II Die Beratung

Doktor Gerbert saß, bequem ausgestreckt, die Beine in ein flauschiges Plaid gewickelt, am sperrangelweit geöffneten Fenster und sah einen in Folie gebundenen Stoß von Histogrammen durch. Trotz des hellen Tages lag der Raum im Halbdunkel, das noch verstärkt wurde durch die schwarze, verräuchert aussehende Decke mit ihrem wuchtigen, harzgetränkten Gebälk. Ebenmäßig verlegte Holzplatten bildeten den Fußboden, dicke Bohlen die Wände. Vom Fenster sah man auf die bewaldeten Flanken des Wolkenfängers, auf das Cracatalqua-Massiv und dahinter die senkrechte Wand des höchsten der hiesigen Gipfel. Er glich einem Büffelkopf, dem allerdings ein Horn fehlte — die Indianer hatten es vor Jahrhunderten den „Zum Himmel Gefahrenen Stein“ genannt. Aus den felsgrauen Niederungen stiegen langgestreckte Berglehnen auf, in deren Schatten Eis schimmerte. Durch einen Paß im Norden blauten die Ebenen, wo sich in unsäglicher Entfernung ein dünner Rauchfaden in den Himmel zog — die Spur eines tätigen Vulkans. Doktor Gerbert verglich die einzelnen Aufnahmen miteinander, auf manche machte er ein Zeichen mit dem Kugelschreiber. Nicht das leiseste Geräusch drang hierher. Die Flammen der Kerzen standen reglos in der kalten Luft. Ihr Schein gab den nach altindianischen Mustern geschnitzten Möbeln groteske Konturen: Der große Sessel, der die Form eines menschlichen Unterkiefers hatte, warf an die Decke den makabren Schatten der gezähnten Armlehnen, die in krumme Hauer ausliefen. Über dem Kamin grinsten augenlose, hölzerne Fratzen, und der kleine Tisch neben Gerbert hatte zur Stütze eine geringelte Schlange, deren Kopf auf dem Teppich ruhte. Halbedelsteine verliehen den Augen ein rötliches Funkeln.

Fern ertönte ein Läuten. Gerben legte das Filmmaterial beiseite und erhob sich.

Schlagartig verwandelte sich der Raum — er wurde zu einem geräumigen Speisezimmer. Die Tafel in der Mitte trug kein Tischtuch, auf der bloßen schwarzen Platte glänzten Silber und jaspisgrünes Geschirr. In einem Rollstuhl, wie ihn Gelähmte zu benutzen pflegen, kam ein Mann zur offenen Tür herein. Er trug ein ledernes Blouson und war dick, sein Gesicht war so massig, daß sich das winzige Naschen fast zwischen den Wangen verlor. Freundlich grüßte er Gerbert, der an der Tafel Platz genommen hatte. Gleichzeitig war eine Dame eingetreten, sie war spindeldürr, ihr schwarzes Haar durch einen grauen Scheitel geteilt.

Gerbert gegenüber erschien ein dicker kleiner Herr mit apoplektischem Gesicht.

Als der Diener in seiner kirschroten Livree bereits den ersten Gang auftrug, stellte sich als verspäteter Gast ein grauhaariger Mann mit gespaltenem Kinn ein. Er blieb zunächst zwischen den Anrichten, vor dem aus Felsgestein errichteten massiven Kamin stehen und wärmte die ausgestreckten Hände über dem Feuer, ehe er sich auf den Platz setzte, den der gelähmte Hausherr ihm wies.

„Ist Ihr Bruder noch nicht von seiner Tour zurück?“ fragte die dürre Frau.

„Er wird auf dem Zahn des Mazumac sitzen und zu uns herübergucken“, antwortete der Gefragte und rollte m die Lücke, die man in der Stuhlreihe für ihn gelassen hatte. Er aß schnell, mit großem Appetit. Außer jenem kleinen Wortwechsel verlief das Mittagessen in Schweigen. Erst als der Diener das letzte Schälchen Kaffee eingeschenkt hatte, dessen Duft sich mit dem süßlichen Rauch der Zigarren mischte, ließ sich die Frau erneut vernehmen: „Wissen Sie, Vanteneda, Sie müssen uns heute erzählen, wie die Geschichte über das Auge des Mazumac ausgegangen ist!“

„Ja, ja“, wiederholten die anderen.

Mondian Vanteneda faltete ein wenig blasiert die Hände über seinem dicken Bauch.

Dann sah er alle der Reihe nach an, als wollte er andeuten, daß mit ihnen der Kreis seiner Zuhörer geschlossen sei. Im Kamin knackte ein verlöschendes Scheit.

Eine Gabel wurde weggelegt. Ein Löffelchen klirrte, dann war es still. „Wo war ich denn stehengeblieben?“

„Als Don Esteban und Don Guilielmo die Legende vom Cratapulq hörten und ins Gebirge aufbrachen, um ins Tal der Roten Seen zu gelangen…“

Mondian machte es sich im Rollstuhl bequem und erzählte:

„Die beiden Spanier begegneten auf ihrem Marsch weder Mensch noch Tier, nur manchmal horten sie den Schrei der kreisenden Adler. Einige Male flog ein Geier über sie hin. Als sie nach großer Mühsal endlich den Grat des Toten Flusses erklommen hatten, erblickten sie vor sich einen hohen, steilen Anstieg, dem sich bäumenden Rücken eines gewaltigen Pferdes gleich, mit einem unförmigen, überhängenden Kopf. Der Hals, der schmal war wie der eines Pferdes, war m Nebelschwaden gehüllt. Don Esteban fielen die sonderbaren Worte ein, die der alte Indianer in der Ebene gesagt hatte: „Hütet euch vor der Mähne des Schwarzen Pferdes!“ Sie beratschlagten, ob sie weitergehen sollten. Ihr erinnert euch, daß Don Guilielmo zur Orientierung eine Skizze der Bergkette bei sich trug, auf den Unterarm tätowiert. Die Vorräte gingen zu Ende, obwohl sie erst den sechsten Tag unterwegs waren. Sie aßen den Rest des strohtrockenen Pökelfleisches und löschten ihren Durst an einer Quelle, die unterhalb des Abgehauenen Kopfes entspringt. Allerdings konnten sie sich nicht zurechtfinden, denn die tätowierte Karte war ungenau. Vor Sonnenuntergang stieg der Nebel auf wie das Meer bei Flut. Die beiden machten sich auf den Weg und stiegen den Rücken des Schwarzen Pferdes hinan, sie gingen so schnell, daß ihnen das Blut m den Ohren dröhnte und sie nach Luft schnappten wie verendende Tiere — der Nebel jedoch war schneller und holte sie genau auf dem Hals des Pferdes ein. An der Stelle, wo das weiße Leichentuch sie einhüllte, ist der Grat sehr schmal, nicht breiter als das Heft einer Machete. Da sie nicht weiterkonnten, setzten sie sich — genau wie auf ein Pferd! — rittlings auf den Grat und bewegten sich, in ein undurchsichtiges, feuchtes Weiß gehüllt, bis zum Einbruch der Dunkelheit rutschend vorwärts.

Als sie völlig entkräftet waren, endete der Grat. Sie wußten nicht, ob vor ihnen ein Abgrund oder bereits der Abstieg ins Tal der Sieben Roten Seen lag, von dem der alte Indianer gesprochen hatte. Sie blieben also die ganze Nacht sitzen, Rücken an Rücken, sich aneinander wärmend und dem Nachtwind trotzend, der um den Grat wimmerte wie ein Messer auf dem Schleifstein. Das Einschlafen barg die Gefahr des Abstürzens, und daher machten sie sieben Stunden lang kein Auge zu.

Dann ging die Sonne auf und brach durch den Nebel. Sie sahen, daß der Felsen unter ihren Füßen so senkrecht abfiel, als säßen sie auf einer schmalen Mauerkrone. Vor ihnen lag eine Kluft von acht Fuß. Der Nebel am Hals des Pferdes riß in Fetzen und gab den Blick frei auf das ferne schwarze Haupt des Mazumac, auf emporschießende rote Rauchsäulen, zwischen denen weiße Wolken hingen. Die beiden rissen sich beim Abstieg in der engen Kluft die Hände blutig, erreichten aber schließlich den oberen Kessel des Tals der Sieben Roten Seen. Hier verließen Guilielmo jedoch endgültig die Kräfte. Don Esteban betrat als erster das über dem Abgrund hängende Felsband und führte den Gefährten bei der Hand. So schritten sie vorwärts, bis sie an eine Geröllhalde kamen, wo sie rasten konnten. Die Sonne stand schon hoch, als das Haupt des Mazumac Felsbrocken zu speien begann, die von den Überhängen abplatzten. Die beiden flohen nach unten.

Als der Kopf des Pferdes nur noch klein wie eine Kinderfaust über ihnen hing, erblickten sie in einer Wolke rostfarbenen Schaums die erste Rote Quelle. Don Esteban zog unter der Achsel ein Bündel Riemen hervor, die in der Farbe des Akanthus gegerbt waren. Die rot bemalten Fransen waren zu zahlreichen Knoten geknüpft. Lange ließ er sie durch die Finger gleiten, um die indianische Schrift zu entziffern und schließlich den rechten Weg abzulesen. Das Tal des Schweigens öffnete sich vor ihnen. Auf seinem Grund gingen sie über riesige Felsblöcke, zwischen denen bodenlose Schrunde gähnten. „Ist es noch weit?“ fragte Guilielmo.

Er tat es flüsternd, weil er keinen Ton aus der vertrockneten Kehle brachte. Don Esteban winkte ihm, zu schweigen. Plötzlich stolperte Guilielmo und stieß an einen Stein, der andere nach sich zog. Als Echo auf dieses Geräusch brach es wie Rauch aus den senkrechten Wänden, sie verschwanden in einer silbrigen Wolke, und Tausende steinerner Keulen brachen zu Tal. Don Esteban, der gerade unter einem gewölbten Überhang entlangschritt, konnte seinen Freund eben noch in diese Deckung zerren, als die alles zermalmende Lawine sie einholte und wie ein Unwetter vorüberschoß. Nach einer Minute trat Stille ein. Don Guilielmo blutete durch einen Felssplitter am Kopf. Sein Gefährte zog das Hemd aus, riß es in Streifen und verband ihm die Stirn. Endlich, als das Tal so eng geworden war, daß der Himmel über ihnen nicht breiter als ein Fluß erschien, erblickten sie einen Bach, der ohne das geringste Rauschen über die Felsen floß. Sein Wasser, das klar war wie ein feingeschliffener Diamant, verlor sich in einem unterirdischen Bett.

Die reißende, eisige Strömung, in die sie hinein mußten und die ihnen bis über die Knie reichte, zerrte mit furchtbarer Gewalt an ihren Beinen, bog aber bald seitwärts ab. Die beiden standen auf trocknem gelbem Sand vor einer vielfenstrigen Grotte.

Don Guilielmo beugte sich erschöpft nieder, dabei fiel ihm der merkwürdige Glanz dieses Sandes auf. Die Handvoll, die er aufnahm, um genauer hinsehen zu können, war ungewöhnlich schwer. Er nahm ein Stück zwischen die Zähne, biß darauf und begriff: Seine Hand war voller Gold!

Don Esteban entsann sich der Worte des alten Indianers und sah sich in der Grotte um. In der einen Ecke leuchtete eine senkrechte, erstarrte, völlig reglose Flamme, ein vom Wasser polierter Kristallblock. Über ihm gähnte im Felsen eine Öffnung, durch die der Himmel schien. Esteban trat an den durchsichtigen Block, der in seiner Form an einen mächtigen, in den Boden gerammten Sarg erinnerte, und blickte hinein. Zuerst sah er in der Tiefe nur Milliarden huschender Fünkchen, einen betäubenden Wirbel von Silber. Dann schien es ihm, als verdunkle sich alles ringsum, und er erkannte große Flächen von Birkenrinde, die sich zur Seite schoben. Als sie verschwunden waren, sah er, daß ihn aus der Tiefe des eisigen Klotzes jemand anschaute. Es war ein kupferfarbenes Antlitz voller scharfer Runzeln, mit Augen, so schmal wie Klingen. Je länger er hinsah, um so deutlicher zeigte sich in diesem Gesicht ein böses Lächeln. Fluchend stieß er den Dolch gegen den Block, aber die Waffe glitt wirkungslos ab. Gleichzeitig verschwand das durch sein Grinsen verzerrte Gesicht. Da Don Guilielmo zu fiebern schien, behielt sein Gefährte für sich, was er gesehen hatte.

Sie gingen weiter. Die Grotte verzweigte sich zu einem Netz von Gängen. Sie wählten den weitesten und zündeten die mitgebrachten Fackeln an. An einer Stelle öffnete sich wie ein schwarzer Rachen ein Seitengang, aus dem brandheiße Luft schlug. Sie mußten springen, um diesen Ort zu passieren. Dahinter verengte sich der Gang. Erst konnten sie noch auf allen vieren gehen, dann mußten sie robben.

Plötzlich wurde der Schlund wieder weit, sie konnten auf den Knien rutschen. Der Boden knirschte unter ihnen wie Kies, die letzte Fackel war heruntergebrannt, warf aber noch Licht genug: Sie knieten auf purem Gold.

Auch das war ihnen nicht genug. Nachdem sie den Mund und das Auge des Mazumac kennengelernt hatten, wollten sie nun auch in seine Eingeweide. Er sehe etwas, raunte Don Esteban auf einmal seinem Gefährten zu.

Guilielmo spähte ihm vergeblich über die Schulter. „Was siehst du denn?“ fragte er.

Das Ende der brennenden Fackel verbrannte Esteban schon die Finger. Plötzlich stand er auf: Die Wände waren fort, es herrschte nur tiefes Dunkel, in das die Fackel eine rötliche Grotte bohrte. Guilielmo sah, wie sein Gefährte vorwärtsschritt. Die Flamme in seiner Hand schwankte und warf gewaltige Schatten. Plötzlich erschien aus der Tiefe ein riesiges, gespenstisches Gesicht, es hing in der Luft und hielt die Augen nach unten gerichtet. Don Esteban schrie auf, es war ein furchtbarer Schrei, aber Guilielmo hatte die Worte verstanden.

Sein Gefährte hatte Jesus und die Mutter Maria angerufen, solche Worte aber rufen Männer wie Esteban nur Auge in Auge mit dem Tod. Als der Schrei verhallte, barg Guilielmo das Gesicht in den Händen. Es tat einen Donnerschlag, Flammen erfaßten ihn, und er verlor das Bewußtsein.“

Mondian Vanteneda lehnte sich zurück und blickte schweigend zwischen seinen Zuhörern ins Leere. Dunkel hob er sich vom Fenster ab, dessen Viereck sich, von den Sägezähnen des Gebirges durchschnitten, in der einfallenden Dämmerung violett färbte.

„Aus dem Oberlauf des Araquerita fischten Indianer, die auf der Hirschjagd waren, die Leiche eines weißen Mannes, der auf den Schultern eine mit Luft gefüllte Büffelhaut trug. Der Rücken war aufgeschnitten, die Rippen in Form von Flügeln nach hinten gebrochen. Die Indianer, die Angst vor den Truppen Cortez'

hatten, wollten die Leiche verbrennen, aber an ihrer Siedlung kamen berittene Kuriere Ponterones des Einäugigen vorbei, die den Toten ins Lager brachten. Man erkannte in ihm Don Guilielmo. Don Esteban ist nie zurückgekehrt.“

„Woher kennt man dann diese ganze Geschichte?“ Wie ein Mißton ließ sich diese Stimme vernehmen. Im Schein der flackernden Kerzen, die der Diener auf einem Leuchter hereinbrachte, wurde der Frager sichtbar: ein zitronenfarbenes Gesicht mit blutleeren Lippen. Es lächelte höflich.

„Ich habe am Anfang die Erzählung eines alten Indianers wiedergegeben. Er sagte, Mazumac könne mit seinem Auge alles sehen. Vielleicht hat er sich etwas mythologisch ausgedrückt, aber im Prinzip hatte er recht. Es war zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, als die Europäer noch nicht viel von den Möglichkeiten wußten, die Sehkraft durch geschliffene Gläser zu verstärken. Zwei riesige Bergkristalle, von denen man nicht weiß, ob sie durch Kräfte der Natur geschaffen oder von Menschenhand bearbeitet worden sind, waren auf dem Kopf des Mazumac und in der Grotte der Eingeweide so angeordnet, daß man, wenn man in den einen hineinblickte, alles in der Umgebung des anderen sah. Es war ein ungewöhnliches Periskop, aus zwei Spiegelprismen bestehend, die dreißig Kilometer voneinander entfernt waren. Der Indianer, der auf dem Gipfel des Kopfes stand, konnte die beiden Tempelräuber sehen, als sie die Eingeweide des Mazumac betraten. Vielleicht konnte er sie nicht nur sehen, sondern auch ihr Verderben herbeiführen.“ Mondian führte eine rasche Handbewegung aus. In den orangefarbenen Lichtkreis auf dem Tisch fiel ein Bündel Riemen, an einem Ende zu einem dicken Knoten geknüpft. Das verblichene Leder wies tiefe Schnitte auf. Es raschelte im Niederfallen, so alt und vertrocknet war es. „Es gab also jemanden“, schloß Vanteneda, „der die Expedition verfolgt und ihre Beschreibung hinterlassen hat.“

„So kennen Sie also den Weg zur Hohle des Goldes?“ Mondians Lächeln wurde immer gleichgültiger, als verschwimme es zugleich mit dem Anblick der Berge in der eisigen, schweigenden Gebirgsnacht.

„Dieses Haus hier steht genau am Eingang zum Mund des Mazumac. Wenn man in diesem Munde ein Wort sprach, wurde es vom Kessel des Schweigens mit gewaltigem Donner wiederholt. Das war ein natürlicher Lautsprecher aus Stein, tausendmal stärker als jeder elektrische.“

„Aber…“

„Die spiegelnde Tafel ist vor Jahrhunderten vom Blitz getroffen worden und zu einem Haufen Quarz geschmolzen. Der Kessel des Schweigens liegt genau hier vor unseren Fenstern. Don Esteban und Don Guilielmo sind vom Tor der Winde gekommen… Die Roten Quellen jedoch sind langst versiegt, und keine Stimme kann Steinschläge auslösen. Das Tal muß als Resonator gewirkt haben, wobei durch bestimmte Tonschwingungen die Kalksteinspitzen aus ihrem Lager gelöst wurden.

Die Grotte ist durch eine unterirdische Erschütterung verschlossen worden. Es gab dort einen hängenden Felsblock, der wie ein Keil die beiden Felswände auseinanderhielt. Der erwähnte Erdstoß trieb ihn aus seiner Lage, und die Wände schlössen sich für immer. Was später geschah, als die Spanier den Paß zu überwinden suchten, wer die Steinlawine auf Cortez' Fußvolk niedergehen ließ — das weiß man nicht. Ich glaube, niemand wird es je erfahren.“

„Nun, nun, mein lieber Vanteneda, Felsen kann man sprengen, mit Maschinen zertrümmern, und Wasser läßt sich herauspumpen, nicht wahr?“ sprach der kleine dicke Herr am Tischende. Er rauchte eine dünne Zigarre mit einem Strohhalm.

„Meinen Sie?“ Mondian verbarg nicht seine Ironie. „Es gibt keine Gewalt, die den Mund des Mazumac zu Öffnen vermag, wenn ER es nicht will!“

Heftig stieß er sich vom Tisch ab, der Luftzug löschte zwei Kerzen aus. Die anderen brannten in einem bläulichen Licht, und Rußflocken wirbelten über ihnen wie kleine Nachtfalter.

Mondian griff mit seiner behaarten Hand zwischen den Gesichtern hindurch nach dem Riemenbündel und machte mit dem Rollstuhl so heftig kehrt, daß der Gummi der Räder quietschte. Die Anwesenden erhoben sich und gingen hinaus. Doktor Gerbert blieb sitzen, in den Anblick der flak-kernden Kerze versunken. Vom offenen Fenster zog es kalt herüber. Er erschauerte unter dem eisigen Hauch und sah dem Diener zu, der einen Armvoll schwerer Kloben hereinbrachte und vor dem vom Feuer blaugebeizten Kamingitter niederlegte. Geschickt verteilte er die Glut und baute darüber ein kunstvolles Dach, als jemand die andere Tür öffnete und den Rahmen berührte. Erneut verwandelte sich schlagartig das ganze Interieur. Der aus rohen Steinen gefügte Kamin, der Diener am Holzstoß, die Stühle mit den geschnitzten Lehnen, Leuchter und Kerzen, das Fenster und die Gebirgsnacht — alles versank in gleichmäßigem, mattem Licht. Auch die große Tafel verschwand mitsamt dem Geschirr darauf, und in einem kleinen weißen Raum mit ovaler, hohlgewölbter Decke blieb nur Gerbert zurück, auf dem einzigen Stuhl, vor einer quadratischen Platte mit seinem Teller und einem Bratenrest.

„Mit alten Wundergeschichten vertreibst du dir die Zeit? Jetzt?“ fragte der Ankömmling, der das Spektakel gelöscht hatte und sich nun mit einiger Mühe der bauschigen, durchsichtigen Folie zu entledigen suchte, die seinen bis zum Hals zugeknöpften, flaumigen Overall bedeckte. Da er die Füße mit den metallisch glänzenden Stiefeln nicht aus der Folie brachte, zerriß er diese schließlich, knüllte sie zusammen und warf sie beiseite. Dann fuhr er sich mit dem Daumen über die Brust, wovon sich der Overall weit öffnete. Der Mann war jünger und kleiner als Gerbert, sein kragenloses Hemd gab einen muskulösen Hals frei. „Es ist erst ein Uhr. Wir waren für zwei Uhr verabredet, und die Histogramme kenne ich ohnehin auswendig.“ Gerbert, wohl ein wenig verlegen, hielt den Stoß Aufnahmen hoch. Der andere öffnete seine dicken Stiefelschäfte, schlappte zu einer um die Wände laufende Metalleiste und ließ so schnell, als blätterte er ein Kartenspiel unter den Fingern durch, die holographischen Bilder des Gastmahls rückwärts laufen: eine Ebene mit einer Gruppe spitzer Kalksteinfelsen, die im Mondlicht gespenstisch aussahen wie das Skelett einer Fledermaus, sonnendurchschienener Urwald mit dem bunten Geflatter der Schmetterlinge in den Lianen und schließlich sandiges Wüstenland mit hohen Termitenbauten. Das erschien von überallher gleichzeitig, umgab die beiden Männer und verschwand unter dem nächsten Bild. Gerbert wartete geduldig ab, daß sein Kollege dieser Vorführung überdrüssig wurde. In dem flimmernden Wechselspiel von Lichtern und Farben hielt er die Mappe mit den Histogrammen in der Hand und war in Gedanken schon weit weg von dem Schauspiel, mit dem er wohl die innere Unruhe zu unterdrücken versucht hatte. „Hat sich irgendwas geändert?“ fragte er schließlich. „Was?“

Sein jüngerer Kollege gab dem Raum das asketische Äußere zurück und brummelte, etwas undeutlich, mit ernst gewordenem Gesicht: „Nein, nein, geändert hat sich nichts. Nur Arago hat mich gebeten, mit dir noch vor der Beratung zu ihm zu kommen.“

Gerbert blinzelte, er schien unliebsam überrascht. „Und was hast du ihm gesagt?“

„Daß wir kommen werden. Was guckst du denn so? Paßt dir der Besuch nicht?“

„Ich bin nicht gerade begeistert. Klar, abschlagen konntest du es ihm nicht, aber das Problem ist auch ohne theologische Zutaten beschissen genug. Hat er gesagt, was er von uns will?“

„Nein. Der Mann ist aber nicht nur anständig, sondern auch klug. Und diskret.“

„Also wird er uns diskret zu verstehen geben, daß wir Kannibalen sind.“

„Quatsch. Außerdem werden wir nicht vor Gericht stehen, wir haben die Leute an Bord genommen, um sie wieder zum Leben zu bringen. Er weiß das auch sehr gut.“

„Weiß er auch das mit dem Blut?“

„Keine Ahnung. Ist das so schrecklich? Transfusionen werden seit zweihundert Jahren gemacht.“

„In seinen Augen wird das keine Transfusion, sondern mindestens Leichenschändung sein. Die Beraubung von Leichen.“

„Denen ohnehin nicht mehr zu helfen ist. Transplantationen sind so alt wie die Welt, ich kenne mich mit den Religionen nicht aus, seine Kirche jedenfalls hat nie etwas dagegen einzuwenden gehabt. Wo kommen bei dir überhaupt auf einmal solche Skrupel her — vor einem Geistlichen, einem Mönch? Der Kommandant ist einverstanden, die Mehrheit, wenn nicht alle, ebenfalls. Arago hat nicht einmal Stimmrecht. Er fliegt mit uns als vatikanischer oder apostolischer Beobachter, als Passagier und Zuschauer.“

„So sieht sich das an, Viktor, aber die Histogramme haben eine peinliche Überraschung ergeben. Man hätte nicht zulassen dürfen, daß diese Leichen auf die EURYD1KE gebracht wurden. Ich war dagegen.

Warum hat man sie nicht auf die Erde überführt?“

„Das weißt du doch selber: Es hat sich so gefügt. Außerdem war ich stets der Ansicht, daß unser Flug wenn überhaupt jemandem, dann ihnen zusteht.“

„Da werden sie viel davon haben, wenn sich nur einer reanimieren läßt — auf Kosten der anderen.“ Viktor Terna sah Gerbert mit runden Augen an. „Was ist denn mit dir los? Komm doch zu dir, ist es denn unsere Schuld? Auf dem Titan gab es keine Voraussetzungen, eine Diagnose zu stellen. Stimmt das oder nicht? Sag mir das auf der Stelle, ich will wissen, mit wem ich eigentlich zu diesem Dominikaner gehe. Hast du dich zum Glauben deiner Vorväter bekehrt? Was siehst du in dem, was wir tun, was wir verlangen müssen? Etwas Böses? Eine Sünde?“

Gerbert, der bisher ruhig geblieben war, hielt auch jetzt seinen Arger zurück.

„Du weißt ganz genau, daß ich das gleiche Verlangen werde wie du und der Chefarzt, und du kennst meine Meinung. Die Resurrektion ist nichts Böses. Das Böse liegt darin, daß sich von zwei Wiederbelebungsfähigen nur einer wiederbeleben läßt und daß uns niemand die Wahl zwischen beiden abnimmt…

Komm, es ist schade um die Zeit. Ich will das hinter mir haben.“

„Ich muß mich noch umziehen. Wartest du so lange?“

„Nein, ich gehe inzwischen zu ihm. Du kommst dann nach. Welches Deck ist das?“

„Das dritte im Mittelteil. Ich komme in fünf Minuten.“ Sie verließen gemeinsam den Raum, bestiegen aber verschiedene Lifts. Gerbert drückte die entsprechenden Ziffern, das eiförmige Gefährt mit dem silbrigen Innenraum schoß vorwärts und bremste weich, die konkave Wand öffnete sich spiralförmig wie die Blende eines Fotoapparats. Gegenüber lief in einem Lichtschein, dessen Quelle nicht festzustellen war, eine Reihe ebenfalls hohlgewölbter Türen entlang. Ihre Schwellen waren hoch wie auf alten Schiffen. Gerbert machte die Nummer 84 ausfindig, die ein kleines Schild trug: „R. P. Arago, M. A., Ph., D. D. A.“ Ehe er noch eine Erwägung anstellen konnte, ob sich unter den beiden letzten Buchstaben der „Delegierte des Apostolischen Stuhls“ oder ein doctor angelicus verbarg (der Gedanke war so dumm wie unpassend), ging die Tür auf. Er trat in eine geräumige Kajüte, die ringsum von verglasten Bücherregalen eingefaßt war.

An zwei gegenüberliegenden Wänden befanden sich hellgerahmte Bilder, die von der Decke bis zum Fußboden reichten: zur Rechten Cranachs Baum der Erkenntnis mit Adam, Eva und der Schlange, zur Linken Boschs Versuchung des heiligen Antonius.

Ehe er sich die über den Himmel dieser Versuchung ziehenden Scheusale näher ansehen konnte, gab der hinter die Bücherwände gesogene Cranach einen Durchgang frei, in dem Arago erschien. Er trug eine weiße Kutte, und bevor das Bild wieder seine Funktion als Tür einnahm, erblickte der Arzt auf dem weißen Grund hinter dem Dominikaner ein schwarzes Kreuz.

Sie begrüßten einander mit einem Händedruck und setzten sich an einen niedrigen Tisch, auf dem Papiere, Diagramme und aufgeschlagene Bände mit bunten Buchzeichen wüst durcheinanderlagen. Arago hatte ein schmales, fast dunkelbraunes Gesicht mit durchdringenden grauen Augen unter nahezu weißen Brauen. Die Kutte schien ihm zu weit zu sein. Seine sehnigen Pianistenhände hielten ein gewöhnliches hölzernes Metermaß.

Gerbert ließ seinen Blick nachlässig über die Rücken der alten Bücher schweifen, er hatte keine Lust, als erster zu reden. Er wartete auf Fragen, die jedoch nicht fielen. „Doktor Gerbert, ich kann mich im Wissen nicht mit Ihnen messen, aber ich kann mich mit Ihnen in der Sprache Äskulaps verständigen. Ich war Psychiater, bevor ich dieses Kleid anlegte. Der Chefarzt hat mir die Daten dieser — Operation zugänglich gemacht. Was sie aussagen, ist perfide. Wegen der Unvereinbarkeit der Blut- und Gewebegruppen kommen zwei Männer in Frage, aber nur einer kann belebt werden.“

„Oder gar keiner“, entfuhr es Gerbert fast gegen seinen Willen, wohl deswegen, weil der Mönch den passenderen Begriff „Auferweckung von den Toten“ vermieden hatte. Der Dominikaner durchschaute das sofort. „Ein Distinguo, das mir etwas bedeutet, dürfte für Sie nicht zählen. Ein Disput auf eschatologischer Höhe ist gegenstandslos. Jemand wie ich würde an meiner Stelle sagen, wirklich tot sei ein Mensch in Verwesung, nach Veränderungen im Körper, die nicht rückgängig zu machen sind. Und solcher Menschen befänden sich an Bord sieben. Ich weiß, daß ihre sterblichen Überreste angetastet werden müssen, und ich verstehe die Notwendigkeit, die zu billigen ich nicht das Recht habe. Von Ihnen, Doktor, und von Ihrem Freund, der gleich hier erscheinen wird, will ich die Antwort auf eine einzige Frage. Sie können sie mir verweigern.“

„Bitte“, sagte Gerbert. Er fühlte eine plötzliche Starre. „Sie werden es sich denken können. Es geht um die Kriterien der Auswahl.“

„Terna wird Ihnen da nichts anderes sagen als ich. Über objektive Kriterien verfügen wir nicht. Da Sie sich mit den Daten vertraut gemacht haben, wissen das auch Sie… Pater Arago.“

„Ich weiß es. Die Beurteilung der Chancen geht über die menschliche Kraft. Die Medcomputer haben Billionen Berechnungen angestellt und zweien dieser Männer eine Chance von neunundneunzig Prozent gegeben, mit einer Abweichung innerhalb der Grenze eines irreparablen Fehlers — als Chance in der Alternative. Objektive Kriterien gibt es nicht, und daher wage ich, nach den Ihren zu fragen.“

„Wir stehen vor zwei Problemen“, sagte Gerbert mit einer gewissen Erleichterung. „Als Arzte werden wir gemeinsam mit dem Chef vom Kommandanten bestimmte Änderungen in der Navigation verlangen. Hier werden Sie doch gewiß auf unserer Seite sein?“

„Ich darf an der Abstimmung nicht teilnehmen.“

„Nein, aber Ihre Haltung kann Einfluß haben…“

„Auf das Beratungsergebnis? Das steht doch aber schon fest.

Ich lasse nicht einmal in Gedanken die Vorstellung zu, es könne eine Opposition geben. Die Mehrheit wird sich dafür aussprechen, m der Hand des Kommandanten hegt die endgültige Entscheidung, und ich würde mich nicht wundern, wenn sie den Ärzten bekannt wäre.“

„Wir werden größere Änderungen verlangen als in der ersten Festlegung. Neunundneunzig Prozent reichen uns nicht. Wichtig ist jede weitere Stelle hinter dem Komma. Der energetische Aufwand einschließlich des Zeitverzugs wird sehr groß sein.“

„Das ist mir neu. Und… das zweite Problem?“

„Die Auswahl der Leiche. Wir sind völlig ratlos, weil wir infolge skandalöser Versäumnisse, die von den Radiotechnikern eleganter als Überlastung der Sendekanäle bezeichnet werden, weder die Namen und Funktionen noch die Lebensläufe dieser Leute feststellen können. In Wirklichkeit ist Schlimmeres passiert als bloße Schlamperei. Als wir diese Container an Bord nahmen, wußten wir nicht, daß das Gedächtnis sowohl der alten Aggregate in diesem Bergwerk, dem Gral, als auch der Rechenmaschinen im Roembden wahrend der Demontagearbeiten beträchtlichen Schaden genommen hat. Die Personen, die für das Schicksal derer, die der Kommandant mit unserem Einverständnis an Bord genommen hat, verantwortlich sind, haben erklärt, die notwendigen Daten seien von der Erde zu bekommen. Nur ist nicht bekannt, wer wann wem solche Anweisungen erteilt hat, man weiß nur, daß alle ihre Hände in Unschuld wuschen.“

„Das ist immer so, wenn die Zuständigkeiten einer größeren Zahl von Leuten ineinander übergehen. Was freilich niemanden rechtfertigen soll…“

Der Mönch hielt inne, sah Gerbert in die Augen und fragte leise: „Sie waren dagegen, daß die Opfer an Bord genommen wurden?“

Gerbert nickte widerwillig. „In dem Trubel vor dem Start mußte jede vereinzelte Stimme untergehen, zumal sie nur die eines Arztes, nicht eines erfahrenen Astronauten war. Davon, daß ich angesichts bestimmter Befürchtungen dagegen war, ist mir heute nicht leichter.“

„Wie geht es also weiter? Worauf wollen Sie sich einlassen? Wollen Sie würfeln?“

Gerbert fuhr auf. „Die Wahl wird von niemandem außer uns abhängen — nach der Beratung, falls unsere Forderungen im rein technischen, navigatorischen Bereich erfüllt werden. Wir nehmen eine neuerliche Obduktion vor und durchsuchen den Inhalt der Vitrifikatoren bis zum letzten Härchen und Stäubchen.“

„Welchen Einfluß auf die Auswahl des Wiederzubelebenden kann seine Identifizierung haben?“


„Möglicherweise gar keinen. Jedenfalls wird das keine für den medizinischen Bereich wesentliche Eigenschaft oder Qualität sein.“

„Diese Männer sind unter tragischen Umständen gestorben.“ Der Mönch wog sorgfältig seine Worte, er sprach langsam, als bewege er sich auf immer dünner werdendem Eis. „Die einen bei der Ausübung ihrer gewöhnlichen Pflichten, als Arbeiter dieser Bergwerke oder Anlagen. Andere, während sie jenen zu Hilfe eilten. Lassen Sie eine solche Differenzierung — falls sie möglich würde — als Kriterium zu?“

„Nein.“

Die Antwort kam augenblicklich und kategorisch. Die Bücherwand vor den Sitzenden Öffnete sich. Terna trat ein und entschuldigte sich wegen seines Zuspätkommens.

Der Mönch erhob sich. Auch Gerbert stand auf. „Ich habe alles erfahren, was möglich ist“, sagte Arago. Er war größer als die beiden Arzte. Hinter seinem Rücken wandte sich Eva an Adam, die Schlange erklomm den Baum des Paradieses.

„Ich danke Ihnen. Ich habe mich von dem überzeugt, was ich ohnehin zu wissen habe. Unsere Fachgebiete berühren sich. Wir richten niemanden nach Schuld oder Verdienst, ebensowenig wie Sie diesen Unterschied machen, wenn Sie jemandem das Leben retten. Ich halte Sie nicht länger auf, es wird Zeit für Sie. Wir sehen uns auf der Beratung.“

Sie gingen. Gerbert faßte für Terna in einigen Worten das Gespräch mit dem Apostolischen Beobachter zusammen. In der kreisrunden Flucht des Korridors bestiegen sie das eiförmige, mattsilberne Fahrzeug. Der entsprechende Schacht öffnete sich und schluckte mit einem anhaltenden Seufzer das radlose Vehikel. In den runden Fenstern blinkten die Lichter der durchfahrenen Decks.

Die beiden Arzte saßen sich schweigend gegenüber. Beide fühlten sich seltsam betroffen von dem Satz, mit dem der Mönch die Summe der Unterredung gezogen hatte. Der Eindruck war aber doch zu vage, als daß er einer Analyse wert gewesen wäre, noch dazu vor dem, was sie erwartete.

Der Beratungssaal befand sich im fünften Segment der EU-RYDIKE. Das Raumschiff erinnerte, beim Flug von weitem betrachtet, an eine lange weiße Raupe mit kugelförmig gewölbten Segmenten, an eine geflügelte Raupe sogar, denn aus ihren Flanken ragten Tragwerke, die in den Rümpfen der Hydroturbinen endeten. Der abgeflachte Kopf war wie mit Fühlern oder Tastern mit einer Menge von Antennen gespickt. Die kugelförmigen Segmente waren durch kurze Zylinder von dreißig Metern Durchmesser verbunden, und ein innen durchgängiger doppelter Kiel gab ihnen die notwendige Starre, wenn das Raumschiff beschleunigte, mit vollem Schub flog oder bremste. Die Triebwerke, sogenannte Hydroturbinen, waren eigentlich thermonukleare Reaktoren nach dem Staustrahl-Durchström-Prinzip. Als Treibstoff diente ihnen der Wasserstoff des Hochvakuums. Dieser Antrieb hatte sich dem durch Photonen überlegen erwiesen. Die Leistung von Kernbrennstoffen geht bei lichtnaher Geschwindigkeit zurück, weil der Löwenanteil der kinetischen Energie von der Rückstoßflamme weggetragen wird und sich nutzlos im Raum verliert, während sich der Rakete nur ein Bruchteil der freigesetzten Energie mitteilt.

Der Photonenantrieb wiederum, der durch Licht also, macht es erforderlich, daß das Raumschiff mit Millionen Tonnen Materie und Antimaterie als Annihilisationstreibstoff bepackt wird. Die Staustrahl-Durchström-Triebwerke hingegen benutzen als Treibstoff den interstellaren Wasserstoff. Seine Atome sind allgegenwärtig, aber im Vakuum der Galaxis so verstreut, daß die Triebwerke dieses Typs erst bei einer Geschwindigkeit von über dreißigtausend Kilometern pro Sekunde effektiv werden, während sie ihre volle Leistung bei annähernder Lichtgeschwindigkeit bringen. Ein Raumschiff mit diesem Antrieb kann also nicht selbst von einem Planeten starten, weil es dafür viel zu massiv ist, und es kann sich nicht selbst so weit beschleunigen, daß die in die Reaktoreintritte strömenden Atome die für die Zündung ausreichende Dichte erreichen. Dann jedoch jagen die gähnenden Eintrittsbuchsen so dahin, daß selbst das kosmische Ultrahochvakuum, von ihnen gerammt, genügend Wasserstoff in ihre Schlünde preßt, damit in den Brennkammern künstlich entfachte Sonnenstrahlen aufflammen. Der Lieferungsgrad steigt an, und das nicht durch mitgeführte Treibstoff Vorräte belastete Raumschiff kann mit konstanter Beschleunigung fliegen. Nach knapp einjähriger Akzeleration, die etwa der irdischen Schwerkraft entspricht, erreicht es fast neunundneunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit, und wahrend an Bord Minuten verrinnen, vergehen auf der Erde Jahrzehnte. Die EURYDIKE war auf einer Umlaufbahn um den Titan gebaut worden, da dieser ihr als Startrampe dienen sollte. Konventionelle thermonukleare Reaktoren hatten viele Billionen der Masse dieses Mondes in Energie für die Umformer verwandelt, die wiederum als Laserkanonen gebündelte Lichtmassen gegen das gigantische Heck des Raumschiffs jagten, vergleichbar den Pulvergasen, die eine Granate aus dem Geschützrohr treiben. Der Mond haue zunächst durch astroingenieurtechnische Arbeiten von seiner dichten Atmosphäre befreit werden müssen, man hatte radiochemische Anlagen und hydronukleare Kraftwerke auf der Platte des Äquatorialkontinents gebaut, deren Gebirgszüge zuvor durch kumulative Hitzeschläge von Einwegsatelliten eingeschmolzen worden waren. Diese Salven hatten ein riesiges Massiv in Lava verwandelt, worauf durch kryoballistische Bomben der Frost verstärkt wurde und diese ganze rotglühende Schmelze zu einem glatten, festen Plateau gerann, dem künstlichen Mare Herculeanum. Auf seinen zwölftausend Quadratmeilen war der Wald der Laserstrahler gewachsen, der wahre Herkules der Expedition. Am kritischen Tag, zur kritischen Sekunde gab er Feuer, um die EURYDIKE aus ihrer stationären Umlaufbahn zu schleudern. Die lange Säule gebündelten Lichts schlug gegen die Heckspiegel und stieß das Raumschiff aus dem Sonnensystem. In dem Maße, wie diese Antriebswirkung nachließ, beschleunigte die EURYDIKE mit Hilfe eigener Booster, deren ausgebrannte Stufen sie abwarf, als sie bereits über den Pluto hinaus war. Erst dort heulten die in das All gerichteten Schlünde der Hydrotriebwerke auf.

Da sie auf dem gesamten Flug arbeiten sollten, beschleunigte das Raumschiff gleichmäßig, und dadurch herrschte in ihm eine Schwerkraft gleich der irdischen.

Sie wirkte in der Längsachse, und nur in dieser. Jedes Segment der EURYDIKE war deshalb eine Einheit für sich. Die Decks liefen quer durch den Rumpf von einer Bordwand zur anderen. Hinaufgehen bedeutete bugwärts, Hinuntergehen heckwärts gehen. Wenn das Raumschiff bremste oder den Kurs änderte, wich die Antriebsachse von der Achse der einzelnen Kugeln ab, die Decke wäre somit zur Wand geworden, oder zumindest hätten die Decks sich auf die Seite gelegt. Um dies zu vermeiden, enthielt jedes Rumpfsegment eine Kugel, die sich in einer gepanzerten Mantelung drehen konnte wie in einem Kugellager. Gyrostatoren sorgten dafür, daß sämtliche Decks jeder Kugel des Rumpfes — es waren ihrer acht, die Wohnzwecken dienten — von der Rückstoßkraft stets vertikal getroffen wurden. Bei derartigen Manövern wichen die Decks der einzelnen Kugeln von der Kielachse des Raumschiffs ab, aber selbst dann konnte man von einem Segment ins andere gelangen, weil sich die sogenannten Schneckenräder, Tunnelsysteme zusätzlicher Schleusen, öffneten. Nur bei der Fahrt durch diese Tunnel war eine Änderung oder das Fehlen der Schwerkraft zu verspüren, da die Lifte die zwischen den Wohnsegmenten befindlichen Rumpfglieder passieren mußten.

Als die Beratung stattfand, an der zum erstenmal seit dem Start die gesamte Crew teilnahm, lag vor der EURYDIKE fast ein Jahr stetiger Akzeleration, so daß also nichts die fixierte Schwerkraft störte.

Als Versammlungsraum diente das fünfte Segment, das sogenannte Parlament. Unter einer konkaven Decke lag ein nicht übermäßig hohes Amphitheater, ein Saal, um den vier Sitzreihen liefen, in regelmäßigen Abständen von ansteigenden Gängen unterbrochen. Vor der einzigen graden Wand stand ein langer Tisch, eigentlich ein Block aneinandergefügter Pulte mit Monitoren. Dahinter saßen, den Anwesenden zugewandt, die Navigatoren und die ihnen unterstellten Spezialisten.

Die Besonderheiten der Expedition hatten eine besondere Zusammensetzung der Führung bewirkt. Das Kommando über den Flug führte Ter Horab, über die Technik der Hauptdispatcher Khargner und über den Funkverkehr der Radiophysiker De Witt.

Dem Gremium der Wissenschaftler, die entweder bereits während des Fluges oder erst an dessen Ziel zum Einsatz kommen sollten, stand der Polyhistor Nomura vor.


Als Gerbert und Terna die obere Galerie betraten, war die Beratung bereits im Gange. Ter Horab verlas die Forderungen der Ärzte. Niemand drehte sich nach den Eintretenden um, nur Hrus, der Chefarzt, der zwischen dem Kommandanten und dem Dispatcher saß, erteilte ihnen durch ein Stirnrunzeln einen Verweis. Sie hatten sich nur um weniges verspätet. In die Stille klang die phlegmatische Stimme Ter Horabs.

„… verlangen sie eine Reduzierung der Schwerkraft auf ein Zehntel. Sie halten das für notwendig zur Wiederbelebung der im Kühlraum liegenden Leichen. Der Schub würde damit auf seine unterste Grenze gedrosselt. Ich kann das machen.

Damit wird das gesamte Flugprogramm in allen seinen fertigen Berechnungen gelöscht. Man kann ein neues Programm erstellen. Das bisherige ist, um Fehler auszuschließen, von fünf voneinander unabhängigen Projektgruppen auf der Erde aufgestellt worden. Diese Möglichkeiten haben wir nicht. Das neue Programm werden bei uns nur zwei Teams erarbeiten — damit erweist es sich nicht als so sicher wie das jetzige. Das Risiko ist gering, aber real. Ich frage also, ob wir über die Forderung der Arzte ohne Aussprache abstimmen oder ihnen zuvor Fragen stellen sollen.“

Die Mehrheit sprach sich für eine Diskussion aus. Hrus ergriff nicht selbst das Wort, sondern forderte Gerbert auf.

„In den Worten des Kommandanten steckt ein gewisser Vorwurf“, erklärte dieser, ohne sich von seinem Platz in der obersten Reihe zu erheben. „Er ist an diejenigen gerichtet, die uns die auf dem Titan gefundenen Leichen übergaben, ohne sich um deren Zustand zu kümmern. In dieser Angelegenheit ließe sich eine Ermittlung anstellen, um die Schuldigen zu finden. Ob diese nun unter uns sind oder nicht, ändert nichts an der Situation. Unsere Aufgabe ist die Resurrektion eines Menschen, der nicht viel besser erhalten ist als die Mumie eines Pharaos.

Ich muß hier auf die Geschichte der Medizin zurückgreifen. Versuche von Vitrifizierungen reichen ins 20. Jahrhundert zurück. Reiche alte Leute ließen sich in flüssigem Stickstoff bestatten in der Hoffnung, eines Tages wieder zum Leben erweckt zu werden. Das war offenkundiger Unsinn. Eine gefrorene Leiche läßt sich nur auftauen, um zu verwesen. Später lernte man, kleine Gewebeteile, Eizellen, Sperma und einfache Mikroorganismen einzufrosten. Je größer der Körper, desto schwieriger die Vitrifizierung. Sie bedeutet eine schlagartige Verwandlung sämtlicher Körperflüssigkeiten in Eis. Dabei muß die Phase der Kristallisierung übersprungen werden, weil die Kristalle eine unumkehrbare Zerstörung des subtilen Zellenaufbaus bewirken. Die Vitrifizierung hingegen macht Körper und Gehirn in einem Sekundenbruchteil zu Glas. Es ist leicht, ein beliebiges Objekt schlagartig zu erhitzen. Es ebenso schnell auf fast null Grad der Kelvinskala abzukühlen ist unvergleichlich schwerer. Die Glockenvitrifikatoren der Opfer vom Titan waren primitiv und funktionierten sehr brutal. Als wir die Container an Bord nahmen, kannten wir ihren Bau noch nicht.

Deshalb hat sich der Zustand der Leichen als solch eine Überraschung erwiesen.“

„Für wen und weshalb?“ fragte jemand aus der ersten Reihe.

„Für mich als Psychoniker, für Terna, der Somatiker ist, und natürlich auch für unseren Chef. Weshalb? Wir bekamen die Container ohne jede Spezifizierung und ohne jeden Plan der Vitrifikatoren des vergangenen Jahrhunderts. Wir wußten nicht, daß die Glocken mit den gefrorenen Männern teilweise durch einen Gletscher gequetscht worden waren und man sie vor Ort in Thermosbehälter mit Flüssighelium gepackt hatte, um sie sofort mit der Fahre zu uns an Bord zu bringen. Vom Start an, seit Herkules uns antrieb, hatten wir vierhundert Stunden lang die doppelte Schwerkraft, und erst danach konnten wir uns die Container vornehmen.“

„Das ist drei Monate her, Kollege Gerbert“, sagte die Stimme aus der ersten Reihe.

„Ja. In dieser Zeit haben wir festgestellt, daß wir mit Gewißheit nicht alle wieder zum Leben bringen. Drei fielen von vornherein weg, weil bei ihnen das Gehirn zerquetscht war. Von den übrigen können wir nur einen wiederbeleben, obwohl sich im Prinzip zwei zur Reanimierung eignen. Es geht darum, daß alle diese Leute im Kreislauf Blut hatten.“

„Richtiges Blut?“ fragte jemand von einer anderen Stelle des Saals.

„Jawohl. Erythrozyten, Blutplasma und so weiter. Die Angaben über das Blut haben wir in den Holotheken, aber wir können keine Transfusion machen, wir haben ja kein Blut. Daher haben wir Erythroblasten vermehrt, die dem Mark entnommen wurden. Blut ist also da. Aber es gibt noch die Unvereinbarkeit der Gewebe. Zur Reanimation eignen sich zwei Gehirne, die lebenswichtigen Organe jedoch reichen nur für einen Menschen. Einer läßt sich aus diesen beiden zusammensetzen. Das ist mißlich, aber wahr.“

„Ein Gehirn läßt sich auch ohne Körper wiedererwecken“, sagte jemand aus dem Saal.

„So etwas haben wir nicht vor“, erwiderte Gerbert. „Wir sind nicht hier, um makabre Experimente anzustellen. Beim heutigen Stand der Medizin müssen sie das nämlich sein. Übrigens geht es nicht um Definitionen, sondern um Zuständigkeiten. Wir mischen uns in Angelegenheiten des Fluges nicht als Astronauten, sondern als Ärzte. Kein Außenstehender kann uns diktieren, wie wir vorzugehen haben. Daher werde ich die Details der Operation hier beiseitelassen.

Wir müssen das Skelett entkalken und metallisieren. Durch Helium muß der Stickstoffüberschuß aus den Geweben entfernt werden. Die anderen Leichen müssen für den einen herhalten — eine Art Kannibalismus. Das ist unsere Angelegenheit, ich soll hier nur erläutern, was unserer Forderung zugrunde liegt. Wir brauchen während der Reanimierung des Gehirns eine möglichst schwache Gravitation. Das Beste wäre völlige Schwerelosigkeit, aber wir wissen, daß sich das ohne Abschaltung der Triebwerke nicht machen läßt. Das Flugprogramm käme dann restlos durcheinander.“

„Für diese Hinweise ist die Zeit zu schade, Kollege.“ Der Chefarzt machte keinen Hehl aus seiner Ungeduld. „Der Kommandant und die Versammelten wollen wissen, worauf diese Forderung zurückzuführen ist.“

„Diese“ Forderung hatte er gesagt, nicht „unsere“. Gerbert war überzeugt, daß dies kein falscher Zungenschlag gewesen war, aber er tat, als hätte er ihn nicht bemerkt, und sagte mit gespielter Ruhe: „Die Neuronen im menschlichen Gehirn teilen sich normalerweise nicht. Sie vermehren sich nicht, da sie das Material der persönlichen Identität — als Gedächtnis — und andere Merkmale bilden, die gemeinhin als Charakter, Seele und so weiter bezeichnet werden. In den Gehirnen der Leute, die auf so primitive Weise wie auf dem Titan vitrifi-ziert worden sind, ist es zu einem Schwund gekommen. Wir können die benachbarten Neuronen bereits veranlassen, sich durch Teilung zu vermehren und damit diesen Schwund auszugleichen, wir liquidieren damit aber zugleich die Individualität dieser so behandelten erhaltenen Neuronen. Um die persönliche Identität zu erhalten, dürfen nur so wenige wie möglich zur Teilung gezwungen werden, denn ihre Nachkommen sind wie die eines Neugeborenen — sozusagen leer und neu. Selbst bei Schwerelosigkeit besteht keine Gewißheit, ob und in welchem Grad der Wiedererweckte der Amnesie verfällt. Ein Teil des Gedächtnisses geht — selbst in den vollkommensten Kryostaten — bei der Vitrifizierung unwiederbringlich verloren, da die feinen Berührungspunkte der Synapsen Verletzungen auf molekularem Niveau erleiden. Daher behaupten wir nicht, daß der Wiedererweckte genau der Mensch sein wird, der er vor hundert Jahren war. Wir sagen nur, daß die Chancen zur Rettung der Persönlichkeit um so größer sind, je geringer während der Reanimierung des Gehirns die Schwerkraft ist. Das war es, was ich zu sagen hatte.“

Ter Horab sah wie ungewollt den Chefarzt an, der ins Studium von Papieren vertieft schien.

„Eine Abstimmung halte ich für überflüssig“, sagte der Kommandant. „Kraft meiner Befugnisse werde ich zu dem von den Ärzten bestimmten Termin und für den von ihnen benötigten Zeitraum die Drosselung des Schubs anordnen. Ich bitte die Beratung für geschlossen zu betrachten.“ Durch den Saal ging eine leise Bewegung. Ter Horab stand auf, faßte Khargner beim Arm und ging mit ihm zum unteren Ausgang. Gerbert und Terna eilten fast im Laufschritt zur oberen Galerie, ehe es jemandem gelang, sie anzusprechen. Auf dem Korridor begegneten sie dem Dominikaner. Er sagte nichts, nickte ihnen nur zu und ging seines Wegs.

„Das hätte ich nicht von Hrus erwartet“, machte sich Terna Luft, als er mit Gerbert den Hecklift betrat. „Der Kommandant dagegen — das ist der rechte Kerl am rechten Ort! Ich habe gespürt, daß sie sich auf uns stürzen wollten, die Kollegen aus den verwandten Fachgebieten, vor allem unsere „Psychonauten“. Er hat das abgeschnitten wie mit einem Messer…“

Der Lift verlangsamte bereits die Fahrt, die Lichter draußen blinkten weniger schnell.

„Lassen wir Hrus“, murmelte Gerbert. „Wenn du es unbedingt wissen willst: Kurz vor der Beratung hat Arago mit Horab gesprochen.“

„Woher weißt du das?“

„Von Khargner. Vor dem Gespräch mit uns war der Pater bei Horab.“

„Meinst du, daß er…“

„Ich meine gar nichts, ich weiß nur, daß er uns geholfen hat.“

„Aber als Geistlicher, als Theologe…“

„Da kenne ich mich nicht aus. Er dagegen weiß sowohl in der Medizin als auch in der Theologie Bescheid. Wie er das eine mit dem anderen in Einklang bringt, ist seine Sache. Wir gehen uns jetzt umziehen, wir müssen alles vorbereiten — und den Termin angeben.“

Vor dem Eingriff las Gerbert nochmals das aus der Holothek übermittelte Protokoll: Die schwersten Planetarmaschinen hatten ihre Arbeit unterbrochen, weil ihre Sensoren die Nähe von Metall und darin enthaltene organische Materie entdeckt hatten. Nacheinander wurden aus den Trümmern von Birnam sieben alte Großschreiter geborgen, aus diesen wiederum sechs Leichen. Zwei der Diglatoren lagen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Einer war leer, der andere enthielt einen Mann in einem glockenförmigen Vitrifikator. In den Gletscher gruben sich Bagger der achten Generation, gegen die der Diglator der reine Zwerg war. Der Leitungsstab, der die Arbeit der unbemannten Ungetüme eingestellt hatte, entsandte zur Suche nach weiteren Opfern — die Depression von Birnam hatte ja neun Menschen verschlungen — Schreitbohranlagen mit hochempfindlichen Biosensoren. Von dem Mann, der seinen Diglator verlassen hatte, fand man nicht die geringste Spur. Die Panzer der Großschreiter waren unter den angewachsenen Eismassen eingedrückt, die Vitrifikatoren aber erstaunlich gut erhalten. Die Aufsichtführenden wollten sie unverzüglich zur Reanimierung auf die Erde schicken, aber das hätte bedeutet, die gefrorenen Leiber gleich einer dreifachen Überbelastung auszusetzen: beim Start der Landefähre vom Titan, bei der Beschleunigung der Transportrakete vom Titan zur Erde und bei der Landung auf der letzteren. Eine Durchleuchtung der Container offenbarte schwere Verletzungen aller Leichen, darunter auch Schädelbasisbrüche. Ein so komplizierter Transport wurde deshalb für zu riskant erachtet. Damals kam jemand auf die Idee, die Vitrifikatoren auf die EURYDIKE zu bringen, die über modernstes Reanimationsgerät verfügte und deren Beschleunigung beim Abflug angesichts ihrer ungeheuren Masse minimal sein mußte. Es blieb nur die Frage der Identifizierung der Toten, die vor einer Öffnung der Vitrifikatoren unausführbar war. Im Einvernehmen mit der Flugleitung und dem SETI-Stab legte Hrus, der Chefarzt der EURYDIKE, fest, daß die genauen Daten und Namen der dem Eis des Titan Entrissenen dem Raumschiff von der Erde aus per Funk nachgeschickt wurden, denn die bereits früher demontierten Speicherplatten der Computer lagen in den Archiven des SETI-Zentrums in der Schweiz. Bis zum Start waren die Funkkanäle vollgestopft, jemand oder etwas — ein Mensch oder ein Kalkulator — hatte der Ausstrahlung der Angaben eine niedrige Wichtigkeitsstufe gegeben, und die EURYDIKE verließ ihre Mondumlaufbahn, ehe die Ärzte mitbekamen, daß diese Informationen fehlten. Gerbert intervenierte vergebens beim Kommandanten, denn das Raumschiff beschleunigte bereits, vom Laser des Herkules getrieben, wie ein Geschoß. In dieser Anlaufphase bekam der Titan die gesamte Wucht des Lichtrückstoßes ab, und die Planetologen hielten es für möglich, daß er zerbarst. Diese Befürchtungen trafen nicht ein, aber auch die Akzeleration lief nicht so glatt, wie die Projektanten erhofft hatten. Herkules preßte die Mondkruste in die Tiefe der Lithosphäre, heftige seismische Wellen brachten das Fundament der Laserstrahler ins Schaukeln, und obwohl es diese Erdstöße — oder vielmehr Stöße des Titan — aushielt, kam die Lichtsäule ms Wanken und Trudeln.

Die abgestrahlte Leistung mußte verringert werden, das Abflauen der Beben abgewartet werden, ehe man die vereinten Laser wieder auf das Spiegelheck des Raumschiffs richten konnte.

Das störte den Funkverkehr und führte zu einem Übermittlungsstau, Nachrichten und Informationen blieben liegen. Zu allem Übel machte der Titan Zicken — er war zwei Jahre zuvor aus der Nähe des Saturn weggebracht und in seinen Umdrehungen so abgebremst worden, daß Herkules in scheinbarer Ruhe die EURYDIKE mit seinem Licht in Fahrt bringen konnte. Nun aber verfiel der Titan Librationen, denen erst durch einige hunderttausend als Havariereserve in den schweren Mond getriebene alte thermonukleare Sprengköpfe ein Ende setzten. Das alles fiel nicht leicht, und so konnten sich die Reanimatoren nicht ans Werk machen, da die EURYDIKE, einige Wochen lang bald getroffen, bald verfehlt, die Sonnensäule am Heck jeweils als Schlag empfing, der sich auf das ganze Raumschiff übertrug. Die Schwierigkeiten bei der Kollimation des Feuers, die seismischen Erschütterungen des Titan und das Versagen der Zündung mehrerer Booster-Batterien hatten die Operation also verzögert, was viele der Besatzungsmitglieder auch damit rechtfertigten, daß die Chancen, die Aufgefundenen zum Leben zu erwecken, ohnehin nicht gut standen. Mit jedem Tag der inzwischen konstanten Akzeleration verschlechterte sich der Funkkontakt mit der Erde, und Vorrang genossen überdies die Radiogramme, die über den Erfolg der Expedition entschieden. Schließlich bekam das Raumschiff von der Erde doch noch die Namen von fünf der gefrorenen Unfallopfer sowie deren Fotografien und Lebensläufe, aber das genügte nicht zur Feststellung der Identität. Bei der explosionsartigen Vitrifizierung waren die Gesichtspartien zerschmettert worden. Zusätzliche Implosionen innerhalb der Kryotainer hatten den Leuten die Kleidung vom Leib gerissen, der Sauerstoff aus den berstenden Raumanzügen hatte die Reste in die Stickstoffsärge gepreßt und in Moder verwandelt. Dann verlangte man von der Erde die Fingerabdrücke und Angaben über den Zustand des Gebisses, aber als man sie erhielt, vergrößerten sie nur die Verwirrung. Infolge uralter Rivalität zwischen Gral und Roembden waren die Computeraufzeichnungen der vorgenommenen Arbeiten unsorgfältig geführt, und außerdem wußte niemand, ob nicht ein Teil der Speicherplatten verlorengegangen oder in ein Archiv außerhalb der Schweiz gelangt war. Der Mann, der auf der EURYDIKE ins Leben zurückkehren konnte, trug unweigerlich einen von sechs Namen: Ansei, Navada, Pirx, Kochler, Parvis oder Illuma. Den Ärzten blieb nur übrig, abzuwarten, ob der aus der postreanimatorischen Amnesie erwachte Patient auf dieser Liste den eigenen Namen erkannte — falls er sich seiner nicht mehr von selbst entsann. Diese Hoffnung hegten Hrus und Terna, während Gerbert, der Psychoniker, seine Zweifel hatte. Nach Festlegung des Operationstermins begab er sich daher zum Kommandanten, um ihm sein Problem darzulegen. Der nüchterne Praktiker Ter Horab hielt es für angeraten und lohnend, den Inhalt der von den Leichen geräumten Vitrifikatoren nochmals eingehend zu untersuchen. „Am besten waren Kriminologen, Gerichtssachverständige“, meinte er. „Da wir solche nicht an Bord haben, helfen Ihnen“ — er zögerte einen Moment — „Lakatos und Biela.“ Er lächelte und setzte hinzu: „Auch Physiker sind so etwas wie Detektive.“

Der geschwärzte, wie von Feuer berußte Kryotainer, der einem verbeulten Sarkophag glich, wurde also ins Hauptlabor gehievt. Von massiven Zangen gepackt, öffnete er sich, nachdem die äußeren Halteklauen gelöst waren, mit durchdringendem Kreischen langsam der Länge nach. Unter dem aufgeklappten Sargdeckel gähnte schwarz das Innere. Der Raumanzug lag zusammengesackt, sein Besitzer ruhte seit Wochen in flüssigem Helium, zusammen mit dem Stickstoffblock, in den er eingefroren war. Lakatos und Biela zogen den leeren Raumanzug heraus und legten ihn auf einen niedrigen Metalltisch. Er war bereits bei der Entfernung der Leiche untersucht worden, aber außer gefrorenen Geweberesten und zu Kabeln verflochtenen Klimaleitungen hatte man nichts gefunden. Jetzt wurde der bereifte Anzug aufgeschnitten — von dem Ring, an dem der Helm befestigt wurde, über die Brust und die pneumatischen Hosenbeine bis an die Stiefel. Aus dem Balg wurden Spiralröhrchen und Teile zerrissener Sauerstoffschläuche ausgebaut und gewissenhaft geprüft: Jeder noch so kleine Fetzen kam unter die Lupe. Zuletzt stieg Biela sogar mit der Taschenlampe in den walzenförmigen Kryotainer. Um ihm die Aufgabe zu erleichtern, schnitt der Manipulator das Panzerblech auf und zog es weit auseinander. Der Raumanzug war nämlich an den Nahtstellen zwischen den Ärmeln und der Körperhülle geborsten — entweder, als der Diglator dem zunehmenden Druck des sich über ihn wälzenden Gletschers von Birnam nachgab, oder infolge des inneren Drucks bei der explosiven Vitrifizierung. Wenn der darin eingeschlossene Mensch persönliche Gegenstände bei sich gehabt haben sollte, konnten sie zusammen mit Strahlen gerinnenden Stickstoffs und menschlichen Bluts durch die Risse des Raumanzugs in den Container gedrückt worden sein, als über dessen Öffnung von oben wie ein Visier eine Haube aus Spezialstahl schoß und den im Raumanzug Umgekommenen von der Außenwelt abschloß.

Um diese Haube von dem Behälter herunterzubekommen, bedurfte es hydraulischer Spannstöcke, denn der Zangenmanipulator war zu schwach dafür. Die beiden Physiker und der Arzt zogen sich einige Schritte von der Plattform zurück, der Vorgang war ziemlich brutal, und ehe die Haube, die dem Kopf eines gewaltigen Geschosses glich, auch nur ruckte und sich endlich langsam löste, rieselten unter den Vanadiumklauen dicke Späne von dem Panzer. Die Wissenschaftler warteten ab, bis die schlackeschwarzen Splitter versiegten und die vom Kryotainer gelöste Glocke ihnen ihr leeres Inneres zukehrte. Lakatos ließ sie von dem vierhebligen Manipulator unter die Decke heben, und Biela wollte sich erneut über den Behälter machen, als alle unwillkürlich erstarrten: Die Bleche rissen längs der Nahtstellen zitternd ab und fielen auf die Plattform, als wollten sie die Agonie wiederholen, die sie schon einmal durchgemacht hatten.

Die ferngesteuerten Greifbacken trugen die schwere Haube wie die Hälfte einer leeren Bombe ans andere Ende des Raums und setzten sie dort so behutsam auf eine Aluminiumplatte, daß nicht das geringste Geräusch hörbar wurde. Biela trat an den geöffneten Behälter. Drinnen hingen in vertrockneten Schichten wie verwelkte oder verbrannte Blätter die dunklen Reste der Innenverkleidung. Lakatos guckte ihm über die Schulter. Er kannte sich in der Geschichte der Vitrifizierung einigermaßen aus. Zur Zeit von Gral und Roembden wurde die Haube von Sprengladungen über den Behälter mit dem Menschen geschossen, damit der Prozeß der kristallinfreien Vereisung möglichst rasch ablaufen konnte. Der Verifizierte mußte den Helm abnehmen, blieb aber im Raumanzug. Damit der Schlag ihm nicht den Schädel zermalmte, war die Haube mit pneumatisch aufblasbaren Kissen ausgepolstert. Durch ihr Platzen schützten sie den Einzufrierenden, dem eine in den Mund gestoßene Spritze flüssigen Stickstoff einpumpte, damit das Gehirn von allen Seiten zugleich, also auch von der über dem Gaumen liegenden Basis her, gerann. Dabei gingen gewöhnlich die Zähne oder gar die ganzen Kiefer kaputt, aber diese Verletzungen ließen sich bei der damaligen Technik nicht ausschließen.

Die Physiker rissen die Schichten des brüchigen Materials herunter und legten eine neben die andere, bis die Geräte den Metallboden des Kryotainers bloßgelegt hatten. Unter den morschen Aschekrusten stießen sie auf einen ebenfalls zerquetschten Gegenstand von der Form eines kleinen Buches, dessen Ecken angesengt waren wie durch Feuer. Das halb verkohlte Ding war so mürbe, daß bei jeder Berührung die Asche stiebte. Sie legten es unter einen Glassturz, denn schon ein Luftzug hätte ihm schaden können. „Sieht aus wie ein kleines Futteral, vielleicht sogar aus Leder.

Eine Brieftasche. So was trugen die Leute damals bei sich. Die Dokumente waren vorwiegend aus Zellulose, die man zu Papier verarbeitet hatte.“


„Oder aus Polymeren“, ergänzte Gerbert die Worte Bielas.

„Das eine ist so wenig ermutigend wie das andere“, erwiderte der Physiker,

„Zellulose war unter diesen Bedingungen nicht widerstandsfähiger als die alten Plastik. Wie ist das in diesen Pott gekommen?“

„Das kann man sich leicht vorstellen.“ Lakatos bewegte die offenen Hände aufeinander zu. „Als er den Kontakt auslöste, stieg ihm die untere Glocke über die Beine bis an die Brust, zugleich wurde die obere herabgeschossen, um sich auf die untere zu pressen. Es waren Implosionsladungen, natürlich nicht solche, die den Menschen zermalmt hatten. Der Stickstoff füllte den Raumanzug, daß dieser unter den Achseln barst, und die unter Druck entweichende Luft kann dem Mann die Kleidung vom Leibe gerissen haben. So hat der Luftstoß von Granaten bei nahern Einschlag zuweilen Soldaten entblößt…“

„Was machen wir damit?“

Gerbert sah zu, wie die Physiker den Glassturz mit einer gerinnenden Flüssigkeit füllten, das entstandene Gußstück, in dem der schwarze Fetzen wie ein Insekt im Bernstein steckte, herausnahmen und sich an die Analysen machten. Sie entdeckten Chemikalien, die einst zur Herstellung von Banknoten benutzt wurden, organische Verbindungen, die für gegerbte und gefärbte tierische Häute typisch waren, sowie winzige Spuren von Silber, sicherlich Reste von fotografischen Aufnahmen, denn dazu hatten Silbersalze gedient. Nachdem sie den Gegenstand haltbar gemacht und aus dem Gußstück genommen hatten, änderten sie die Härte der Strahlung und holten schließlich noch ein abstruses Palimpsest heraus — eine verworrene Mischung von Buchstaben und kleinen Kringeln, vielleicht ein Stempel. Der Chromatograph unterschied Schatten gedruckter Schrift von Tintenresten, denn letztere hatten glücklicherweise eine mineralische Beimischung. Die Filter des Mikrotomographen übernahmen das übrige, aber das Ergebnis war bescheiden. Sollte man, was wahrscheinlich war, tatsächlich den Personalausweis gefunden haben, so ließ sich der Vorname Überhaupt nicht, vom Nachnamen lediglich der Anfangsbuchstabe entziffern: ein P. Im ganzen zählte der Name fünf bis acht Buchstaben. Der Zufall wollte es, daß mit P die Namen der beiden Männer anfingen, von denen nur einer wiederbelebt werden konnte. Sie riefen über Monitor die Spinogramme all der Leute, die sie in flüssigem Helium liegen hatten. Durch die Schichtbildaufnahme, die viel präziser war als das vorsintflutliche Röntgen, ließ sich das Alter der Opfer mit einer Genauigkeit bis zu zehn Jahren bestimmen. Dies geschah anhand des Knochengewebes der Gelenkknorpel und anhand der Blutgefäße — zu Lebzeiten dieser Leute verstand die Medizin die als Sklerose bekannten Veränderungen noch nicht aufzuhalten. Die beiden zur Reanimation Tauglichen waren von gleichem Körperbau, die Gesichtspartien bedurften bei beiden der chirurgischen Rekonstruktion. Sie besaßen die gleiche Blutgruppe, nach den in den Rippen und nur ansatzweise in der Aorta vorhandenen Einlagerungen von Kalk dürften sie zwischen dreißig und vierzig Jahren alt gewesen sein. Den Lebensläufen zufolge, die auch die Geschichte der durchlaufenen Krankheiten enthielten, war keiner jemals einer Operation unterzogen worden, die am Körper Narben hinterlassen hätte. Die Arzte wußten es, wollten jedoch vom Wissen der Physiker Gebrauch machen: Die Durchleuchtung beruhte auf der magnetischen Resonanz der Atomkerne im Organismus. Die Physiker schüttelten nur die Köpfe: Die Kerne der stabilen Elemente sind so gut wie unwissend. Es wäre was anderes, wenn sich in den Körpern dieser Männer Isotope fänden.

Diese Isotope fanden sich, aber auch sie erwiesen sich als Sackgasse. Die beiden waren einst einer Strahlenbelastung von einhundert bis zweihundert Rein ausgesetzt gewesen — wahrscheinlich in den letzten Stunden ihres Lebens.

Es ist eine sozusagen anonyme und abstrakte Beschäftigung, die inneren Organe eines Menschen in ihren verschiedenen Schichten zu betrachten. Der Anblick der nackten, in Stickstoff gefrorenen und in Helium getauchten Leichen, zumal ihrer zerquetschen Gesichter war derart, daß Gerbert es vorgezogen hatte, ihn den Physikern zu ersparen. Bei beiden Toten waren die Augäpfel erhalten — insgeheim letztlich die größte Not der Ärzte, denn die Blindheit des einen hätte ihnen gewissermaßen die Entscheidung darüber abgenommen, daß der Mann mit dem unversehrten Augenlicht wiederbelebt werden mußte. Als die Physiker fort waren, setzte sich Terna auf das Podium mit dem aufgeschlitzten Kryotainer, und er blieb wortlos so sitzen, bis Gerbert die Spannung nicht mehr aushielt. „Also?“

fragte er. „Welcher?“

„Man könnte noch Hrus zu Rate ziehen…“, murmelte Terna zögernd.

„Wozu? Tres faciunt collegium?“

Terna stand auf, tippte etwas in die Tasten, und der Bildschirm zeigte gehorsam zwei Reihen grüner Ziffern, rechts daneben eine rote, die warnend blinkte. Er schaltete den Apparat aus, als könne er das nicht ertragen. Als er wieder eine Taste drücken wollte, umfaßte ihn Gerbert und hielt ihn zurück.

„Hör auf, das hilft nichts.“

Der andere sah ihm in die Augen. „Vielleicht sollte man sich Rat holen…“, setzte er an, vollendet den Satz jedoch nicht.

„Nein. Niemand wird uns helfen. Hrus…“

„Ich habe nicht an Hrus gedacht.“

„Ich weiß. Ich wollte sagen, daß, formell gesehen, Hrus eine Entscheidung trifft, wenn wir uns an ihn wenden. Als Chefarzt wird er es müssen, aber das ist eine klägliche Ausflucht. Außerdem siehst du ja, daß er sich dünngemacht hat.

Ziehen wir das nicht in die Länge, in einer Stunde — in einer knappen Stunde drosselt Khargner den Schub.“ Er ließ Terna los, drückte auf dem Pult die Kontakte, die den Reanimationsraum in Bereitschaft versetzten, und sagte dabei:

„Es gibt keine Toten. Es gibt sie nicht so, als wären sie jemals geboren. Wir bringen niemanden um. Wir stellen ein Leben wieder her. Betrachte das von dieser Seite.“

„Großartig“, sagte Terna mit funkelndem Blick: „Du hast recht. Es ist eine große Tat. Ich trete sie dir ab. Du sollst die Wahl treffen.“

Die weiße Schlange, die sich auf der Wandtafel um den Kelch ringelte, signalisierte durch ihr Aufleuchten die Bereitschaft.

„Gut“, sagte Gerbert. „Unter einer Bedingung. Die Sache bleibt unter uns, und niemand erfährt etwas davon. Vor allem er nicht. Verstanden?“

„Verstanden.“

„Überleg's dir gut. Nach der Operation gehen alle Reste über Bord. Ich lösche in der Holothek sämtliche Daten. Du und ich aber werden es wissen, denn wir können unser Gedächtnis nicht auslöschen. Kannst du vergessen?“

„Nein.“

„Aber schweigen?“

„Ja.“

„Gegenüber jedem?“

„Ja,

„Bis zuletzt?“

Terna zögerte. „Hör mal… alle wissen doch… du hast doch auf der Beratung selber gesagt, daß wir die Wahl haben…“

„Ich mußte. Hrus wußte doch, wie und was. Aber wenn die Daten gelöscht sind, schwindeln wir, daß dieser Mann eine objektive Präferenz besaß, die wir erst hier und jetzt entdeckt haben.“ Terna nickte. „Einverstanden.“

„Wir schreiben ein Protokoll. Gemeinsam. Wir fälschen zwei Positionen. Wirst du unterschreiben?“

„Ja. Mit dir.“

Gerbert öffnete einen Wandschrank. Darin hingen weißbeschuhte silbrige Overalls mit gläsernen Gesichtsmasken. Gerbert nahm den seinen und begann ihn anzuziehen.


Terna folgte seinem Beispiel. Im Rundbau des Saales öffnete sich eine Tür, das Innere eines Lifts erglänzte. Die Tür schloß sich, der Lift fuhr nach unten. In dem verlassenen Raum wurde es ein wenig dunkler, nur über den Lichtpunkten der Tafel leuchtete die Schlange des Äskulap.

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