wort ergreifen?“
Nakamura hob die Brauen und sagte langsam, gleichsam mit einer von Bedauern geprägten Hochachtung, geradezu zeremoniell: „Ich stehe zur Hypothese Nummer eins. Das Raumschiff sollte sein Triebwerk einbüßen, die Besatzung aber heil davonkommen. Möglicherweise mit Verletzungen, aber lebendig. Von Leichen erfährt man nicht viel.“
„Ist jemand anderer Ansicht?“ fragte Steergard. Alle schwiegen, wie erstarrt nicht so sehr angesichts des Vorgegangenen und Gesagten als vor dem Gesichtsausdruck des Kommandanten.
„Na los“, sagte Steergard, er brachte kaum den Mund auf, als hätte ihn die Kieferklemme befallen. „Los, ihr Tauben, ihr Prediger von Eintracht und Barmherzigkeit — meldet euch zu Wort, gebt uns und ihnen die Chance der Rettung!
Überzeugt mich, daß wir umkehren und der Erde den lumpigen Trost bringen müssen, daß es noch schlechtere Welten gibt! Und daß man sie getrost dem eigenen Verderben überlassen kann. Für den Zeitraum, in dem ihr mich zu überreden versucht, bin ich nicht euer Kommandant. Ich bin der Enkel eines Lofotenfischers, ein ungehobelter Kerl, der es weiter gebracht hat, als es ihm zugestanden hätte. Ich höre mir alle Argumente an, auch Beschimpfungen, falls ihr sie für angebracht haltet. Was ich höre, wird aus dem Gedächtnis von GOD getilgt. Ich höre.“
„Das ist kein Ausdruck der Demut, sondern der Hoffart. Daran ändert sich auch nichts, wenn man symbolisch die Würde des Kommandanten niederlegt.“ Arago war, als wollte er besser gehört werden, aus der Reihe der anderen herausgetreten.
„Soll aber jeder bis zuletzt nach seinem Gewissen handeln — sei es in einem Drama oder in einer Tragifarce, denn keiner führt ja im Schauspiel seines Lebens selbst Regie und spielt wie ein Schauspieler nur eine erlernte Rolle —, so sage ich: Wenn wir töten, retten wir nichts und niemanden. Unter der Maske des HERMES steckte die Heimtücke, unter der Maske des Kontakts um jeden Preis aber verbirgt sich nicht der Wissensdurst, sondern die Rachsucht. Was immer du, sofern du nicht umkehrst, tust, es endet mit einem Fiasko.“
„Der Rückzug wäre also kein Fiasko?“
„Nein“, sagte Arago. „Du weißt mit Sicherheit, wie blutig du die anderen treffen kannst. Aber mehr weißt du mit gleicher Gewißheit nicht.“
„Das stimmt. Sind Sie fertig, Pater? Möchte noch jemand sprechen?“
„Ich.“
Das war Harrach.
„Kommandant, falls du Anstalten zum Rückzug machen solltest, werde ich alles in meinen Kräften Stehende tun, um es zu verhindern. Davon kannst du mich nur abhalten, wenn du mich in Ketten legen läßt. Ich weiß, daß ich nach der Diagnose GODs nicht mehr normal bin. Meinetwegen, aber normal ist von uns hier keiner mehr. Wir haben alles aufgeboten, was in unseren Kräften stand, um diese Leute zu überzeugen, daß sie von uns nichts zu befürchten haben. Wir haben uns vier Monate lang angreifen, anführen, verlocken und betrügen lassen, und wenn Pater Arago hier der Stellvertreter Roms ist, soll er doch bitteschön daran denken, was sein Heiland im Matthäus-Evangelium sagt: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. Und, so sagt er weiter… aber ich habe schon genug geredet. Stimmen wir ab?“
„Nein. Die Leute dort unten haben vor fünf Stunden eine Enttäuschung erlebt, da dürfen wir nicht zögern. El Salam, du setzt den Solaser in Betrieb.“
„Ohne Warnung?“
„Die ist nach einer Beerdigung unnötig. Wie lange brauchst du?“
„Zweimal sechzehn Minuten für Parole und Antwort, dazu die Zeit, ihn ins Ziel zu führen. In zwanzig Minuten kann er losschlagen.“
„Soll er es tun.“
„Programmgemäß?“
„Ja, eine Stunde lang.“
„Nakamura, du lieferst uns die Augen. Wer nicht hinsehen will, kann gehen.“
Wohlversteckt in einer von Staubwolken gebildeten Tarnmaske, die durch die Strahlung der Zeta einen hellen Glanz erhielt, eröffnete der Solaser das Feuer-um ein Uhr nachts, also mit dreistündiger Verzögerung. Steergard hatte eine perfekte Kollimation verlangt, folglich also den tangentialen Schlag gegen den Eisring genau dort, wo man ihnen die Falle gestellt hatte. Demzufolge mußte abgewartet werden, bis der Planet sich ausreichend um seine Achse gedreht hatte.
Achtzehn Terajoule schlugen in einem Degen aus Licht gegen den Planeten. Der Sprung der Photometer wies nach, daß das im leeren Raum unsichtbare Messer der Sonnenfräse seitlich am Rand des Eisrings ansetzte und ihn von außen her aufriß.
Das Bild war stumm und hätte sich mit dem Handteller abdecken lassen, zeigte aber dennoch die ganze der Sonne entnommene Energie, die sich im Zustammenstoß des an Härte jeden Stahl übertreffenden Lichts mit dem eisigen Kranz entlud, der auf Tausende von Meilen auseinanderge-trieben wurde. Das Zentrum des Schlags war zunächst als funkensprühende Lücke zu erkennen, aus der im Flimmern sonderbar verkrümmter Regenbogen ein wirbelnder, sich ballender Flockensturm brach. Der Eisring kam ins Sieden und verdampfte. In Gas verwandelt, gefror er sofort, verteilte sich außerhalb der Brandstelle im schwarzen Raum und bildete einen langen, streifigen Schleier, der sich hinter dem Planeten herzog und hinter diesem verschwand, weil der Laser gegen dessen Drehrichtung schnitt. Steergard hatte befohlen, die schrägstehende, glitzernde Eisscheibe so zu treffen, daß sie aus dem dynamischen Gleichgewicht kam. Die im Solaser gesammelte Leistung reichte für sieben Minuten Zerspanung im Terajoule-Bereich. „Das wird genügen“, hatte GOD seinen Spruch gefällt. Der äußere Ring war bereits geborsten, und in dem inneren, der durch eine Kluft von sechshundert Meilen von jenem getrennt war, wimmelte es von Turbulenzen, verursacht durch Veränderungen des Drehmoments. Als der ins Dunkel gefegte Eiswirbel in mähnigen Wolken hinter der Tageshälfte des Planeten auf der Nachtseite verschwand, erstrahlte der Horizont der Quinta, als ginge hinter ihm in schillernden Rauchsäulen eine Zwillingssonne auf und tauchte die noch unversehrte, glatte Wölbung des Wolkenmeeres in rote Glut. Diese ganze entsetzliche Katastrophe bot einen großartigen Anblick. In den Trillionen Eiskristallen des zerfrästen Rings brach sich das Licht und schuf ein kosmisches Feuerwerk, das alle Sternbilder des Hintergrunds verdunkelte. Ein atemberaubendes Schauspiel. Die Männer im Schaltraum wandten den Blick unwillkürlich vom oberen Lokator, wo direkt über der Sonne exzentrisch der Laserdiamant strahlte, auf den Hauptmonitor: Dort riß der stetige, impulslose Energiestrahl schneeweiße Schollen aus den berstenden Schichten des Eises.
Kam den anderen eine solche Katastrophe unerwartet? Vom Planeten aus mußte sie unwahrscheinlich anmuten, eine unaufhörliche Explosion hoch im Himmel, nur waren wohl nicht die Regenbogen zu sehen, die wie Blitze emporschössen. Milliarden Eistrümmer mußten bereits niederstürzen, ins Sieden geratene Gletscher die Luft erbrüllen lassen und die Wolken in Fetzen reißen — die darunter zugrunde gingen, würden es nicht wie ein Schauspiel betrachten… Vom Schaltraum aus erschien die den Planeten umhüllende Atmosphäre nur als dünnes Häutchen. Die ganze Gewalt dieser astrotechnologischen Amputation konnten ohne Schaden nur die Bewohner der um den Äquator gelegenen Gebiete sehen, bevor sie von der Druckwelle erfaßt wurden, die schneller war als der Schall. Der Photonenhobel an den Mündungen des Solasers rückte Millimeter um Millimeter weiter und vernichtete damit im Ziel Eisflächen auf Hunderte von Meilen — nur direkt im Süden wies noch nichts auf die Furie hin, mit der die Eisscheibe in Brüche ging und in jeder Minute Hunderte Kubikkilometer zertrümmerten Eises verlor.
Jetzt machte sich innerhalb der hoch über die Atmosphäre getriebenen Wolke der Laser sichtbar, der einen Feuerschacht in sie hineinschlug. Die Spektrometer zeigten keinen siedenden Dampf mehr, sondern ionisierten freien Sauerstoff und Hydroxylgruppen.
Die Minuten wurden den Männern im Steuerraum zur Ewigkeit. Der Ring taumelte wie ein berstender flacher Kreisel und verlor, von dunklen Durchschüssen ausgehöhlt, seinen hellen Glanz. Die nördliche Halbkugel begann sich zu blähen, als werde die Planetenhülle selbst aufgeblasen, aber es waren nur die Massen des Eisbruchs, die im Niederstürzen Luft, Feuer und Schnee in den Raum preßten. Am Äquator aber hielt der Laserstrahl weiter hartnäckig den hellblau glühenden Bohrer tangential an dem pilzförmigen Auswuchs der Explosion, bis die Wolkenhülle der Quinta im Westen sich zu einer Fläche von trübem Perlgrau verdunkelte, während der Osten in den Geisern der Eruptionen bis zu den Sternen flammte.
Niemand sprach ein Wort. Später, wenn sie sich dieser Minuten erinnerten, sagten sie, sie seien fast sicher gewesen, daß es einen Gegenangriff geben würde, daß die anderen wenigstens versuchen würden, den Schlag abzuwehren, der direkt ins Herz der seit Jahrhunderten aufgebauten Sphäro-machie gerichtet war, daß sie sich anschickten, die Quelle der Katastrophe zu treffen, die sich deutlich von der Sonnenscheibe abhob, da sie fünfmal heller war als diese. Es geschah aber nichts. Über dem Planeten stieg eine weiß emporwirbelnde Rauchsäule auf, die breiter war als er und zu einem vielblättrigen Pilz zerflatterte, in dem sich tausendfach das Licht brach. Ein Anblick von grausamer Schönheit. Der schneidende Strahl aber stach nach wie vor durch das sich ballende Gewölk wie eine glühende goldene Saite, die sich von der Sonne zu dem Planeten spannte.
Dieser letztere schien seine Scheibe selbst mit dem zerklüfteten Zirrocumuli zu bedecken zum Schütze vor diesem unglaublich dünnen und dabei so verderblichen Strahl, der auf die letzten, bereits in die Atmosphäre tauchenden Eiskrusten einstach. Nur zuweilen glänzte durch die von den Schlägen beiseite geschleuderten Wolken ein Rest des immer noch in der Agonie rotierenden Rings.
In der sechsten Minute ließ Steergard den Solaser abschalten, um die verbliebene Energie als Reserve zu behalten. Der Solaser erlosch so jäh, wie er aufgeflammt war, und gab über Infrarot die Meldung durch, daß er die bisherige Position verließ. Seine Entdeckung wäre selbst nach dem Erlöschen kinderleicht gewesen — nach dem Planckschen Spektrum, das typisch für feste Körper mit einer durch die Nähe einer Chromosphäre erzwungenen Strahlung ist. Die Gitterkonstruktionen stießen also aus kleinen Mörsern einen in der Sonne glühenden Staub, und der Solaser vollzog unter dieser Tarnung eine Standortveränderung, wobei er sich wie ein unter Federdruck wieder aufklappbarer Fächer zusammenlegte.
GOD arbeitete an der Grenze seiner Spitzenbelastung. Er registrierte das Ergebnis des Schlags, das Schicksal ungezählter niedrig kreisender Satelliten, die m die von den Explosionen aufgeblähte Atmosphäre geraten und in feurigen Parabeln verglüht waren. Dabei meldete der Computer zusätzlich, die Attrappe des HERMES könne auch durch einen magnetodynamischen Angriff in einer Konzentration von Feldern zerstört worden sein, die Billionen von Gauß lieferten. GOD hatte noch eine vierte Hypothese in petto, die sich auf implosive Kryotronbomben gründete. Der Kommandant wies an, diese Daten als archivarisch anzusehen. Sie hielten sich noch immer auf der stationären Umlaufbahn im Schatten der Sexta, als Steergard Nakamura und Polassar rufen ließ, um ihnen ein handgeschriebenes Ultimatum vorzulegen. Als Übermittler sollten die holographischen Augen dienen, die bei der Emission der für sie nicht verkraftbaren Signale zugrunde gehen würden. Das Spiel war aber selbst diesen Preis wert. Der Wortlaut war eindeutig:
EUER RING WURDE ZERSTÖRT ALS VERGELTUNG FÜR DEN ANGRIFF AUF UNSER RAUMSCHIFF STOP
GEBEN EUCH 48 STUNDEN ZEIT ZUR ERHOLUNG STOP
GREIFT IHR UNS AN ODER ANTWORTET IHR NICHT, BLASEN WIR EUCH IN DER ERSTEN PHASE DIE ATMOSPHÄRE WEG STOP
IN DER ZWEITEN PHASE NEHMEN WIR DIE OPERATION DES PLANETOKLASMUS VOR STOP
EMPFANGT IHR UNSEREN ABGESANDTEN UND KEHRT ER HEIL AUF UNSER RAUMSCHIFF ZURÜCK, UNTERLASSEN WIR DIE ERSTE UND DIE ZWEITE PHASE STOP STOP STOP
Der Japaner fragte, ob der Kommandant tatsächlich bereit sei, die Atmosphäre wegzufegen, und setzte hinzu, daß für eine Kavitation des Planeten keine ausreichende Energie verfügbar sei.
„Das weiß ich“, antwortete Steergard. „Ich will auch die Atmosphäre nicht wegblasen, sondern baue darauf, daß sie es auch so glauben. Was den Sideroklasmus angeht, so möchte ich die Ansicht von Polassar hören. Auch hinter einer unausgeführten Drohung muß eine reale Kraft stehen.“
Polassar zögerte mit der Antwort.
„Es wäre eine gefährliche Überlastung der Sideratoren. Die Mantia läßt sich allerdings durchschlagen. Wenn wir die Basis der Kontinentalplatten antasten, geht die Biosphäre zugrunde. Nur Bakterien und Algen überleben. Muß mehr darüber gesagt werden?“
„Nein.“
Sie erachteten es für notwendig, das Ausmaß der Katastrophe kennenzulernen. Das war überaus schwierig. Die Löcher in der Hülle, mit der sich die Quinta durch ihr Funkrauschen umgeben hatte, zeugten vom Ausfall Hunderter Sendestationen, aber ohne Spinographie war es unmöglich, die Zerstörungen der technischen Infrastruktur auf dem großen Kontinent auch nur annähernd zu überblicken. Die Effekte der Katastrophe teilten sich bereits auch der Südhalbkugel und den übrigen Kontinenten mit. Die seismische Tätigkeit verstärkte sich jäh: Im Wolkenmeer zeigten sich dunkle Flecken, weil offenbar sämtliche Vulkane Magma und Gase mit einem beträchtlichen Zyanidanteil ausspien. GOD schätzte die Eismassen, die die Oberfläche des Landes und der Ozeane erreicht hatten, auf drei bis vier Trillionen Tonnen. Die nördliche Halbkugel war weitaus stärker getroffen worden als die südliche, das Meer aber war überall angestiegen und hatte die Küsten überschwemmt. GOD machte den Vorbehalt, er könne nicht bestimmen, wieviel von dem Eis in festem Zustand auf den Planeten gestürzt und wieviel getaut sei — das hing von der nicht genau bekannten Größe der Eisblöcke ab. Falls sie mehr als Tausende von Tonnen betrug, ging in den obersten Luftschichten nur ein Bruchteil der Masse verloren. Ein konkreter Divisor ließ sich jedoch nicht angeben. Harrach, der im Steuerraum seinen Dienst versah, hatte an dem Gespräch, das in der Zentrale geführt wurde, nicht teilgenommen, er hatte aber alles mitgehört und griff ganz unerwartet ein. „Kommandant, ich bitte ums Wort.“
„Was denn nun schon wieder?“ fragte Steergard ungeduldig. „Ist es dir nicht genug? Willst du ihnen noch eins draufgeben?“
„Nein. Wenn das, was GOD sagt, einen Sinn hat, reichen achtundvierzig Stunden nicht. Die müssen sich doch erst mal wieder aufrappeln.“
„Du schließt dich da zu spät den Tauben an“, entgegnete Steergard. Die Physiker gaben dem Piloten jedoch recht. Die Frist für die Antwort wurde auf siebzig Stunden verlängert.
Kurz darauf war Harrach allein. Er stellte auf die Automatik um und hatte völlig genug davon, die Quinta zu betrachten, zumal der Qualm der unzähligen vulkanischen Eruptionen braunrot das Weiß des Planeten überzog und dunkel gerann wie schmutziges Blut. Es war kein Blut. Harrach wußte das, wollte aber nicht mehr hinsehen. Auf Steergards Anweisung begann sich das Raumschiff auf der Stelle zu drehen wie der horizontale Ausleger eines Krans. Dank der Zentrifugalkraft, die im Steuerraum am Bug am stärksten spürbar wurde, gab es so den Ersatz einer Gravitation. In der Messe, in der sich die Crew eingefunden hatte, konnte man sich dadurch wenigstens ohne die in der Schwerelosigkeit übliche Akrobatik zu Tisch setzen. Die für die Gyroskopie typischen Präzessionseffekte bereiteten Harrach Übelkeit, obgleich er auf der Erde oft mit dem Schiff gefahren und nicht einmal bei schwerer Dwarsdünung seekrank geworden war.
Er konnte nicht stillsitzen. Was er gewollt hatte, war geschehen. Besah man es vernünftig, so trug er keine Verantwortung für die Katastrophe. Er war sicher, daß alles ebenso abgelaufen wäre, wenn ihn die Wut nicht gepackt und er sich nicht auf wenig schickliche Streitigkeiten mit Pater Arago eingelassen hätte, der doch weiß Gott nichts dafür konnte. Nein, nichts wäre anders gekommen, wenn er schweigend das Seine getan hätte. Er sprang von seinem Sitz vorm Steuerpult, und kaum hatte er die Beine gestreckt, trug es ihn durch die ganze Navigationszentrale. Anders konnte er die Wut nicht entladen, die wieder in ihn zurückschlug und ihn trieb, nicht dazusitzen, die Hände in den Schoß zu legen und sich die klimatische — hoffentlich nur klimatische! — Verwirrung auf dem von Terajoules getroffenen Planeten anzusehen.
Am liebsten hätte er das Bild abgeschaltet, aber das durfte er nicht. Um den ellipsenförmigen Raum lief eine Galerie, die die obere von der unteren Etage trennte. Wie ein Seemann auf schwankendem Deck rannte Harrach mit gespreizten Beinen hinauf und einmal rundherum. Man hätte meinen können, er sei dabei, ein Lauftraining zu absolvieren. Auf Pfeilern, die wie die Speichen eines großen Rades in der Mitte zusammentrafen, zwischen Kreuzstreben, die an der Decke befestigt waren, ruhte die Operationszentrale. Acht tiefe Sessel standen um das Terminal, das einem geköpften Kegel glich. Auf dieser Platte lag der Entwurf des Ultimatums, geschrieben in den für Steergard charakteristischen schrägen, scharfen Schriftzügen. Nachdem Harrach zwischen den Sesseln hindurch an den Tisch getreten war, tat er etwas, was er von sich selbst nie für möglich gehalten hätte: Er drehte das Blatt mit der unbeschriebenen Seite nach oben. Er blickte sich um, ob ihm niemand zusah, aber nur die flimmernden Bildschirme täuschten eine Bewegung vor. Der Pilot setzte sich in den Sessel, den sonst der Kommandant einzunehmen pflegte. Durch die keilförmigen Fenster zwischen den unter einer silbrigen Plastikhülle liegenden Pfeilern sah er unten den Navigationsraum, der ebenfalls von verschiedenfarbigen Lichtern, einem flimmernden Schein erfüllt war. Dieser kam immer noch vom Hauptmonitor — vom getrübten Licht der Quinta.
Harrach stützte die Ellenbogen auf das schräge Pult und schlug die Hände vors Gesicht. Wenn er gekonnt, wenn er gedurft hätte, so hätte er vielleicht geweint nach diesem Sodom und Gomorrha.