VII Auf Fang

Im Aphel der Zeta, weit von den größten Planeten entfernt, führte Steergard das Raumschiff auf eine elliptische Bahn, damit die Astrophysiker erste Beobachtungen der Quinta anstellen konnten. Wie immer in solchen Systemen, trieben durch den Raum die Überreste alter Kometen, die bei vielen Durchgängen durch die Sonnennähe ihre Gasschweife verloren hatten sowie zerrissen und zu Blöcken erstarrt waren. Unter diesen verstreuten Brocken von Gestein und verdichtetem Staub bemerkte GOD in 4000 Kilometern Entfernung ein Objekt, das einem Meteor ganz unähnlich war. Im Radar zeigte es eine metallische Reflexion.

Für einen Magnetitbrocken mit hohem Eisengehalt hatte es eine zu regelmäßige Form. Es erinnerte an einen Falter mit kurzem, dickem Hinterleib und Stummelflügeln. Vier Grad wärmer als vereistes Gestein, rotierte es nicht um sich selbst, wie es sich für einen Meteor oder das Bruchstück eines Kometenkerns gehört hätte, sondern zog ohne Spur eines Antriebs gleichmäßig seine Bahn. GOD betrachtete es in allen Spektralbereichen, bis er die Ursache dieser Stabilität entdeckte: einen schwachen Argonausstoß, einen spärlichen und daher kaum sichtbaren Strahl. Es konnte sich um eine Sonde oder ein kleines Raumschiff handeln.

„Diesen Falter fangen wir uns“, entschied Steergard. Der HERMES ging auf Verfolgungskurs und setzte, dem Gejagten auf eine knappe Meile nahe gekommen, eine Rakete mit Greifern aus. Über dem Rücken des sonderbaren Falters öffnete das Fanggerät die Klauen und schlug sie ihm in die Seiten. Wehrlos wie in einem Schraubstock, schien sich das Gebilde ergeben zu haben, aber nach einem Augenblick stieg seine Temperatur an, und der nach hinten ausströmende Gasstrahl wurde dichter.

Der Monitor, der bisher die Übereinstimmung des Fangprogramms mit dessen tatsächlichem Verlauf angezeigt hatte, sprühte Fragezeichen.

„Die Energieabsorber einschalten?“ fragte GOD. „Nein“, wehrte Steergard ab. Er sah auf das Bolometer. Der Fang erhitzte sich weiter. Dreihundert, vierhundert, fünfhundert Grad Kelvin. Der Schub hingegen nahm nur unbedeutend zu. Die Temperaturkurve zuckte und knickte um. Der Gefangene erkaltete.

„Was für ein Antrieb?“ fragte der Kommandant. Er bekam keine Antwort, alle im Steuerraum Anwesenden wandten den Blick vom Bildempfänger auf die seitlichen Monitore, die andere Emissionen als Eicht anzeigten. Es flimmerte nur der bolometrische. „Radioaktivität Null?“

„Jawohl“, bestätigte GOD dem Kommandanten. „Das Ausströmen läßt nach. Was machen wir?“

„Nichts. Warten.“ Sie flogen lange.

„Nehmen wir das an Bord?“ fragte schließlich El Salam. „Vielleicht sollte es erst durchstrahlt werden?“

„Schade um die Mühe. Er ist fertig — der Schub ist runter, und erkaltet ist er auch. GOD, zeig ihn mal aus der Nähe.“

Durch das Elektronenauge eines Greifers sahen sie eine schwarze Kruste, von ungezählten angefressenen Stellen übersät wie mit Pocken. „Entern?“ fragte GOD.

„Noch nicht. Gib ihm mal ein paar Schläge. Aber mit Maßen.“

Zwischen den langarmigen Zangen schob sich eine dicke, vorn abgerundete Stange hervor und stieß methodisch gegen den Rumpf. Schuppig löste sich die Asche.


„Er kann einen Zünder haben, der nicht auf Stoß reagiert“, meinte Polassar. „Ich würde ihn doch durchstrahlen…“

„Gut.“ Steergard erklärte sich unerwartet einverstanden. „GOD, spinographiere ihn.“

Zwei spindelförmige Sonden schössen aus dem Bug auf den Falter zu, um ihn m ihre Mitte zu nehmen. In die oberen Monitore im Steuerraum kam Leben, sie zeigten verschlungene Streifen, Bänder und Schatten. Gleichzeitig leuchteten an den Bildschirmrändern die Symbole der Elemente auf: Kohlenstoff, Wasserstoff, Silizium, Mangan, Chrom… Als diese Reihen immer länger wurden, sagte Rotmont:

„Das hat keinen Zweck. Wir müssen ihn an Bord nehmen.“

„Riskant“, murmelte Nakamura. „Lieber ferngesteuert demontieren.“

„GOD? Was meinst du?“ fragte der Kommandant. „Es ist möglich. Zu schaffen in fünf bis zehn Stunden. Anfangen?“

„Nein. Setze ein Teletom aus, das den Panzer an der dünnsten Stelle auftrennt und das Innere zeigt.“

„Mit dem Bohrer?“

„Ja.“

Eine neue Sonde gesellte sich zu den übrigen, die den Fang umringten. Ihr Diamantbohrer stieß auf eine nicht minder harte Hülle.

„Hier hilft nur Laser“, entschied GOD. „Wenn es nicht anders geht… Ein minimaler Impuls, damit im Innern nichts schmilzt.“

„Das kann ich nicht garantieren“, gab GOD zurück. „Also?“

„Los, aber sachte.“

Der ausgefahrene Bohrer verschwand. Auf der rauhen Oberfläche glühte weiß ein Punkt auf, und als sich das Qualmwölkchen lichtete, fuhr in das ausgeschmolzene Loch das Kopfstück eines Teleobjektivs. Sein Monitor zeigte verräucherte Rohre, die in eine gewölbte Platte liefen. Das ganze Bild zitterte leicht, und plötzlich sagte GOD: „Achtung: Die Spinographie weist im Zentrum des Objekts Exzitonen nach, und virtuelle Teilchen haben den konfigurativen Fermischen Raum zusammengepreßt.“

„Wie ist das zu interpretieren?“ fragte Steergard. „Im Herd ein Druck von über vierhunderttausend Atmosphären oder Holenbachsche Quanteneffekte.“

„Eine Art Bombe?“

„Nein. Wahrscheinlich die Quelle der Antriebsenergie. Die Rückstoßmasse war Argon. Sie ist erschöpft.“

„Kann man das an Bord nehmen?“

„Ja. In der Bilanz ist die Energie des Ganzen gleich Null.“ Niemand außer den Physikern begriff, was das bedeutete. „Nehmen wir es?“ richtete der Kommandant seine Frage an Nakamura.

„GOD weiß es am besten“, lächelte der Japaner. „Und was meinst du?“

Der Angesprochene, El Salam, bejahte. Die Trophäe wurde also in eine Vakuumkammer am Bug gehievt und vorsorglich mit Energieabsorbern umgeben.

Kaum war diese Operation abgeschlossen, meldete GOD eine neue Entdeckung: ein Objekt, das beträchtlich kleiner war als das aufgegriffene. Es war mit einer Substanz überzogen, die die Strahlen des Radars schluckte. GOD hatte es durch die Spinresonanz des Baumaterials gespürt. Es war eine dicke Zigarre von etwa fünf Tonnen. Wieder schwärmten die Orbiter aus, erhitzten die Isolationshülle und legten die metallglänzende Spindel frei. Versuche, sie zu einer Reaktion zu bringen, blieben ohne Ergebnis. Es war ein Wrack: In seiner Flanke gähnte ein Loch. Der Zustand des Randes zeugte davon, daß es vor noch nicht allzulanger Zeit hineingeschmolzen worden war. Auch diese Beute wurde an Bord geholt.

Die Jagd selbst war also leicht gewesen, die Schwierigkeiten begannen erst bei der Besichtigung und der Sezierung des doppelten Fangs. Das erste Wrack, das jetzt in der Halle an den ungefügen Körper einer zwanzig Tonnen schweren Schildkröte erinnerte, verriet durch seine höckrige, in zahllosen Kollisionen mit Mikrometeoriten und Staubteilchen aufgerauhte Haut ein Alter von etwa hundert Jahren. Seine Umlaufbahn hatte im Aphel über die äußersten Zeta-Planeten hinausgeführt. Die Anatomie der solide gepanzerten Schildkröte verblüffte die Leute, die sie sezierten. Ihr Protokoll bestand aus zwei Teilen. Im ersten gaben Nakamura, Rotmont und El Salam in aller Eintracht eine Beschreibung der in jenem Gebilde untersuchten Anlagen, im zweiten, der vom Zweck dieser Anlagen handelte, gingen ihre Ansichten von Grund auf auseinander. Polassar, der ebenfalls an der Untersuchung teilgenommen hatte, stellte die Mutmaßungen der Physiker in Frage.

Er erklärte, das Protokoll tauge so viel wie eine von Pygmäen angefertigte Beschreibung einer ägyptischen Pyramide. Die Übereinstimmung in der Frage des verwendeten Materials gab keinerlei Klarheit über seinen Bestimmungszweck. Der alte Satellit besaß eine Energiequelle besonderer Art, er enthielt piezoelektrische Batterien, die von einem Konverter geladen wurden, wie ihm die Physiker noch nie begegnet waren. Elektrite, im Mehrkaskadenschraubstock rein mechanischer Druckverstärker gepreßt, lieferten Strom, indem sie sich entspannten. Dies konnte in Portionen vor sich gehen, die von einem Drosselsystem mit Phasenimpedanz eingeteilt wurden, es konnte aber auch zur plötzlichen und vollständigen Entladung kommen, wenn die Sensoren des Panzers die Drosselung kurzschlössen. Dann hätte der gesamte Strom die zweifach gewickelte Spule umlaufen und in einer magnetischen Explosion gesprengt.

Zwischen den Akkumulatoren und dem Gehäuse befanden sich Säcke oder Taschen, die mit Schlacke gefüllt waren. Dort liefen halbgläserne Adern mit einem matt spiegelnden Innern, vielleicht erodierte Lichtleiter.

Nakamura nahm an, dieses Wrack sei einst einer Überhitzung ausgesetzt gewesen, die einen Teil der Baugruppen angeschmolzen und die Sensoren vernichtet habe.

Rotmont sah für die Zerstörungen eine kalte, katalytische Ursache, so als hätten irgendwelche — zweifellos unbelebte — Mikroparasiten das Leitungsnetz im Vorderteil des Satelliten zerfressen, und dies vor sehr langer Zeit.

Innen zogen sich über den Panzer in mehreren Schichten Zellen, die an Bienenwaben erinnerten, aber viel kleiner waren. Nur durch die Chromatographie ließen sich in ihrer Asche Silikosäuren nachweisen, die Siliziumentsprechungen der Aminosäuren mit der doppelten Wasserstoffbrücke. Hier gingen die Ansichten der Männer, die das Wrack ausschlachteten, definitiv auseinander. Polassar hielt diese Reste für die Innenisolation des Panzers, Kirsting hingegen für ein Zwischensystem zwischen lebendem und unbelebtem Gewebe, ein Produkt der Technobiologie von unbekannter Herkunft und Funktion.

Die Diskussion über die Protokolle war lang und hitzig. Die Männer vom HERMES hatten vor sich den Beweis, welcher technologischen Leistungen die Quintaner vor einem Jahrhundert fähig gewesen waren. In etwa ließen sich die theoretischen Grundlagen dieser Technik mit dem irdischen Wissen Ende des 20. Jahrhunderts vergleichen. Zugleich aber ließ mehr noch als jeder Sachbeweis die Intuition erahnen, daß die Entwicklung dieser fremden Physik in ihrer Hauptrichtung schon damals von der irdischen abgewichen war. Eine synthetische Virusologie oder eine Technobiotik ist nicht möglich ohne die vorherige Beherrschung der Quantenmechanik, die wiederum, noch kaum fortgeschritten, den Weg zur Spaltung und Synthese von Atomkernen weist. In dieser Epoche sind atomare Mikromeiler die beste Energiequelle für Satelliten und kosmische Sonden. In diesem Satelliten jedoch gab es keine Spur von Radioaktivität. Sollten die Quintaner die von Explosion und Kettenreaktion geprägte Etappe der Nukleonik übersprungen und gleich die Konversion der Schwerkraft in Quanten starker Wechselwirkung erreicht haben? Dagegen sprach allerdings die piezoelektrische Batterie dieses alten Satelliten.

Schlimmer war es mit dem anderen. Er hatte eine Batterie negativer Energie, wie sie bei Unterlichtgeschwindigkeit in den Schwerefeldern großer Planeten entsteht. Sein Pulsationsantrieb war durch einen gezielten Treffer zertrümmert worden, möglicherweise durch einen Schuß gebündelten Lichts von Gigajoule-Stärke. Radioaktivität wies er nicht auf. Die inneren Versteifungen bildeten Faserbündel von monomolekularem Kohlenstoff — eine beachtliche Leistung der Festkörpertechnologie. In einer unversehrten Kammer hinter der Kraftzentrale fanden sich geborstene Rohre aus supraleitfahigen Verbindungen, leider genau dort unterbrochen, wo es „interessant“ wurde, wie Polassar verzweifelt klagte.

Was konnte dort gewesen sein? Die Physiker ergingen sich bereits in Vermutungen, die sie unter irdischeren Verhältnissen niemals anzustellen gewagt hätten. Hatte dieses Wrack vielleicht einen Brüter von instabilen Superschweren Kernen enthalten? Von Anomalonen? Aber wozu? Wenn es ein unbemanntes Forschungslabor gewesen wäre, hätte das einen Sinn gehabt. Aber war es ein solches gewesen? Und warum erinnerte das geschmolzene Metall hinter der Einschußstelle an eine archaische Funkenstrecke? Die supraleitfähige Niobiumlegierung wiederum wies in den unversehrten Leitungen leere Stellen auf, hineingefressen durch endothermische Katalyse, als hätten sich dort irgendwelche „Eroviren“ von Strom oder vielleicht von den Supraleitern ernährt.

Das Merkwürdigste waren kleine Zerstörungsherde, die in beiden Satelliten entdeckt wurden und keinesfalls durch gewaltsame äußere Einwirkung entstanden sein konnten. Meist waren die Leitungsübergänge gleichsam zerfressen und zerkaut worden, wodurch eine Perlenschnur von Hohlräumen entstanden war. Rotmont, in seiner Funktion als Chemiker zu Hilfe gerufen, hielt sie für das Ergebnis der Aktivität makromolekularer Partikel. Es gelang ihm, eine größere Menge zu isolieren. Sie hatten die Gestalt asynchronischer Kristalle und behielten ihre selektive Aggressivität bei. Manche griffen ausschließlich Supraleiter an.

Rotmont zeigte seinen Kollegen unterm Elektronenmikroskop, wie diese unbelebten Schmarotzer sich in die Fäden einer supraleitfähigen Niobiumverbindung fraßen, die ihnen zur Nahrung diente, da sie sich auf Kosten der verdauten Substanz vermehrten. Der Chemiker bezeichnete sie als „Viroiden“, und er glaubte nicht, daß sie innerhalb des Satelliten von selbst entstanden sein konnten. Er nahm an, die Apparatur sei bereits wahrend der Montage verseucht worden. Zu welchem Zweck? Als Experiment? Aber hätte man den Satelliten dazu auch noch in den Raum zu schießen brauchen?

Der Gedanke an vorsätzliche Sabotage während des Baus dieser Anlagen drängte sich auf, eine Vermutung, die freilich sehr gewagt war: Sie setzte voraus, daß hinter diesen Erscheinungen ein Konflikt steckte, der Effekt einer Kollision widerstreitender Absichten. Anderen roch diese Konzeption zu stark nach anthropozentrischem Chauvinismus. Konnte es nicht eine Anfälligkeit der Apparatur auf ihrem molekularem Niveau sein? Eine Art Krebs unbelebter Gebilde von subtiler, komplizierter MikroStruktur? Für den ersten, den alten Satelliten, die Schildkröte, die während der Jagd als Falter bezeichnet worden war, schloß der Chemiker eine solche Eventualität aus, für den anderen aber konnte er dies nicht mit analoger Gewißheit tun.

War auch der Zweck nicht ersichtlich, für den die beiden Raumfahrzeuge konstruiert worden waren, so fiel doch der technische Fortschritt in die Augen, der sich seit dem Bau des ersten vollzogen hatte. Dennoch hatten die „Eroviren“

in beiden Satelliten anfällige Fraßstellen gefunden. Einmal auf dieser Fährte, konnte und wollte sie der Chemiker nicht mehr aufgeben. Die mikroelektronische Untersuchung von Proben, die beiden Geräten entnommen worden waren, ging schnell, weil sich ein Analysator unter der Kontrolle GODs damit befaßte. Ohne diese Geschwindigkeit hätte ein Jahr für diese Nekrohistologie nicht ausgereicht. Das Resultat lautete: Bestimmte Elemente beider Satelliten hatten eine spezifische Widerstandsfähigkeit gegen den katalytischen Fraß gewonnen, und zwar auf eine so eng umrissene Weise, daß man in Analogie zu lebendigen Organismen und Erregern von immunologischen Reaktionen sprechen konnte. Die Vorstellungskraft entwarf bereits das Gemälde eines mikromilitärischen Kriegs, der ohne Soldaten, Geschütze und Bomben auskam, eines Krieges mit der besonders präzisen Geheimwaffe halbkristalliner Pseudoenzyme. Wie stets, wenn man einem Problem hartnäckig auf die Spur zu kommen sucht, klärte sich auch hier der Sinn der entdeckten Phänomene nicht auf, sondern unterlag im Zuge der weiteren Arbeit neue Komplikationen. Die Physiker, der Chemiker und Kirsting kamen kaum noch aus dem Hauptlabor heraus. Auf unbelebten Nährboden vermehrte sich ein reichliches Dutzend Verbindungen für „Angriff“ und „Verteidigung“, zugleich aber verwischte sich die Grenze zwischen dem, was integraler Bestandteil der fremden Technik, und dem, was zum Zwecke der Zerstörung in sie eingedrungen war. Kirsting erklärte, absolut objektiv gedacht, sei dies überhaupt keine Grenze: Nehmen wir an, auf der Erde erscheine ein superkluger Supercomputer, der von den Erscheinungen des Lebens nichts weiß, weil bereits seine elektronischen Urahnen vergessen hatten, daß sie einst von biologischen Wesen gebaut worden waren. Er beobachte und untersuche nun einen Mann, der den Schnupfen und im Grimmdarm Stäbchenbakterien hat. Ist der Aufenthalt von Viren in der Nase des Mannes dessen „integrale, natürliche Eigenschaft“ oder nicht? Nehmen wir an, der Mann fällt während der Untersuchung um und schlägt sich eine Beule am Kopf. Diese Beule ist ein Bluterguß unter der Haut, die Gefäße sind beschädigt. Diese Beule kann aber ebensogut angesehen werden als eine Art Stoßdämpfer, der entstanden ist, um den knochigen Schädel wirksam vor einem weiteren Schlag zu schützen. Ist eine solche Interpretation abwegig? Sie kommt uns lächerlich vor, aber es geht hier nicht um Witze, sondern um den Standpunkt außermenschlichen Erkennens.

Steergard hörte sich die zerstrittenen Experten an, nickte und gab ihnen weitere fünf Tage Zeit. Es war in der Tat eine harte Nuß. Die Technobiotik auf der Erde hatte seit einem halben Jahrhundert gänzlich andere Wege eingeschlagen, die sogenannte „Nekroevolution“ war als unrentabel abgetan worden. Es hatte nicht einmal die Vermutung gegeben, einst könne eine „Artenbildung von Maschinen“ entstehen. Niemand aber konnte kategorisch behaupten, auf der Quinta gäbe es so etwas nicht.

Zuallerletzt stellte der Kornmandant nur noch die Frage, ob die Hypothese eines Konflikts unter den quintanischen Produzenten als wesentliche Voraussetzung der Weiterführung des Kundschaftsunternehmens anzusehen sei. In dem Stadium ihrer fortgeschrittenen Analysen wollten die Sachverständigen jedoch in keiner Weise von sicheren Voraussetzungen sprechen. Ein Axiom ist keine Hypothese, die Hypothese kein Axiom. Sie wußten genug, um zu begreifen, wie schwankend die Ausgangspositionen waren, auf die sich ihre Kenntnis stützte. Zusätzliches Pech war — auch in dem jüngeren Wrack — das Fehlen jeglicher Kommunikationssysteme, die wenigstens entfernt eine Ähnlichkeit mit dem aufgewiesen hätten, was sich aus der Theorie der endlichen Automaten und der Informatik ableiten ließ. Hatten die Viroiden diese Pseudonerven restlos aufgefressen? Aber dann hätten Spuren und Reste übrigbleiben müssen. Oder verstand man diese nicht zu identifizieren?

Lassen sich aus einem Taschenrechner, der unter eine hydraulische Presse geraten ist, die Theorien Shannons oder Maxwells ableiten?

Die letzte Beratung fand in einer äußerst gespannten Atmosphäre statt.

Steergard ließ die positiven Erkenntnisse unbeachtet. Er fragte nur, ob Indizien, wonach die Quintaner die Sideral-Technologie beherrschten, auszuschließen seien. Dies hielt er für das Wichtigste. Mochte mancher auch erraten, warum er sich gerade darauf versteifte, so äußerte sich doch niemand dazu. Der HERMES trieb träge durch das Dunkel, seine Crew steckte im Dickicht der Unbekannten. Harrach und Tempe, die beiden Piloten, hörten der Aussprache schweigend zu. Auch die Ärzte ergriffen nicht das Wort. Arago trug nicht mehr sein Ordenskleid und kam in den Unterhaltungen — es hatte sich so gefügt, daß sie zu viert im oberen Stockwerk, über der Steuerzentrale, beisammensaßen — nicht auf seine Frage zurück: „Und wenn dort das Böse herrscht?“ Als Gerbert einmal sagte, in der Konfrontation mit der Wirklichkeit seien die Erwartungen stets unterlegen, widersprach ihm Arago. Wie viele Hindernisse hatten sie bisher überwunden, die ihre Vorfahren noch im 20. Jahrhundert für unüberwindbar gehalten hatten! Die Reise war glatt verlaufen, ohne Verluste hatten sie Lichtjahre durchmessen, die EURYDIKE war unfehlbar m den Hades eingetreten, sie selbst aber ins Sternbild der Harpyie vorgedrungen, und von dem bewohnten Planeten trennten sie nur Tage oder Stunden.

„Der Pater treibt mit uns Psychotherapie“, lächelte Gerbert. Er titulierte den Dominikaner als einziger so, es fiel ihm schwer, ihn „Kollege“ zu nennen.


„Ich sage die Wahrheit, mehr nicht. Ich weiß nicht, was aus uns wird. Dieses Nichtwissen ist der uns angeborene Zustand.“

„Ich weiß, was Sie denken“, entfuhr es Gerbert impulsiv. „Der Schöpfer wünscht nicht solche Expeditionen — solche Begegnungen — diesen „Umgang der Zivilisationen“, und deshalb hat er Abgründe dazwischengelegt. Wir aber haben aus dem Apfel des Paradieses nicht nur Kompott gemacht, sondern sägen schon am Baum der Erkenntnis…“

„raus Sie meine Gedanken kennenlernen möchten, stehe ich zu Diensten. Ich meine, daß uns der Schöpfer in nichts, in gar nichts beschränkt hat… Unbekannt bleibt dabei, was diesen Verpflanzungen des Baumes der Erkenntnis entwächst. .“

Die Piloten konnten dem Gang dieser theologischen Diskussion nicht länger folgen, denn der Kommandant beorderte sie zu sich: Er nahm Kurs auf die Quinta.

Er erläuterte die Navigationsbahn und fügte hinzu: „An Bord herrscht eine Stimmung, wie ich sie nicht erwartet habe. Auch die Üppigkeit der Phantasie muß sich in Grenzen halten. Wie ihr wißt, ist dauernd von unverständlichen Konflikten, Mikroma-chien, von Nanoballistik und Kampf die Rede, aber das ist ein Ballast von Vorurteilen, der leicht blind macht. Wenn wir schon schlottern, nachdem wir ein paar Wracks ausgeschlachtet haben, verlieren wir die Orientierung, und jeder Schritt erscheint als tollkühnes Glücksspiel. Ich habe das den Wissenschaftlern gesagt, darum sage ich es auch euch. Und nun guten Flug! Bis zur Septima könnt ihr den Kurs von GOD halten lassen, aber dann will ich euch am Steuer haben. Wie ihr euch abwechselt, könnt ihr unter euch ausmachen.“

Das Raumschiff bekam schon Schub, eine schwache Gravitation stellte sich her.

Harrach war mit zu Tempe gegangen, um das alte Buch zu holen, das noch von der EURYDIKE stammte. Als sie sich an der Kabinentür trennten, beugte er sich zu seinem kleineren Kollegen, als wolle er ihm ein Geheimnis verraten: „Ter Horab hat gewußt, wen er auf den HERMES setzt, was? Hast du Bessere gekannt?“

„Bessere nicht“, sagte Tempe. „Aber solche wie ihn.“

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