Ich klopfte leise an die Hintertür der Paga-Taverne. Eine Klappe wurde aufgeschoben. »Laß mich herein.«
»Geh zum Vordereingang«, erwiderte eine Stimme.
»Ich will aber hier eintreten.«
»Wie du willst.«
Ich warf einen Blick über die Schulter, zurück in die Gasse. Die Schatten, die uns seit dem Verlassen des Lagers begleitet hatten, Dunkelheit inmitten der Dunkelheit, huschten in Deckung. Bereits während des ganzen letzten Tages hatte ich ein paar Burschen im Lager herumlungern sehen; das war einer der Gründe, warum ich mich dazu entschieden hatte, der Stadt einen Besuch abzustatten, und zwar ohne Marcus. Ich wollte ihn nicht in Schwierigkeiten verwickeln, die nichts mit ihm zu tun hatten.
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und ich schob die barfüßige, gefesselte und mit einer Haube versehene Ina hinein; die Leine baumelte von dem angeschnallten Lederhalsband herunter. Ich folgte ihr. Der Mann schloß die Tür und schob die Riegel vor.
Wir standen in einem schlecht beleuchteten kleinen Korridor. Die Taverne hieß Die Juwelenverzierte Peitsche und war nur eine von mehreren Tavernen in der Dockstraße.
»Oberschenkel«, befahl der Mann, der uns eingelassen hatte, mit einem Blick auf Ina. Er wollte sich vergewissern, daß sie eine Sklavin war.
»Sie ist eine freie Frau«, sagte ich.
»Die wollen wir hier nicht haben.«
»Wo bin ich?« fragte Ina.
»Es ist gegen das Gesetz«, beharrte der Kerl. »Wir können nicht noch mehr Schwierigkeiten mit den Behörden gebrauchen. Davon abgesehen machen solche wie die hier die Mädchen unruhig.«
»Du sollst sie nur für mich verwahren.« Er sah mich an. Ich hielt einen Kupfertarsk in die Höhe. In dieser Taverne kosteten die Mädchen ein Tarskstück; in dem Preis waren Essen und Paga eingeschlossen.
Er nahm die Münze.
Dann packte er Ina am Oberarm und führte sie in einen abzweigenden Gang. Ich hielt mich an den Hauptkorridor, stieß eine Tür auf und betrat den Paga-Raum.
Zwischen Körpern blitzten die Glieder einer nackten Sklavin auf, die sich in einem Netz auf der Tanzfläche wand. Vier andere Sklavinnen waren als Sklavenjäger verkleidet, aber die Kostüme waren auf eine Weise geschnitten, daß weder ihr Geschlecht noch ihre Reize verborgen blieben. Sie hielten leichte Stäbe, sprangen um die Gefangene herum und verhinderten ihre Flucht; in ihrem Triumph taten sie so, als würden sie sie quälen. Das Umgehen mit dem Stab war gekonnt, die nachgeahmten Waffen bewegten sich im Gleichklang, wirbelten umher, wechselten die Besitzer und trafen zusammen auf dem Boden auf. Es war eine Version des Tanzes der im Netz gefangenen Sklavin. Netze sind ein weit verbreitetes Handwerkszeug der Sklavenjäger. Sie finden meistens in ländlichen Gebieten ihren Einsatz, bei Überfällen auf kleine Dörfer.
Ich setzte mich abseits der Tanzfläche in die Nähe der Musikanten, mit dem Rücken zur Wand.
»Paga, Herr?« fragte ein Mädchen und kniete neben dem niedrigen Tisch nieder, hinter dem ich mit untergeschlagenen Beinen saß.
Ich betrachtete sie. Sie war hübsch zurechtgemacht, mit Lippenstift und Lidschatten. Auf der Stirn trug sie an einer winzigen Goldkette eine Perle in einer tropfenförmigen Fassung. Sie war bekleidet mit gelber Sklavenseide. Um ihren linken Arm wand sich ein schlangenförmiges Schmuckstück, die Handgelenke waren voller Armreifen. Am linken Knöchel baumelte ein Glöckchen.
»Ja«, sagte ich. Ich hatte vor, an dem Paga nur zu nippen.
Sie erhob sich mit gesenktem Kopf, drehte sich mit bimmelnden Glöckchen und wehender Sklavenseide um und eilte zur Theke.
Ich musterte die Gäste. Es war kein bekanntes Gesicht aus dem Lager oder seiner Nähe darunter. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, daß sie draußen in der Gasse ihren Zug machten. Sie hatten es nicht getan.
Der Tanz näherte sich seinem Ende. Die Sklavin, die mit dem Netz gefangen und mittlerweile gefesselt worden war, wurde von den Jägerinnen ihrem Auftraggeber vorgeführt. Die Gefangene kniete auf der Mitte der Tanzfläche, die Jäger triumphierten. Die Musik steigerte sich noch einmal und brach dann ab; die Gefangene senkte demütig den Kopf. Es gab reichlich goreanischen Applaus (die rechte Handfläche klopft dabei auf die linke Schulter). Plötzlich knallte eine Sklavenpeitsche, und die Jägerinnen zogen sich schnell aus, warfen die Stäbe beiseite und knieten neben der Gefangenen nieder. Einer der Bediensteten der Taverne hob das Netz auf und warf es über die Gruppe. Jetzt waren auch die Jägerinnen wieder Sklavinnen. Eine andere Melodie ertönte, alle standen auf und huschten mit den hübschen Trippelschritten eilender Sklavinnen im Netz von der Tanzfläche. Weiterer Applaus ertönte.
Das Mädchen kehrte mit dem Paga zurück. Sie küßte den Pokal und reichte ihn mir mit ausgestreckten Armen und gesenktem Kopf. »Paga, Herr?«
Ich nahm den Pokal und stellte ihn auf dem Tisch ab.
»Sipa, Herr?« Sie war natürlich im Preis des Pagas Inbegriffen.
»Du darfst gehen.«
»Ja, Herr.«
Die meisten Männer besuchen eine Taverne, um etwas zu trinken, Neuigkeiten zu hören und Freunde zu treffen. Einige wollen Kaissa spielen. Sollte einer an einem bestimmten Mädchen Gefallen finden, ist es natürlich möglich, es an den Tisch zu befehlen.
Ich blickte mich wieder im Schankraum um. Obwohl es sich bei den meisten Gästen zweifellos um Bürger Brundisiums handelte, sah man auch viele andere Männer: Ruderer von den Galeeren im Hafen, Soldaten aus dem Heerlager und Söldner.
In dem Schankraum gab es mehrere Türen, die vermutlich in private Eßräume führten. Eine dieser Türen öffnete sich, und eine sinnliche dunkelhaarige Sklavin trat heraus. Sie eilte zur Theke, um Paga zu holen, trug ihn vorsichtig zurück und schloß die Tür hinter sich.
Das letzte Mal hatte ich diese Schönheit früher an diesem Abend gesehen, auf dem Rückweg von Ephialtes’ Wagen. Nackt, die Hände auf dem Rücken gefesselt, am Hals angekettet, war sie neben dem Steigbügel ihres Herrn hergelaufen.
Aber natürlich hatte ich sie schon einmal zuvor gesehen, hilflos in Ketten neben dem Tisch ihres Herrn. Damals war sie nicht einmal eine legale Sklavin gewesen; zu ihrer Verzweiflung hatte ihr Herr ihr dies verweigert. Jetzt war sie eine richtige Sklavin, vor dem Gesetz anerkannt, stolz und sich ihrer selbst bewußt. Einst war ihr Name Lady Cara aus Venna gewesen. Sie war dabei belauscht worden, wie sie abfällige Bemerkungen über eine bestimmte Stadt gemacht hatte. Das war einem Söldnerhauptmann aus der besagten Stadt zu Ohren gekommen, der dafür gesorgt hatte, daß man sie ihm nackt und in Ketten zu Füßen legte. Sie hatte bald gelernt, was es bedeutete, in der Gewalt eines solchen Mannes zu sein. Ich hatte selbst gehört, wie sie ihn um den Kragen anflehte. Ihr jetziger Name war mir unbekannt.
Die Stadt, über die sich die ehemalige Lady Cara abfällig geäußert hatte, bevor man sie zu dem Söldnerhauptmann gebracht hatte, war Tarnburg gewesen.
Sein Name lautete Dietrich von Tarnburg.
Am Abend hatte ich etwa hundert Söldner gesehen, die mit einigen Sklavinnen auf Brundisium zu marschierten. Der auf einem Tharlarion reitende Anführer sowie einige der Männer hatten Halstücher vor dem Gesicht getragen, um sich vor dem Reisestaub zu schützen. Zweifellos dienten die Tücher auch dazu, die Gesichtszüge zu verbergen. Ich hätte mir nichts dabei gedacht, schließlich sah man hier immer Söldner – es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen –, hätte ich nicht die Sklavin am Steigbügel des Anführers wiedererkannt. Da ich mit den anderen Fußgängern zurücktrat, um die Marschreihe passieren zu lassen, konnte mich der Anführer nicht sehen. Ich hatte mich in Brundisium nach den Männern erkundigt, um ihren Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen. Zuerst fand ich heraus, in welchem Stadtteil sie sich befanden, dann, welche Tavernen oder Herbergen sie vermutlich besuchten. Das war nicht schwer, da die meisten Söldner nicht in der Stadt untergebracht waren, sondern im cosischen Heerlager.
Ich stand auf, nahm meinen Pokal und trat zur Theke.
»Hast du schon das Neueste gehört?« wandte sich ein eben erst eingetretener Gast, der Kleidung nach ein Kaufmann, aufgeregt an einen Freund.
»Nein.«
Sofort versammelten sich andere Männer um die beiden; ich gesellte mich unauffällig zu ihnen und war zuversichtlich, bereits zu wissen, was jetzt käme. Nur die Einzelheiten kannte ich nicht.
»Dietrich von Tarnburg hat sich aus Torcodino zurückgezogen!«
Sofort sprachen alle durcheinander.
»Unmöglich!«
»Myron hat Torcodino mit Ringen aus Stahl eingeschnürt. Das stärkste Kontingent der cosischen Invasionsstreitmacht liegt vor der Stadt!«
»Wann ist das geschehen?«
»Schon vor Wochen«, meldete sich ein anderer Mann zu Wort.
»Wann hast du das gehört?« fragte der Mann, der so begierig gewesen war, es allen zu erzählen.
»Vor zwei Tagen. Anscheinend hat man die Nachricht unterdrückt.«
Falls das stimmte, war es nicht überraschend. Myron hatte es bestimmt nicht eilig gehabt, die Nachricht zu verbreiten, daß ihm sein angeblich hilflos in der Falle sitzendes Opfer durch die Hände geschlüpft war. Möglicherweise hatte sein Versuch, diese Nachricht zu unterdrücken, sogar Männer das Leben gekostet.
»Ist es gefährlich, darüber zu sprechen?« fragte der Kaufmann.
»Jetzt wohl nicht mehr.«
»Ich habe heute abend auch schon etwas in der Richtung gehört«, meinte ein anderer Mann. »Es ist in der ganzen Stadt herum.«
»Ich komme aus Ven«, sagte ein dritter. »Dort weiß man es auch schon.«
»Für mich ist das neu«, sagte ein Gast. »Bitte erzählt.«
Einige der Männer, die sich versammelt hatten, blickten sich um. Die Gruppe bestand aus Bürgern aus Brundisium, Ruderern, Kaufleuten, Söldnern, cosischen Soldaten und anderen. Alle waren begierig zu erfahren, was geschehen war. Ich entdeckte keine cosischen Offiziere oder sonst jemanden, dem daran gelegen war, gegen diese Gruppe Neugieriger einzuschreiten.
»Wenn niemand etwas dagegen hat, werde ich berichten, was ich gehört habe«, sagte ein gutgekleideter Mann.
»Hier hat keiner etwas dagegen«, erwiderte der Kaufmann, nachdem er sich noch einmal umgeblickt hatte.
»Ich muß vorausschicken, daß meine Neuigkeiten allgemein bekannt sind und von Hunderten berichtet werden. Sollte damit also die Staatssicherheit verletzt werden, bin nicht ich derjenige, der dafür verantwortlich ist. Darüber hinaus breche ich dadurch keinerlei Vertrauen. Außerdem kann ich nicht für die Richtigkeit dessen bürgen, was ich gehört habe, sondern es lediglich wiederholen, und das auch nur, weil mich andere eindringlich darum gebeten haben. Ich sage es auch nur deshalb in aller Öffentlichkeit, damit wir darüber spotten können; keiner von uns wird diesen Bericht ernsthaft für wahr halten. Tatsächlich ist das Ganze so absurd, daß es stimmen kann. Ich berichte also für unser aller Belustigung nur das, was offensichtlich nicht wahr sein kann.«
»Nun fang schon an!«
»Ja!«
»Dietrich ist aus Torcodino entkommen.«
»Mit seinen Männern?«
»Mit seinen Männern und den Sklaven.«
»Das ist unmöglich!«
»Dem stimme ich aus ganzem Herzen zu«, sagte der Sprecher. Es handelte sich meiner Meinung nach um einen Schriftgelehrten der Jurisprudenz. Umständlich genug dazu war er ja.
»Wie soll das möglich gewesen sein?«
»Eine Nachricht erreichte das cosische Lager vor Torcodino, überbracht von einem angeblichen Deserteur, einem Burschen namens Mincon«, sagte der Schriftgelehrte. »Unter der Nordmauer war angeblich ein Geheimtunnel gegraben worden, ein niedriger Tunnel, über elf Pasang lang, der Monate bis zu seiner Fertigstellung gebraucht hatte, ein Tunnel, der sich angeblich hinter den feindlichen Linien öffnen sollte. Selbst der Tag der Flucht stand schon fest. Außerdem sollten Dietrich und einige seiner engsten Vertrauten den Tarndraht in der Nähe des Semniums öffnen und die Stadt in derselben Nacht verlassen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein paar Männer auf Tarns Schwierigkeiten haben sollten, aus der Stadt zu entkommen«, sagte ein Söldner.
»Aber es gibt Tarnpatrouillen«, entgegnete ein anderer, »und es gibt Kavallerie, die sofort die Verfolgung aufnehmen kann.«
»Der besagte Abend kam«, fuhr der Schriftgelehrte fort, »und genau wie Mincon, Myrons Informant, es vorausgesagt hatte, erhob sich ein Dutzend Tarns vom Dach des Semniums. Cos erwartete sie natürlich bereits; sofort wurde die Verfolgung aufgenommen. Die von dem Dach des Semniums gestarteten Tarns waren prächtige Tiere, wie hätte es auch anders sein können, und sie entgingen den Verfolgern für Ahn. Aber die Verfolger waren darauf vorbereitet und führten eigens frische Ersatzvögel mit, um jede Ahn das Reittier wechseln zu können. In der Zwischenzeit rüstete sich Myron vor Torcodino für die Schlacht und führte die meisten seiner Männer in die Nähe der Stelle, an der sich der Tunnel öffnen sollte. Sie verbargen sich in Schützengräben. Sie wollten die Truppen aus Torcodino an die Oberfläche kommen lassen und sie dann mit ihrer Übermacht auf offenem Gelände vernichten. Einigen Männern würde die Flucht zurück in den Tunnel gelingen, wo sie in ihrer Panik, sich einen Weg durch die Nachfolgenden zu bahnen, gegeneinander kämpfen würden und wo man sie einfach niedermachen könnte. Um den Rest wollte man sie sich später kümmern, da es zu wenige sein würden, um selbst einem bescheidenen Angriff standhalten zu können. Man rechnete sogar damit, daß sich die Flüchtlinge ergeben und der Gnade Cos’ unterwerfen würden. Natürlich ließ Myron klugerweise viele Männer vor der Stadt zurück, ein paar verstärkte Regimenter in der Nähe der Stadttore, für den Fall, daß Dietrich ihn überlisten und einen Ausbruchsversuch starten sollte.«
»Myron ist ein guter Polemarkos«, sagte ein Mann.
»Das ist er.«
Ich konnte dem nur zustimmen. Myron hatte sowohl als Offizier wie auch als Mann seine Schwächen, aber er war ein ausgezeichneter Befehlshaber. Aber hier hatte er es mit Dietrich von Tarnburg zu tun.
»Was geschah dann?«
»Gegen Morgen hatte man die flüchtenden Tarns eingeholt, aber in ihren Sätteln saßen gefesselte und geknebelte cosische Gefangene.«
»Was war mit den Truppen in der Stadt?«
»In Torcodino sah man Flammen aufsteigen. Wo es brannte, war unbekannt. Später fand man heraus, daß es sich um die Zerstörung des cosischen Belagerungsgeräts gehandelt hatte, der Kriegsmaschinen, Wagen und Vorräte, die man in Torcodino erbeutet hatte.«
Die Erbeutung dieses Materials in Torcodino, das als Ausrüstungsdepot für die Invasionsstreitmacht gedient hatte, war der Hauptgrund für Dietrichs Eroberung der Stadt gewesen; er hatte gehofft, den cosischen Vormarsch behindern zu können und Ar genügend Zeit zu verschaffen, um sich auf den Krieg vorzubereiten. Wie sich jedoch herausstellte, hatte Ar sein Heer nach Norden geschickt; statt dem belagerten Ar-Station Entsatz zu leisten, verfolgte es allem Anschein nach das Expeditionsheer, das Ar-Station zerstört hatte, um schließlich im Delta vernichtet zu werden. Ohne Verrat in Ar wäre das nicht möglich gewesen. Eine der Verräterinnen, eine sehr hübsche Verräterin, lag jetzt angekettet in einem der Hinterzimmer der Taverne. Dietrich hatte Ar Zeit verschaffen wollen, um sich zu bewaffnen und in Stellung zu gehen, damit es ein Gegengewicht zu den Streitkräften von Cos bildete und auf diese Weise den Aufstieg einer einzigen großen Macht auf dem Kontinent verhinderte, eine Möglichkeit, die Dietrichs Meinung nach die Existenz der freien Kompanien gefährdet hätte, von denen seine Kompanie eine der größten und besten war.
»Aber was war mit dem Tunnel?«
»Was war mit Dietrich und seinen Männern?«
»Myron und seine Soldaten warteten die ganze Nacht, den nächsten Morgen und den ganzen folgenden Tag lang, aber der Tunnel öffnete sich nicht.«
»Warum nicht?« fragte der Söldner.
»Aus einem einleuchtenden Grund«, sagte der Schriftgelehrte. »Es gab keinen Tunnel.«
Die Männer blickten einander an.
»Myron, der fest von seiner Existenz überzeugt war, entschied sich, ihn selbst zu öffnen; seine Ingenieure holten Bergleute und Sappeure. Sie gruben und stocherten zwei Tage lang herum, fanden aber natürlich nichts. In der Zwischenzeit stiegen aus Torcodino die Rauchwolken auf.«
»Zweifellos hat man diesen Mincon, diesen Informanten, in siedendes Öl getaucht.«
»Er war verschwunden«, sagte der Schriftgelehrte.
»Natürlich.«
»Myron ließ Beobachter an dem angeblichen Standort des Tunnels zurück und kehrte wütend in sein Hauptquartier zurück. Dann schickte er Späher aus, die Torcodinos Verteidigungsbereitschaft prüfen sollten. Ohne auf die geringste Gegenwehr zu stoßen, erklommen kleine Gruppen die Mauern. Später begab sich eine größere Streitmacht in die Stadt und öffnete die Tore. Myron trat ein und fand nur Leere vor. Torcodino war verlassen.«
»Und Dietrich und seine Männer?«
»Fort.«
»Unmöglich«, sagte ein Zuhörer.
»Unter Myrons Männern herrschte große Furcht«, sagte der Schriftgelehrte.
»Das kann ich mir vorstellen«, meinte ein Söldner unbehaglich.
»Einige fragten sich, ob der Feind nicht schon seit Monaten fort sei, andere wiederum, ob er jemals dagewesen sei. Es hieß, sie hätten geheimnisvolle Tränke zu sich genommen, die unsichtbar machten, oder die Priesterkönige hätten sie fortgezaubert.«
»Aber jemand muß doch in der Nacht, als die Tarns aufstiegen, die Feuer entzündet haben«, sagte der Söldner. »Die Nacht, als Myron vergeblich im Norden wartete.«
»Natürlich«, stimmte der Schriftgelehrte zu. »Tage später folgten zwei Soldaten, die aus Langeweile mit Knüppeln Jagd auf Urts machten, einem großen Urt in einen Keller, in dem es scheinbar spurlos verschwand. Sie entdeckten ein Loch, untersuchten es und fanden heraus, daß es sich um einen verborgenen Zugang zu einem Tunnel handelte. Er war von innen eingestürzt. Der Tunnel führte nicht in den Norden Torcodinos, sondern in den Süden. Myron schickte Soldaten hinein, und er führte viele Pasang nach Süden, bis sie schließlich das Ende fanden, das ebenfalls eingestürzt und getarnt war, diesmal natürlich von außen. Man grub den Ausgang frei und entdeckte, daß er sich in der Nähe der Aquädukte befand, die einst aus dem Norden Wasser vom Issus nach Torcodino gebracht hatten.«
»Durch diese Aquädukte hat sich Dietrich doch überhaupt erst Zugang zu der Stadt verschafft«, sagte der Söldner.
»Über den Köpfen der Cosianer!«
»Aber Dietrich hatte ihr nördliches Ende doch selbst zerstört, um andere daran zu hindern, sich auf die gleiche Weise Zugang zu der Stadt zu verschaffen.«
»Und doch hat er sie später wieder benutzt!« staunte ein Mann.
»Ja«, sagte der Schriftgelehrte. »Mit seinen Männern und allen Sklaven ist er durch die Aquädukte gewatet und wie unsichtbar auf den Issus vorgerückt. Wie die Untersuchung ergab, hat er seinen Männern dort anscheinend den Befehl gegeben, sich in alle Winde zu zerstreuen. Es wäre bestimmt nicht leicht gewesen, fünftausend Mann vor den Cosianern zu verbergen.«
»Sie hätten sich ja irgendwo wieder sammeln können.«
»Wenn es sicher gewesen wäre.«
»Dieses Unternehmen war gut geplant«, erklärte der Schrift gelehrte. »So wurden vor langer Zeit Vorbereitungen getroffen, daß am Issus Ausrüstung, Vorräte und Tharlarion bereitstanden.«
»Ist es sicher, daß Dietrich seine Sklaven aus Torcodino mitgenommen hat?«
»Ja. Neben den Fußabdrücken der Männer entdeckte man im Tunnel die zahllosen Abdrücke nackter kleiner Füße.«
»Ich verstehe«, sagte der Fragesteller.
»Die Abdrücke waren allerdings ziemlich tief«, sagte der Schriftgelehrte. »Was sagt euch das?«
»Sie trugen Lasten.«
»Ja, die Beute aus Torcodino.«
»Die meisten von ihnen werden selbst Teil der Beute gewesen sein.«
»Wo sind Dietrich und seine Männer jetzt?«
»In alle Winde zerstreut«, sagte der Schriftgelehrte.
»Sie könnten überall sein«, meinte der Söldner.
»Sogar in Brundisium«, vermutete der Kaufmann.
»Nein, vermutlich ist er mittlerweile schon längst wieder in Tarnburg.«
»Ja, genau.«
»Wurde Myron in Schimpf und Schande nach Telnus zurückbeordert?« fragte jemand.
»Er ist der Vetter von Lurius von Jad!«
»Sonst wäre er in kochendem Öl gelandet.«
»Das ist wahr.«
»Zweifellos erführe er gar zu gern den Aufenthaltsort von Dietrich und seinen Männern.«
»Das glaube ich auch.«
»Paga!« rief der Söldner.
»Paga!« rief der Kaufmann.
Mädchen eilten herbei, um ihre Herren zu bedienen.
Ich löste mich von der Gruppe und begab mich zu der Tür, die zu dem privaten Eßraum führte. Ich klopfte leise.
Die Tür öffnete sich zuerst nur einen Spaltbreit, aber dann schwang sie ganz auf, als man mich einließ.
»Willkommen, Tarl«, sagte Mincon, mein Freund von der Straße des Genesian und aus Torcodino. »Wir haben dich bereits erwartet.«