XIII Kosmische Eschatologie

Am Nachmittag darauf bestellte Steergard die beiden Piloten und Nakamura zu sich. Der HERMES war gleich nach der Katastrophe mit der vollen Leistung der Manövrieranlage über die Ekliptik aufgestiegen, um aus dem Schwärm der Mondtrümmer zu kommen, und verfolgte nun einen parabelförmigen Kurs in Richtung auf die Sonne. Gleichzeitig setzte er Radiosonden und Transmitter aus. Sie brachten Meldungen, aus denen hervorging, daß die Quinta den Schutt des zertrümmerten Mondes selber auf sich gelenkt hatte: Durch die Salve ballistischer Raketen war die Kavitation so gestört worden, daß deren exzentrischer Verlauf auf den Planeten zurückgeschlagen haue.

Die Folgen, optisch erkennbar, obgleich das Raumschiff die Entfernung zur Quinta bereits verdreifacht hatte, waren erschreckend. Vom ozeanischen Epizentrum gingen Springfluten aus, Wassermassen, emporgepeitscht in die hundertfache Höhe dessen, was der Gezeitenpegel selbst bei höchster Flut anzeigte. Sie brachen über Hepariens Ostküste, die am nächsten lag, herein und überschwemmten in einer tausend Meilen breiten Front das riesige Flachland. Der Ozean drang weit ins Innere des Kontinents vor und hinterließ im Abfließen Binnenseen von Meeresgröße, denn die tiefe Platte des lithosphärischen Mantels der Quinta war eingebeult worden, und die Wasser sammelten sich m den an der Oberfläche entstandenen Depressionen.

Gleichzeitig hüllten Billionen Tonnen Wasser, als brodelnder Dampf über die Stratosphäre gestoßen, die gesamte Scheibe des Planeten in eine geschlossene Wolkendecke, über der nur der dünne Eisring in der Sonne blitzte wie eine Klinge.

Steergard verlangte von Nakamura die spinoskopischen Berichte, die seit dem Lunoklasmus ununterbrochen angefertigt wurden. Er hatte nämlich unmittelbar danach die größten Magnetronaggregate auf eine Bahn vor und hinter der Quinta schießen lassen, gewaltige sideralgespeiste Apparate mit einer Masse von siebentausend Tonnen. Zum Schutz vor einem möglichen Angriff wurden sie von Werfern kohärenter Gravitation eskortiert, GRACER-Bomben für einmaligen Gebrauch, die nach den Plänen des SETI-Stabs zur Annihilation von Asteroiden dienen sollten, falls der HERMES auf dem Flug zur Quinta solchen begegnete — bei lichtnaher Geschwindigkeit konnte er Hindernissen, denen der Schutzschild nicht standhielt, nicht ausweichen. Bevor Nakamura die Ergebnisse der Spinoskopie vorlegte, fragte Steergard unvermittelt den Zweiten Piloten, wie er zu dem lateinischen Spruch gekommen sei, mit dem er die letzte Beratung geschlossen habe: „Nemo me impune lacessit.“ Tempe konnte sich nicht erinnern.

„Ich glaube nicht, daß du je Philologe gewesen bist. Eher hast du Poe gelesen, das „Faß Amontillado“.“ Der Pilot schüttelte zu diesem Wort Steergards ratlos den Kopf. „Möglich. Poe? Der Schriftsteller, der diese phantastischen Geschichten geschrieben hat? Das bezweifle ich eher. Übrigens erinnere ich mich nicht, was ich gelesen habe — vor meiner Zeit auf dem Titan. Ist das wichtig?“

„Das wird sich zeigen. Nun aber bitte die Ergebnisse.“ Nakamura kam abermals nicht dazu, den Mund aufzumachen, weil der Kommandant fragte: „Ist die Apparatur angegriffen worden?“

„Zweimal. Die GRACER haben ein paar Dutzend Raketen vernichtet. Die Holenbachschen Beugungen haben den Empfang der Spinogramme unterbrochen, ohne daß das Bild beeinträchtigt wurde.“

„Wo sind diese Raketen gestartet?“

„Auf dem betroffenen Kontinent, aber außerhalb des Katastrophengebiets.“

„Und genauer?“

„An vier Stellen, in einem Gebirgssystem fünfzehn Grad unterm Polarkreis. Die Abschußrampen liegen unter der Erde und sind durch eine Felsimitation verfestigt. Es gibt noch mehr davon — in den Meridiangürteln bis hm zum Wendekreis. Die Aufnahmen haben über tausend entdeckt. Es gibt sicherlich noch mehr, aber offenbar ließen sich nur die erkennen, die senkrecht zum Impulsfeld standen. Der Planet dreht sich, das Feld aber bleibt unbeweglich. Bei ständiger Spinoskopie wäre ein Bild ohne jeden Wert entstanden — wie das Röntgenbild eines Menschen, der sich während der Aufnahmen um sich selber dreht. Deshalb sind wir zu tomographischen Momentaufnahmen im Abstand von Mikrosekunden übergegangen.

Bisher sind um die fünfzehn Millionen Bilder zusammengekommen. Ich wollte abwarten, bis die Quinta eine volle Umdrehung gemacht hat, und erst dann alle Bänder GOD übergeben…“

„Ich verstehe“, meinte Steergard und führte den Gedanken zu Ende: „GOD hat die Aufnahmen noch nicht bekommen und noch nicht ausgewertet.“

„Im Ganzen noch nicht. Ich habe aber summarisch die stündlichen Agglomerate der Tomogramme durchgesehen.“

„Also immerhin etwas! Ich höre.“

„Astrogator, ich wünschte, Sie würden sich die schärfsten Spinogramme selber ansehen. Eine Beschreibung durch Worte kann nicht objektiv sein. Fast alles, was auf den Filmen zu sehen ist, bietet die Handhabe für eine bestimmte Interpretation, aber nicht für eine sichere Diagnose.“

„Gut.“

Sie standen auf, Nakamura schob einen Disc ins Videogerät. Dessen Bildschirm wurde hell, verwischte Streifen flimmerten darüber hin. Der Physiker hantierte an der Einstellung, das Bild wurde dunkel, und sie sahen ein kreisförmiges Spektrum mit einem runden schwarzen Fleck in der Mitte und mit einer ungleichmäßig erhellten Umgebung. Nakamura verschob das Bild, bis sich die Planetenoberfläche in der unteren Hälfte des Bildschirms befand. Über der Krümmung der undurchsichtig schwarzen Lithosphäre erstreckte sich in einem gleicherweise gewölbten Streifen ein weißlicher Dunst, der sich an der Berührungslinie mit dem Horizont verdichtete: die Atmosphäre mit winzigen Wolkenflöckchen. Der Physiker stellte das Spektrum von den leichten auf immer schwerere Elemente um. Die atmosphärischen Gase verschwanden wie weggeblasen, und die bisher undurchdringliche Schwärze der Festlandsplatte begann sich zu lichten.

Tempe, der zwischen Harrach und dem Kommandanten stand, war in die Betrachtung dessen versunken, was der Bildschirm zeigte. Mit der Planetenspinoskopie hatte er sich bereits an Bord der EURYDIKE vertraut gemacht, sie aber noch nie in einer so leistungsstarken Anwendung gesehen wie hier. Ein Nukleoskop astronomischer Reichweite nimmt den Planeten in den Griff von Magnetfeldern einer Gaußschen Intensität, die auf den Impulsgipfeln der Magnetosphäre eines Mikropulsars gleichkommt. Der Planet wird durchleuchtet, durch und durch, und die dank der Resonanz der atomaren Spins entstehenden Bilder können getrennt, zu Schichtbildaufnahmen gesondert werden, indem das steuerbare Feld auf die aufeinanderfolgenden Schichten des Himmelskörpers konzentriert wird, beginnend an der Oberfläche und immer tiefer dringend, bis in die immer heißeren Lagen des Mantels und des Kerns.

Wie das Mikrotom Schnittserien erstarrter Gewebe herstellt, die man dann nacheinander unterm Mikroskop betrachten kann, ermöglicht das Nukleoskop Aufnahmen, die Schicht für Schicht die innere Atomstruktur eines Himmelskörpers zeigen, wie es weder durch Funkortung noch durch Neutrinolotung erreichbar ist.

Für den Radar ist der Planet überhaupt nicht durchsichtig, für den Neutrinostrom indessen allzusehr. Nichts als die magnetkohärente, vielpolige Spinoskopie erlaubt daher den Blick ins Innere kosmischer Körper — jedenfalls sofern sie, wie Monde und Planeten, erkaltet sind.

Gelesen hatte Tempe darüber genug. Die ferngebündelten Magnetpotentiale ordnen die Spins der Atomkerne entlang einer Kraftlinie, und nach Abschaltung des Feldes geben die Kerne die ihnen aufgezwungene Energie wieder ab. Jedes Element des Periodensystems schwingt in einer nur ihm eigenen Resonanz. Das im Rezeptor fixierte Bild wird zum nuklearen Porträt eines Querschnitts, auf dem Sextillionen Atome die Rolle der Pünktchen auf dem gewöhnlichen Druckraster übernehmen. Die Hochleistungsnukleoskopie hat den Vorteil, daß sie den durchleuchteten materiellen Objekten und also auch Lebewesen keinen Schaden tut, und sie hat den Nachteil, daß sich beim Einsatz solcher Energie die Quellen, von denen sie ausgestrahlt wird, nicht verbergen lassen.

Den Anweisungen der Physiker folgend, filterte GOD aus den Querschnittaufnahmen jeder Schicht die Spinogramme der Elemente, die für eine technologische Nutzung besonders geeignet sind. Diese Selektion ging von einer Prämisse aus, die nicht völlig zuverlässig, aber die einzig verfügbare war: einer — zumindest teilweisen — Analogie quintanischer und irdischer Technosphäre. In die Tiefe des durchleuchteten Planeten reichte ein sich undeutlich abzeichnendes Netz von Metallen der Vanadium-, Chrom- und Platingruppe, darunter Osmium und Iridium.

Dicht unter der Oberfläche liegende Kupferstränge schienen auf Stromkabel hinzudeuten. Die Spinogramme des vom Lunoklasmus betroffenen Gebiets erwiesen chaotische Mikroherde der Verwüstung, und der Querschnitt des sternförmigen Gebildes, das man an Bord „Meduse“ nannte, sah wie ein Trümmerfeld mit Spuren von Aktiniden aus. Dort fand sich auch Kalzium. Für die Ruinen von Wohngebäuden war es zuwenig, sedimentäre Versteinerungen wies der Boden überhaupt nicht auf, und so kam die Vermutung zustande, es handle sich um die Überreste von Millionen Lebewesen, die vor oder nach dem Tod radioaktiv verseucht worden sein mußten — ein beträchtlicher Prozentsatz des Kalziums war nämlich dessen Isotop, das nur in den Skeletten strahlenbelasteter Wirbeltiere entsteht. Diese Entdeckung, die zwar lediglich ein unsicheres Indiz bot, ließ bei ihrer ganzen Grausigkeit doch auch ein Quentchen Zuversicht zu. Bisher hatte man nicht wissen können, ob die Bevölkerung der Quinta aus lebenden Wesen oder womöglich aus nichtbiologischen Automaten, Erben einer erloschenen, ehemals lebendigen Zivilisation bestand. Die makabre Hypothese war nicht auszuschließen, daß der Rüstungswettlauf, nachdem das Leben ausgetilgt und in seinen Resten in Bunker und Höhlen verdrängt worden war, von den mechanisierten Erben fortgesetzt wurde. Ebendies hatte Steergard seit den ersten Zusammenstößen am meisten befürchtet, obwohl er über diese Konzeption nie auch nur ein Wort verlauten ließ. Er hielt einen Ablauf historischer Vorfälle für möglich, wo bei einer über Jahrhunderte reichenden Ausdehnung der Kampfhandlungen die lebendigen Streitkräfte durch Maschinen ersetzt werden — nicht nur, wie man sich bereits überzeugen konnte, im All, sondern auch auf dem Planeten selbst. Kriegsautomaten, die keinen Selbsterhaltungstrieb besaßen und für den Kampf bis zur Selbstvernichtung vorgesehen waren, würden sich nicht so leicht dazu bringen lassen, Verhandlungen mit einem kosmischen Eindringling zu führen. Selbsterhaltung sollte das Ziel der Militärstäbe zwar selbst dann sein, wenn sie voll computerisiert sind, aber mit der ausschließlichen Direktive, im Laufe der strategischen Aktivitäten die Vorherrschaft zu erringen, würden auch sie sich nicht in die Rolle von Gesprächspartnern drängen lassen.

Die Chance hingegen, als Lebewesen mit einem anderen Lebewesen übereinzukommen, stand höher als Null, aber der Optimismus, der sich aus der Prüfung der Spinogramme, der möglichen Diagnostizierung einer Hekatombe, dem aus dem Verhältnis des Kalziums zu seinem Isotop ableitbaren Schluß auf Skelette beziehen ließ, war eher bescheiden — und doch auch mehr als nur ein frommer Wunsch. Unter dem Vorbehalt, es handle sich meist nur um Vermutungen, bereitete Nakamura die kritischen Aufnahmen mit Erklärungen auf, die Piloten und der Kommandant hörten ihm zu. Mitten hinein schnurrte der Intercom. Steergard nahm den Hörer ab und meldete sich. Die anderen hörten jemanden sprechen, ohne die Worte unterscheiden zu können.

Als es im Hörer still wurde, schwieg sich auch Steergard eine Weile aus, ehe er sagte: „Schön. Jetzt gleich? Bitte sehr, ich warte.“ Er legte auf, wandte sich zu den anderen um und sagte: „Arago.“

„Sollen wir gehen?“ fragte Tempe.

„Nein, nein. Bleibt hier.“ Und wie gegen seinen Willen entrang sich seinen Lippen der Satz: „Zu einer Beichte wird das nicht werden.“

Der Dominikaner erschien ganz in Weiß, aber nicht im Ordenskleid. Er trug einen langen weißen Pullover, darunter aber — die dunkle Schnur, die sich von seinem Hals schlang, ließ es erkennen — das Kreuz. Als er der Versammelten ansichtig wurde, blieb er an der Schwelle stehen. „Ich wußte nicht, daß Sie eine Beratung abhalten, Astrogator…“

„Bitte nehmen Sie Platz, Hochwürden. Das ist keine Beratung, Die Zeit parlamentarischer Debatten und Abstimmungen ist vorbei.“ Das schien Steergard selber allzu obsessioneil geklungen zu haben, denn er setzte hinzu: „Mein Wille war es nicht, aber die Tatsachen sind härter als meine Wünsche. Setzt euch mal alle hin.“

Sie folgten der Aufforderung, denn sie war, obgleich mit einem Lächeln ausgesprochen, ein Befehl. Der Mönch war eigentlich auf ein Gespräch unter vier Augen vorbereitet gewesen, vielleicht hatten ihn auch Steergards Worte durch ihren kategorischen Klang betroffen gemacht.

„C'est le ton qui fah la chanson“, sagte der Astrogator, der die Ursachen für Aragos Zögern erriet. „Nur habe nicht ich diese Musik komponiert. Freilich, ich habe es versucht — pianissimo.“

„Und mit den Posaunen von Jericho nahm es ein Ende“, versetzte der Mönch. „Aber wollen wir es dieser musikalischen Periphrasen nun nicht genug sein lassen?“

„Selbstverständlich. Ich habe nicht die Absicht, mich im Kreise zu drehen. Vor einer Stunde ist Rotmont bei mir gewesen, und ich kenne den Inhalt der von GOD provozierten Unterhaltung, dieser… Exegese. Doch nein, belassen wir es bei der Unterhaltung. Sie betraf die Astrobiologie.“

„Nicht nur“, merkte der Dominikaner an. „Ich weiß. Darum frage ich, in welcher Eigenschaft ich den neuen Gast begrüßen darf: als Arzt oder als päpstlichen Nuntius?“

„Ich bin nicht Nuntius.“

„Mit oder ohne Willen des Heiligen Stuhls sind Sie es doch. In partibus infidelium. Und möglicherweise in partibus dae-monis. Ich sage das im Zusammenhang mit einem denkwürdigen Ausspruch, den nicht der Doktor der Astrobiologie, sondern der Pater Arago bei Ter Horab auf der EURYDIKE getan hat.

Ich war dabei, habe es gehört und mir gemerkt. Und jetzt höre ich Ihnen zu.“


„Ich sehe hier die gleichen Aufnahmen, die mir Rotmont erklärt hat. Es war tatsächlich GOD, der diesen meinen Überfall provoziert hat.“

„Die Kalzium-Hypothese?“ fragte der Kommandant. „Ja. Rotmont fragte ihn, ob die Linie, die sich in der Spektralanalyse bestimmter Punkte wiederholt, nicht etwa dieses Kalzium-Isotop ist. GOD konnte es nicht ausschließen.“

„Die Details sind mir bekannt. Wenn das Knochen waren, dann von Millionen.

Gebirge von Leichen.“

„Der kritische Ort ist die große Agglomeration, sicherlich ein Wohnsitz der Quintaner“, sagte der Mönch. Er schien bleicher als gewöhnlich.

„Um eine Menagerie mit einem Durchmesser von fünfzig Meilen dürfte es sich ja wohl nicht handeln? Folglich ist es zu einem Genozid gekommen. Der Friedhof eines Völkermords ist kein besonders günstiger Schauplatz für ein beispielloses Rreignis unserer Geschichte. Den Vätern des SETl-Projekts ging es nicht darum, Kontakt mit einer Vernunft auf einem Schlachtfeld aufzunehmen, das mit den Leichen der Gastgeber übersät ist.“

„Die Lage ist viel schlechter“, antwortete Steergard. „Nein, bitte lassen Sie mich ausreden. Ich wiederhole: Es ist viel Schlimmeres passiert als eine Katastrophe, die durch das Zusammentreffen von niemandem beabsichtigter Zufälle ausgelöst worden ist. Jene Spektrallinien können von Kalziumisotopen aus Skeletten stammen. Wir können das nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen. Ich sagte, der Planet könne unser Ultimatum vor Ablauf der Frist beantworten, allerdings nicht mit Signalen. Aus dortiger, von extremem Argwohn geprägter Sicht konnte eine Gegenoffensive die Priorität gewinnen. Ich habe jedoch nicht angenommen, daß man in voller Absicht den kavitierten Mond auf sich selber stürzen läßt. Wir sind Völkermörder im Sinne der Maxime eines italienischen Ketzers geworden, der gesagt hat, daß von einem Übermaß an Tugend die Mächte der Holle siegen.“

„Wie soll ich das verstehen?“ fragte Arago konsterniert. „Gemäß den Kanons der Physik. Wir haben die Zertrümmerung des Mondes als Nachweis unserer Überlegenheit angekündigt und ihnen versichert, diese siderale Operation werde ihnen keinen Schaden bringen. Da sie über Fachleute für Himmelsmechanik verfügen, wußten sie, daß sich ein Planet mit geringstem Energieaufwand sprengen laßt, wenn der in seinem Kern vorhandene Druck verstärkt wird. Sie wußten, daß nur eine genau im Zentrum der Mondmasse konzentrierte Explosion die Umlaufbahn der entstehenden Trümmer nicht verändert. Hatten sie unsere Sideratoren von der Sonnenseite des Mondes oder auf einer Tangente zur Umlaufbahn von vorn her abgefangen, so wären die Trümmermassen auf eine höhere Bahn gestoßen worden. Nur wenn unsere Geschosse auf der der Quinta zugewandten Halbkugel abgefangen wurden, konnten- und mußten sogar — die Folgen der exzentrischen Kavitation auf den Planeten selbst gezogen werden.“

„Wie soll ich das glauben? Wollen Sie behaupten, man habe dort unten mit Hilfe unserer Hilfe Selbstmord begehen wollen?“

„Nicht ich, sondern die Tatsachen sagen das aus. Ich gebe zu, daß eine solche Interpretation ihres Verhaltens nach vernunftlosem Wahnwitz aussieht, aber der rekonstruierte Ablauf der Katastrophe offenbart deren Rationahtät. Wir haben den Lunoklasmus begonnen, als die Sonne in Heparien auf und in Norstralien unterging. Die ballistischen Raketen, die gegen unsere Sideratoren gerichtet waren, wurden in dem Teil Hepariens gestartet, der sich noch jenseits des Terminators befand, also dort, wo noch Nacht war. Sie brauchten fünf Stunden, um ins Periselenium zu gelangen und auf unsere Raketen zu treffen. Damit wir sie nicht rechtzeitig zerstören konnten, flogen sie auf einer elliptischen Bahn, von der sie etwa zwölf Minuten vor dem Lunoklasmus zum Mond niedergehen konnten. Es läßt sich nicht anders bezeichnen: Diese Geschosse lauerten den unseren auf und hielten sich dabei auf dem Ellipsenstück, das von der Quinta am weitesten entfernt und dem Mond am nächsten war. Sie alle griffen unsere Kavitatoren an, die schutzlos waren, da wir eine derartige Gegenaktion nicht für möglich gehalten haben. Ich habe selbst zunächst geglaubt, die Katastrophe sei durch falsche Berechnungen der Quintaner verursacht worden. Die Analyse des Ablaufs schließt jedoch einen Fehler aus.“


„Nein“, sagte Arago. „Das kann ich nicht begreifen. Obwohl… Moment… Heißt das, daß die eine Seite versucht hat, den Schlag wie einen Prallschuß gegen die andere zu richten?“

„Auch das wäre noch nicht das Schlimmste“, antwortete Steergard. „Aus der Sicht eines Generalstabs ist während des Krieges jedes Manöver vorteilhaft und ehrenwert, wenn es den Gegner trifft. Da ihnen aber weder die Leistung unserer Kavitatoren noch die Zeit, in der der Lunoklasmus erfolgen würde, und ebensowenig die Anfangsgeschwindigkeit der Mondtrümmer bekannt sein konnten, mußten sie damit rechnen, daß die Streuung der Gesteinsmassen auch ihr eigenes Territorium erfassen würde… Hochwürden wundern sich? Sie glauben mir nicht?

Die physica de motibus coelestis ist der Kronzeuge in dieser Sache. Betrachten Sie den Sachverhalt bitte aus der Sicht von Generalstäblern in einem hundertjährigen Krieg. Über ihnen ist ein kosmischer Eindringling erschienen, der Myrtenzweige trägt, herzliche Beziehungen zu der fremden Zivilisation aufnehmen will und, statt Angriffe mit Angriffen zu vergelten, maßvolle Milde zu bewahren sucht. Er will nicht angreifen? Dann muß man ihn dazu zwingen! Wird die Bevölkerung des Planeten denn je erfahren, was wirklich los gewesen ist? Wie wird sie, nachdem sie massakriert wurde, an dem zweifeln können, was ihr die Regierenden sagen: Seht, der Eindringling ist ein rücksichtsloser Aggressor, dessen Grausamkeit keine Grenzen kennt. Hat er nicht die Städte zerstört! Hat er nicht alle Kontinente bombardiert und zu diesem Zweck den Mond zertrümmert? Die Opfer auf eigener Seite? Die gehen zu Lasten des Eindringlings. Wenn wir mitschuldig geworden sind, dann aus einem Übermaß edler Absichten, da wir eine solche Wendung der Dinge nicht vorausgesehen haben. Ein Rückzug nach alledem, was geschehen ist, hinterließe auf dem Planeten für unsere Expedition den Ruf des Versuchs einer mörderischen Invasion. Darum werden wir diesen Rückzug auch nicht antreten, Hochwürden. Das Spiel ging von Anfang an um einen hohen Einsatz.

Die anderen haben ihn jetzt so erhöht, daß sie uns damit zum Weiterspielen zwingen.“

„Kontakt also um jeden Preis?“ fragte der weißgekleidete Dominikaner.

„Um den höchsten, den wir uns leisten können. Ich habe Sie, Hochwürden, als den Apostolischen Gesandten mit der Bemerkung überrascht, an Bord sei es vorbei mit Demokratie und Abstimmung, vorbei die Zeit, da man einander von Pontius zu Pilatus schickte. Ich halte daher eine Erklärung für angebracht, warum ich das alleinige Kommando und damit die gesamte Verantwortung für uns und für die anderen übernommen habe und das Spiel zu Ende führen will. Wünschen Sie, daß ich das tue?“

„Bitte sehr.“

Steergard trat an einen der Wandschränke, öffnete ihn und sagte, während er in den Fächern kramte: „Der Gedanke an einen nicht ortsgebundenen, in den Kosmos beförderten Krieg kam mir, nachdem wir jenseits der Juno die Wracks aufgefischt hatten. Er kam nicht mir allein, ich habe ihn nach dem Grundsatz „primum non nocere“ für mich behalten, um die Crew nicht mit Defätismus zu infizieren. Aus der Geschichte der Expeditionen, seien es nun die des Kolumbus oder die der Polarforscher gewesen, ist bekannt, wie leicht eine isolierte Gruppe sogar der besten Leute unter dem Einfluß einer Person der Selbstgefährdung verfallen kann, vor allem, wenn diese Person jemand ist, auf den man seine Hoffnung setzt, als wäre er aus besserem Stoff als die übrigen. Daher habe ich die schlimmste Eventualität nur mit GOD erörtert, und hier sind die Aufzeichnungen dieser Diskussion.“

Einer Schachtel, die innen ausgeschlagen war wie ein Futteral für Edelsteine, entnahm er einige Speicherkristalle und steckte eines in den Schlitz des Reproduktors. Seine Stimme begann den Dialog.

„Wie läßt sich Verbindung mit der Quinta aufnehmen, wenn es dort Blöcke gibt, die seit Jahren im Kampf miteinander stehen?“

„Gib die Grenzen der Entscheidungsspanne an. Ohne Ausgangscharakteristik ist eine strategische Durchrechnung nicht möglich.“


„Setze erst zwei, dann drei Gegner mit annähernd gleichen Kriegspotentialen voraus, als Höchstgrenze die Vernichtung aller im Falle der heißen Eskalation.“

„Die Daten sind immer noch nicht ausreichend.“

„Gib eine Minimax-Einschätzung in nichtnumerischer Näherung.“

„Es ist auch in Näherungswerten nicht bestimmbar.“

„Gib mir trotzdem ein stochastisch gültiges Alternativenbündel.“

„Das erfordert zusätzliche Voraussetzungen, sonst wird es willkürlich und ohne Beweiskraft sein.“

„Das weiß ich. Fang an!“

„An die zwei Antagonisten auf den gegenüberliegenden Kontinenten zwei Sender schicken. Im Infrarotfenster der Atmosphäre, in scharfer, punktgerichteter Kollimation. Gegen Radar getarnt, mit selbsttätiger Ausrichtung auf die planetaren Radiostationen. Diese Taktik nimmt als selbstverständlich an, was bereits zweifelhaft ist. Bereits im ersten Satz. Die Antagonisten können sich in dem von ihnen beherrschten Territorium sowohl horizontal als auch vertikal überschneiden.“

„Auf welche Weise?“

„Zum Beispiel wenn sie in die atomare Phase eingetreten sind und jeder durch Abschreckungstaktiken, durch die Androhung von Angriff oder Revanche die Bevölkerung des Gegners zu Geiseln gemacht hat, worauf man die Mittel von Schlag und Gegenschlag verfestigt hat und nach der Saturation unter die Erde gegangen ist. Die Territorien können unterirdische, tiefgebohrte und schichtenweise verstärkte Etagen sein. Das gleiche kann oberhalb der Atmosphäre vor sich gehen.“

„Wird durch eine solche Expansion der Kontakt vereitelt?“

„Bei der vorgeschlagenen Taktik wird er vereitelt, weil er bei einer solchen Verteilung keine separaten Adressaten hat.“

„Nimm an, daß es keine sich gegenseitig untergrabenden Ansiedlungen gibt.“

Wo soll die Grenze zwischen den Gegnern gezogen werden?“

„Den Meridian entlang mitten durch den Ozean.“

„Das ist das einfachste, aber vollkommen willkürlich.“

„Mach los!“

„Ich gehorche. Ich setze voraus, daß Sonden entsandt, Signale emittiert und diese Botschaften empfangen werden. Die anderen erhalten die übermittelten Codes und benutzen sie. Bei dieser Voraussetzung erhalte ich auf dem Minimax eine Gabel. Beiden Seiten sollte entweder das aufrichtige Postulat eines Kontakts mit Neutralitätsgarantie oder das unaufrichtige Postulat des Kontakts mit Ausschließlichkeitsgarantie übermittelt werden.“

„Also jede Seite wissen lassen, daß wir uns auch an die andere wenden, oder aber versichern, daß wir nur sie zum Kontakt auffordern?“

„Ja.“

„Gib die Risikobelastung dieser Gabel.“

„Aufrichtigkeit bietet bessere Chancen bei Fehladressierung und schlechtere Chancen bei Fehladressierung. Unaufrichtigkeit bietet größere Chancen bei richtiger Adressierung und geringere Chancen bei richtiger Adressierung.“

„Das ist aber doch der reine Widerspruch.“

„Ja. Der Spielraum läßt sich nicht durch Minimax quantifizieren.“

„Zeig die Ursache dieses Widerspruchs.“

„Der Block, der der Ausschließlichkeit des Kontakts mit uns versichert wird, neigt zu einer positiven Reaktion, sofern er diese Ausschließlichkeit außerhalb unserer Botschaft selbst nachprüfen kann. Gelangt er hingegen zu der Auffassung, daß der andere Block unsere Botschaft abgefangen hat, oder erkennt er — was noch schlimmer ist — die Zwiegesichtigkeit unseres Spiels, so fallen die Chancen eines Übereinkommens auf Null. Es kann sogar zu einer negativen Wahrscheinlichkeit des Kontakts kommen.“

„Zu einer negativen?“

„Eine Absage wäre Null, einen negativen Wert gebe ich Antworten, die uns desinformieren.“

„Die Errichtung einer Falle?“

„Das ist durchaus möglich. Hier verzweigt sich die Gabel in die Fakultät. Eine Falle kann gestellt werden von nur einer Seite, von beiden unabhängig voneinander oder in zeitlich begrenztem Zusammenwirken., nachdem sie zu der Ansicht gelangt sind, daß sie sich durch dieses zeitweilige Kooperationsbündnis, mit dem sie uns vernichten oder von dem Kontakt abschrecken wollen, einem geringeren Risiko aussetzen, als wenn sie anfangen, sich um die Ausschließlichkeit des Kontakts mit dem HERMES zu bemühen.“

„Was aber ist mit dem Einverständnis zum parallel erfolgenden separaten Kontakt?“

„Bei dieser Variante liegt gleich an der Wurzel ein Widerspruch. Um diese Parallelität zu erreichen, muß der Absender den Adressaten eine glaubwürdige Garantie seiner Neutralität geben. Du mußt also dein Wort geben, daß du dein Wort hältst. Ein Satz, der sich selbst rückkoppelt, kann sich nicht selbst bestätigen. Das ist eine typische Antinomie.“

„Woher nimmst du den Maßstab zur Gewichtung der dezisiven Verzweigungen?“

„Aus deiner Voraussetzung, daß es auf dem Planeten nur zwei Spieler gibt, die sich gegenseitig in Schach halten, sowie daraus, daß sie der Minimax-Regel folgen. Preis des Spiels ist für sie die Bewahrung des Status quo ante fttit, für uns aber der Kontakt durch Überwindung des Stillstands.“

„Genauer!“

„Es ist trivial. Ich setze zwei Imperien voraus — A und B. Die optimale Variante der Gabel ist für uns, daß beide Adressaten mit uns in Kontakt treten und jeder sich im Besitz des Monopols wähnt. Ist auch nur einer sich des Privilegs der Ausschließlichkeit nicht sicher, so sieht er damit das Monopol als zweifelhaft an. Nach den Regeln des Minimax wird er dem anderen den Abschluß einer Koalition gegen uns anbieten weil er nicht die Chancen des Eintritts in eine Koalition mit uns kennt. Das ist ganz klar. In Kenntnis ihrer eigenen Geschichte kennen sie auch die Regeln ihrer Konflikte, während die uns eigenen Konfliktregeln für sie eine Unbekannte sind. Wenn wir einer beliebigen Seite das Angebot eines Bündnisses machen, wird es unglaubwürdig sein. Primo: Das Angebot einer Allianz ist absurd, wenn wir es an beide Gegenspieler richten. Secundo: Stellen wir uns auf eine der Seiten, so unterstützen wir sie. Damit antagonisieren wir aber die Gegenseite und gewinnen selber gar nichts weiter, als daß wir in den Kampf hineingezogen werden. Eine solche Strategie des Kontakts kann nur eine Zivilisation wählen, die aus Idioten besteht, Das ist sogar metagalaktisch wenig wahrscheinlich.“

„Ja. Sie können sich zeitweilig gegen uns verbünden. Was für ein Spiel gibt es dann?“

„Ein Spiel mit unbestimmbaren Regeln. Diese werden sich dem Ablauf gemäß herausbilden und verändern. Deshalb weiß man nicht, ob die Funktion des Gewinns positive Werte enthält. Das Spiel dürfte eher eine Nullsumme haben, da keiner der Spieler, uns eingeschlossen, einen Gewinn erzielt. Alle erleiden einen Verlust.“

„Das Risiko läßt sich nicht auf Null bringen, aber wo liegt das Minimum?“

„Ich habe keine ausreichenden Daten.“

„Dann mach es ohne sie.“

„Die Entladung von Frustrationen infolge unlösbarer Aufgaben liegt nicht im Bereich meiner Rechenkapazität. Verlange nichts Unmögliches, Kommandant. Der Baum der Heuräsie ist nicht Gottes Baum der Erkenntnis.“ In der Stille, die nach GODs letzten Worten eingetreten war, legte Steergard ein weiteres Kristall in den Reproduktor und erklärte, dies sei ein Ausschnitt aus dem Dialog, den er unmittelbar nach dem Lunoklasmus mit GOD geführt habe. Wieder tönte die Stimme der Maschine, „Zuvor war das Risiko nur unberechenbar. Jetzt hat es die Stärke einer transfinalen, also überabzählbaren Menge gewonnen. Nach dem Minimax bleibt nur der Rückzug „

„Kann man sie zur Kapitulation zwingen?“

„Theoretisch ja, zum Beispiel durch die fortschreitende Beseitigung ihrer dem Krieg dienenden Technosphäre.“

„Durch die Destruktion sämtlicher Kampfmittel im gesamten Raum der Zeta?“

„Ja.“

„Wie stehen die Chancen des Kontakts bei solch einer Operation?“

„Minimal bei optimistischsten Voraussetzungen: daß unsere siderale Leistungsaufnahme störungsfrei verläuft; daß die Quintaner tatenlos zuschauen, während wir eine Haut nach der anderen von ihrer automachischen Zwiebel im All schälen; daß sie, all dieser Schalen beraubt, ihre Rüstung stagnieren lassen. In den Kategorien der Spieltheorie wäre das ein Wunder, etwa wie bei jemandem, der einen Hauptgewinn in der Lotterie macht, obwohl er gar kein Los gekauft, gar keine Zahlen gesetzt hat.“

„Stelle die Varianten dar, wie man die Technosphäre ohne Wunder entwaffnen kann.“

„Die Kurve wird mindestens zwei Antiklinalen aufweisen. Entweder leisten sie offensiven oder defensiven Widerstand, oder die pazifikatorische Destruktion der kalten Sphäromachie facht den ständig schwelenden Konflikt auf dem Planeten an und wir stoßen sie damit in den totalen Krieg.“

„Läßt sich die kosmische Automachie teilweise vernichten, ohne daß das Kräftegleichgewicht auf dem Planeten gestört wird?“

„Ja. Zu diesem Zweck müssen die Orbitalen Kampfmittel in ihrer Zugehörigkeit erkannt und vernichtet werden, das heißt, das kosmische Militärpotential aller Gegenspieler ist im gleichen Maße zu reduzieren, damit das dynamische Gleichgewicht der Kräfte der Gegner nicht angetastet wird. Das setzt zwei Bedingungen voraus: Wir müssen die Reichweite erkennen, in der sie ihre Waffen im Kosmos beherrschen, den Radius also, in dem ihre Führung effektiv ist, und wir müssen die Kampfsysteme zunächst außerhalb dieser Reichweite identifizieren, um sie zu vernichten, nach Zerstörung des automachischen Bereichs diese Zivilisation aber ihres Besitzstandes innerhalb der von ihr noch beherrschten Sphäre berauben. In abstracto ist es möglich, sie sozusagen nackt auszuziehen.

Wenn wir jedoch Fehler bei der Identifizierung dessen machen, wer in der inneren Sphäre, im Bereich der operativen Einflußnahme über welche Mittel verfügt, so entfachen wir einen Konflikt auf dem Planeten, da wir die eine Seite zugunsten der anderen schwächen. Damit stoßen wir die Antagonisten aus dem labilen Gleichgewicht des Wettrüstens m den totalen Krieg. Kommandant, du entfernst dich und mich von der Wirklichkeit. Du suchst doch den Erfolg?“

„Selbstverständlich.“

„Worin soll dein Erfolg bestehen? In dem Kontakt? In dieser Modellform ist ein solcher Erfolgsbegriff aber nicht bestimmbar! Er hängt nicht nur davon ab, ob der HERMES außer mit der Sphäromachie auch mit der ganzen Produktion von Kampfmitteln fertig wird, die unablässig in den Kosmos befördert werden. Wir werden einen indirekten Kampf führen, indem wir nicht die Quintaner, sondern deren Waffen bekämpfen. Woher nehmen wir die Gewißheit, daß sie beim Einsatz neuer Techniken nicht die Quellen beherrschen lernen, die uns nähren — die sideralen?“

„Geh davon aus, daß sie es nicht schaffen.“

„Ich gehorche. Neben den Faktoren, die — als wirre technologische Mengen Minimax-Entscheidungen zulassend und also logisch der Optimierungsrechnung folgend — nachprüfbar sind, entscheiden über die Reaktion der Quintaner auch irrationale Faktoren, von denen wir nichts wissen. Wir wissen jedoch, welches Gewicht gerade solche Faktoren in der Geschichte der Erde hatten.“ Hier brach die Aufzeichnung ab. Nach kurzem Schweigen hörten die Versammelten den nächsten Dialog zwischen Steergard und der Maschine.

„Hast du eine Simulation der Gesellschaftsstrukturen vorgenommen?“

„Ja.“

„In allen vorgegebenen Varianten dieser Strukturen und ihrer Konflikte?“

„Ja.“

„Wie groß ist der Koeffizient, der sich aus der Differenz dieser Strukturen für unser Spiel um eine Verständigung ergibt? Nenne das Intervall der statistischen Wägbarkeit oder die modale Distribution des Einflusses, den die Differenzen auf die Chancen des Kontakts nehmen.“

„Der Koeffizient ist gleich Eins.“

„Für alle Simulate?“

„Ja.“

„Das heißt, daß die gesellschaftlichen Unterschiede der Antagonisten keinerlei Rolle spielen?“

„Ja. Die durch den dauerhaften Konflikt angetriebene technomachische Evolution wird zu einer vom Gesellschaftstyp unabhängigen Variablen, denn sie wird nicht von gesellschaftlichen Strukturen, sondern von der Struktur des Konflikts geformt. Fassen wir es genauer: In den frühen Phasen des Konflikts prägen die gesellschaftlichen Unterschiede die Taktiken der psychologischen Propaganda, der Diplomatie, der Spionage und des Rüstungswettlaufs. Die Einteilung des Staatshaushalts in militärische und außermilitärische Posten ist Funktion des Fundus von Argumenten, deren Werte von der gesellschaftlichen Struktur abhängig sind. Das zunehmende Streben nach Vorherrschaft im Konflikt nivelliert die Unterschiede im Fundus der Argumente und macht damit die Strategien der Gegenspieler einander ähnlich. Es entsteht ein Spiegeleffekt. Man kann einen Spiegel nicht dahin bringen, ausschließlich lockere, ungezwungene Haltungen zu reflektieren, alle anderen aber zu verschlucken. Ist die Höchstgrenze der Effektivität einer Abrüstung überschritten, beseitigt der weitere Wettstreit um die Vorherrschaft jede Abhängigkeit der Strategien der Gegenspieler von deren gesellschaftlichen Unterschieden. Diese Abhängigkeit ist dem Einfluß der menschlichen Muskelkraft auf die Zündung einer ballistischen Rakete zu vergleichen. Im Paläolithikum, im Höhlenzeitalter oder im Mittelalter war der muskulösere Gegner dem schwächer gebauten überlegen. Im Atomzeitalter kann eine Rakete von jedem Kind abgefeuert werden, sofern dieses nur aufs rechte Knöpfchen drückt. Die Quintaner sind also nicht mehr Herren der von ihnen gewählten Strategie, im Gegenteil, sie werden von der Strategie beherrscht, die sich alle gesellschaftlichen Unterschiede, auf die sie traf, so unterworfen hat, daß sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Wäre es nicht dazu gekommen, so hätte der Konflikt mit dem Sieg einer der Seiten geendet. Die Aktivität der Sphäromachie spricht gegen eine solche Annahme.“

„Nenne die optimalen Spielregeln für einen Kontakt bei solch einer Diagnose.“

„Die Führungszentren des Planeten wissen, daß die Katastrophe durch das Abfangen unserer Kavitatoren verursacht worden ist. Niemand außer ihnen konnte eine solche Aktion unternehmen.“

„Soll das heißen, daß die Sphäromachie ihnen innerhalb des Radius gehorsam ist, der die Mondumlaufbahn von der Quinta trennt?“

„Nicht unbedingt. Der Operationsbereich muß keine ideale Kugelgestalt haben, seine Grenze zu dem entfremdeten Raum nicht scharf und glatt gezogen sein.“

„Ziehst du daraus Schlüsse auf die persönliche Zusammensetzung der Stäbe?“

„Ich verstehe diese Implikation. Gewisse Angehörige der Crew tragen sich mit Vorstellungen von nichtbiologischen Stäben, einem toten Planeten, auf dem nach dem Untergang der Quintaner Computer miteinander kämpfen. Das ist absurd, Computern fehlen zwar die Postulate der Autopräservation, aber sie handeln rational. Das bedeutet, daß sie sich an Minimax-Entscheidungen mit größtmöglichem Prognosevorlauf halten. Wenn die Funktion des Gewinns im Finale des Spiels die komplette Vernichtung ist, fällt der Minimax auf Null. Die Konzeption, die Computer seien übergeschnappt, verwerfe ich. Spektralanalysen und Spinogramme weisen übrigens auf das Vorhandensein lebender Wesen hin.“

„Na gut. Also?“

„In den Stäben gibt es Rechenmaschinen, aber auch Quintaner. Von den Folgen des Lunoklasmus sind sie nicht betroffen worden: In einem Konflikt von solcher Dauer und solchem Ausmaß ist nichts stärker geschützt als die Stäbe. Du weißt bereits, daß Verluste unter der Bevölkerung für die Regierenden kein Argument sind, das zur Aufnahme des Kontakts zwingt.“

„Nenne ein Argument, das unwiderleglich ist.“

„Genau darum geht es. Die Zeit ist reif, die Dinge beim Namen zu nennen. Mittelbarer Druck genügt nicht mehr, Kommandant. Du mußt direkt agieren.“

„Den Stäben den Kampf ansagen?“

„Ja.“

„Mit einem massierten Schlag?“

„Ja.“

„Interessant. Du hältst die Austilgung vernunftbegabter Geschöpfe, die sich vernunftwidrig verhalten, für das beste Mittel, zu ihnen Kontakt aufzunehmen?

Sollen wir auf dem Planeten als Archäologen einer von uns ausgerotteten Zivilisation landen?“

„Nein. Du mußt dem Planeten selbst einen sideralen Schlag androhen. Sie haben gesehen, wie ihr Mond in Stücke ging.“

„Aber das wird doch nur ein Bluff. Wenn wir die Forderung nach dem Kontakt erneuern, können wir nicht die potentiellen Partner vernichten. Man braucht nicht besonders scharfsinnig zu sein, um das zu durchschauen. Sie werden alles für eine leere Drohung halten — mit Recht!“

„Es braucht keine völlig leere Drohung zu sein.“

„Den Eisring angreifen?“

„Kommandant, warum führst du, statt dich schlafen zu legen, nächtelange Gespräche mit einer Maschine, wenn du selber weißt, was zu tun ist?“

Der Reproduktor schwieg. Steergard steckte ein neues Kristall in den Schlitz.

„Nur noch ein wenig Geduld“, bat er. „Das ist schon das letzte Gespräch.“

Das Kontrollämpchen leuchtete blau, wieder ließ GOD sich vernehmen.

„Ich habe eine gute Nachricht für dich, Kommandant. Ich habe die Stabilität der Sphäromachie untersucht und bis an die Grenze der Prognosezuverlässigkeit in die Zukunft extrapoliert. Ungeachtet der Zahl der Gegner und des Diameters, den der Kampfraum erreicht, wird diese Zivilisation zugrunde gehen. Das einfachste Modell dafür ist ein Kartenhaus. Man kann es nicht beliebig hoch bauen, es wird irgendwann zusammenfallen — das ist so selbstverständlich, daß man dazu keine Berechnungen braucht.“

„Ein Kartenhaus? Und konkreter?“

„Die Holenbach-Theorie. Bei der Zunahme des Wissensstandes gibt es keine Personen, die unersetzbar wären. Hätte es Planck, Fermi, Lise Meitner, Einstein und Bohr nicht gegeben, so wären die Entdeckungen, die zum Bau der Atombombe führten, von anderen gemacht worden. Das von den Amerikanern errungene Monopol währte nur kurz und wurde gekontert. Mit Nukleargeschossen können sich die Gegner Jahrzehnte in Schach halten, sich an Zielgenauigkeit und Zerstörungskraft zu überbieten suchen. Die Siderologie bietet diese Chancen nicht. Zur Erkenntnis der nuklearen Reaktionen, der kritischen Masse und des Bethe-Zyklus geht es über eine Reihe von Schritten, die Sideraltechnologie hingegen wird auf einen Schlag erworben: Vor der Entdeckung des Holenbach-Intervalls weiß man nichts, hinterher aber alles! Solange die Rüstung umkehrbar, zwischen Krieg und Frieden die Verhandlung möglich ist, kann derjenige, der den nuklearen Trumpf entdeckt hat, sich dessen als höchster Farbe bedienen, aber er braucht sie nicht auszuspielen.

Wer in der Phase der kosmischen Sphäromachie als erster die Siderologie entdeckt, setzt sie unverzüglich ein. Der Grund: Der Raum der Kriegsspiele, potentiell symmetrisch für konventionelle und atomare Bewaffnung, verliert mit dem Eintritt des sideralen Faktors die Zone seiner Stabilität. Auf dem Planeten kann man die Siderologie nicht als Druckmittel einsetzen. Die nichtexplosiven thermonuklearen Reaktionen haben sich wegen thermischer Plasmalecks und ungenügender Stabilität der sie bündelnden Felder lange Zeit der Kontrolle entzogen, jahrzehntelang galten alle Bemühungen um Erfolg als aussichtslos. Die Schwierigkeiten bei der Beherrschung der Gravitation sind ähnlich, allerdings in astronomischem Maßstab. Man kann nicht klein anfangen, erst aus der Uranpechblende das Isotop der Wertigkeit 235 heraussortieren, dann eine Kettenreaktion in überkritischer Masse in Gang setzen, Plutonium herstellen und damit den Zünder für die Hydrotrithbomben bekommen. Als Testplatz braucht man einen ganzen Himmelskörper. Der Phase der Siderologie geht die der Teratronaanma-lonen voraus. Darum habe ich mich gewundert, daß die Physiker sich darüber wunderten, was GABRIEL getan hat. Hätten die Quintaner ihn erwischt, wären sie bei seiner Demontage auf die Fährte Holenbachs gestoßen. GABRIEL sollte sich durch Teratron einschmelzen. Ich merke an, daß ich vorgeschlagen habe, ihm eine autodestruktive Ladung einzubauen.“

„Warum hast du das nicht genauer erklärt?“

„Ich bin nicht allwissend. Ich arbeite mit den Daten, die ich von euch bekomme. Deine Physiker, Kommandant, haben es für unmöglich gehalten, daß GABRIEL abgefangen wird, weil kein Objekt der Sphäromachie auch nur ein Zehntel seiner Antriebskraft aufgebracht hätte.

Ich hatte Einwände, aber keine Beweise. Deine Physiker haben jene Unmöglichkeit aus der Luft gegriffen. Andererseits ist schwer zu sagen, ob es gut oder schlecht war, daß mein entfernter Verwandter, der in diesem GABRIEL steckte, diese Reaktionsschnelligkeit und diesen Einfallsreichtum entwickelt hat. Hätte er sich m den Sack stecken lassen, wäre keine Rede mehr gewesen von irgendeinem Kontakt, sondern nur noch von der Wahl zwischen Rückzug und sideralem Schlagabtausch, bei dem die Quinta dann ein uns ebenbürtiger Spieler gewesen wäre. Selbst wenn man einen sideralen Schlag gegen den HERMES ausschließt, hätten wir doch mit voller Kraft die Flucht durch den Schutt der zusammenbrechenden Sphäromachie anzutreten gehabt. Das, was sie in fünfzig oder hundert Jahren ohnehin zum Einsturz gebracht hätte, wäre sofort in Gang gekommen. Der Machtblock, der durch GABRIEL die siderologische Aufklärung erfahren hätte, wäre jedem Gegner zuvorgekommen, hätte nicht abgewartet, bis ihm jemand ebenbürtig wäre, sondern sofort zugeschlagen.“

„Das ist Spekulation.“

„Gewiß. Aber sie ist nicht aus der Luft gegriffen. Ich vermute, daß jemand willens war, den Mond als Testplatz in Besitz zu nehmen. Er wußte noch nicht, daß kein Plasmotron die Energie zu liefern vermag, die das Holenbach-Intervall aufschließt. Wer immer denjenigen vom Mond vertrieb, hatte seinerseits nicht die Kräfte, sich dort festzusetzen. Dem König war Schach geboten worden, aber dieser König war ein halbwüchsiger Infant. Der andere Machtblock bot ebenfalls Schach.

Ich weiß nicht, welcher Figur, jedenfalls einer solchen, durch die ein Patt entstand — auf dem Mond. Sonst ging das Spiel weiter.“

„Warum hast du das nicht früher in dieser Weise dargestellt?“

„Da du meine Ausführungen jetzt als Spekulation bezeichnet hast, hättest du sie vor dem Lunoklasmus als Hirngespinst abgetan. Wünschst du zu hören, in welcher Fassung ich die Geschichte der Quinta berichten würde?“

„Berichte!“

„Der Schlüssel zum kritischen Kapitel dieser Geschichte ist der Eisring. Bei voll beschleunigter Industrialisierung trug der Planet viele Staaten, allen voran eine starke Gruppe, die zusammenarbeitete und allen anderen weit voraus war. Es kam zur Eroberung des Weltraums und zur Nutzung der Kernenergie, gleichzeitig aber auch zu einer demographischen Explosion in den Staaten, die industriell schwächer waren und nur durch den Bevölkerungszuwachs zu den stärkeren gehörten. Die führenden Staaten entschlossen sich zu einer Vergrößerung des Siedlungsraums durch die Absenkung des Meeresspiegels. Die einzige Lösung war die Verbringung der Wassermassen in den Raum oberhalb der Atmosphäre. Die dazu verwendete Technik ist mir nicht bekannt, ich kenne nur solche, die nicht ausreichen würden. Diese Hunderte Kubikmeilen Wasser sind weder durch Raumschiffe noch direkt durch ein Pumpen- und Röhrensystem bewältigt worden. Ersteres hätte eine unaufbietbare Masse von Treibstoff und Transportgeräte erfordert, letzteres ist nicht realisierbar, denn ehe die aufwärts schießenden Wassermassen — keine Wasserfalle, sondern Wasserstiege — die erste kosmische Geschwindigkeit erreichen, verdampfen sie durch die atmosphärische Reibung und kehren in eben — diese Atmosphäre zurück.

Dennoch gibt es etliche realisierbare Methoden, von denen ich nur eine nenne: In die Atmosphäre werden Kanäle nach Art der elektrischen Entladungen bei Gewitter geschlagen, und mit jedem Blitz, der vom Meeresufer auf synergetischer Bahn in die Thermosphäre schießt, wird Wasserdampf mitgerissen. Das ist sehr vereinfacht dargestellt. Man kann in der Atmosphäre eine Art elektromagnetisches Geschütz schaffen, das natürlich keinen Lauf hat, sondern aus Tunneln zentrifugal verlaufender Impulse besteht, die dem ionisierten Wasserdampf den Auftrieb geben. Dem Wasser können nichtthermische Dipoleigenschaften verliehen werden.

Auf der Erde hat sich ein gewisser Rahman mit solcher Hydrotechnologie befaßt.

Er wies nach, daß Wasser nur bis zur ersten kosmischen Geschwindigkeit beschleunigt werden kann, wodurch sich rings um den Planeten ein Eisring bildet.

Dieser jedoch, so Rahman, sei nicht stabil, er müsse — bereits im All befindlich — beschleunigt werden, damit er zur Zentrifuge werde und in einem Zeitraum von zwei- bis vierhundert Jahren mit der zweiten kosmischen Geschwindigkeit zergehe.

Andernfalls — bei einem Rückgang der Akzeleration im Vakuum oder bei Einstellung der Arbeiten- werde durch die Reibung mit den obersten Gasen der Atmosphäre mehr Wasser auf den Planeten zurückfallen, als zur gleichen Zeit in den Kosmos befördert werden kann. Lassen wir Einzelheiten jetzt beiseite, es ist genug, daß bereits von der EURY-DIKE aus Veränderungen des Eisrings festgestellt wurden: ein allmählicher Schwund auf der dem Planeten zugewandten Seite und eine Abflachung und damit Erweiterung des äußeren Umfangs.

Das konnte für niemanden auf dem Planeten von Vorteil sein. Das zurückkehrende Wasser bringt mehr als nur Wolkenbrüche: Es bringt Regenzeiten im Tropengürtel, mit wechselnder, jahreszeitbedingter Konzentration des Niederschlagsmaximums — die Achse des Planeten weist gegenüber der Ekliptik eine ähnliche Neigung auf wie die der Erde. Das jährliche Mittel der Temperatur ging um zwei Grad Kelvin zurück: Der Eisschild hüllt die Tagesseite des Planeten in Schatten und reflektiert das Sonnenlicht. Eine technische Havarie, wie sie ja immer möglich ist, wäre nach einiger Zeit behoben worden. Indessen gibt es nichts, was auch nur auf die Spur einer Reparatur hindeutete. Ein Versagen der planetaren Technologie kann also nicht die Ursache dafür sein, daß die Arbeiten eingestellt wurden. Diese Ursache ist anderswo zu suchen: in der politischen Zerstrittenheit dieser Zivilisation. Über die Ausgangsbedingungen wissen wir eines: Sie begünstigten das Projekt, das nicht anders realisiert werden konnte als in einer globalen Vereinigung der Kräfte, die sich nachher lockerte und löste.

Die Epoche der Zusammenarbeit zumindest im technologischen Bereich hat etwa ein Jahrhundert gedauert. Abweichungen in der Größenordnung von ein bis zwei Jahrzehnten sind für die kritische Phase unwesentlich. Was hat die Abkehr von dem gemeinsamen Weg verursacht? Lokale Kriege? Wirtschaftskrisen? Das ist zu bezweifeln. Ein Ablauf politischer Angelegenheiten, der nicht zu rekonstruieren ist, wenn man ihn vom vorgefundenen Zustand aus zurückverfolgt, läßt sich nur in dem Modell der sogenannten Markow-Kette erfassen. Es ist ein stochastischer, schrittweiser Prozeß, der die eigenen Spuren verwischt. Aus dem, was kosmische Ankömmlinge im 20. Jahrhundert auf der Erde vorgefunden hätten, würden sie, falls sie keine Chronik zu Rate gezogen hätten, in keiner Weise zu einer Retropolation der Kreuzzüge gelangt sein.

Ich fülle diesen weißen Fleck mit folgender Eventualität aus: Der Zuwachs war bei den führenden Mächten ungleichmäßig. Der Keim des Antagonismus lag schon in der Zusammenarbeit. Die bewaffnete Vorherrschaft einer Hauptmacht auf dem Planeten war unmöglich. Die Schwächeren waren an dem globalen Projekt beteiligt, bis die Kooperation von einer wirklichen zu einer illusionären wurde. Der Antagonismus trat offen zutage, nicht unbedingt direkt, auch nicht durch eine Aggression. Vielleicht gab es mehr Machtblöcke, drei oder vier, aber für das ergodische Minimum genügen zwei, die sich gegenüberstehen. Ein Rüstungswettlauf begann. Er verursachte zunächst die Einstellung der Arbeiten, die eine Dissipation des Eisrings im Weltraum zum Ziel hatten. Die dafür vorgesehenen Mittel und Kapazitäten wurden m die Rüstung gesteckt. Gleichzeitig machte es sich für die Supermacht, die bisher den Hauptbeitrag für das Projekt geleistet hatte, nicht mehr bezahlt, den Eisring so zu zerlegen, daß sein Zusammenbruch niemandem, keinem Kontinent Schaden tat: Aus dem positiven Fortgang der Arbeit hätte ja auch der Gegner Nutzen gezogen. Analog dachte und handelte ebendieser Gegner. Seither rührte keine der Seiten mehr an den Ring, obgleich dieser in Eislawinen auf den Planeten niederbrach. Man wurde damit nicht fertig, weil man so in die Rüstungsspirale gespannt war. Die weitere Eskalation trug diesen Wettlauf in den Weltraum.

So können Prolog und erster Akt ausgesehen haben. Wir sind mitten im darauffolgenden erschienen — und ohne es zu ahnen, kopfüber mitten in eine vielschichtige Spharomachie gesprungen, in deren Zentrum eine harmlose Sonne scheint.“

„Ich wiederhole meine Frage: Warum hast du diese Rückschau nicht früher angestellt? Du hattest oft genug Gelegenheit dazu.“

„An Bord sind vielfältige Versionen dessen in Umlauf, was ich hier gesagt habe.

Sie werden privat oder nicht privat vorgebracht. Keine läßt sich beweisen. Die Grenzen der Phantasie sind viel weiter gesteckt als die der Begründung von Theorien. Die einzelnen Bruchstücke des Rätsels sind als Daten allmählich zusammengekommen. Solange es nicht viele waren, konnte man aus ihnen eine Unmenge von Puzzles bauen, indem man die weißen Flecken und die Lücken mit unbegründeten Spekulationen füllte. Ich bin eine kombinatorische Maschine. Wenn ich alle von mir durchgenommenen Varianten der Kombinatorik auf euch losließe, müßtet ihr wochenlangen Vorträgen zuhören, die vollgepfropft wären mit Vorbehalten Ungewisser Glaubwürdigkeit. Außerdem erhielt ich Anweisungen, die deinen Befehlen widersprachen. Doktor Rotmont verlangte die Spino-skopie der Quinta. Ich habe ihm erklärt, daß sich eine solche Durchleuchtung mit der gesamten verfügbaren Leistung der Bordaggregate nicht verbergen läßt und sich damit die Chancen des Kontakts verringern. Da er darauf beharrte, entsandte ich leichte Spinoskope, die sich tarnen ließen. Du weißt darüber Bescheid, Kommandant. Rotmont hoffte etwas zu entdecken, was auf diese Weise nicht zu entdecken ist. Er hat nichts gewonnen, aber nicht ich habe ihn um seine Hoffnungen betrogen. Ich habe seinen Wunsch erfüllt, weil das keinen Schaden bringen konnte. Hypothesen, die nicht als Sprungbrett für reale Handlungen benutzt werden, können falsch, brauchen aber nicht verderblich zu sein.“ Das blaue Lämpchen erlosch. Nakamura und die Piloten saßen zwar mit am Tisch, genauso in die Sessel vergraben wie Steergard und Arago, schienen aber lediglich Zeugen zu sein, die sich in die ablaufende Szene nicht einmischen durften. Es war gerade so, als gälten sie nichts bei dieser Zusammenkunft.

„Das war die Erklärung“, sagte Steergard. „Hochwürden haben einmal bemerkt, die Angelegenheit liege in guten Händen. Ich habe mir eine Antwort nicht deswegen versagt, weil dem Gepriesenen Schweigen geboten ist, sondern weil ich wußte, wie sehr die Begriffe von Gut und Böse uns voneinander scheiden. Die Wahl des nächsten Schrittes ist von mir bereits getroffen. Keiner von uns hat Einfluß darauf, was geschehen wird. Auch ich nicht. Ich möchte keinem der Anwesenden zu nahe treten, aber die Zeit rücksichtslosen Handelns ist auch eine Zeit rücksichtsloser Offenheit. Unser Zweiter Pilot hat eine Dummheit gesagt. Wir sind nicht hergekommen, um jemanden zu fordern, und wir lassen uns nicht auf das Duell ein, um die Ehre der Erde zu verteidigen. Wäre es so, dann hätte ich die Leitung dieses Aufklärungsunternehmens nicht übernommen. Der Mensch kann nur wenig erfassen und im Bewußtsein behalten. Deshalb löst sich in seinem Vorstellungsvermögen ein großes Unternehmen in Teile auf. Deshalb können die Mittel so schnell das Ziel verdunkeln und selber zum Ziel werden. Als ich das Kommando übernahm, verlangte ich zuerst Zeit zur Besinnung, um mich zurückzuziehen und die gigantische Menge tausendfältiger Mühsal von CETI und SETI zu erfassen. Millionen Arbeitsstunden, die Arbeit der Raumschiffbauer, die Flüge zum Titan, Beratungen in den Hauptstädten auf der Erde, die in den Banken angehäuften Fonds, alles als Ausdruck einer Hoffnung, die keine billige Sensation für Boulevardblätter war, Gremien, die eine Unmenge Varianten des Kontakts durchspielten, um eine verläßliche, optimale, zum Ziel führende zu finden. Ich habe darüber nachgedacht, um mir bewußt zu werden, daß ich — gleichgültig, ob auf der EURYDIKE oder dem HERMES — ein winziges Wesen in einem menschlichen Termitenbau bin, der sich in den unermeßlichen Weiten des Universums verloren hat, und daß ich damit eine Aufgabe übernehme, die über meine Kräfte, über die Kräfte wohl eines jeden Menschen geht. Sich zu verweigern wäre leichter gewesen. Als ich einwilligte, wußte ich nicht, was uns erwartete.

Ich wußte nur, daß ich meine Pflicht so tun würde, wie es die Notwendigkeit erheischt. Neuerliche Beratungen würde ich nicht einberufen, um unsere Aktionen zu perfektionieren, sondern um die Last loszuwerden, die auf mir ruht: die Verantwortung wenigstens teilweise den anderen aufladen. Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß ich dazu nicht das Recht habe. Daher habe ich die Entscheidung allein getroffen. Niemand kann mehr beeinflussen, was geschehen wird, aber jeder hat weiterhin das Recht auf Meinung und Stimme. Vor allem Sie, Hochwürden.“

„Sie wollen diesen Ring zertrümmern?“

„Ja. Die Apparatur wird in der Heckhalle bereits montiert.“

„Die Zertrümmerung wird den Ring von dem Planeten wegschleudern?“

„Nein. Trillionen Tonnen werden auf den Planeten stürzen. Die Trümmer werden zu groß sein, um zu schmelzen, und treffen die am stärksten gesicherten Orte.

Außerdem werden die oberen Schichten der Atmosphäre weggefegt. Dadurch geht der Druck auf Normalnull um etwa hundert Bar zurück. Das wird eine Warnung sein.“

„Es ist Mord.“

„Gewiß.“

„Zur Erzwingung des Kontakts um einen solchen Preis?“

„Nein. Der Kontakt ist inzwischen ein zweitrangiges Problem. Es wird ein Versuch sein, sie zu retten.

Sich selbst überlassen, treten sie in das Holenbach-Intervall ein. Sind Sie in die Geheimnisse der Sideristik eingeweiht, Hochwürden?“

„Nur so weit, wie ein Laie es sein kann. Astrogator, Sie gründen einen Völkermord auf eine Hypothese? Eine Hypothese, die nicht einmal von Ihnen, sondern von einer Maschine stammt?“

„Außer Hypothesen haben wir überhaupt nichts. Die Maschine aber hat mir geholfen, in der Tat. Mir ist freilich die Idiosynkrasie bekannt, die der animus in macbina in der Kirche hervorgerufen hat.“

„Ich verspüre sie nicht. Für Ihre Erklärung, Astrogator, will ich mich mit meiner Ansicht revanchieren. Der Mensch nimmt oftmals nicht wahr, was Außenstehende erkennen. GOD sprach von einer Vereinheitlichung der Methoden, mit denen sich die Gegner auf der Quinta bekämpfen. Das gilt auch für Sie.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Sie haben das bisherige Verfahren in dem Gefühl liquidiert, daß der Parlamentarismus durch Absolutismus ersetzt werden muß. Ich zweifle nicht an der Redlichkeit Ihrer Absichten. Sie wollen die gesamte Verantwortung für die weiteren Schritte ganz allein übernehmen. Damit sind Sie durch einen Spiegeleffekt den Quintanern erlegen — nämlich durch die Brutalität der getroffenen Entscheidungen. Aufschläge wollen Sie mit Schlägen antworten. Da die Stäbe sich am stärksten befestigt haben, wollen Sie sie am stärksten treffen.

Damit ordnen Sie — ich gebrauche absichtlich Ihre eigenen Worte — die bisherige Struktur der Beziehungen zwischen den Leuten an Bord des HERMES der Struktur der betriebenen Strategie unter.“

„Das war ein Ausdruck von GOD.“

„Um so schlimmer. Ich behaupte nicht, daß die Maschine Sie in Ihren Entscheidungen dominiert, ich sage nur, daß auch diese Maschine zum Spiegel geworden ist. Er vergrößert Ihre durch Frustration verursachte Aggressivität.“

Steergard zeigte zum erstenmal Überraschung, sagte aber nichts.

Der Mönch fuhr fort: „Militärische Operationen erfordern autoritäre Stäbe. Auf dem Planeten ist nichts anderes passiert. Wir jedoch sollten uns nicht in solche Aktionen einschalten.“

„Ich denke nicht an einen Krieg mit der Quinta. Das ist eine Unterstellung.“

„Es ist leider die Wahrheit. Man kann Krieg führen, ohne daß man ihn erklärt oder ihn so nennt. Wir sind nicht zum Schlagabtausch, sondern zum Austausch von Informationen hergekommen.“

„Darauf würde ich gern eingehen, aber wie?“

„Das hegt auf der Hand.

Glücklicherweise wird an Bord nicht das Prinzip des militärischen Geheimnisses geübt. Ich weiß, daß in den Hallen ein Sonnenlaser gebaut wird, der den Planeten treffen soll.“

„Nicht den Planeten direkt. Den Eisring.“

„Und die Atmosphäre, die der lebensspendende Teil des Planeten ist! Ein solarischer Laser- die Physiker nennen ihn Solaser — kann statt für völkermordende Schläge zur Übermittlung von Informationen benutzt werden.“

„Wir haben Hunderte von Stunden damit zugebracht, ihnen Informationen zu übermitteln. Ergebnislos.“

„Es ist eine wahrhaft wunderliche Situation, daß ausgerechnet ich eine Möglichkeit sehe, die die Fachleute mitsamt einer supergescheiten Maschine nicht erkannt haben: Für den Empfang der von unserem Satelliten, dem Botschafter, ausgesandten Signale waren Spezialanlagen notwendig, Antennen, Decoder und so weiter. Ich kenne mich in der Funktechnik nicht aus, kann mir aber denken, daß im Kriegsfalle, wenn ein solcher auf der Quinta eingetreten ist, sämtliche empfangsfähigen Funkanlagen unter militärische Aufsicht gestellt worden sind. Die Empfänger sind also die Generalstäbe, nicht die normalen Bewohner der Quinta. Wenn die Bevölkerung überhaupt von unserer Ankunft in Kenntnis gesetzt worden ist, dann in dem Sinne, wie Sie ihn dargestellt haben: verlogen und hinterhältig, damit wir in den Augen der Quintaner als imperialistische Invasionsflotte erscheinen, mit einem Wort, als grausame Feinde. Sie jedoch, Kommandant, werden diese Lüge mit Hilfe des Solasers zur Wahrheit machen.“

Steergard hörte voller Verwunderung zu, mehr noch, seine bisherige kategorische Selbstsicherheit schien zu bröckeln. „Das habe ich nicht bedacht.“

„Weil es zu simpel ist. Spieltheorie, Minimax, Quantisierung des Entscheidungsspielraums — zusammen mit GOD haben Sie sich auf ein so hohes Niveau geschwungen, Mensch und Maschine haben sich gegenseitig die Schwingen für einen so kühnen Flug angeheftet, daß von dort aus nicht mehr die kleinen Taschenspiegel zu sehen sind, mit denen Kinder die Sonnenstrahlen tanzen lassen.

Der Solaser kann ein solcher Spiegel für die ganze Quinta sein, er liefert ja ein Glitzern, das heller ist als der Sonnenschein. Jeder, der nur den Kopf hebt, wird es bemerken.“

„Pater Arago“, sagte Steergard und beugte sich weit über den Tisch, „selig sind die geistig Armen, denn ihrer ist das Himmelreich! Ich gebe mich geschlagen, Sie haben mir Prügel verabreicht, wie sie nicht einmal GOD von unserem Piloten bezogen hat. Wie sind Sie darauf gekommen?“ Der Dominikaner lächelte. „Als kleiner Junge habe ich mit Spiegeln gespielt. GOD indessen ist nie ein Kind gewesen.“

„Als Übermittlung einer Information ist das prima“, warf Nakamura ein. „Aber werden die Leute dort, selbst wenn sie es verstehen, auch antworten können?“

„Vor der Empfängnis war die Verkündigung“, sprach Arago. „Vielleicht vermögen sie nicht so zu antworten, daß wir es verstehen. Mögen wenigstens sie uns eindeutig verstehen.“

Tempe, der den Mönch mit unverhohlener Bewunderung angesehen hatte, konnte nicht länger an sich halten. „Das war das Heureka! Und die werden doch dort auch Spiegel haben, Spiegel werden auch in Kriegszeiten nicht eingezogen!“

Der Mönch schien das nicht gehört zu haben, er war mit einem Gedanken beschäftigt. Leise, zögernd, sagte er: „Meine Herren, ich habe eine Bitte, die Sie hoffentlich nicht beleidigt. Ich möchte dem Astrogator einige Worte unter vier Augen sagen, falls er einverstanden ist.“

„Bitte sehr. Wir haben bei Ihnen eine Schuld aufgenommen, Pater. Kollege Nakamura, bitte veranlassen Sie die entsprechenden Umstellungen, damit der Solaser auch ein Scanning der Quinta vornehmen kann. Neben den optischen wird es informatorische Fragen geben. Eine solche Signalisation setzt bei den Empfängern eine elementare Bildung voraus.“

Als der Physiker mit den Piloten gegangen war, stand Arago auf.

„Bitte verzeihen Sie mir, was ich hier zu Anfang gesagt habe, Astrogator, ich war in der Überzeugung hergekommen, Sie allein anzutreffen. Ich schätze die Idee mit den Spiegelchen nicht allzu optimistisch ein. Ich hätte sie auch auf weniger hohem Niveau anbringen können und hatte sogar die Absicht, es zu tun: als Vorschlag eines Nichtfachmanns zur Beurteilung durch die zuständigen Experten.

Eine solche Signalisation kann total mißraten oder uns gar vom Regen in die Traufe bringen. Sie ist schon von der Anlage her anthropozentrisch. Zuerst waren Sie empört und beleidigt, dann aber erleichtert.“

„Nehmen wir es an. Worauf wollen Sie hinaus?“

„Nicht auf geistlichen Zuspruch.

Wenn Sie die technische Seite dieses Versuchs erarbeiten wollen, werden Sie und die anderen auch GOD einschalten müssen.“

„Selbstverständlich. Er stellt die Berechnungen an und so weiter. Was ist denn dabei? Er baut das Programm auf und steckt die Grenzen des Möglichen ab. Sie halten ihn doch wohl nicht für den advocatus diaboli“

„Nein, nein, auch ich trete ja hier nicht als doctor angelicus auf. Muß ich Ihnen übrigens versichern, daß ich Christ bin?“

Steergard fühlte sich erneut überrumpelt bei dieser Wendung, die das Gespräch nahm. „Worauf wollen Sie hinaus?“ wiederholte er seine Frage von vorhin. „Auf die Theologie. Um Ihnen das Verständnis zu erleichtern, übersetze ich sie in einen Wortschatz, der nicht nur weltlich ist, sondern aus meinem Munde geradezu lästerlich klingen muß. Vor meinem Gewissen rechtfertige ich mich mit der beispiellosen Situation, in der wir uns befinden. Die Sprache der Physik ist Ihnen geläufiger als religionskundliche Hermeneutik. In der Übertragung auf den Begriffsapparat der Physik entspricht die Vielgestaltigkeit des Sacrums den verschiedenen Spektralbändern der Materie, die im gesamten Universum allgegenwärtig und überall dieselbe ist. Um in diesem Vergleich zu bleiben, kann man sagen, daß es neben einem Spektrum der Körper ein Spektrum der Glau-bensrichtungen gibt. Es erstreckt sich vom Animismus über Totemismus und Polytheismus bis hin zum Glauben an einen persönlichen Gott. Das irdische Band meines Glaubens enthält ihn als eine Familie, die menschlich und göttlich zugleich ist. Wissen Sie von den Auseinandersetzungen, die das SETI-Projekt in der Theologie ausgelöst hat, vor allern, seit die Suche nach den anderen diese Expedition hervorbrachte?“

„Ehrlich gesagt, nein. Meinen Sie, ich hätte davon wissen sollen?“

„Durchaus nicht. Für mich indessen war es eine Pflicht. Die Meinungen in meiner Kirche gingen weit auseinander. Die einen behaupteten, die Verdorbenheit der Natur der Geschöpfe könne universell sein und eine solche Universalität sehe weit über den irdischen Begriff „katholikos“ hinaus. Es seien Welten möglich, in denen es nicht zum Opfer der Erlösung gekommen sei und die deshalb der Verdammnis preisgegeben seien. Andere waren der Ansicht, die Erlösung — als durch Gnade verliehene Wahl zwischen Gut und Böse — sei überall aufgetreten.

Dieser Streit schuf der Kirche Gefahr. Organisatoren und Teilnehmer der Expedition waren mit ihrer Arbeit beschäftigt und daher unbeeindruckt von den Sensationen, die die Auflagen der Zeitungen in die Höhe schnellen ließen.

Verbrechen und Sex hatten sich abgenutzt, die Expedition der EURYDIKE aber warf als Nebenprodukt neuen Stoff ab. Als Spielereien, originell und belustigend dadurch, daß das credo quia absurdum einen Faktor gewonnen hatte, der es recht wirkungsvoll kompromittierte. Als Vision ungezählter Planeten mit einer Menge von Äpfeln des Paradieses dort, wo keine Apfelbäume wuchsen, von Oliven, die auch Gottes Sohn nicht verfluchen würde, weil dort keine Olivenbäume wuchsen, von Divisionen Pilatussen, die ihre Hände in Milliarden Schüsseln in Unschuld wuschen, Wäldern von Gekreuzigten, Meuten von Judassen, unbefleckten Empfängnissen bei Geschöpfen, deren Fortpflanzungsapparat einem solchen Begriff gar keinen Raum läßt, weil die Vermehrung nicht durch Kopulation erfolgt — mit einem Wort, die Multiplikation des Evangeliums mit allen Zweigen sämtlicher galaktischer Spiralen machte unser Credo zur Karikatur, zur Parodie des Glaubens. Wegen solcher arithmetischer Bubenstreiche sind der Kirche viele Gläubige davongelaufen.

Warum bin ich geblieben? Weil das Christentum vom Menschen mehr verlangt, als es verlangen kann. Es verlangt nicht nur den Verzicht auf alle Grausamkeit, Niedertracht und Lüge. Es fordert Liebe, auch gegen die Grausamen, die Lügner, Henker und Tyrannen. Ama, et fac quod vis — dieses Gebot ist unumstößlich. Bitte wundern Sie sich nicht allzusehr über eine solche Katechese an Bord dieses Raumschiffs. Es ist meine Pflicht, Über die Aussichten dieses Erkundungsunternehmens hinauszublicken, das vernunftbegabte Wesen zusammenbringen soll, die einander fremd sind. Sie, Kommandant, haben andere Pflichten. Ich versuche das zu veranschaulichen: Stünden Sie in einem überfüllten Rettungsboot und Ertrinkende, für die kein Platz mehr ist, klammerten sich an die Bordwand, so würden Sie ihnen, um die Gefahr des Kenterns abzuwenden, die Hände abschneiden, oder?“

„Ich fürchte, ja. Wenn Rettung anders nicht möglich wäre.“

„Das unterscheidet uns voneinander. Es bedeutet, daß Sie nicht umkehren werden.“

„Ja. Ich verstehe das Gleichnis mit dem Rettungsboot. Ich werde nicht warten, bis es kentert. Ich werde diese Zivilisation mit allen Kräften zu retten versuchen, die ich aufbieten kann.“

„In letzter Konsequenz auch mit einem Genozid?“

„Jawohl.“

„Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt. Mir ist es gelungen, diese letzte Konsequenz hinauszuzögern. Mehr nicht. Ist es nicht so?“

„Ja.“

„Sie wollen Leben retten, indem Sie Leben nehmen?“

„Darin liegt ja eben der Sinn Ihres Gleichnisses, Pater Arago. Ich wähle das kleinere Übel.“

„Indem man zum Mörder wird?“

„Ich weise diese Bezeichnung nicht zurück. Es kann sein, daß ich gar niemanden rette, daß ich uns ebenso verderbe wie die Quintaner. Aber ich wasche meine Hände nicht in Unschuld. Wenn wir zugrunde gehen, wird die EURY-DIKE davon erfahren. Die Mitteilung, wie sich der Fall verhält und daß ich einen Rückzug ausgeschlossen habe, ist bereits unterwegs.“

„In meiner Eschatalogie gibt es ein kleineres Übel nicht“, sagte Arago. „Mit jedem getöteten Lebewesen geht eine ganze Welt zugrunde. Deswegen bietet die Arithmetik der Ethik keine Maßstäbe. Das Böse, das nicht mehr rückgängig zu machen ist, liegt außerhalb jeder Meßbarkeit.“ Er stand auf. „Ich will Sie nicht länger Ihrer Zeit berauben, sicherlich wollen Sie die Unterhaltung fortsetzen, die ich unterbrochen habe.“

„Nein. Ich will jetzt allein sein.“

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