III Der Verunglückte

Er war wieder bei Bewußtsein, aber blind und ohne Körper. Die ersten Gedanken bestanden nicht aus Worten. Seine Empfindungen waren unsäglich verworren. Er trieb irgendwohin, verlor sich und kehrte zurück. Erst als er die innere Sprache wiedergefunden hatte, konnte er sich Fragen stellen: Wovor bin ich erschrocken?

Was ist das für ein Dunkel? Was bedeutet das? Und nachdem er diesen Schritt getan hatte, gewann er das Vermögen zu denken: Wer bin ich? Was ist los mit mir?

Er wollte sich bewegen, um Arme, Beine und Körper zu spüren, er wußte nun schon, daß er einen Körper hatte oder zumindest haben sollte. Nichts aber gehorchte ihm, nichts rührte sich. Er wußte nicht, ob er die Augen offen hatte, er spürte weder die Lider noch ihre Bewegungen. Er strengte alle Kraft an, um diese Lider aufzumachen, und vielleicht gelang es ihm auch, aber er sah nichts als das Dunkel wie bisher. Diese Versuche, die so viel Mühe kosteten, führten ihn wieder zu der Frage: Wer bin ich? Ein Mensch.

Diese Selbstverständlichkeit kam ihm vor wie eine Sensation. Wahrscheinlich hatte er das Bewußtsein erlangt, sonst hätte er nicht gleich darauf im Innern gelächelt, denn was war das schon für eine Leistung, solch eine Antwort. Langsam kehrten die Worte wieder, von irgendwoher, erst verstreut und regellos, als fange er sie wie Fische aus unbekannten Tiefen: Ich bin. Ich bin. Ich weiß nicht, wo. Ich weiß nicht, warum ich meinen Körper nicht spüre. Jetzt begann er sein Gesicht zu spüren, die Lippen, vielleicht die Nase, er konnte sogar die Nasenlöcher bewegen, obwohl das ungeheure Willensanstrengung kostete. Er riß die Augen auf und drehte die Augäpfel nach allen Seiten, und dank dem zurückgekehrten Urteilsvermögen vermochte er zu entscheiden: Entweder bin ich erblindet, oder es ist völlig dunkel. Die Dunkelheit verband sich in seinen Gedanken mit der Nacht, die Nacht aber mit einem großen Raum voller reiner, kühler Luft und dadurch mit dem Atmen. Atme ich? fragte er sich und lauschte in das eigene Dunkel, das dem Nichts so glich und von ihm doch so verschieden war.

Er glaubte zu atmen, allerdings nicht wie sonst. Er arbeitete nicht mit den Rippen und dem Bauch, er befand sich in einer unbegreiflichen Schwebe, die Luft trat von selbst in ihn ein und verließ ihn wieder sacht. Anders konnte er nicht atmen.

Er hatte nun schon ein Gesicht, eine Lunge, eine Nase, einen Mund. Und Augen, aber die sahen nichts. Er beschloß, die Hand zur Faust zu ballen. Er erinnerte sich sehr gut, was Hände sind und wie man sie zu Fäusten ballt, aber er spürte nichts, und plötzlich war die Angst wieder da, nun ganz rational, weil einer Überlegung entsprungen: Entweder bin ich gelähmt, oder ich habe die Arme und wohl auch die Beine verloren. Diese Schlußfolgerung konnte falsch sein — er hatte eine Lunge, das stand fest, und dennoch hatte er keinen Körper. In das Dunkel und die Angst drangen gleichmäßige, ferne, dumpfe Töne — vom Blut? Oder vom Herzen? Ja, das Herz schlug. Als erstes Zeichen von außen hörte er auch jemanden reden. Sein Gehör hatte sich geöffnet, er wußte, daß zwei Menschen miteinander sprachen, denn er unterschied zwei Stimmen, aber er verstand nicht, was sie sagten. Die Sprache war ihm bekannt, aber alles klang gedämpft, die Worte waren undeutlich wie Gegenstände, die man durch eine beschlagene Scheibe oder durch Nebel betrachtet. Je mehr er sich konzentrierte, um so schärfer wurde sein Gehör, und sonderbar: Durch das Gehör gelangte er über sich hinaus. Dadurch befand er sich in einem Raum, der ein Unten und Oben, ein Rechts und Links hatte. Er konnte sich eben noch vergegenwärtigen, daß dies die Schwerkraft bedeutete, dann konzentrierte er sich ganz auf sein Gehör. Die Stimmen gehörten Männern, eine höhere und leisere, die andere tiefer, ein Bariton. Scheinbar ganz nahe bei ihm. Wer weiß, vielleicht könnte er etwas sagen, wenn er es nur versuchte? Doch erst wollte er zuhören, nicht nur aus Neugierde und Hoffnung, sondern auch deswegen, weil es eine Lust war, so gut zu hören und alles immer besser zu verstehen.

„Ich würde ihn noch im Helium lassen.“ Das war die Stimme ganz in der Nähe, in der so viel Kraft lag, daß sie an einen großen, stark gebauten Mann denken ließ. „Ich nicht“, sagte der Jüngere, entfernter Stehende. „Warum nicht? Das schadet doch nicht.“

„Schau dir sein Gehirn an. Nein, nicht die Calcarina, den rechten Temporallappen. Das Wernicke-Zentrum. Siehst du? Er hört uns schon.“

„Die Amplitude ist klein, ich bezweifle, daß er uns versteht.“

„Schon beide Stirnlappen, eigentlich ist das die Norm.“

„Ich sehe.“

„Alpha war gestern fast gar nicht.“

„Weil er in der Hibernation war. Das ist normal. Ob er nun versteht oder nicht, es ist immer noch zuviel Stickstoff. Ich gebe Helium zu.“ Lange Stille und weiche Schritte. „Warte — guck mal!“ Das war der Bariton. „Er ist wach… Na also…“ Mehr hörte er nicht, es wurde geflüstert. Er gewann die innere Klarheit der Gedanken zurück. Wer sprach da? Ärzte. Hatte ich einen Unfall? Wer bin ich?

Er dachte immer rascher, und die anderen flüsterten hastig und fielen einander ins Wort. „Prima, frontal einwandfrei… Mit dem Thalamus stimmt was nicht…

Schalt mal runter… Ich sehe da nicht klar. Schalt den Äskulap ein! Oder lieber den Medicom! Ja, stell das Bild schärfer. Was ist mit dem Rückenmark?“

„Fast auf Null. Komisch.“

„Komisch ist eher, daß es nicht ganz auf Null steht. Zeig das Atemzentrum! Mhm…“

„Wecken?“

„Nein, wozu? Er wird von selber noch genug Luft holen. So ist es sicherer. Nur oberhalb des Chiasmas…“ Es gab einen kurzen Klang.

„Er sieht nicht“, sagte verwundert die jüngere Stimme. „Die Neun funktioniert schon bei ihm, und gleich werden wir uns überzeugen, ob er etwas sieht…“ In dem Schweigen und der Stille vernahm er metallisches Klirren. Zugleich trat in sein Dunkel ein grauer, fahler Schimmer.

„Aha!“ triumphierte der Bariton. „Das war nur an den Synapsen. Die Pupillen reagieren schon seit einer Woche. Übrigens“, setze er leiser hinzu, „eines wird er nicht können…“

Unverständliches Flüstern. „Agnosie?“

„Woher denn. Das wäre ja noch gut… guck dir die oberen Teile an…“

„Das Gedächtnis restituiert sich?“

„Ich weiß nicht, ich kann weder ja noch nein sagen. Wie ist das Blutbild?“

„Normal“

„Das Herz?“

„Fünfundvierzie.“

„Der systolische Blutdruck?“

„Einhundertzehn. Wollen wir schon abschalten?“

„Lieber nicht. Warte mal. Ein kleiner Impuls im Rückenmark..“

Er fühlte in sich etwas zucken. „Der Muskeltonus kehrt zurück, siehst du?“

„Ich kann nicht gleichzeitig die Miogramme und das Gehirn im Auge haben. Bewegt er sich?“

„Mit den Armen… Astigmatisch.“

„Und jetzt? Beobachte sein Gesicht.

Blinzelt er?“

„Er hat die Augen auf. Sieht er?“

„Noch nicht. Wie reagieren die Pupillen?“

„Auf vier Lux. Ich schalte sechs ein. Sieht er?“

„Nein, aber er nimmt das Licht wahr. Das ist eine Reaktion des Thalamus. Der Medicom soll die Elektroden korrigieren und Strom geben. Da — prima!“


Durch einen Schleier sah er über sich etwas Bleiches, Rötliches und Leuchtendes.

Gleichzeitig hörte er eine von Atemzügen unterbrochene Stimme: „Du bist gerettet und wirst gesund werden. Versuche nicht zu sprechen. Schließe zweimal die Augen, wenn du mich verstanden hast. Zweimal!“ Er tat es.

„Wunderbar. Ich werde mit dir sprechen. Wenn du etwas nicht verstehst, schließt du einmal die Augen.“ Er gab sich große Mühe, dieses Blasse, Rötliche zu erkennen, aber es gelang ihm nicht.

„Er versucht dich zu sehen“, vernahm er jene entferntere Stimme. Woher konnte der Sprecher das wissen? „Du wirst mich und auch alles andere sehen“, sagte langsam der Bariton. „Du mußt Geduld haben. Verstehst du?“ Er bejahte mit den Lidern und wollte etwas sagen, aber es schnorchelte nur etwas in ihm.

„Nein, nein“, wies ihn die Stimme scharf zurück. „Für Unterhaltungen ist es zu früh. Du kannst nicht sprechen, denn du bist intubiert. Du bekommst die Luft direkt in die Luftröhre, du atmest also nicht selbst, sondern wir tun es für dich. Verstehst du? Sehr gut. Jetzt wirst du schlafen. Wenn du erwachst und ausgeruht bist, reden wir miteinander. Du wirst alles erfahren, nun aber träume schon… Einschläfern, Viktor, aber langsam!“

Er sah nichts mehr, als sei das Licht nicht über ihm, sondern m ihm ausgegangen.

Er wollte nicht schlafen, wollte aufspringen, aber schon verflüchtigte sich und verschwand auch das Dunkel, das er selber war.

Er hatte viele Träume, sonderbare, schöne und solche, die man sich nicht merken noch wiedergeben kann. Er hatte eine Fülle unterschiedlicher Empfindungen auf einmal, er ging weit fort und kehrte zurück, sah Menschen und erkannte ihre Gesichter, konnte sich aber nicht erinnern, wer sie waren. Manchmal blieb nur ein unbegrenztes Schauen, erfüllt von einer unsichtbaren Sonne. In diesen Träumen und der Leere dazwischen schienen ihm Jahrhunderte zu vergehen.

Plötzlich wurde er wach, und damit zugleich gewann er den Körper zurück. Er lag auf dem Rücken, in flauschigen, weichen Stoff gewickelt. Er spannte die Rückenmuskeln, in den Schenkeln fühlte er ein Kribbeln. Über sich hatte er einen blaßgrünen, flachen Plafond, neben ihm blitzten irgendwelche Leitungen und Gläser, aber er konnte den Kopf nicht wenden, ein weiches Kissen umfaßte ihn, elastisch angepaßt, bis an die Schläfen und hielt ihn fest. Die Augen konnte er frei bewegen. Hinter einer durchsichtigen Wand standen Apparate, direkt am Rand des Gesichtsfeldes leuchteten hüpfende Lämpchen, und bald erkannte er, daß sie etwas mit ihm zu tun hatten: Wenn er so tief einatmete, daß der Brustkorb sich wölbte, leuchteten sie im selben Rhythmus auf. Dort aber, wohin er kaum noch schielen konnte, zeigte sich in langsamem Gleichmaß etwas Rötliches, dessen schwingende Bewegung ebenfalls Schritt hielt — mit ihm, mit seinem Herzschlag.

Er zweifelte nicht mehr daran, daß er sich in einem Krankenhaus befand. Ein Unfall also. Aber wann und wie? Er runzelte die Stirn und wartete, daß das Gedächtnis eine Erklärung hergab, aber vergebens. Er lag reglos, schloß die Augen und konzentrierte seinen Willen auf die Frage, aber es kam keine Antwort.

Es war ihm nicht mehr genug, daß er, wenn der Stoff ihn nicht umhüllt hätte, beliebig Beine, Arme und Finger bewegen konnte, er versuchte sich zu räuspern, führte die Zungenspitze an den Zähnen entlang.

„Ich“, sagte er endlich. „Ich!“

Er erkannte die eigene Stimme. Wem aber diese Stimme zu eigen war, wußte er nicht, und er begriff nicht, wie das sein konnte. Er suchte die ihn behindernde Umhüllung abzuwerfen und spannte mehrmals die Muskeln an, als ihn eine schwere, sonderbar plötzliche Schläfrigkeit überkam und er wieder in sich erlosch wie die Flamme einer niedergebrannten Kerze.

Er zählte die Tage nicht. Der Lebensablauf auf dem Raumschiff war auf einfache Weise geordnet: er stimmte mit dem Rhythmus auf der Erde überein. Tagsüber lagen alle Decks, die Korridore und die Tunnelübergänge zwischen den einzelnen Rumpfsegmenten in hellem Licht. Um zehn Uhr begann die Dämmerung, indem sich das von Decken und Wänden strahlende, goldüberhauchte Weiß abschwächte, etwa eine Stunde lang herrschte ein blaues Halbdunkel, bis das Licht ganz erlosch und nur die an der Decke hinlaufenden Leuchtröhren dem einsamen Wanderer den Weg wiesen.

Diese Zeit liebte der Erwachte nämlich am meisten. Er konnte die EURYDIKE auch bei Tage besichtigen — alle Räume waren zugänglich, man hatte ihm versieben, daß er selbstverständlich nach Belieben umhergehen und fragen konnte —, aber er bevorzugte für seine Streifzüge die Nacht.

Nach dem Morgentraining im Turnsaal ging er, körperlich fit, in die Schule. Er selbst nannte das so, wenn er sich vor den Memnor setzte, um im Spiel von Bildern und Worten, die Assoziationen weckten, das Gedächtnis wiederzuerlangen, zugleich aber zu lernen, was ihm so fremd war. Er fühlte sich nicht konsterniert vor der Maschine, die unendlich geduldig und unfähig war, Gefühle zu zeigen, sich zu wundern oder überheblich zu sein. Wenn er etwas nicht begriff, nahm Memnor seine Zuflucht zu figürlichen Darstellungen und einfachen Schemata, griff auf die Speicher anderer Maschinen des Raumschiffs zurück, um didaktische Programme einzusetzen. Die Holothek besaß in ihrem Archivteil Tausende Filme, die jedoch in keiner Weise an die einst aufgenommenen erinnerten, denn jedes abgerufene Bild wurde wirkliche Umgebung, jedes Wort wurde Fleisch, alles freilich nur zeitweilig und vergänglich. Wenn er wollte, konnte er das Innere der Pyramiden besichtigen, gotische Dome, die Schlösser an der Loire, die Monde des Mars, Städte und Wälder, aber er tat dies nur in dem Wissen, daß auch diese Phantome einen wichtigen Teil der Therapie bildeten. Die Ärzte waren bemüht, ihn als Besatzungsmitglied, nicht aber als Patienten zu behandeln, und er hatte sogar den Eindruck, daß sie ihm ein wenig aus dem Weg gingen, als wollten sie unterstreichen, daß er sich in nichts von den anderen unterschied.

Das visuelle Gedächtnis war ihm zurückgekehrt — und damit die Lebenserfahrung, das Spezialgebiet des Navigators und Kenners der Großschreiter. Zwar hatten sich die Raumschiffe nicht weniger gewandelt als die Planetarmaschinen, und er befand sich ein wenig in der Lage eines Matrosen, der aus der Zeit der Segelschiffe in die der Ozeanriesen versetzt wurde, aber diese Lücken waren nicht schwer zu füllen. Die veralteten Kenntnisse ersetzte er durch neue. Immer schmerzlicher aber wurde er sich der schlimmsten und vielleicht unwiederbringlichen Einbuße bewußt: Er konnte sich keiner Vor- oder Nachnamen erinnern, einschließlich der eigenen. Und was noch merkwürdiger war, sein Gedächtnis kam ihm vor wie zweigeteilt. Was er einst erlebt hatte, kehrte verblaßt zurück, wenn auch genau in den Details, wie die kleinen Habseligkeiten eines Kindes, die man beim Aufräumen im Elternhaus nach Jahren wiederfindet, nicht nur die Erinnerung an ihr Aussehen, sondern auch eine emotio-nelle Aura wachrufen.

Einmal, im Labor der Physiker, stieg ihm aus einem Destilliergerät der bitterliche Geruch einer verdampfenden Flüssigkeit in die Nase und machte ihm sofort etwas gegenwärtig, was mehr war als ein Bild: der nächtliche Aufenthalt auf einem zufälligen, beleuchteten Landeplatz, wo er unter den noch glühenden Trichtern der Düsen, unter dem Boden seiner geretteten Rakete gestanden, ebendiesen Nitroqualm gerochen und ein Glücksgefühl verspürt hatte, von dem er damals nichts gewußt hatte, das er aber jetzt in der Erinnerung verstand. Er erzählte Doktor Gerbert nichts davon, obgleich er sich mit jeder überraschenden Reminiszenz unverzüglich bei ihm melden sollte, da sie so etwas sei wie ein verschütteter Ort des Gedächtnisses, wo man nachgraben müsse, um ihn aufzuschließen und so immer vollkommener zu sich selbst zu finden, also nicht um der Psychotherapie willen, sondern um die verwischten Bahnen im Gehirn aufzuspüren. Der Ratschlag war vernünftig und sachkundig, auch er hielt sich für jemanden, der vernünftig dachte, ging aber dennoch nicht zu dem Arzt. Unstreitig gehörte die Schweigsamkeit zu seinen grundlegenden Charaktereigenschaften. Nie war er geneigt, jemandem sein Herz auszuschütten — schon gar nicht in so privaten Angelegenheiten. Außerdem sagte er sich, daß er die Erinnerung, wer er sei, nicht durch den Geruchssinn erschnüffeln könne wie ein Hund. Er verwarf diesen Gedanken sogleich wieder als dumm, es fiel ihm gar nicht ein, sich über die Ärzte zu erheben. Dennoch blieb er bei seinem Entschluß. Gerbert kam schnell hinter seine Zurückhaltung. Er gab ihm sein Wort, daß seine Gespräche mit dem Memnor nicht aufgezeichnet würden und er selbst, falls er wolle, ihren Inhalt aus dem Gedächtnis des Pädagogen löschen könne, Das tat er auch. Vor der Maschine hatte er keine Geheimnisse. Sie half ihm, eine Unmenge von Erinnerungen zu rekonstruieren — aber ohne menschliche Vor- und Zunamen, einschließlich seines eigenen.

Schließlich fragte er seinen Gesprächspartner direkt danach. Dieser verstummte für eine gute Weile. Das Gedächtnistraining fand in einer reichlich merkwürdig eingerichteten Kajüte statt. Es gab hier einige altväterliche Möbel, reine Museumsstücke in beinahe höfischem Stil, zierliche Sessel mit Vergoldungen und gebogenen Füßen. Jede Wand schmückten die Bilder alter Holländer, die nämlich, derer er sich als seiner Lieblingsgemälde erinnerte und die jeweils erschienen, als wollten sie ihm zu Hilfe kommen. Sie wechselten also mehrfach, und was in den kunstvoll gearbeiteten Rahmen steckte, war keine Leinwand, ahmte aber deren Textur und die Klümpchen der Ölfarbe täuschend nach. Der Memnor verriet ihm auch, wie diese vollkommenen, vergänglichen Repliken gemacht wurden. Der maschinelle Lehrer war unsichtbar, aber natürlich nicht von jemandem versteckt worden: Als Unterkomplex des Äskulap hatte man ihn für diese Gespräche abgestellt, er besaß keine Gestalt, die imstande gewesen wäre, die Stimmung des Schülers zu stören. Damit dieser aber in dem leeren Raum nicht zum Mikrofon oder zur Wand sprach, hatte er vor sich eine Büste des Sokrates, wie sie aus den Lesebüchern der griechischen Mythologie, möglicherweise auch der Philosophie bekannt ist. Diese Büste mit dem ziemlich wuschligen Kopf schien aus Stein zu sein, beteiligte sich zuweilen aber durch ihr Mienenspiel an der Unterhaltung.

Dem Belehrten war das nicht angenehm, er fand es geschmacklos. Da er aber auf keine konkrete Änderung kam und auch gegen Gerbert nicht zudringlich sein wollte, gewöhnte er sich an dieses Antlitz, und nur wenn er etwas Heikles vorbringen wollte, ging er vor dem Mentor auf und ab, ohne ihn anzusehen, genau so, als spräche er mit sich selbst. Der falsche Sokrates schien zu zaudern, wie vor einem allzu schweren Problem.

„Ich werde dir auf unbefriedigende Weise antworten. Es ist nicht gut für den Menschen, sich in der Beschaffenheit von Körper und Geist vollkommen auszukennen. Die vollkommene Erkenntnis bestimmt die Grenze der menschlichen Möglichkeiten, die der Mensch um so schwerer erträgt, je weniger er von Natur aus in seinen Absichten beschränkt ist. Soviel als erstes. Zweitens behält man Vornamen anders als alle anderen Begriffe, die hinter der Rede verborgen sind.

Die Vornamen bilden nämlich kein geschlossenes System. Sie beruhen rein auf Übereinkunft. Jeder heißt irgendwie, könnte aber ebensogut anders heißen und bliebe doch derselbe Mensch. Über die Eigennamen entscheidet der Zufall, der Vater und Mutter heißt. Vor- und Zunamen entbehren also der logischen und physikalischen Notwendigkeit. Wenn du einem Philosophen eine kleine Abschweifung gestattest: Es gibt nur Dinge und ihre Beziehungen. Ein Mensch zu sein ist soviel wie ein gewisses Ding zu sein. Daß es ein lebendiges ist, spielt weiter keine Rolle dabei. Bruder oder Sohn zu sein ist bereits eine Beziehung. Du kannst ein Neugeborenes mit allen Methoden untersuchen — du wirst in ihm alles entdecken und seinen Erbcode herausfinden, aber nicht seinen Namen. Die Welt erkennt man. An Namen indes gewöhnt man sich nur. Im gewöhnlichen Leben spürt man diesen Unterschied nicht. Wer jedoch zweimal zur Welt kommt, erlebt ihn. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dir noch einfällt, wie du heißt. Das kann jederzeit, es kann nie geschehen. Deshalb riet ich dir, wenigstens einen provisorischen Namen anzunehmen. Das ist weder unredlich noch betrügerisch, du versetzt dich in die Lage deiner Eltern an deiner Wiege. Auch sie wußten, als sie sich heirateten, noch nicht, welchen Namen sie dir geben würden. Jahre später, nachdem sie ihn gewählt hatten, hätten sie sich nicht vorstellen können, daß du einen anderen, angeborenen, zutreffenderen Namen hast und sie ihn dir nicht gegeben haben.“

„Du redest ein bißchen wie das Orakel zu Delphi“, meinte er dazu und suchte zu verbergen, wie ihn die Worte von seinem Tod getroffen hatten. Er verstand nicht, warum er auf diese wohlbekannte Tatsache so reagierte — eigentlich mußte er doch unsägliche Genugtuung verspüren, da er von den Toten auferstanden war.


„Mir geht es nicht um den Vornamen. Ich weiß, daß mein Zuname mit P anfängt.

Vier bis acht Buchstaben. Parvis oder Pirx. Ich weiß, daß jene nicht zu retten waren. Es wäre besser gewesen, man hätte mir diese Liste nicht gezeigt.“

„Man hoffte darauf, daß du dich erkennst.“

„Ich kann nicht blindlings wählen, das sagte ich dir schon.“

„Ich kenne und verstehe deine Motive. Du gehörst zu den Menschen, die kaum die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So war das immer bei dir. Du willst keine Wahl treffen?“

„Nein.“

„Auch keinen angenommenen Vornamen?“

„Nein.“

„Was hast du also vor?“

„Ich weiß es nicht.“

Vielleicht hätte er noch mehr Überredungsversuche und Ratschläge über sich ergehen lassen müssen, aber er machte zum erstenmal, seit er in diesem Arbeitsraum weilte, von seinem Recht Gebrauch, den Inhalt seiner sämtlichen Gespräche mit der Maschine zu löschen. Als sei ihm das nicht genug, fegte er mit einem weiteren Knopfdruck auch die Büste des weisen Griechen ins Nichts. Er verspürte dabei eine böse, unvernünftige, aber packende Genugtuung, als habe er, ohne einen Mord zu begehen, denjenigen umgebracht, dem er sich allzusehr offenbart und der- ein Nichts — so verständig und unwiderruflich seine Hilflosigkeit gesteuert hatte. Es war ein kläglicher Ersatz für ein Argument, und er bedauerte den Knopfdruck, mit dem er sich des unschuldigen Geräts entledigt hatte. Da dieses indessen darin recht hatte, daß er weniger sich in der Welt als vielmehr die Welt in sich haben wollte, unterdrückte er Scham und eitlen Zorn, die er beide endlich ganz und gar vergaß, seit er sich mit Dingen befaßte, die wichtiger waren als die eigene Vergangenheit. Es gab viel zu lernen. Das größte und letzte Projekt, außerirdische Zivilisationen ausfindig zu machen, hatte den Namen ZYKLOP getragen und selbst nach einem reichlichen Dutzend Jahren zu nichts geführt. Dieser Ansicht waren diejenigen, die sich vom Belauschen der Sterne den Empfang verständlicher Signale erhofft hatten. Das Rätsel des Schweigenden Weltalls, des Silentium Universi, wuchs sich zu einem Problem aus, von dem die irdische Wissenschaft sich herausgefordert fühlte. Der extreme Optimismus einer Handvoll Astrophysiker, die gegen Ende des 20.

Jahrhunderts Tausende anderer Experten ebenso angesteckt hatten wie die Laien, hatte sich in sein Gegenteil verkehrt. Man hatte Milliarden in den Bau von Radioteleskopen investiert, die die Strahlung von Millionen Sternen und Galaxien filterten, man gewann daraus zwar viele neue Entdeckungen, aber keine der erhofften Nachrichten einer „anderen Vernunft“. Die auf Orbitern im All stationierten Teleskope wurden wohl mehrfach von Wellen-Strömen getroffen, die sonderbar genug waren, um die verlöschende Hoffnung wiederzubeleben, aber wenn es sich dabei um Signale handeln sollte, so dauerte der Empfang zu kurz und brach ab, ohne wiederhergestellt werden zu können. Vielleicht wurde der sonnennahe Raum nadelgleich von Botschaften durchschossen, die an Adressaten auf anderen Gestirnen gerichtet waren, man versuchte die Aufzeichnungen nach zahllosen Methoden zu dechiffrieren — es war vergeblich und nicht mit Gewißheit feststellbar, ob diese Impulse tatsächlich Signalcharakter hatten. Überlieferung und Vorsicht hielten die Fachleute dazu an, derlei Phänomene als Produkte der Sternenmaterie, als Emissionen härtester Strahlung zu betrachten, die der Zufall mit Hilfe sogenannter Gravitationslinsen zu schmalen Bändern oder Nadeln gesammelt hatte. Die oberste Regel bei der Beobachtung verlangte, alles, was nicht deutlich seine künstliche Herkunft offenbarte, als natürliches Phänomen zu betrachten. Die Astrophysik war indessen schon so weit, daß sie über genug Hypothesen verfügte, um jedwede Emission exakt definieren zu können, ohne sich auf irgendwelche Geschöpfe als Absender berufen zu müssen. Es kam zu einer recht paradoxen Situation: Je größer die Zahl der Theorien war, mit denen die Astrophysik operierte, um so schwieriger wurde der Beweis für die Echtheit eines von einer Absicht geleiteten Signals. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts stellten die Fürsprecher des Unternehmens ZYKLOP einen umfangreichen Katalog von Kriterien auf, die unterschieden, was die Natur im Reichtum ihrer Kräfte hervorzubringen vermag und was diesen Kräften unzugänglich ist, also wie ein „kosmisches Wunder“ aussieht — auf der Erde würden dem Blätter entsprechen, die vom Baum fallen und sich zu Buchstaben eines sinnvollen Satzes ordnen, oder Geröll, das auf dem Ufersand eines Flusses Kreise und Tangenten oder Euklidische Dreiecke bildet. Damit schufen die Wissenschaftler eine Reihe von Geboten, von Anforderungen, die jeder beliebige außerirdische Signalgeber erfüllen mußte.

Nahezu die Hälfte dieser Eiste verlor zu Anfang des darauffolgenden Jahrhunderts ihre Gültigkeit. Nicht nur die Pulsare, die Gravitationslinsen, die Maser gasförmiger Sternenwolken, die gewaltigen Massen des galaktischen Zentrums narrten die Beobachter durch ihre Regelmäßigkeit, Wiederkehr und sonderbare Ordnung vielfältiger Impulse. An die Stelle der gestrichenen „Pflichten der Signalgeber“ setzte man neue, die ebenfalls bald ihre Gültigkeit verloren.

Hierher leitete sich die pessimistische Überzeugung von der Einmaligkeit der Erde nicht nur innerhalb der Milchstraße, sondern in den Myriaden anderer Spiralnebel. Die weitere Zunahme gerade des astrophysischen Wissens ließ jenen Pessimismus auf Skepsis stoßen. Von geradezu unwiderleg-licher Aussage war hier die Quantität der kosmischen Eigenschaften von Energie und Materie, die den Begriff des „An-thropic Principle“ ausmachten, des engen Zusammenhangs zwischen dem, was das Universum, und dem, was das Leben ist. In einem Kosmos, der Menschen enthält, mußte die Geburt von Leben außerhalb der Erde zu erwarten sein. So entstanden nacheinander Vermutungen, die die Lebens-trächtigkeit des Weltalls mit dessen Schweigen zu vereinbaren suchten. Leben entsteht auf einer Unmenge von Planeten, bringt vernunftbegabte Wesen jedoch nur in einem höchst seltenen Zusammentreffen außergewöhnlicher Umstände hervor. Nein — es entsteht zwar ziemlich oft, entwickelt sich im allgemeinen aber nicht auf der Basis von Eiweiß. Das Silizium weist bereits eine Fülle von Verbindungen auf, die der des Kohlenstoffatoms, des Bausteins des Eiweißes, gleichkommt, und die auf Silikonen beruhenden Evolutionen weisen keinerlei Berührungspunkte mit der Zone der Vernunft auf — oder aber bilden Variationen, die aller Verwandtschaft mit der menschlichen Mentalität entbehren. Nein — die Intelligenz blitzt in vielerlei Gestalt auf, ist aber nur von kurzer Dauer. Allein in ihrer vernunftlosen Epoche verläuft die Entwicklung des Lebens über Jahrmilliarden. Primaten setzen, falls sie sich herausgebildet haben, nach hundert oder zweihundert Jahrtausenden unabsichtlich eine technologische Eruption in Gang, die sie nicht nur immer rascher zu immer höheren Fähigkeiten der Herrschaft über die Naturkräfte bringt, sondern urplötzlich — nach kosmischer Zeitrechnung handelt es sich um eine wahrhafte Explosion — die Zivilisationen in zu entlegene Gegenden versprengt, als daß sie sich durch die Gemeinschaft des Denkens verständigen könnten. Eine solche Gemeinschaft ist überhaupt nicht vorhanden. Sie ist ein anthropozentrisches Vorurteil, von den Menschen ererbt aus uraltem Glauben und uralten Mythen. Es kann viel verschiedenartige Vernunft geben, und eben dadurch, daß es so ist, schweigt der Himmel.

Anderen Hypothesen zufolge war des Rätsels Lösung viel einfacher. Wenn die Evolution des Lebens die Vernunft gebiert, tut sie das in einer Serie von einmaligen Zufällen. Diese Vernunft kann im Kindbett erstickt werden, sobald in der Nähe des sie zeugenden Planeten eine stellare Intervention erfolgt.

Kosmische Interventionen sind stets blind und schicksalhaft — hatte die Paläontologie mit Hilfe der Galaktographie, dieser Archäologie der Milchstraße, nicht nachgewiesen, welchen Kataklysmen, welchen Bergen von Saurierleichen im Mesozoikum die Säugetiere ihre Vorrangstellung verdankten und welchem Knäuel von Vorkommnissen — Eis- und Regenzeiten, Versteppung, Wanderung der irdischen Magnetpole, Mutationstempo — der Stammbaum des Menschen entwuchs?

Dennoch kann die Vernunft unter Trillionen Sonnen zur Reife gelangen. Sie kann den Weg der irdischen Spezies beschreiten. Dann schlägt dieser in der Sternenlotterie gezogene Gewinn nach ein- oder zweitausend Jahren in die Katastrophe um: Die Technologie ist ein Gebiet voller gefährlicher Fallen, und wer es betritt, findet leicht ein böses Ende.

Die vernunftbegabten Geschöpfe sind durchaus imstande, diese Gefahr zu erkennen — aber erst, wenn es zu spät ist. Die Zivilisationen haben sich der Religionen entledigt und deren späte, entartete Abwandlungen, die Ideologien, durchlaufen, die mit der Erfüllung der irdischen und nur der irdischen Wünsche gelockt haben, sie suchen nun den eigenen Schwung zu bremsen, aber das ist nicht mehr möglich, nicht einmal dort, wo sie nicht von Inneren Antagonismen aufgezehrt werden.

Das Unfallopfer vom Titan hatte viel Zeit, Fragen zu stellen und Antworten zu hören.

Vom Nachdenken über sich selbst und die Welt, auf der Erde Philosophie genannt, gehen die Vernunftbegabten zum Tun über, das ihnen immer deutlicher, immer augenfälliger macht, daß das, was immer sie ins Leben gerufen hat, ihnen nichts Gewisseres mitgab als die Sterblichkeit. Ebendieser verdanken sie ihr Dasein, denn ohne sie hätte der Jahrmilliarden währende Wandel entstehender und vergehender Arten nicht funktioniert. Sie gebar der Schlund allen Sterbens im Archäozoikum, des paläozoischen Zeitalters, der aufeinanderfolgenden Erdzeitalter, und zusammen mit ihrer Vernunft erhielten sie die Gewißheit, sterben zu müssen. Sehr schnell, anderthalb Jahrtausende nach dieser Diagnose, kommen sie hinter die Zeugungsmethoden der Natur, diese ebenso perfide wie verschwenderische Technologie sich selbst erfüllender Prozesse, wie die Natur sie benutzt, um weiteren Formen des Lebens Raum zu schaffen. Diese Technologie weckt Bewunderung, solange sie ihren Entdeckern unzugänglich bleibt. Auch das aber währt nicht lange. Nachdem Pflanze, Tier und eigener Körper um alle Geheimnisse bestohlen sind, krempelt man die Umwelt und sich selber um, es kommt zu einem Machthunger, der sich nicht stillen läßt.

Man kann in den Kosmos ausweichen — um sich endgültig zu überzeugen, wie fremd er einem ist und wie rücksichtslos einem das Mal der tierischen Herkunft eingebrannt ist. Auch diese Fremdheit läßt sich bewältigen; bald wird man innerhalb der errichteten Technosphäre zum letzten Relikt eines uralten biologischen Erbteils. Zusammen mit der einstigen Not, dem Hunger, den Seuchen, der Unzahl von Altersbeschwerden kann man die sterbliche Hülle abwerfen, eine Aussicht, die sogleich als phantasmagorische, ferne, erschreckende Wegscheide erscheint.

Der Verunglückte nahm derlei Gemeinplätze nur widerstrebend zur Kenntnis, sie rochen ihm zu sehr nach düsterem Pathos und einer von Ingenieurgeist geprägten Eschatologie. Er wollte, da er nun schon unfreiwilliger Teilnehmer war, das Ziel der Expedition kennenlernen. Ein neueres, dennoch für die Exobiologie bereits klassisches Werk machte ihn mit ihrem Vorhaben vertraut, und er sah in diesem Buch das Diagramm von Hortega und Neyssel.

Dieses Diagramm veranschaulicht die Entwicklung der Psychozoen im Universum mit ihrem Hauptstrang und seinen Verzweigungen.

Die Anfangszeit des Hauptstrangs fällt ins frühe Technologiezeitalter, sie ist von kurzer Dauer, in den tausend Jahren zwischen der Etappe der mechanischen und der informatorischen Geräte bietet er keine Abzweigungen. Im darauffolgenden Jahrtausend kreuzt sich die Informatik mit der Biologie und lost damit die Strömung der biotischen Beschleunigung aus.

An dieser Stelle geht der diagnostische Wert in den prognostischen über und demgemäß zurück. Der Hauptstrang war von Tatsachen und Theorien markiert worden; seine Anläufe sind Resultanten ausschließlich von Theorien, gestützt allerdings durch andere, die in hohem Grade glaubhaft sind.

Den kritischen Scheideweg des Hauptstrangs bringt der Zeitpunkt, zu dem die konstruktorischen Fertigkeiten der Vernunftbegabten mit der Leben zeugenden Potenz der Natur auf einer Stufe stehen. Der weitere Gang der einzelnen Zivilisation ist nicht voraussehbar. Das ergibt sich allein schon aus dem Charakter des Scheidewegs. Ein Teil der Zivilisationen kann sich durch eine starke Restriktion zugänglicher, aber immer unverwirklicht bleibender Autoevolution auf dem Hauptstrang halten. Den Grenzfall des Biokonservatismus setzt dann das instituierte Recht (Gesetze, Konventionen, Verbote mit Strafandrohung), dem die von der Natur übernommenen Fertigkeiten kategorisch unterliegen. Es entstehen der Umwelt rettend zugewandte Techniken: Sie sollen die Technosphäre möglichst schmerzlos der Biosphäre anpassen. Die Aufgabe kann, muß aber nicht ausgeführt werden; die Zivilisation schlägt dann in einer Serie autodestruktiver Krisen demographische Wellen. Sie kann etliche Male zurückgehen und sich regenerieren, wobei sie für diese selbstzerstörerische Inertion mit Milliarden Opfern zahlt. Es gehört dann nicht zu ihren vordringlichsten Aufgaben, interstellaren Kontakt zu suchen.

Die Konservativen des Hauptstrangs bewahren Schweigen — das ist selbstverständlich.

Biotisch nichtkonservative Lösungen gibt es viele. Einmal getroffene Entscheidungen sind im allgemeinen unwiderruflich. Daher der kraftstrotzende Schwung der alten Psychozoen. Hortega, Neyssel und Arnicar haben den Begriff des „Fensters des Kontakts“ geprägt. Das ist das Zeitintervall, in dem die Vernunftbegabten schon einen hohen Stand anwendbaren Wissens haben, aber noch nicht an die Umgestaltung der ihnen von Natur gegebenen Vernunft, dem Pendant des menschlichen Gehirns, gegangen sind. Das „Fenster des Kontakts“ ist, kosmisch gesehen, nur ein Augenblick. Vom Kienspan bis zur Petroleumlampe hat es sechzehntausend Jahre gebraucht, von dieser Lampe bis zum Laser hundert Jahre.

Die Differenz der für den Schritt vom Kienspan zum Laser unentbehrlichen Information gleicht dem Unterschied, der unabdingbar ist für den Schritt, der die Erkenntnis des Codes der Vererbung von seiner Einführung in die postatomare Industrie trennt. Der Wissenszuwachs ist exponential in der Phase des „Fensters des Kontakts“ und hyperbolisch an ihrem Ende. Das zur Verständigung geeignete Kontaktintervall zählt pessimal tausend, optimal tau-sendachthundert bis zweitausendfünfhundert Erdenjahre. Außerhalb des Fensters herrscht für alle unreifen und überreifen Zivilisationen Schweigen. Die ersteren verfügen für den Kontakt nicht über die Kapazität, die letzteren verkapseln sich oder schaffen Aggregate, die sich untereinander mit Supralichtgeschwindigkeit verständigen. In der Frage der Kommunikation mit Supralichtgeschwindigkeit herrschte Uneinigkeit.

Es gab keine Materie und keine Energie, die eine Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit herbeizuführen imstande war, aber einige waren der Ansicht, diese Barriere ließe sich umgehen: Ein Pulsar mit einem in einen Neutronenstern gefrorenen Magnetfeld dreht sich mit lichtnaher Geschwindigkeit. Sein Emissionsstrahl zieht Kreise um die Achse des Pulsars und durchmißt Raumabschnitte in ausreichender Entfernung mit Supralichtgeschwindigkeit.

Befinden sich auf den einzelnen Abschnitten dieses Strahlenumlaufs Beobachter, so können sie ihre Uhren oberhalb der von Einstein entdeckten Barriere synchronisieren. Sie müssen nur die Entfernung der Seiten des Dreiecks „Pulsar — Beobachter A — Beobachter B“ und die Drehgeschwindigkeit des Pulsars, dieses spezifischen „Leuchtturms“, kennen.

Soviel erfuhr der Wiedererweckte auf der EURYDIKE in dem Jahr ihrer unablässigen Beschleunigung über die kosmischen Zivilisationen. Er gelangte an eine Barriere, die er nicht zu bewältigen vermochte. Der maschinelle Lehrer zeigte kein Mißvergnügen mit dem Schüler, der zuwenig befähigt war, in die Geheimnisse der siderischen Energetik sowie ihrer Zusammenhänge mit Gravitationstechnik und — Ballistik einzudringen. Diese Früchte der neuesten Entdeckungen lagen der Expedition zum Sternbild der Harpyie zugrunde, auf das früheren Astronomen die Sicht verdeckt worden war durch eine Wolke, den sogenannten Kohlensack. Die EURYDIKE sollte ihn umfliegen, den „temporären Hafen“ eines Kolapsars anlaufen, der auf den Namen Hades getauft worden war, eines ihrer Segmente zu dem Planeten Quinta der Zeta Harpyiae entsenden, die Rückkehr dieses Kundschafters abwarten und zwecks ihres eigenen Rückflugs ein rätselhaftes Manöver ausführen, das die Bezeichnung „Passage durch den retrochronalen Toroid“ trug und das Raumschiff nach knapp acht Jahren zurück in Sonnennähe brachte. Ohne diese Passage wäre es erst nach zweitausend Jahren und eigentlich gar nicht zurückgekehrt.

Das Erkundungsschiff der EURYDIKE sollte ein ganzes Parsek selbständig zurücklegen, die Besatzung sich im Zustand der Embryonation befinden. Die Variante, die Männer zu vitrifizieren, war verworfen worden, da sie eine Wiederbelebung der Eingefrorenen nur zu achtundneunzig Prozent garantierte. Der Pilot vorsintflutlicher Raketen kam sich bei diesen Vorträgen vor wie ein Kind, das in die Funktionen eines Synchrophasotrons eingeführt wird. Entweder waren die Fähigkeiten des Memnors unzureichend — oder aber die seinen. Auch fand er, er sei eigenbrötlerisch geworden und dürfe nicht länger den Robinson an der Seite seines elektronischen Freitags spielen. Er fuhr zu dem im Bugsegment der EURYDIKE untergebrachten Observatorium, um wieder einmal die Sterne zu sehen.

Die Halle gleißte von unbegreiflichen Apparaten, vergebens suchte man die geschützähnliche Anlage des Reflektors, das Teleskop vertrauter Konstruktion oder selbst die Kuppel mit der Öffnung zur visuellen Himmelsbeobachtung. Der hohe Raum schien menschenleer, war aber von Lampengirlanden erhellt, die sich an schmalen, durch die Säulen der Geräte verbundenen Galerien rings um die Wände zogen.

Als er von diesem mißlungenen Ausflug in seine Kajüte zurückkam, bemerkte er auf dem Tisch ein altes, zerlesenes Buch mit einem Zettel von Gerbert, der ihm diese Schlaflektüre geliehen hatte. Der Arzt war bekannt dafür, daß er eine Menge Bücher phantastischen Inhalts an Bord geschleppt hatte, die er auch dem berauschendsten holovisuellen Spektakel vorzog.

Der Anblick des Buches bereitete dem Beschenkten Rührung. So lange war er nun wieder unter den Sternen, so lange hatte er sie nicht gesehen, und was noch schlimmer war, er verstand den Menschen nicht näherzukommen, die ihm die neue Reise gestiftet hatten — zusammen mit einem neuen Leben. Seine Kajüte hatte man ihm eingerichtet, wie er es gewünscht hatte: halb wie auf einem Hochseeschiff, halb wie den Wohnraum von Steuermann oder Navigator in einer alten Transportrakete, ganz anders als eine Passagierkabine also, denn das war nicht der Ort eines zeitweiligen Aufenthalts wie im Hotel, sondern ein Zuhause. Er hatte sogar zwei Kojen übereinander. Auf der oberen legte er gewöhnlich die Kleidung ab, wenn er sich auszog. Jetzt knipste er am Kopfende der unteren die Lampe an, zog die Decke über die Beine und schlug — mit dem Gedanken, nun sündige er wieder durch Untätigkeit und Faulheit, aber vielleicht schon zum letztenmal — das Buch an der Stelle auf, die Gerbert mit einem Zeichen versehen hatte. Er las eine Weile, ohne auch nur die Bedeutung der Wörter wahrzunehmen — so wirkte auf ihn der simple schwarze Druck. Die Art der Buchstaben, das vergilbte, abgegriffene Papier, die echten Nähte des Buchbinders, die Wölbung des Rückens, all das hatte für ihn etwas unglaublich Eigenes, Einzigartiges, Verlorenes und Wiedergefundenes, und dabei war er wahrhaftig nie ein Bücherwurm gewesen. Jetzt aber fand er im Lesen etwas Feierliches, als habe ihm der tote Autor einst ein Versprechen gemacht, das so vielen Hindernissen zum Trotz nun in Erfüllung gegangen war. Er hatte eine sonderbare Angewohnheit: Er schlug das Buch aufs Geratewohl auf und begann zu lesen. Den Verfassern wäre das wohl nicht sehr recht gewesen. Er wußte selber nicht, warum er es tat. Vielleicht wollte er die ersonnene Welt nicht durch eine fertige Tür betreten, sondern gleich mitten hineingelangen. Auch jetzt machte er es nicht anders.

… „Soll ich es Ihnen erzählen?“ Der Professor kreuzte die Arme über der Brust.

„Mit dem Schiff in den Hafen von Born“, begann er, ließ sich auf einen Stuhl sinken und kniff die Augen zu. „Mit einem Raddampfer den Fluß hinauf nach Bangal. Dort fängt der Dschungel an. Sechs Wochen beritten, länger geht es nicht. Selbst Maultiere halten nicht durch. Die Schlafkrankheit… Es gab dort einen alten Schamanen namens Nfo Tuabe.“ Er sprach das Wort französisch aus, mit der Betonung auf der letzten Silbe. „Ich war gekommen, um Schmetterlinge zu fangen. Er aber wies mir den Weg…“ Er hielt inne und schlug die Augen auf.

„Wissen Sie, was Dschungel ist? Woher sollten Sie es wissen! Grünes, tobsüchtiges Leben. Alles ist in Bewegung, wachsam, schwirrend. Im Dickicht ein Gedränge gieriger Geschöpfe, irrsinnige Blüten wie Explosionen von Farben.

Insekten, verborgen in klebrigen Spinnweben — Tausende, Tausende nicht klassifizierter Arten. Ganz anders als bei uns in Europa. Man braucht nicht mal zu suchen, die Falter setzen sich nachts in Schwärmen auf das Zelt, sie sind groß wie eine Hand, aufdringlich und blind. Zu Hunderten kommen sie im Lagerfeuer um. Schatten huschen über die Leinwand. Die Neger zittern, der Wind trägt von allen Seiten dumpfes Grollen herbei. Löwen, Schakale… Ja, aber das hat nichts zu sagen. Nachher kommen Schwäche und Fieber. Nachdem man die Pferde aufgegeben hat, geht man zu Fuß weiter. Ich führte Serum, Chinin, Germanin bei mir, alles, was Sie wollen. Eines Tages endlich — es gibt keine Zeitrechnung mehr, man merkt die ganze Lächerlichkeit und Künstlichkeit von Wocheneinteilungen und Kalendern — eines Tages geht es nicht mehr weiter. Der Dschungel ist zu Ende. Nur noch ein kleines Negerdorf, direkt am Fluß. Den Fluß gibt es auf keiner Landkarte, denn dreimal jährlich verläuft er sich im Flugsand. Ein Teil seines Bettes ist unterirdisch. Ja, ein paar Lehmhütten, das Baumaterial aus Schlamm in der Sonne gebrannt. Dort hauste Nfo Tuabe. Er konnte nicht Englisch, woher auch. Ich hatte zwei Dolmetscher mit. Der erste übersetzte meine Worte in den Küstendialekt, der zweite aus diesem in die Sprache der Buschmänner. Über den ganzen Urwaldgürtel, angefangen vom sechsten Breitengrad, herrscht dort eine alte Königsfamilie. Nachfahren der Ägypter, wie ich glaube.

Sie sind größer und viel intelligenter als die Neger aus Zentralafrika. Nfo Tuabe zeichnete mir sogar eine Karte und markierte darauf die Grenzen des Königreichs. Ich habe seinen Sohn von der Schlafkrankheit geheilt. Und eben dafür…“

Ohne die Augen zu Öffnen, griff der Professor in seine Innentasche und entnahm dem Notizblock ein Blatt Papier, auf dem sich wirre, mit roter Tinte gezeichnete Linien wanden.

„Man findet sich schwer darauf zurecht… Hier ist, wie abgeschnitten, der Dschungel zu Ende. Das ist die Grenze des Königreichs. Ich fragte, was dahinter wäre. Das wollte er mir bei Nacht nicht sagen, ich mußte am Tage wiederkommen.

Erst da, in seiner stinkenden, fensterlosen Höhle — Sie können sich den Mief nicht vorstellen —, sagte er mir, dort seien Ameisen. Blinde weiße Ameisen, die große Städte bauen. Ihr Land zieht sich kilometerlang hin. Die roten Ameisen kämpfen mit den weißen. Sie ergießen sich in einem großen, lebendigen Strom aus dem Dschungel. Dann brechen die Elefanten gewundene Tunnel ins Unterholz und verlassen die Gegend in Scharen. Die Tiger und selbst die Schlangen ergreifen die Flucht. Von den Vögeln bleiben nur die Geier. Die Züge der Ameisen sind unterschiedlich: manchmal einen Monat lang, Tag und Nacht, ein einziger rostroter, lebendiger Strom, der alles vernichtet, was immer ihm im Wege steht.

Die roten Ameisen gelangen an den Rand des Dschungels, stoßen auf die Bauten der weißen, und der Kampf beginnt. Nfo Tuabe hat ihn einmal in seinem Leben gesehen.

Die roten Ameisen überwältigen die Wachen der weißen und dringen in ihre Städte ein, ohne jemals zurückzukehren. Niemand weiß, was mit ihnen geschieht. Im Jahr darauf aber kommen neue Züge durch den Dschungel. So war es zu seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters Zeiten, so war es immer. Da der Boden in der Stadt der weißen Ameisen fruchtbar ist, hatten ihn die Neger zu nutzen und die Bauten der Termiten auszuräuchern versucht. Sie hatten den Kampf jedoch verloren. Die Saaten wurden vernichtet, das Holz der Hütten und Gehöfte, in das die Termiten durch unterirdische Gänge drangen, von innen zerfressen, daß die ganze Konstruktion bei bloßer Berührung in sich zerfiel. Als man es mit Lehm versuchte, kamen statt der Arbeiter die Soldaten. Eben diese dort“, sagte der Professor und wies auf ein Glas.

Darin waren mit Klammern riesige Termiten an eine gläserne Platte geheftet. Es waren Soldaten, große, gleichsam verkrüppelte Geschöpfe, denn den dritten Teil des Rumpfes bedeckte ein Hornpanzer mit einem in klaffenden Scheren endenden Visier. Dieser starke Panzer schien die dünnen Beine und das Abdomen zu erdrücken. „Das ist Ihnen nichts Neues, nicht wahr? Wir wissen, daß es Landstriche gibt, wo Termiten herrschen. In Südamerika beispielsweise… Sie haben zwei Arten von Soldaten, etwas wie eine innere Polizei und Verteidiger.

Die Bauten erreichen Hohen bis zu acht Metern. Aus Sand und Ausscheidungen gebaut, bestehen sie aus einem Stoff, der härter ist als Portlandzement. Kein Stahl wird damit fertig. Augenlose, weiße, weiche Insekten, die seit Jahrmillionen vom Licht abgeschnitten leben. Packard, Schmelz und andere haben sie erforscht, aber keiner hat auch nur vermutet… Verstehen Sie? Ich habe seinen Sohn geheilt und dafür… Oh, das war ein Weiser. Er wußte, wie er seinen Dank auf königliche Weise abstatten konnte. Ein Neger mit schlohweißem Haar und aschgrauer Haut, wie eine Maske, die im Rauch gehangen hat.

„Die Hügel ziehen sich meilenweit hin“, erzählte er mir. „Die ganze Ebene ist mit ihnen bedeckt, wie ein Wald, ein toter Wald mit riesigen versteinerten Stümpfen, einer am anderen, daß man kaum zwischen ihnen durchkommt. Der Boden ist überall hart, er klingt hohl unter den Füßen und ist wie von einem Geflecht dicker Schnüre bedeckt. Das sind die Gänge, in denen die Termiten laufen. Sie sind aus dem gleichen Stoff wie die Hügel, sie ziehen sich weit hin, verschwinden in der Erde und kommen wieder hervor, sie gabeln und kreuzen sich, haben Zugänge ins Innere der Nester und Ausbuchtungen, wo die Termiten einander ausweichen können, wenn sie sich begegnen. Dort in der Tiefe der Stadt, unter einer Million versteinerter Termitenbauten, in denen ein heftiges, blindes Leben brodelt, gibt es einen anderen Hügel. Er ist klein, schwarz und hakenförmig gekrümmt.“ Mit seinem braunen Finger zeigte er mir sein Aussehen. „Dort ist das Herz des Volkes der Ameisen.“ Mehr wollte er nicht sagen.“

„Und Sie haben ihm Glauben geschenkt?“ flüsterte der Zuhörer.

Die schwarzen Augen des Professors flammten. „Ich bin nach Bom zurückgekehrt und habe fünfzig Kilogramm Dynamit in Pfundstäben gekauft, wie man sie im Bergbau verwendet. Dazu Hacken, Spaten, Schaufeln, eine ganze Ausrüstung. Behälter mit Schwefel, Metallschläuche, Schutzmasken, Netze — das Beste, was aufzutreiben war. Kanister mit Flugbenzin und ein Arsenal von Mitteln zur Insektenvertilgung, wie man es sich nur vorstellen kann. Dann mietete ich zwölf Träger und zog in den Dschungel. Kennen Sie das Experiment Collengers? Man hat es als Märchen abgetan, allerdings war er in der Myrmekologie auch nur Laie. Er durchschnitt einen Termitenbau von oben bis unten mit einer Stahlplatte, daß die beiden Hälften keinen Kontakt miteinander hatten. Der Hügel war neu, die Termiten bauten erst daran. Nach sechs Wochen wurde die Platte entfernt, und es zeigte sich, daß die neuen Gänge so gebaut waren, daß ihre Mündungen beiderseits der Trennwand genau aneinanderpaßten! Weder horizontal noch vertikal gab es auch nur einen Millimeter Abweichung. So bauen die Menschen einen Tunnel, den sie auf beiden Seiten gleichzeitig vortreiben, um sich im Innern des Berges zu treffen.

Wie haben sich die Termiten durch die Stahlplatte verständigt? Dann der Versuch von Gloss, ebenfalls nicht nachgeprüft. Er behauptete, wenn man eine Termitenkönigin töte, verrieten Insekten, die mehrere hundert Meter vom Bau entfernt seien, augenblicklich Erregung und kehrten zurück.“

Wieder hielt er inne. Er starrte in die rote Glut des Kamins, über die flüchtige blaue Flammen huschten. „Den Weg hatte ich… nun ja. Erst riß mir der Führer aus, dann der Dolmetscher. Sie warfen ihre Sachen weg und verschwanden. Am Morgen, wenn ich unter dem Moskitonetz erwachte, ringsumher Schweigen, vorstehende Augen, erschrockene Gesichter und Geflüster hinter meinem Rücken.

Zuletzt band ich sie alle aneinander und wickelte mir das Ende der Schnur um die Faust. Die Messer nahm ich ihnen ab, damit sie sich nicht losschneiden konnten.

Vom ständigen Mangel an Schlaf oder von der Sonne bekam ich eine Augenentzündung. Morgens waren die Lider so verklebt, daß ich sie nicht öffnen konnte. Und es war Sommer. Das Hemd vom Schweiß so steif wie gestärkt; faßte man den Helm von außen an, holte man sich Brandblasen, der Flintenlauf brannte wie ein glühender Stab. Neununddreißig Tage lang bahnten wir uns einen Weg, der alte Nfo Tuabe hatte mich gebeten, nicht durch sein Dorf zu ziehen. Wir erreichten den Rand des Dschungels also ganz unversehens. Zu Ende war auf einmal dieses schwüle Höllengewirr von Blättern, Schlingpflanzen, schreienden Papageien und Affen: vor uns lag, so weit das Auge reichte, eine Ebene, fahl wie das Fell eines alten Löwen. Zwischen Kaktusgruppen Erhebungen — die Termitenhügel, oftmals unförmig, weil blind von innen her gebaut. Hier verbrachten wir die Nacht. Am Morgen erwachte ich mit schrecklichen Kopfschmerzen. Am Vortage hatte ich unvorsichtigerweise für einen Moment den Helm abgenommen. Die Sonne stand hoch. Die Glut war so stark, daß die Luft die Lungen verbrannte. Die Bilder der Gegenstände flimmerten, als stünde der Sand in Flammen. Ich war allein. Die Neger hatten die Schnur mit den Zähnen durchgenagt und waren geflohen. Nur Uagadu, ein Knabe von dreizehn Jahren, war geblieben.

Wir machten uns auf den Weg. Zu zweit schleppten wir Gepäckstücke ein paar Dutzend Schritte vorwärts, dann kehrten wir um und holten den Rest. Diese Wanderung mußte fünfmal wiederholt werden, in einer Sonne, die wie die Hölle brannte. Trotz meines weißen Hemdes bekam ich auf dem Rücken Geschwüre, die nicht abheilten. Ich mußte auf dem Bauch schlafen. Aber das ist lauter dummes Zeug. Einen ganzen Tag lang drangen wir immer tiefer in die Termitenstadt vor.

Ich weiß nicht, ob es auf der Welt etwas Schrecklicheres gibt. Stellen Sie sich das nur vor: von allen Seiten, von hinten und vorn steinerne Säulen, zwei Stockwerke hoch. An manchen Stellen so dicht, daß man sich kaum hindurchzwängen kann. Ein unendlicher Wald rauher, grauer Säulen. Und bleibt man stehen, hört man drinnen ein leises, unaufhörliches, gleichmäßiges Rascheln, das zuweilen in ein einzelnes Klopfen übergeht. Legt man die Hand an die Wand, spürt man ein Zittern und Wimmeln, Tag und Nacht. Einige Male zertraten wir einen dieser Tunnel, die wie aschgraue Seile aussehen, die in ganzen Bündeln über die Erde verstreut sind. In endlosen Reihen zogen weiße Insekten darin entlang. Sogleich zeigten sich die Hornhelme der Soldaten, die mit ihren Scheren blindlings in die Luft schnitten und eine ätzende, klebrige Flüssigkeit verspritzten. So ging ich zwei Tage, von Orientierung konnte keine Rede sein. Zwei-, drei-, viermal am Tag kletterte ich auf einen Hügel, der die anderen überragte, um den zu suchen, von dem Nfo Tuabe gesprochen hatte. Ich sah nur den steinernen Wald. Der Dschungel hinter uns wurde zu einem grünen Streifen, zu einer blauen Linie am Horizont, dann verschwand er ganz. Der Wasservorrat nahm ab. Und die Hügel nahmen kein Ende. Durch das Fernglas sah ich sie bis an den Horizont, wo sie eins wurden wie die Ähren auf einem Getreidefeld. Ich bewunderte den Jungen. Ohne zu klagen, machte er alles wie ich, ohne dabei zu wissen, weshalb und wozu. Vier Tage waren wir so unterwegs. Ich war von der Sonne völlig betrunken. Die Schutzbrille half nichts. Ein schrecklicher Glanz war sowohl am Himmel, den man vor Sonnenuntergang nicht ansehen konnte, als auch auf dem Sand, der wie Quecksilber gleißte. Ringsum aber die Palisaden der Termiten — ohne Ende. Keine Spur eines lebendigen Wesens. Nicht einmal Geier kamen hierher. Nur hier und da gab es einsame Kakteen. Am Abend endlich, nachdem ich die Wasserportion für diesen Tag abgeteilt hatte, kletterte ich auf die Spitze eines sehr hohen Baus. Ich glaube, er mußte sich noch der Zeiten Cäsars erinnern. Bereits ohne alle Hoffnung hielt ich Ausschau, als ich im Fernglas einen schwarzen Punkt sah. Erst dachte ich, die Linse sei verschmutzt, aber da irrte ich. Es war der gesuchte Hügel. Am Morgen stand ich auf, als die Sonne sich noch hinterm Horizont befand. Mit Mühe brachte ich den Jungen wach. Wir begannen unsere Sachen in die Richtung zu tragen, die ich mit dem Kompaß festgelegt hatte. Auch eine Skizze der Umgebung hatte ich angefertigt. Die Hügel waren jetzt etwas niedriger, standen jedoch immer enger und bildeten schließlich eine solche Palisade, daß ich nicht mehr hindurchkam. Der kleine Neger schaffte es gerade noch, ich reichte ihm, zwischen zwei Zementsäulen stehend, die Pakete und zwängte mich weiter oben durch. So legten wir in fünf Stunden vielleicht hundert Meter zurück. Ich sah, daß wir es auf diese Weise zu nichts bringen würden, aber mich hatte ein Fieber gepackt.

Ich meine das nicht wörtlich, denn um die achtunddreißig Grad hatte ich ohnehin ständig. Das war eine Frage des Klimas, vielleicht schlägt es sich auch aufs Gehirn nieder. Ich nahm fünf Stangen Dynamit und sprengte den Hügel, der uns im Wege stand. Als ich die Lunte anbrannte, verbargen wir uns hinter anderen. Die Explosion klang gedämpft, ihre Stärke war ins Innere gegangen. Der Boden bebte, aber die anderen Hügel blieben stehen. Von dem gesprengten waren nur große, verkrustete Splitter übrig, die von weißen Leibern wimmelten. Bisher hatten wir einander keinen Schaden zugefügt, doch nun begann der Kampf. Der durch die Explosion entstandene Krater war nicht zu durchschreiten — zu Zehntausenden krochen die Termiten aus dem Schlund und ergossen sich wie eine Welle über die Umgebung, tasteten jeden Fingerbreit Boden ab. Ich entzündete den Schwefel und nahm den Behälter auf den Rücken. Sie wissen, dieses Gerät erinnert an eine Spritze, mit der die Gärtner Sträucher besprengen, oder an einen Flammenwerfer. Beißender Qualm kam aus dem Rohr, das ich in der Hand hielt. Ich setzte die eine Gasmaske auf, die zweite gab ich dem Jungen, dazu die speziell für diesen Zweck bestellten Schuhe, die mit einem dünnen Stahlnetz umflochten waren. Damit kamen wir hinüber. Der Qualm trieb die Termiten beiseite. Die sich nicht zurückzogen, kamen um. An einer Stelle mußte ich Benzin ausgießen und anzünden, um zwischen uns und der Termitenflut eine Sperre aus Feuer zu legen. Hundert Meter blieben noch bis zu dem schwarzen Termitenhügel. Von Schlaf konnte keine Rede sein. Wir saßen neben dem unaufhörlich räuchernden Schwefelbehälter und leuchteten mit den Taschenlampen. Was für eine Nacht! Haben Sie schon mal sechs Stunden unter der Gasmaske gesteckt? Nein? Nun, dann stellen Sie sich vor, was es bedeutet, in einem erhitzten Gummirüssel zu stecken! Wenn ich freier atmen wollte und die Maske lüftete, erstickte ich fast an dem Qualm. So verging die Nacht. Der Junge zitterte unablässig, ich hatte Angst, es könnte das Fieber sein. Endlich kam der neue Tag. Das Wasser ging zu Ende, wir hatten nur noch einen Kanister. Er reichte, wenn wir unseren Durst nur sparsam löschten, höchstens noch drei Tage.

Wir mußten schleunigst zurück…“

Der Professor hielt inne, schlug die Augen auf und sah auf die Feuerstelle. Die Glut war völlig grau geworden. Das Licht der Lampe erfaßte das Zimmer, ein sanfter grüner Schimmer, der durch eine Wasserfläche zu sickern schien. „Dann erreichten wir den schwarzen Hügel.“ Er hob die Hand.

„So sah er aus. Wie ein gekrümmter Finger. Die Oberfläche war glatt, wie poliert. Er war von niedrigen Hügeln umgeben, die sonderbarerweise nicht senkrecht standen, sondern sich zu ihm neigten wie versteinerte Ungeheuer in einer grotesken Verbeugung.

Ich stapelte alle unsere Vorräte an einer Stelle dieses Runds, das etwa vierzig Schritte maß, und ging ans Werk. Ich wollte den schwarzen Bau nicht mit Dynamit zerstören. Seit wir diesen Raum betreten hatten, zeigten sich keine Termiten mehr, die Gasmasken konnten endlich herunter. Was für eine Wohltat! Einige Minuten lang gab es auf Erden keinen glücklicheren Menschen als mich. Der unbeschreibliche Genuß, frei atmen zu können — und dieser schwarze Bau, unwahrscheinlich gekrümmt, nichts anderem ähnlich, was ich je gesehen hatte. Wie ein Verrückter sang und tanzte ich, ungeachtet des Schweißes, der in Strömen über die Stirn floß. Der kleine Uagadu sah ganz erschrocken aus, vielleicht dachte er, ich verehrte eine schwarze Gottheit… Ich kühlte jedoch rasch wieder ab, es gab nicht viel Grund zur Freude: Das Wasser ging zu Ende, der Trockenproviant reichte kaum für zwei Tage. Allerdings blieben die Termiten. Die Neger betrachteten sie als Leckerbissen, ich aber konnte mich nicht überwinden.

Freilich, der Hunger lehrte vieles…“

Er stockte wieder, seine Augen blitzten. „Um nicht viele Worte zu machen, mein Herr, ja, ich knackte diesen Bau. Der alte Nfo Tuabe hatte die Wahrheit gesagt!“

Er beugte sich vor, seine Züge strafften sich, er sprach jetzt ohne Pause.

„Zuerst befand sich dort eine Schicht von Gewebe, ein dünnes Gespinst von außerordentlicher Glätte und Festigkeit. Darunter lag die zentrale Kammer, umgeben von einer dicken Schicht Termiten. Waren das überhaupt Termiten? In meinem Leben hatte ich solche noch nicht gesehen. Riesengroß, flach wie eine Hand, mit silbernen Härchen bedeckt. Die Köpfe waren trichterförmig und endeten in einer Art Antennen. Diese berührten einen grauen Gegenstand, nicht größer als meine Faust. Die Insekten waren unsagbar alt, reglos wie aus Holz. Die Abdomen pulsierten gleichmäßig. Sie setzten sich nicht einmal zur Wehr; als ich sie von dem zentralen Gegenstand, diesem ungewöhnlichen runden Ding, abstreifte, starben sie auf der Stelle. Sie zerfielen mir in den Händen wie morsche Lumpen. Ich hatte weder Zeit noch Kraft, alles zu untersuchen, entnahm der Kammer nur jenen Gegenstand, verschloß ihn in einer Stahlkassette und machte mich mit meinem Uagadu unverzüglich auf den Rückweg.


Reden wir nicht davon, wie ich die Küste erreichte. Wir stießen auf rote Ameisen. Ich segnete den Augenblick, in dem ich den Entschluß gefaßt hatte, einen vollen Benzinkanister mit zurückzuschleppen. Hätten wir das Feuer nicht gehabt… Aber lassen wir das, es ist eine Geschichte für sich. Ich sage Ihnen nur noch eines: Bei der ersten Rast sah ich mir genau an, was ich dem schwarzen Hügel entrissen hatte. Nach Reinigung von allem Beschlag zeigte sich eine Kugel von idealer Form. Sie war aus einer schweren Substanz, durchsichtig wie Glas, brach das Licht aber unvergleichlich stärker. Schon dort im Dschungel zeigte sich ein Phänomen, das ich anfangs gar nicht beachtete. Ich glaubte, es könnte eine Sinnestäuschung sein. Nach Erreichen der zivilisierten Landstriche an der Küste und noch später konnte ich mich überzeugen, wie sehr ich mich darin geirrt hatte.“ Er lehnte sich ganz in den Sessel zurück, so daß er im Schatten fast unsichtbar wurde. Nur der Kopf hob sich vom helleren Hintergrund ab.

„Ich wurde von Insekten verfolgt“, sagte er. „Von Schmetterlingen, Nachtfaltern, Spinnentieren, Hautflüglern, von allem, was Sie wollen. Tag und Nacht zogen sie mir in einer schwirrenden Wolke nach. Eigentlich nicht mir, sondern meinem Gepäck, der metallenen Kassette, in der die Kugel steckte. Während der Überfahrt mit dem Schiff wurde es etwas besser, mit radikalen Insektenvertilgungsmitteln wurde ich die Plage los, denn neue kamen nicht hinzu — die gibt es nicht auf hoher See. Kaum war ich aber in Frankreich gelandet, begann alles von vorn. Am schlimmsten waren die Ameisen. Sie erschienen, wo immer ich mich auch nur länger als eine Stunde aufhielt. Große und kleine, schwarze und rote, Pharao- und Roßameisen — alle wurden unwiderstehlich von dieser Kugel angezogen, sie sammelten sich auf der Kassette und hüllten sich in einen wimmelnden Klumpen, sie zerschnitten, zerfraßen und zerstörten alle Hüllen, in die ich den Behälter packte. Sie erstickten sich gegenseitig und kamen um, sie sonderten Säure ab, um das Stahlblech damit anzugreifen…“ Nach kurzer Pause fuhr er fort: „Das Haus, in dem wir uns hier befinden, seine einsame Lage, alle von mir getroffenen Sicherheitsvorkehrungen haben ihre Ursache darin, daß ich unaufhörlich von Ameisen bedrängt werde…“ Er stand auf.

„Ich habe einen Versuch gemacht und von der Kugel mit Diamantbohrern ein Spänchen abgetrennt, das nicht größer ist als ein Mohnkorn. Es übt die gleiche Anziehungskraft aus wie die ganze Kugel. Ich habe auch entdeckt, daß ein dicker Bleimantel sie der Wirkung beraubt.“

„Irgendwelche Strahlen?“ fragte der Zuhörer mit heiserer Stimme. Wie hypnotisiert starrte er dorthin, wo kaum sichtbar das Antlitz des alten Gelehren schimmerte. „Möglich. Ich weiß es nicht.“

„Und — Sie haben diese Kugel?“

„Jawohl. Wollen Sie sie sehen?“

Der Zuhörer sprang auf. Der Professor ließ ihm an der Tür den Vortritt, kehrte noch einmal zurück, um den Schlüssel vom Schreibtisch zu holen, und folgte seinem Gast eilig in den dunklen Flur. Sie betraten eine enge, fensterlose Kammer. Sie war leer, nur in einer Ecke stand ein großer Panzerschrank alten Modells. Bläulich spiegelte sich in seinen Platten das schwache Licht einer unverhüllt von der Decke hängenden Glühbirne. Mit sicherer Hand stieß der Professor den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn herum. Knirschend fuhren die Riegel zurück, die schwere Tür ging auf. Der Professor trat zur Seite. Der Schrank war leer.

Загрузка...