IV SETI

Die Kajüten der Physiker lagen im vierten Geschoß. Er fand sich inzwischen auf der EURYDIKE zurecht, denn er hatte den Plan des gesamten Raumschiffs studiert, das sich so sehr von denen unterschied, die er geflogen hatte. Er verstand viele Namen nicht, ebensowenig wie die Bestimmung der sonderbaren Anlagen im Hecksegment, das unbemannt und vom übrigen Rumpf dreifach abgeschottet war. Der raupenförmige Koloß war kreuz und quer von Verbindungstunneln durchzogen, einem wahrhaftigen unterirdischen Netz dieser walzengleich gestreckten Stadt. Seine Muskeln speicherten noch die Erinnerung an die Fortbewegung in engen Gängen, die im Querschnitt oval oder rund wie Brunnenschächte waren. Man schwebte dort in der Schwerelosigkeit und half sich hin und wieder durch einen leichten Stoß, um Ecken und Kehren richtig zu nehmen. In den Transportern war man noch einfacher in die Laderäume gelangt, man brauchte nur den Kompressor einzuschalten, um im Pfeifen eines beinahe echten Windes dahinzusausen, die Beine m der Luft, als seien sie unnütze Rudimente, mit denen niemand etwas anzufangen wußte. Fast dauerte ihn nun die Schwerelosigkeit, die er einst bei so mancher Reparatur verflucht hatte, weil die Newtonschen Gesetze sich bemerkbar machten: Wenn man sich nicht ordentlich festhielt, genügte ein Hammerschlag, einen auf der Resultante fortzukatapultieren, wobei man Purzelbäume schlug, die nur den anderen Spaß machten.

Die Lifts hier waren eiförmige Kabinen ohne Räder und mit so gewölbten Fenstern, daß man darin sein wie durch Krämpfe verzerrtes Spiegelbild sah. Sie bewegten sich geräuschlos, gaben die Zahl der passierten Sektoren an und blinkten am gewünschten Halteort.

Der Korridor hatte einen Fußbodenbelag, der rauh und flauschig zugleich war. Um eine Ecke verschwand — einer gehörnten Schildkröte gleichend — gerade ein Staubsauger. Der Besucher ging eine Reihe von Türen entlang, die wie die Wand leicht konvex waren. Sie hatten hohe kupferbeschlagene Schwellen, für deren Vorhandensein kein anderer Grund denkbar war, als daß sie einem Innenarchitekten sehr gefallen haben mußten.

Vor Laugers Kajüte blieb er stehen. Alle Selbstsicherheit war auf einmal verflogen. Er war immer noch nicht imstande, sich der Besatzung zugehörig zu fühlen. Die Freundlichkeit in der Messe, der Eifer, mit dem ihn bald die einen, bald die anderen an ihren Tisch baten — all das erschien ihm übertrieben. Sie schienen nur so zu tun, als wäre er einer von ihnen und als habe man ihm vorläufig nur noch keine Funktion zugewiesen. Zwar war er mit Lauger ins Gespräch gekommen, der ihm versichert hatte, er könne ihn jederzeit aufsuchen, aber auch das schreckte ihn eher ab, als daß es ihm Vertrauen einflößte.

Schließlich war Lauger nicht irgendwer, sondern der Leitende Physiker, und das nicht nur auf der EURYDIKE.

Er hätte nie geglaubt, daß ihn Zweifel darüber befallen könnten, wie er sich gegen einen anderen zu benehmen hatte — über das Savoir-vivre, ein Wort, das hier einen Beigeschmack hatte wie ein „Flirt“ in den Verliesen einer Pyramide.

Die Tür besaß keine Klinke, man brauchte sie nur mit den Fingerspitzen zu berühren. Sie flog so schnell auf, daß er zurückfuhr wie ein Wilder vor einem Auto. Der geräumige Innenraum überraschte ihn durch seine Unordnung. Zwischen Bergen von Bändern, Platten, Papieren und Atlanten erhob sich ein großer Schreibtisch, dessen Platte sich zu einem Halbkreis rundete. In diesem wiederum stand ein Drehstuhl, an der Wand dahinter befand sich ein schwarzes Rechteck, über das Lichtpünktchen wimmelten.

Zu beiden Seiten dieser funkenschwirrenden Tafel hingen unter Tiefstrahlern große Fotos von Spiralnebeln, weiter hinten bauchten sich vertikale, säulenförmige Zylinder, die teilweise offenstanden und Fächer sehen ließen, voll von den Discs der Prozessoren. In der linken Ecke ballte sich die Masse eines schrägen, vierkantigen Apparats, unter dem ein Stühlchen befestigt war. Die Mündung des Geräts ragte in die Decke, und aus einem Spalt unter Binokularen kam mit kleinen Sprüngen ein Band, das ein Diagramm zeigte und sich bereits in Schleifen auf dem Boden ringelte, auf einem alten Perserteppich mit ausgeblichenem Hieroglyphenmuster. Dieser Teppich verwirrte den Besucher vollends. Einer der säulenförmigen Zylinder verschwand und machte den Weg in einen Nebenraum frei. In der Öffnung erschien Lauger, in Leinenhosen und Pullover, das Haar schon ewig nicht mehr geschnitten. Er lächelte dem Gast verständnisinnig und unschuldig entgegen. Sein Gesicht war fleischig, er sah aus wie ein vorzeitig gealtertes Kind und glich einem Schöpfer höchster Abstraktionen ebensowenig wie Einstein, als er noch im Patentamt gearbeitet hatte. „Guten Tag…“, sagte der Ankömmling. „Treten Sie ein, Kollege, Sie treffen es gut: Sie bekommen es hier auf einen Schlag mit der Physik und der Metaphysik zu tun…“ Erläuternd setzte er hinzu: „Pater Arago ist bei mir.“

Lauger ging voran in eine andere, kleinere Kajüte mit verdeckter Koje und einigen kleinen Sesseln um den Tisch, auf dem der Dominikaner mit der Lupe irgendwelche Pläne prüfte, möglicherweise eine computergefertigte Planetenkarte, denn man sah darauf Breitenkreise. Arago zog den Sessel an seiner Seite hervor, sie nahmen Platz. „Das ist Mark“, sagte Lauger zu dem Pater. „Kennen Sie ihn?“

Ohne den Gefragten zu Wort kommen zu lassen, fuhr er fort: „Ich errate Ihren Kummer, Mark. Mit dem Geist in einer Maschine kommt man schwer auf einen Nenner.“

„Die Maschine hat keine Schuld“, merkte der Dominikaner an. In seiner Stimme lag unüberhörbare Ironie. „Sie schwätzt, was man ihr eingegeben hat.“

„Das soll heißen: Was ihr eingegeben habt!“ verbesserte ihn der aufsässig lächelnde Physiker. „Es gibt keine Übereinstimmung in den Theorien, es hat sie nie gegeben.“ Für den neuen Gast fügte er eine Erklärung hinzu: „Es geht um das Schicksal der Zivilisationen oberhalb des Fensters. Da Sie nun schon einmal in unseren Streit hineingeplatzt sind, will ich den Beginn zusammenfassen. Sie wissen bereits, daß sich die alten Begriffe über CETI inzwischen gewandelt haben. Selbst wenn es in der Galaxis eine Million Zivilisationen gäbe, wäre ihre Dauer zeitlich so gestreut, daß man sich mit den Herren eines Planeten nicht erst einmal verständigen kann, um sie nachher zu besuchen. Die Zivilisationen sind schwerer zu erwischen als Eintagsfliegen. Darum suchen wir nicht den fertigen Schmetterling, sondern nur seine Puppe. Wissen Sie, was das „Fenster des Kontakts“ ist?“

„Ja.“

„Nun sehen Sie! Nachdem wir zweihundert Millionen Sterne durchgesiebt haben, sind wir auf elf Millionen Kandidaten gekommen. Die Mehrzahl hat entweder tote Planeten, oder aber sie sind außerhalb des Fensters, darüber oder darunter.

Stell dir“, ging er unverhofft zum Du über, „bloß mal vor, du verliebst dich in das Bild eines sechzehnjährigen Mädchens und machst dich auf, sie zu bekommen.

Leider muß die Reise aber fünfzig Jahre dauern. Du wirst also vor einer alten Frau oder an einem Grab stehen. Schickst du deine Liebeserklärung aber mit der Post, so wirst du selber alt, ehe du die erste Antwort bekommst. Das ist in nuce die ursprüngliche Konzeption von CETI. Man kann in mehrhundertjährigen Intervallen kein Gespräch führen.“

„Wir fliegen also zu solch einer Puppe?“

fragte er, den sie seit einiger Zeit Mark nannten. Jetzt schoß es ihm plötzlich durch den Kopf, ob das nicht von dem Mönch ausgegangen sein könnte, der gleich ihm Besatzungsmitglied war und auch wieder nicht.

„Niemand weiß, was wir vorfinden“, sagte Arago. Lauger schien von der Frage befriedigt. „Gewiß. Lebensspendende Planeten erkennen wir an der Zusammensetzung der Atmosphären. Ihr Katalog zählt viele Tausende in unserer Galaxis. Fast dreißig habe wir ausgesiebt, sie bieten Hoffnung.“

„Vernunft?“

„Die Vernunft in den Windeln ist unsichtbar. Wenn sie reift, entweicht sie aus dem Fenster. Sie muß vorher erhascht werden. Woher wissen wir, daß unser Ziel der Mühe wert ist? Nun, es geht um die Quinta, den fünften Planeten von Zeta Harpyiae. Wir verfügen über eine Reihe von Daten…“ An dubio pro reo“, sagte der Dominikaner. „Und wen sehen Sie als Angeklagten?“ fragte Lauger und ließ wieder keine Antwort zu, indem er fortfuhr: „Das erste kosmische Symptom der Vernunft ist der Funk. Lange vor der Radioastronomie, nun, nicht sehr lange, etwa hundert Jahre. Ein Planet mit Sendern kann entdeckt werden, sobald ihre Gesamtleistung in den Gigawatt-Bereich kommt. Die Quinta emittiert im Kurz- und Ultrakurzwellenbereich weniger als ihre Sonne, aber phänomenal viel für einen toten Planeten. Für einen, der die Elektronik beherrscht, ist es nur Durchschnitt, denn er bleibt unter dem Niveau der Sonnengeräusche. Etwas aber gibt es dort, was mit Funk zu tun hat und unterhalb einer Schwelle steht. Wir haben dafür Beweise.“

„Indizien“, korrigierte ihn erneut der Apostolische Gesandte.


„Sogar noch weniger- ein einziges Indiz“, stimmte Lauger zu. „Aber dafür ist es um so wichtiger. Auf der Quinta sind punktförmige elektromagnetische Blitze beobachtet worden, und einen hat das Spektroskop unserer Mars-Orbiter in semer ganzen Emission aufgezeichnet. Die beiden Orbiter haben die Erde viel gekostet: unsere Expedition.“

„Atombomben?“ fragte der Mann, der sich mit dem Vornamen Mark abgefunden hatte. „Nein, eher die Einleitung planetarer Technik. Die Sachen waren thermonuklear sauber. Sollten die Dinge auf der Quinta wie auf der Erde ablaufen, so hätte es mit Aktiniden begonnen. Mehr noch, diese Blitze erschienen nur innerhalb des Polarkreises, also in der dortigen Arktis oder Antarktis. Man kann auf diese Weise das Festlandeis zum Schmelzen bringen. Doch nicht dann sind wir uns uneinig.“ Er sah den Dominikaner an. „Es geht darum, ob wir durch unsere Ankunft dort Schaden anrichten können. Pater Arago hält es für gewiß. Ich bin ähnlicher Ansicht.“

„Wo ist dann der Unterschied?“

„Ich meine, daß das Spiel der Mühe wert ist. Es ist unmöglich, die Welt zu erkennen, ohne Schaden anzurichten.“ Er begann den Sinn der Kontroverse zu begreifen. Er vergaß, wer er war, und spürte wieder das Draufgängertum von einst. Er wandte sich direkt an den Geistlichen. „So fliegen Sie also gegen Ihre Überzeugungen mit uns?“

„Selbstverständlich“, antwortete Arago. „Die Kirche gehörte zu den Gegnern der Expedition. Der sogenannte Kontakt kann zum Danaergeschenk, zur Öffnung der Büchse der Pandora werden.“

„Der Pater hat sich an der mythologischen Schirmherrschaft des Projekts angesteckt“, lachte Lauger. „Eurydike, Hermes, Jupiter, Hades, Zerberus… Wir haben bei den Griechen ordentliche Anleihen gemacht. Das Raumschiff hätte übrigens ARGO und wir hätten Psychonauten heißen sollen. Wir geben uns Mühe, sowenig Schaden wie möglich anzurichten. Deshalb ist der Verlauf der Operation so umständlich.“

„Contra spem spero…“ Der Mönch seufzte. „Oder vielmehr — ich wünschte, daß ich mich irrte.“ Lauger schien, von einem anderen Gedanken in Anspruch genommen, nicht zugehört zu haben.

„Bevor wir uns der Quinta nähern, vergehen während eines Jahres hier an Bord mindestens drei Jahrhunderte. Das heißt, daß wir sie erst im oberen Teil des Fensters erreichen, hoffentlich nicht zu spät! Sekundenverschiebungen in unseren Manövern können uns stark beschleunigen oder aufhalten. Die Schäden jedoch…

Hochwürden wissen, daß eine technisierte Zivilisation über ein Beharrungsvermögen verfügt, wenngleich sie nicht stationär ist. Anders ausgedrückt: Sie ist nicht so leicht vom Kurs abzubringen. Was immer auch geschieht, wir werden dort nicht m der Rolle von Göttern auftreten, die vom Himmel gekommen sind. Wir sind nicht auf der Suche nach primitiven Kulturen, und es gibt bei CETI keine Astroethnologen.“ Arago hielt den Bück unter den gesenkten Lidern hervor auf den Physiker gerichtet und schwieg. Der Zeuge des Gesprächs ermannte sich zu der Frage: „Ist das aber gut?“

„Was denn?“ wunderte sich Lauger.

„Diese Unbeobachtbaren als nichtexistent anzusehen. Diese Gleichsetzung ist nur in der Praxis richtig…“

„Man kann sie auch als Opportunismus bezeichnen, falls es jemand will“, versetzte kühl der Physiker. „Wir haben eine Aufgabe gewählt, die ausführbar ist. Das Fenster des Kontakts hat einen empirischen Rahmen, aber auch eine ethische Rechtfertigung. Wir füllen keinen Höhlenbewohnern Öl in den Kopf, das vom 22. Jahrhundert gewonnen worden ist. Was soll übrigens der pluralis majestatis. Ich bin für das Projekt eingetreten und bin jetzt hier, weil ich unter dem Kontakt einen Austausch von Wissen verstehe. Einen Austausch, kein Patronat, nicht die Erteilung melioristischer Belehrungen.“

„Und wenn dort das Böse herrscht?“ fragte Arago. „Gibt es einen Universalismus des Bösen? Dessen Invariante?“ widersprach Lauger. „Ich fürchte, es gibt ihn.“

„Dann müßte man sagen „non possumus“ und das Projekt ignorieren…“


„Ich erfülle nur meine Pflicht.“ Mit diesen Worten stand der Geistliche auf, neigte vor den beiden anderen den Kopf und ging hinaus.

Lauger lümmelte mit undurchsichtiger Miene im Sessel, mahlte mit den Kiefern, als habe er einen üblen Geschmack im Mund, und knurrte resigniert: „Ich schätze ihn dafür, daß er mich aus der Fassung bringt. Allem paßt er Flügel an. Oder Hörner. Genug davon, nicht deswegen wollte ich Sie sehen. Wir schicken Kundschafter zur Quinta. Mit dem HERMES, einem landefähigen Rumpfsegment. Neun oder zehn Mann werden fliegen. Das Kommando führen vier, die bereits bestimmt sind. Die anderen werden je nach Spezialgebiet durch Ballotage gewählt. Wollen Sie in die Wahlurne?“

Er verstand nicht sogleich. „Nun, dort landen…“

Es durchzuckte ihn wie Feuer, er konnte es trotz seiner Begeisterung kaum glauben.

Lauger sah, wie seine Augen erglänzten, und warnte ihn mit der Erklärung: „In der Urne zu sein entscheidet noch nicht über die Teilnahme. Auch wissenschaftliche Verdienste entscheiden nicht darüber. Der größte Theoretiker kann sich am leichtesten in die Hosen machen. Gebraucht werden harte Männer, die nichts umwirft. Gerbert ist ein großartiger Psychoniker, Psychologe und Seelenkenner, aber Tapferkeit bewährt sich nicht im Laboratorium. Weißt du, wer du bist?“

Er wurde bleich. „Nein.“

„Dann will ich es dir sagen. Im Gletscher von Birnam sind etliche Leute in den schreitenden Maschinen umgekommen, von Eruptionen der Geiser überrascht. Sie waren Berufspiloten, führten die ihnen übertragene Arbeit aus und wußten nicht, daß sie in den Tod gingen. Zwei Männer gingen aus freiem Willen los, um sie zu suchen. Einer der beiden bist du.“

„Woher können Sie das wissen? Doktor Gerbert sagte mir, daß…“

„Doktor Gerbert und sein Assistent sind die Bordärzte. Sie verstehen was von der Medizin, aber nicht so sehr von Computern. Da sich die Identität des Wiedererweckten nicht aufklären ließ, hielten sie es für richtig, ihr Arztgeheimnis zu wahren. Traumatisierung der Psyche — das ist ihr Argument. Auf der EURYDIKE wird nichts abgehört, aber es gibt ein Zentrum mit untilgbarem Gedächtnis. Zugang haben der Kommandant, der Erste Informatiker und ich. Du wirst das nicht den Ärzten sagen, klar?“

„Ich sage nichts.“

„Du würdest ihnen ein Unrecht zufügen. Ich weiß, daß du das nicht willst.“

„Werden sie nichts vermuten, falls…“

„Ich glaube nicht. Die Arzte untersuchen den Gesundheitszustand unserer Besatzung laufend. Die Abstimmung ist geheim, sie wird vom Rat vorgenommen. Ich denke, du wirst von fünf Stimmen drei bekommen.

Das sage ich dir alles schon jetzt, denn du wirst dich ordentlich auf den Hosenboden setzen müssen. Auf den Simulatoren hast du eine astrogatorische Tüchtigkeit nachgewiesen, die dir nach den Kategorien des vorigen Jahrhunderts den ersten Rang eingebracht hätte, aber heute ist das zuwenig. Du wirst für ein Jahr ein interstellarer Schulbub werden. Wenn du es bewältigst, wirst du die Quintaner sehen. Nun aber mach's gut, ich habe eine Menge Liegengebliebenes aufzuarbeiten.“

Sie standen auf. Er war größer und jünger als der berühmte Physiker. Der wird nicht fliegen, dachte er. Lauger brachte ihn zur Tür, er sah weder ihn noch die flimmernden Funken auf dem schwarzen Bildschirm, er wußte nicht, ob er sich verabschiedet oder etwas gesagt hatte, er erinnerte sich nicht, wie er in seine Kajüte gelangt war. Er wußte nichts mit sich anzufangen. Als er seinen kleinen Ankleideraum betreten wollte, Öffnete er aus Versehen die falsche Tür. Im Spiegel sah er sein Gesicht und sagte: „Du wirst die Quintaner sehen.“


Er machte sich ans Studium.

Die Bilanz der statistischen Berechnungen war klar überschaubar. Das Leben entsteht und dauert auf den Planeten — während Jahrmilliarden, ist zu dieser Zeit jedoch stumm. Zivilisationen entstehen aus ihm nicht, um zugrunde zu gehen, sondern sich in das zu verpuppen, was außermenschlich ist. Da die Häufigkeit technogener Hervorbringungen für die normale Spiralgalaxis in etwa konstant ist, entstehen, reifen und verschwinden sie in gleicher Geschwindigkeit. Obwohl immer neue entstehen, verflüchtigen sie sich aus dem Intervall der Verständigung, dem Fenster des Kontakts schneller, als man mit ihnen Signale tauschen kann. Die Stummheit der primitiven Existenz ist selbstverständlich, über das Schweigen der hochentwickelten sind zahllose Hypothesen aufgestellt worden. Sie bildeten eine Bibliothek, die der Lernende vorläufig beiseite ließ. Er las: Zum gegebenen Zeitpunkt, für das gegebene Zeitalter (astronomisch ist das eins) darf die Erde als einzige bereits technische und noch biologische Zivilisation im Bereich der Milchstraße betrachtet werden.

Die Berechnungen des CETI schienen damit erledigt und begraben. Anderthalb Jahrhunderte vergingen, als sich zeigte, daß es sich anders verhielt.

Der zwischen den Sternen liegende Raum ist nicht durch den direkten Flug zu bewältigen, wenn die einen Lebenden und Vernunftbegabten die anderen besuchen und wieder zurückkehren wollen. Selbst wenn die Raumfahrer mit lichtnaher Geschwindigkeit fliegen, bekommen sie weder die zu Gesicht, zu denen sie sich aufgemacht haben, noch sehen sie die wieder, die auf der Erde zurückgeblieben sind. Hier wie dort vergehen in wenigen Jahren Bordzeit mindestens Jahrhunderte.

Diese kategorische Feststellung der Wissenschaft bot der Kirche Anlaß zu folgender theoretischer Reflexion: Der Schöpfer der Welt hat Begegnungen der Geschaffenen verschiedener Sterne zu einem Hirngespinst gemacht. Er hat zwischen ihnen eine Sperre errichtet, die völlig leer und unsichtbar, aber dennoch nicht zu überwinden ist: als seine Abgründe, nicht die des Menschen. Die menschliche Geschichte läuft jedoch immer anders als das Denken, das sich auf ihre Vorhersage richtet. Die Schlünde des Alls erwiesen sich als Sperre, die tatsächlich nicht zu durchdringen ist. Sie läßt sich durch eine Serie spezifischer Manöver jedoch umgeben.

Die Galaxis hat nur eine gemittelte Zeit — sie selbst ist die Uhr, die ihr Alter, also auch die Zeit anzeigt. Dort jedoch, wo höchste Intensität der Gravitation herrscht, unterliegt die galaktische Zeit heftigen Veränderungen.

Sie hat Grenzen, an denen sie haltmacht: die Schwarzschildschen Kugeln, diese schwarzen Hülsen in sich selbst zusammengefallener Sterne. Diese Hülse bildet den Horizont der Vorgänge. Ein Gegenstand, der sich ihm nähert, verschwimmt vor den Augen eines entfernten Beobachters und verschwindet, bevor er die Oberfläche des Schwarzen Lochs erreicht. Die Zeit nämlich, von der Schwerkraft gedehnt, verschiebt das Licht erst in den Infrarotbereich und dann auf immer längere elektromagnetische Wellen, bis zuletzt auch nicht ein reflektiertes Photon mehr zu dem Zuschauer zurückkehrt — das Schwarze Loch verschluckt mit seinem Horizont für immer jedes Teilchen und jedes Krümchen Licht. Der Reisende, der sich dem Schwarzen Loch nähert, wird durch die zunehmende Gravitation zusammen mit seinem Raumschiff zerrissen. Die Gezeiten der Schwerkraft ziehen dort jedes materielle Objekt zu einem Faden, dessen Verlängerung der Radius der schwarzen Kugel ist, in die er ohne Wiederkehr hineintaucht.

Der Kollapsar, dieser in sich selbst zusammengefallene Stern, kann nicht einmal auf einer beliebigen Trajektorie umflogen werden; die Kräfte der Gravitation töten die Reisenden und zerfetzen das Raumschiff, selbst wenn dieses der dichteste kosmische Zwerg wäre, ein Neutronenstern, eine Kugel aus Atomkernen, zu einer Härte ineinandergepreßt, gegen die Stahl weicher wäre als Gas. Der Kollapsar würde auch diese Kugel zu einer Spindel strecken, zerreißen und im Nu verschlucken. Zeugnis der Verschwundenen wäre nur die als Todesfackel in das All entweichende Röntgenstrahlung.


So schnell werden Besucher von den Kollapsaren guillotiniert, die aus Sternen entstanden sind, die um das Mehrfache schwerer waren als die Sonne. Selbst wenn aber die Masse eines Schwarzen Lochs die der Sonne um das Hundert- oder Tausendfache überträfe, konnte die Gravitation an seinem Horizont gering sein wie die irdische. Dem Raumschiff, das dort hinkommt, droht zunächst keine Gefahr, und der Besatzung kann völlig entgehen, daß sie sich bereits unterhalb eines solchen Horizonts befindet. Sie wird jedoch nie wieder aus dieser unsichtbaren Hölle herauskommen können. Das Raumschiff wird ins Innere des gewaltigen Kollapsars gesogen und, auf sein Zentrum zufallend, im Verlauf von Tagen oder Stunden — je nach der Masse der Falle — vernichtet. Diese theoretischen Modelle solcher von der Gravitation verursachter Grabstätten waren von der Astrophysik am Ende des 20. Jahrhunderts geschaffen worden, offenbarten aber — wie alles in der Geschichte der Erkenntnis — bald ihre Unzulänglichkeit.

Sie waren angesichts der Wirklichkeit zu sehr vereinfacht. Die erste Korrektur kam von der Quantenmechanik: Jedes Schwarze Loch gibt Strahlung ab, allerdings um so schwächer, je größer es ist. Die gewöhnlich in den Zentren der Galaxien befindlichen Giganten werden ebenfalls einmal zugrunde gehen, mag ihre „Quantenverdampfung“ auch hundert Jahrmilliarden anhalten. Sie werden als letzte Relikte vom Sternenglanz des Universums bleiben. Nachfolgende Berechnungen und Simulationen leisteten weitere Beiträge zur Vielgestaltigkeit der Schwarzen Löcher. Wenn ein Stern in sich zusammenfällt, weil die sich abschwächende zentrifugale Strahlung sich nicht mehr gegen die Schwerkraft behaupten kann, nimmt er nicht sogleich die Gestalt einer Kugel an. Er taumelt im Zusammenfallen wie ein Tropfen, der sich abwechselnd zu einer Scheibe abflacht und zu einer Spindel streckt. Diese Bewegungen dauern nur sehr kurze Zeit, ihre Häufigkeit hängt von der Masse des Kollapsars ab. Er verhält sich wie ein Gong, der sich selbst anschlägt. Ein verstummter Gong kann wieder angeschlagen werden, und auch die schwarze Kugel läßt sich in erneute Schwingungen versetzen. Das geschieht durch siderische Technologien. Man muß sie kennen und über ausreichende Energie in der Größenordnung von 1044 Erg verfügen, die so abgestrahlt wird, daß sie die schwarze Kugel ins Schwingen versetzt. Zu welchem Zweck? Um das hervorzubringen, was die Astrophysiker, die mit der von ihnen erforschten Unermeßlichkeit auf vertrautem Fuße stehen, als „temporäre Zwiebel“ bezeichnen.

Ähnlich wie die Mitte einer Zwiebel von fleischigen Schichten umgeben ist, die im Querschnitt wie die Jahresringe eines Baumes aussehen, umgibt sich der in Schwingungen versetzte Kollapsar mit der durch die Gravitation gekrümmten Zeit oder vielmehr einer komplizierten Raum-Zeit-Schichtung. Für den fernen Beobachter schwingt das Schwarze Loch sekundenlang wie eine Stimmgabel. Für denjenigen aber, der sich direkt in einer solchen Schichtlinie transformierter Zeit befände, verlöre der Zeiger der galakti-schen Uhr jede Bedeutung. Paßt ein Raumschiff nun den Zeitpunkt ab, zu dem das Schwarze Loch diese ungleichartige Zeit-Raurn-Deformation bewirkt, kann es in eine Bradychornie eindringen, sich in dieser Sphäre verlangsamter Zeit jahrelang aufhalten und diesen temporären Hafen danach wieder verlassen. In den Augen des äußeren Beobachters verschwindet es bei Erreichen des Schwarzen Lochs und taucht nach dem unsichtbaren Aufenthalt in der Bradychornie wieder im umgebenden Raum auf. Für die gesamte Galaxis, für alle, die von fern zusehen, wechselt die Form des m Schwingung versetzten Kollapsars sekundenlang zwischen einer flachen Scheibe und einer Spindel, genauso, wie er in der Agonie schwankte, als er ein in sich zusammengefallener Stern war, der nach Erschöpfung seines nuklearen Inneren von der eigenen Schwere bezwungen wurde.

Für das Raumschiff in der Bradychronie kann die Zeit nahezu stehenbleiben. Das ist aber noch nicht alles. Der bebende Kollapsar verhält sich nicht wie ein Ball von idealer Elastizität, sondern eher wie ein Luftballon, der sich beim Aufspringen unregelmäßig deformiert. Dies entspringt einer Intensivierung der Quanteneffekte. Neben den Bradychronien können daher Retrochronien erscheinen: Strömungen oder auch Flüsse der Zeit, die rückwärts fließen. Für entfernte Zuschauer gibt es weder die einen noch die anderen. Wer sich diese Stillegungen oder Umkehrungen der Zeit zunutze machen will, muß also in sie eindringen. Der Entwurf sah vor, daß die EURYDIKE einen vereinzelten Kollapsar über dem Sternbild der Harpyie als Hafen benutzen sollte. Aufgabe der Expedition war nämlich nicht der Kontakt mit einer beliebigen Zivilisation, die sich im Intervall der möglichen Verständigung befand, sondern das Ertappen einer solchen, die bereits wie ein zum Himmel aufsteigender Schmetterling dem Fenster entfliegt — schon flattert er am oberen Rand, und dort gelingt dem Entomologen der Fang. Für diese Operation war ein Stillstand in der Zeit unerläßlich, dazu in einer Entfernung von dem bewohnten Planeten, daß dieser von den irdischen Psychonauten aufgesucht werden konnte, ehe seine Zivilisation vom Hauptentwicklungsstrang nach Hortega-Neyssel abwich. Zu diesem Zweck war die Expedition in drei Etappen eingestellt worden. Auf der ersten sollte die EURYDIKE den Kollapsar im Sternbild der Harpyie anfliegen, der als Platz für die Lauerstellung und die temporären Manöver ausersehen war. Diesen Kollapsar hatte man mit gutem Grund Hades getauft. Der EURYDIKE flog nämlich ORPHEUS voraus, eine unbemannte kolossale Einwegrakete. Es handelte sich dabei um ein Gravitationsgeschütz, einen sogenannten GRACER (Gravitation Amplification by Col-limated Excitation of Resonance). Auf ein Signal von der EURYDIKE sollte er das Schwarze Loch in Schwingungen versetzen, die mit ihrer eigenen Amplitudenfrequenz übereinstimmten.

In irdischen Dimensionen ein Riese, war ORPHEUS ein Hälmchen gegen die Masse des Kollapsars, den er ins Schaukeln bringen sollte. Er konnte jedoch das Phänomen der Gravitationsresonanz nutzen: Indem er seinen durcheinandergerüttelten Geist aufgab, zwang er den Hades zu einem Krampf und einem darauffolgenden Erschlaffen, wobei die schwarze Hölle ihren Schlund und der EURYDIKE einen Durchschlupf öffnete, durch den das Raumschiff in die Wirbel der bradychronischen Ströme einschweben konnte. Zuvor hatte man sich von Bord aus zu überzeugen, ob die sieben Lichtjahre entfernte Quinta bereits voll im technologischen Zeitalter stand, und nach dieser Diagnose den angemessenen Zeitpunkt eines Besuchs zu bestimmen. Danach sollte sich die EURYDIKE ihre temporäre Zuflucht im Hades schaffen, den die Gracer-Emission des ORPHEUS erschüttert hatte. Da solch ein Abschuß kohärenter Gravitation nur einmal möglich war, weil ORPHEUS sich damit selbst vernichtet hatte, konnte die Operation nicht wiederholt werden. Falls sie wegen eines Navigationsfehlers in den temporären Stürmen, einer falschen Diagnose des Entwicklungstempos der quintanischen Zivilisation oder eines unberücksichtigt gebliebenen Faktors nicht auf Anhieb gelang, drohte der Expedition ein Fiasko, das im besten Falle die Rückkehr zur Erde mit leeren Händen bedeutete. Der Plan wurde zusätzlich kompliziert durch das Vorhaben, in der Hölle des Hades Retrochronien auszunutzen, also die gegenüber der Zeit der ganzen Galaxis rückwärtsfließende Zeit. Dadurch konnte die EURYDIKE schon nach einem Dutzend Jahren zum Sonnensystem zurückkehren, obwohl zwischen der Harpyie und der Erde tausend Parsek lagen. Das genaue Datum der Rückkehr lag allerdings im Bereich der Unbestimmbarkeit: Sekundenbruchteile beim Manövrieren in Bradychronien und Retrochronien machten fern von den Pressen und Mühlen der Gravitation Jahre aus.

Der Verstand des Lernenden konnte sich mit diesen Informationen nicht abfinden, denn ihm fielen Widersprüche auf, in der Hauptsache der folgende: Die EURYDIKE sollte über dem Kollapsar in der Zeitlosigkeit oder in einer anderen als der universellen Zeit ruhen. Die Kundschafter flogen zur Quinta und zurück: Das dauerte über siebzigtausend Stunden, also um die acht Jahre. Der Kollapsar sollte unter den Schlägen des Gracers zwischen den Formen einer flachen Scheibe und einer langen Spindel schwingen — für den entfernten Beobachter dauerte das nur einige Augenblicke. Wenn die Kundschafter also zurückkamen, trafen sie das Raumschiff nicht mehr in seinem Kollapsarhafen an, das Schwarze Loch hatte bis dahin längst wieder die Gestalt einer unbeweglichen Kugel angenommen. Der HERMES sollte nach Verlassen der Quinta sein Mutterschiff im temporären Hafen vorfinden. Einen Hafen aber, der entstand, um sogleich zu verschwinden, konnte er nicht antreffen, er wäre bei der Rückkehr des HERMES nicht mehr vorhanden. Wie war das eine mit dem anderen vereinbar? Lauger gab ihm die Erklärung.

„Es gibt Physiker, die daran festhalten, dies genauso aufzufassen, wie sie begreifen, was ein Stein und ein Schrank ist. Was sie in Wahrheit begreifen, ist die Übereinstimmung der Theorie mit dem Ergebnis von Messungen. Die Physik, mein Lieber, ist ein schmaler Pfad, eine Leitlinie über Abgründe, die alle menschliche Vorstellungskraft übersteigen. Sie ist eine Sammlung von Antworten auf Fragen, die wir der Welt stellen und die die Welt unter der Bedingung beantwortet, daß wir ihr keine anderen Fragen stellen — die nämlich, die der gesunde Menschenverstand herausschreit. Was ist denn gesunder Menschenverstand?

Er ist das, was einen Intellekt übermannt hält, der sich auf die Sinne gründet, die gleichen Sinne wie die der Affen. Dieser Intellekt will die Welt in Übereinstimmung mit den Regeln erkennen, die durch seine irdische Lebensnische aufgestellt worden sind. Die Welt außerhalb dieser Nische, dieser Brutstätte intelligenter Affenmenschen, besitzt Eigenschaften, die man eben nicht anfassen, angucken, anbeißen, behorchen, beklopfen und auf diese Weise m Besitz nehmen kann. Für die EURYDIKE in ihrem kollaptischen Hafen wird der Flug des HERMES ein paar Wochen, für dessen Besatzung ungefähr anderthalb Jahre dauern, davon drei Monate für den Hinflug, ein Jahr auf der Quinta und wieder drei Monate für den Rückflug. Für Beobachter, die sich auf keinem der beiden Raumschiffe befinden, erfüllt der HERMES seine Mission in neun Jahren, und für eine ebenso lange Zeit entschwindet die EURYDIKE ihren Augen. Nach der an Bord der letzteren gemessenen Zeit geht sie vom Freitag in den Sonnabend über, kehrt in den Freitag zurück und läßt sich von dem Kollapsar wieder ausspucken. Auf dem HERMES wird die Zeit dank seiner lichtnahen Geschwindigkeit langsamer als auf der Erde vergehen. Auf der EURYDIKE läuft sie noch langsamer und nachher sogar rückwärts: Das Raumschiff geht aus der Bradychronie in die Retrochronie nieder und springt von dort hinaus in die Galaktochrome. Es geht also aus der durch die Gravitation gedehnte in die rückwärtslaufende Zeit, aus der sie dann auftaucht und den HERMES in dem faltenlosen Zeh-Raum trifft. Irrt sich die EURYDIKE in ihren Manövern beim Durchsteuern der Variochronien auch nur um Sekunden, so verfehlt sie den HERMES.

Seitens der Welt liegt darin keinerlei Widerspruch, dieser entsteht erst bei der Kollision einer Vernunft, die in der verschwindend geringen Gravitation der Erde entstanden ist, mit Phänomenen um das Billionenfache größerer Kräfte. Weiter nichts.

Die Welt ist nach universellen Regeln eingerichtet, die man als Naturgesetze bezeichnet, aber die gleiche Regel kann in verschiedener Intensität auftreten.

Für jemanden beispielsweise, der in die Tiefe eines Schwarzen Lochs geraten ist, gewinnt der Raum das Aussehen der Zeit, denn er kann nicht mehr zurück, genausowenig, wie du dich in der irdischen Zeit rückwärts, in die Vergangenheit bewegen kannst. Die Gefühle eines solchen Tauchers kann man sich nicht vorstellen, selbst wenn man voraussetzt, daß er nicht sofort unter dem Horizont der Vorgänge zugrunde geht. Dennoch halte ich die Welt für freundlich gesonnen, da wir imstande sind, uns dessen zu bemächtigen, was zu unseren Sinnen im Widerspruch steht. Denke übrigens nur mal daran, daß ein Kind eine Sprache beherrschen lernt, ohne weder die Grundsätze von Grammatik und Syntax noch die den Sprechenden verborgenen inneren Widersprüche der Sprache zu verstehen. Du hast mich hier zum Philosophieren angestiftet. Der Mensch dürstet nach endgültigen Wahrheiten. Ich denke, daß jede sterbliche Vernunft sich so verhält.

Was ist das aber — die endgültige Wahrheit? Sie ist das Ende des Weges, wo es weder weitere Geheimnisse noch weitere Hoffnungen gibt, wo man nach nichts mehr fragen kann, weil alle Antworten gegeben sind. So einen Ort gibt es nicht. Der Kosmos ist ein Labyrinth, das aus Labyrinthen errichtet ist. In jedem Öffnet sich das nächste. Wo wir selbst nicht eindringen können, gelangen wir mit der Mathematik hin. Aus ihr bauen wir die Vehikel, mit denen wir uns in den unmenschlichen Räumen der Welt bewegen. Aus der Mathematik lassen sich ebenso außerkosmische Welten konstruieren, ohne Rücksicht darauf, ob sie existieren.

Außerdem kann man die Mathematik und ihre Welten verwerfen und durch den Glauben in eine jenseitige Welt eintreten. Damit befassen sich Menschen vom Schlage des Pater Arago. Der Unterschied zwischen mir und ihm ist der zwischen der Erreich barkeit der Verwirklichung bestimmter Dinge und der Hoffnung auf die Verwirklichung bestimmter Dinge. Mein Fachgebiet umfaßt das Erreichbare, seines das nur Erhoffte und von Angesicht zu Angesicht erst nach dem Tod Erreichbare.

Was hast du nach dem Tod erlangt? Was hast du gesehen?“

„Nichts.“


„Eben darin besteht die differentia specifica zwischen Wissen und Glauben.

Soviel ich weiß, hat die Tatsache, daß die Wiederbelebten nichts gesehen haben, nicht an den Dogmen des Glaubens gerüttelt. Die neuere christliche Eschatologie behauptet, der Wiedererweckte vergesse seinen Aufenthalt im Jenseits. Dies sei — ich drücke es mal auf meine Art aus — ein Akt der göttlichen Zensur, die den Menschen verbietet, zwischen der Welt und dem Jenseits hin und her zu springen.

Credenti non fit injuria. Wenn es sich, wie das Beispiel Aragos beweist, für einen so elastischen Glauben zu leben lohnt, um wieviel leichter nimmt man die Widersprüche für bare Münze, dank derer du zu den Quintanern kommen wirst.

Vertraue der Physik so, wie Arago seinem Glauben vertraut. Die Physik ist im Gegensatz zum Glauben fehlbar. Du hast die Wahl. Überleg es dir. Und nun geh, ich habe zu arbeiten.“

Es ging auf Mitternacht, als er wieder in seine Kajüte trat. Er dachte abwechselnd über Lauger und den Mönch nach. Der Physiker war an seinem Platz, aber der andere? Worauf hoffte, worauf baute er? Er hatte doch keinen missionarischen Auftrag? War wirklich schon ein Überbau der Theologie für die nichtmenschlichen Gaben und Geschöpfe Gottes entstanden, und hielt sich Arago für seinen Sprecher? Warum hatte er bei dem Gespräch gesagt, dort könne das Böse herrschen?

Erst jetzt begriff er das Grauen, mit dem dieser Mann offenbar leben mußte.

Nicht um sich — um seinen Glauben fürchtete er. Er konnte die Erlösung als eine der Menschheit geltende Gnade ansehen und dabei an einer Expedition zu nichtmenschlichen Wesen teilnehmen — dorthin also, wohin sein Evangelium nicht reichte. So mochte er denken, und da er an die göttliche Allgegenwart glaubte, glaubte er damit an die Allgegenwart des personifizierten Bösen, denn der Dämon, der Christus versucht hatte, existierte bereits vor der Verkündigung und der Empfängnis. Führte er die Dogmen, denen er lebte, also mit sich, um sie aufs Spiel zu setzen?

Resigniert schüttelte der Überlebende den Kopf. Lauger konnte er nach allem fragen, den anderen jedoch nicht. Im Evangelium steht kein Wort darüber, was Lazarus nach seiner Auferstehung gesagt hat. Auch er selbst, obwohl von den Toten auferstanden, konnte Pater Arago nicht helfen. Der Glaube hatte, um zu überleben, solchen Resurrektionen einen anderen, weltlichen, irdischen Namen gegeben und war dadurch unangetastet geblieben. Übrigens kannte er sich darin nicht aus, er verstand die schmerzliche Einsamkeit des Mönchs nur dadurch, daß er selbst aufgehört hatte, ein hilfloser und passiver Einzelgänger, ein zufällig an Bord genommener, geretteter Schiffbrüchiger zu sein. Während er sich fürs Schlafengehen zurechtmachte, lauschte er in die absolute Stille der EURYDIKE.

Sie flog an der Lichtgrenze. In Kürze sollte sie den Schub umkehren. Die Uhren zeigten in allen Räumen den kritischen Zeitpunkt an, damit die Besatzung sich rechtzeitig in den Kojen auf den Rücken legen und anschnallen konnte.

Die Kugeln des Rumpfes werden innerhalb der gepanzerten Segmente eine Drehung um 180 Grad machen, alles ringsum gerät ins Wirbeln. Der Schwindel, die Vertigo, wird einen Augenblick andauern, bis alles wieder in Ruhe und Schweigen erstarrt.

Statt am Heck entlangzufegen, schießen die Antriebsflammen längs des Bugs nach vorn. Dadurch verbessert sich ein wenig der Kontakt mit der Erde. Mit vierjähriger Verspätung jagen der EURYDIKE Nachrichten von jenen nach, die die Besatzung auf der Erde zurückgelassen hat. Er wird keinen dieser Laserbriefe bekommen, denn er hat niemanden auf der Erde. Statt einer Vergangenheit besaß er jedoch eine Zukunft, für die es sich zu leben lohnte.

Die Vorgeschichte der Expedition war voller Reibereien gewesen. Das im Prinzip ausführbare Projekt hatte eine Menge Gegner. Die auf verschiedene Weise berechneten Chancen auf einen Erfolg konnten nicht bedeutend sein. Das Verzeichnis der Vorfälle, die so oder so das Verderben des Unternehmens herbeiführen konnten, hatte Tausende Positionen und war dennoch nicht vollständig. Vielleicht kam die Expedition gerade deswegen zustande. Ihre fast sichere Aussichtslosigkeit, ihre Gefährlichkeit waren eine Herausforderung, großartig genug, daß sich Männer bereit fanden, sie zu unternehmen. Bevor die EURYDIKE mit zunehmender Beschleunigung dahinflog, wuchsen in sogar noch höherer Potenz die Kosten, wie es Opponenten und Kritiker ganz richtig vorausgesagt hatten. Die einmal eingesetzten Investitionen entwickelten jedoch eine Eigendynamik und zogen weitere nach sich. Die ökonomische Seite des Projekts kam nicht schlechter ins Schlingern als der Titan nach dem Start der EURYDIKE. Der Reisende, der in seiner Lektüre zu ersticken drohte, überging diese Krisen der Vorbereitung, des Raumschiffbaus und der Rückwirkungen auf die Erde, wo Unzulänglichkeiten der Produktion einherliefen mit politischen Affären und Korruptionsskandalen. Was ging ihn das alles an, da er doch bereits unterwegs war?

Hingegen vertiefte er sich in die Geschichte der Astronautik, in die Dokumentationen der transsolaren Flüge und der unbemannten Sonden, die bis zur Alpha Centauri gelangten, in Berichte, die voll waren von den Namen der Beschäftigten von Gral und Roembden. Vielleicht tat er es in der Hoffnung, unter ihnen Leute von damals wiederzuerkennen und dadurch den Faden in die Hand zu bekommen, der ihn zu sich selber führen könnte. Zuweilen, vor dem Einschlafen oder gleich nach dem Aufwachen, fühlte er diese Erinnerung schon ganz nahe, zumal er in manchem Traum gesehen hatte, wer er war. Im Wachen aber hatte er nur die leere Gewißheit einer erträumten Identität. Nach Ablauf eines Jahres, in dem er trainiert, gelernt und gelesen hatte, gab er diese Versuche auf. Die EURYDIKE bremste bereits gegenüber dem Kollapsar, der wirklich wie ein Loch am Himmel wuchs, denn an seiner Stelle gab es ja keine Sterne. Alles aber gab er doch nicht auf: Im Wachen war er bereits einer der designierten Piloten des HERMES, in seinen Träumen jedoch, von denen er niemandem erzählte, war er immer noch der Mann, der in Birnams Wald gegangen war.

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