Ich stemmte mich gegen das Geschirr und kämpfte mich weiter westwärts durch den Sumpf, geknebelt, mit vor den Körper gefesselten Händen. Dazu trug ich noch eine schwarze, undurchsichtige Sklavenhaube. Plenius war der Gedanke gekommen, ich könnte mich vielleicht mit Hilfe von Blicken mit den Rencebauern verständigen. Vielleicht wollten sie aber auch einfach nur nicht, daß ich sie in ihrem erbarmungswürdigen Zustand sah. Und so rang ich dem Sumpf jeden Schritt ab und zog das schwere Floß, das nun hauptsächlich mit Verwundeten und Kranken beladen war, durch das endlose Schilf.
Es war vier Tage her, daß man die Tharlarion auf uns gehetzt hatte.
Wir waren weiter nach Westen gezogen.
Die Rencebauern waren mittlerweile dazu übergegangen, sich ihre Ziele sorgfältig auszusuchen. Manchmal vergingen Ahn, und die Männer wähnten sich in Sicherheit. Dann flog ein Pfeil aus dem Rence, abgeschossen von einem unsichtbaren Bogenschützen, dessen Anwesenheit man nicht einmal erahnt hatte, und ein weiterer Soldat versank im Sumpf. Hauptmann Labienus wagte es nicht mehr, Männer vom Haupttroß abzukommandieren. Allzu häufig kehrten sie nicht zurück, und dabei spielte es keine Rolle, ob sie als Vorhut, Nachhut oder Späher ausgesandt worden waren.
Die Soldaten von Ar marschierten nun als Gruppe, dicht aneinandergedrängt. Soviel ich mitbekommen hatte, waren viele Überlebende anderer Regimenter mit eigenen Erlebnissen voller Leid und Schrecken zu uns gestoßen oder hatten uns eingeholt. Vielleicht hatte der Feind sie auch auf uns zugetrieben wie ein Hirte seine Herde. Ich fragte mich, wie viele von ihnen – vielleicht auch nur unterbewußt – sich wünschten, ihre Kameraden als Deckung zu benutzen. Ich hatte oft genug gehört, wie der Befehl zum Einhalten oder zum Wiederaufbau der Marschkolonne erteilt worden war. Danach marschierten sie wieder eine Zeitlang hintereinander, obwohl es, zog man die allgemeine Erschöpfung in Betracht, bestimmt eine stolpernde, unordentliche Kolonne war, die aber noch immer die potentiellen Ziele voneinander trennte. Ich konnte mir vorstellen, wie die müden, entnervten Soldaten ängstlich nach rechts und links schauten. Das Rence würde überall gleich aussehen.
Was mich anging, so beschränkte sich meine Welt auf das schwere Floß, den nachgiebigen Sumpfboden und die Schläge, die mich antrieben.
Aus den Berichten Soldaten anderer Regimenter, die uns manchmal begegneten, manchmal aber auch halb von Sinnen ziellos im Sumpf umherirrten, hatten wir uns Stück für Stück ein Bild von dem machen können, was im Delta geschah. Es war mir nicht schwergefallen, die Unterhaltungen zu belauschen, sowohl in der Nacht wie auch während des Marsches. Interessanterweise war es die Nachhut gewesen, die als erste aufgegeben hatte, aber ihr Rückzug war von einer riesigen Anzahl von Rencebauern gestoppt worden. Die Pfeile aus Temholz hatten jeden Weg in den Osten abgeschnitten. Danach war die Nachhut tiefer ins Vosk-Delta geflohen.
»Sie wollen euch im Delta festhalten«, hatte ich Labienus vor zwei Nächten gesagt, als man mich gefüttert hatte. »Sie wollen euch alle hier haben, je mehr, um so besser, alle ihrer Gnade ausgeliefert, wo sie nach Herzenslust mit euch verfahren können, wie es ihnen beliebt.«
Labienus hatte mich nur wortlos angesehen. Am nächsten Tag war es weiter westwärts gegangen.
Bald sickerten weitere Berichte durch. Die Rencebauern hatten zwei Regimenter aufgerieben und ihnen schwere Verluste zugefügt. Hunderte von Männern waren im Treibsand gestorben. Viele von ihnen waren anscheinend vom Feind dorthin gelockt worden, indem dieser sich gezeigt hatte und sofort verfolgt worden war – Rencebauern, die sich zweifellos in der Gegend auskannten, die vielleicht sogar die Zeichen, die sichere Wege markierten, hinter sich vernichtet hatten. Andere Soldaten waren Angriffen von Tharlarion und Sumpfhaien zum Opfer gefallen, die am frühen Morgen und gegen Sonnenuntergang besonders aggressiv waren. Krankheiten hatten epidemische Ausmaße angenommen. Hunger, Sonnenstiche und Durchfall waren weit verbreitet. Desertion war an der Tagesordnung. Vielleicht würden es einige der Deserteure sogar aus dem Delta heraus schaffen. Wer konnte das schon wissen. Und immer waren die Rencebauern in der Nähe, wie Sleen, die an den Flanken einer Viehherde entlangstrichen.
Ich hörte, wie ein Körper ins Wasser klatschte.
»Das kam von dort hinten!« rief ein Soldat. Schwerter wurden gezogen. Männer verließen die Kolonne und wateten zur rechten Seite, kehrten aber bald unverrichteter Dinge zurück.
Die Peitsche knallte, und ich stemmte mich gegen das Geschirr. Eine Ehn später hörten wir einen langgezogenen, einzelnen Aufschrei aus dem Sumpf. Er kam aus der Richtung hinter uns. Rechts hinter uns.
»Möglicherweise hält sich das Expeditionsheer von Cos tatsächlich nicht im Delta auf«, sagte Hauptmann Labienus.
»Diese Meinung vertrete ich schon lange«, erwiderte ich.
Keine Feuer brannten. Es war ziemlich still.
»Ich habe mir den Kopf zermartert, besonders in den letzten Tagen, ob du nicht doch die Wahrheit gesagt hast.«
»Es freut mich, daß du das in Betracht gezogen hast«, sagte ich.
»Es fällt in letzter Zeit schwer, es nicht zu tun.«
»Das denke ich auch.«
»Selbst wenn es nur die Äußerungen eines sich windenden Spions waren.« Labienus spuckte die Worte förmlich aus. »Die Männer sind erschöpft und krank. Ich bin erschöpft und krank.«
Er saß neben mir. Nur wenige Soldaten saßen in aufrechter Haltung da. Selbst beim Marschieren nahmen sie eine geduckte Haltung ein. Eine geduckt gehende Gestalt gab ein kleineres Ziel ab. Wir unterhielten uns leise. Man hatte mir die Hände auf den Rücken gefesselt. Meine Hüter wurden leichtsinnig. Ich war fest davon überzeugt, genau zu wissen, wer heute den Schlüssel der Handschellen verwahrt hatte. Wenn ich am nächsten Morgen aufpaßte, würde ich vielleicht trotz der Haube herausfinden können, wer den Schlüssel bekam. Ein Wort, ein sorgloses Geräusch würde ausreichen.
»Einige sind der Meinung, wir sollten den Versuch unternehmen, uns aus dem Delta zurückzuziehen.«
»Dazu ist es vielleicht schon zu spät.«
»Was sagst du da?«
»Kein Regiment schafft allein den Rückzug.«
»Und was wäre mit mehreren Regimentern?« fragte er.
»Das wäre möglich, aber schwierig. Die Bewegungen einer so großen Streitmacht sind leicht auszumachen. Selbst wenn man einmal die Bauern außer acht läßt, beherrscht Cos noch immer den Himmel. Und sein Heer, gut informiert, gut ausgerüstet, bei guter Gesundheit, kann ungehindert viel schneller zu einem bestimmten Punkt geleitet werden als die Männer von Ar, die sich aus dem Sumpf kämpfen müssen.«
»Nichts kann gegen Ar bestehen«, behauptete Labienus.
»Unterschätze den Feind nicht.«
Er spuckte verächtlich aus. »Söldner.«
»Und reguläre Truppen«, sagte ich. »Davon abgesehen werden deine Männer erschöpft und krank sein. Außerdem müßtet ihr es erst einmal bis zum Rand des Deltas schaffen.«
»Sieben Regimenter, vier im Süden und drei im Norden, wollen einen Ausbruch versuchen.«
»Woher weißt du das?«
»Das haben mir Versprengte berichtet.«
»Was ist mit der linken Flanke?«
»Soweit ich weiß, ist sie noch intakt.«
»Ich schätze, die Regimenter im Norden dürften die größten Erfolgschancen haben«, sagte ich.
»Der Norden ist unklug«, erwiderte er. »Das ist weit von Ar und unseren Verbündeten entfernt. Das ist Feindesland. Dort hat Cos viele Sympathisanten. Port Cos liegt in dieser Richtung. Und selbst wenn die Regimenter es schaffen sollten, müßten sie den Vosk überqueren, um nach Holmesk oder Ar zurückzukehren.«
»Auf diesen Gründen beruht meine Annahme, daß sich im Norden keine starken cosischen Verbände aufhalten.«
»Glaubst du, die Heere von Cos befinden sich hauptsächlich auf der anderen Seite des Vosk im Süden?«
»Natürlich«, erwiderte ich. »Sie werden damit rechnen, daß ihr genau aus diesen Gründen eine Überquerung des Flusses vermeiden werdet.«
Labienus rieb sich das Kinn. »Ich weiß nicht.«
»Außerdem ist es eine vorteilhafte Position. Das Heer kann von Brundisium aus versorgt werden. Es könnte sogar zusätzliche Truppen aus Torcodino anfordern.«
»Ich halte es noch immer für möglich, daß sich das Expeditionsheer im Delta befindet«, sagte er leise.
»Anscheinend vertreten viele der anderen Kommandanten eine andere Meinung.«
»Oder sie fürchten, daß die Verfolgung zu viele Opfer kostet.«
»Oder das.«
Draußen im Sumpf ertönten die verschiedensten Geräusche, das Plätschern von Wasser, das gelegentliche Brüllen eines Tharlarions und die Schreie der Vosk-Möwen. Falls es Vosk-Möwen waren.
»Du willst dich also auch zurückziehen?«
»Nein.«
»Warum nicht?« fragte ich erstaunt.
»Meine Befehle sind eindeutig.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht würde ein Rückzug auch keinen großen Unterschied mehr machen.«
»Was soll das nun wieder heißen?«
»Du bist isoliert, so wie vermutlich die meisten Einheiten im Delta. Ich halte es für unwahrscheinlich, daß du mit deiner Mannstärke einen Ausbruch erzwingen könntest.«
»Du hältst uns also für verloren?«
»Es werden Männer aus dem Delta entkommen«, sagte ich. »Einige haben es vielleicht schon geschafft, möglicherweise sogar ganze Züge. Vielleicht werden sogar die vereinigten Anstrengungen der Regimenter Erfolg zeigen. Wollen wir es hoffen, um Ars willen.«
»Aber?«
»Aber ich glaube, die einzige realistische Hoffnung auf eine Flucht aus dem Delta liegt nicht bei den Regimentern, sondern bei jedem einzelnen, vielleicht noch in kleinen Gruppen, bei Männern, die es mit Glück und Können und Verstohlenheit schaffen, sowohl den Rencebauern als auch den cosischen Tarnpatrouillen aus dem Weg zu gehen. Die größten Chancen hätte ein auf sich allein gestellter Mann. Es liegt auf der Hand, daß Cos nicht das ganze Vosk-Delta überwachen kann. Es kann nicht jeden Rencestengel beobachten. Es kann nicht jeden sumpfigen Quadratmeter der Randzone gründlich durchkämmen. Ich glaube wirklich, daß ein Mann, ein erfahrener Sumpfläufer, der sich in Überlebenstechniken auskennt und weiß, wie er den Feind überlisten kann, entkommen könnte, vorausgesetzt, er läßt die nötige Vorsicht walten.«
»Von dieser Sorte gibt es nicht viele.«
»Unter den roten Wilden schon«, erwiderte ich. Ich dachte an Männer wie Cuwignaka, Canka und Hci.
Er hielt den Kopf in den Händen. »Das Expeditionsheer muß im Delta sein«, flüsterte er.
»Handelst du so, weil du das Kriegsgericht oder die Entehrung fürchtest?«
»Nein.«
»Warum dann?«
»Pflichtbewußtsein«, sagte er. »Kannst du, ein Spion, so etwas verstehen?«
»Ich habe davon gehört.«
Er stand auf und ging. Einige Augenblicke später war Plenius zur Stelle, um mich wieder zu knebeln und mir die Haube überzustreifen. »Wenn es nach mir ginge«, sagte er, »würde ich dich in helles Rot kleiden und dich mit einem Strick um den Hals an der Spitze marschieren lassen.«
Dann ging er.
Es war wieder sehr heiß, aber das war nicht der Grund, warum ich ein tiefes Unbehagen verspürte. Erneut verfolgte mich das Gefühl, als würde eine dunkle Wolke über dem Sumpf liegen, etwas Finsteres, Bedrohliches, beinahe schon eine körperliche Präsenz.
Es war ein seltsames Gefühl.
Plötzlich fiel mir auf, daß der Sumpf ungewöhnlich still war. Die Schreie der Vosk-Möwen waren verstummt.