10

»Bleib stehen, Zugochse!« rief Plenius.

Ich gehorchte dankbar.

Fassungslose Rufe und Wehklagen hallten über den Sumpf. Berichte von der linken Flanke waren eingetroffen. Es war unmöglich, sie nicht zu hören, denn sie verbreiteten sich in Windeseile unter den Männern. Tatsächlich erfuhren es die Soldaten schneller als ihr Hauptmann, denn sie waren die ersten, die den Boten begegneten, die schlechte Nachrichten überbrachten und deren Besatzungen nach Hilfe riefen, denn viele waren verwundet. Seltsamerweise waren die wenigsten von ihnen unterwegs auf Rencebauern gestoßen. Es war, als wären die geheimnisvollen Bewohner des Delta auf unerklärliche Weise plötzlich verschwunden.

»Ich kannte Camillus! Ich kannte ihn!« schluchzte ein Soldat.

»Flavius ist gefallen?« wollte ein anderer wissen.

»Ich sah ihn sterben«, sagte der Bote.

Die linke Flanke war vor zwei Tagen angegriffen worden, auf eine ziemlich ähnliche Weise wie zuvor die rechte. Bis zu dem Angriff hatten die Regimenter nur geringen Kontakt mit den Rencebauern gehabt. Es hatte sogar die Meinung bestanden, daß der unsichtbare Feind sich überhaupt nur an der rechten Seite des Heeres befand. Aber der Angriff auf die linke Flanke – im Süden – war viel verheerender gewesen, vielleicht weil man dort weniger aufmerksam gewesen war.

»Wehe Ar!« wimmerte einer der Soldaten.

Obwohl ich die Haube trug, glaubte ich zu wissen, wer den Schlüssel zu meinen Handschellen verwahrte. Ich hatte am Morgen den Austausch gehört.

»Wehe uns, wehe uns!«

»Vier Regimenter sind im Süden vernichtet worden!« rief jemand.

»Erzähl uns alles!«

Ich hörte, wie Männer in meine Richtung wateten. Einer hustete.

»Ich komme vom Vierzehnten«, sagte ein Mann. »Wir haben zusammen mit dem Neunten, dem Siebten und dem Elften versucht, aus dem Delta herauszukommen.«

»Desertion!« rief jemand.

»Die Cosianer warteten schon auf uns«, fuhr der Neuankömmling fort. »Es war ein Gemetzel, ein Abschlachten! Wir wurden aus der Luft mit Bolzen beschossen. Man warf Steine, um unsere Reihen auseinanderzutreiben. Wir wurden von Tharlarion überrannt. Man hetzte Kriegssleen auf uns. Wir hatten keine Chance. Wir konnten uns kaum bewegen. Wir standen zu eng beieinander, um unsere Waffen vernünftig zu schwingen. Hunderte starben im Sumpf. Viele, die es noch konnten, flüchteten zurück ins Delta!«

»Weh uns!« jammerte ein Soldat.

»Wir hatten nicht die geringste Chance. Sie haben den Kampf gewonnen!«

Die Erwähnung der Cosianer machte mir erst klar, daß hier gar nicht die Rede von dem Angriff auf die linke Flanke war, den die Rencebauern durchgeführt hatten, sondern vom Süden, wo die Regimenter einen Ausbruchsversuch unternommen hatten. Es war keine große Überraschung, daß die Cosianer auf sie gewartet hatte. Vermutlich hatten Tarnspäher seit Tagen jede ihrer Bewegungen an den cosischen Befehlshaber übermittelt, vielleicht sogar an Policrates höchstpersönlich, der angeblich einst ein Pirat gewesen war.

»Bestimmt habt ihr sie für ihren Sieg teuer bezahlen lassen«, sagte ein Soldat.

»Wir waren schwach, erschöpft«, erklärte der Überlebende. »Wir konnten kaum die Waffen heben.«

»Wie viele Gefangene habt ihr denn gemacht?«

»Ich weiß es nicht, sofern überhaupt Gefangene gemacht wurden.«

Die Cosianer hatten bestimmt Gefangene gemacht. Gefangene können sehr wertvoll sein, sei es für die Steinbrüche oder die Bänke der Galeeren. Ich fragte mich, ob die Cosianer genügend Ketten und Käfige für die Gefangenen dabei hatten, vorausgesetzt, sie wollten sie überhaupt mitnehmen. Ein sich ergebender Gefangener erhält oft den Befehl, sich nackt auszuziehen und mit ausgestreckten Armen und Beinen bäuchlings auf den Boden zu legen. Dann muß er abwarten, ob man ihn fesselt oder ihm die Kehle durchschneidet.

Der Mann fing wieder an zu husten. Dem Geräusch nach zu urteilen hatte er Blut in der Kehle.

»Verbindet seine Wunden neu«, sagte ein Unteroffizier.

Mittlerweile hatten die cosischen Soldaten vermutlich ein Siegesdenkmal auf dem Schlachtfeld errichtet. Für gewöhnlich fällt man ein paar Bäume, baut daraus ein Gerüst und hängt die erbeuteten Waffen daran auf. Manchmal stellt man auch Trophäenpfeiler auf.

»Da! Im Norden!« Die Stimme kam aus der Höhe, vermutlich von der Aussichtsplattform der Kommandobarke, die man mit schweren Brettern sozusagen gepanzert hatte, um den Ausguck wenigstens, einigermaßen zu schützen. Trotzdem wurden die Männer dort oft abgelöst, und soviel ich mitbekommen hatte, war dieser Posten trotz der vergleichsweise angenehmen Trockenheit und Kühle, die die Plattform bot, nicht besonders beliebt. Selbst mit dem Plankenschutz fühlte man sich nicht besonders beschützt, sondern sah sich als Ziel unsichtbarer Bogenschützen.

»Da ist die Fahne von Ar, dort über dem Rence!«

Jetzt sahen sie auch andere. Aufregung machte sich breit. »Das ist das Siebzehnte Regiment. Es kommt von der rechten Seite.«

»Verstärkung!«

»Sie sind durchgebrochen! Sie haben die Rencebauern besiegt!«

»Wir haben einen großen Sieg errungen!«

Das war natürlich eine Erklärung für den scheinbaren Rückzug der Rencebauern. Denn warum hätten sie sich sonst zurückgezogen, wenn sie nicht vor den Soldaten hätten fliehen müssen?

»Aber wo ist dann der Voraustrupp, wo sind die Späher?«

»Warum kommt die Fahne als erstes?«

»Da, sie schwankt!«

»Schnell, zu ihm!« rief ein Unteroffizier.

»Vorsicht, das könnte auch eine Falle der Rencebauern sein!«

Der Mann im Ausguck meldete sich wieder zu Wort. »Er kommt jetzt aus dem Rence heraus. Er ist allein, nein – wartet, da sind noch andere bei ihm, seht ihr?«

»Er ist verwundet!«

Männer wateten eilig durch das Wasser. Sie eilten bestimmt dem Fahnenträger entgegen. Ich versuchte, allein auf mein Gehör angewiesen, die Position des Schlüsselträgers im Kopf zu behalten. Aber dann verlor ich ihn.

Doch was machte das letztlich für einen Unterschied, fragte ich mich verbittert, war ich denn nicht ohnehin völlig hilflos? Die meisten Gefangenenwärter machen kein Geheimnis daraus, wer den Schlüssel für die Ketten hat; was für einen Unterschied kann das für den Gefangenen schon machen? Einige Wärter erzählen dem Gefangenen sogar absichtlich, wer den Schlüssel hat, so machen sie ihm schonungslos und nachdrücklich klar, in wessen Gewalt er sich befindet. Ich hätte genausogut eine schöne Sklavin sein können, dachte ich wütend, in einer Nische angekettet, die, wenn sie den Kopf ein Stück wendet, den Schlüssel in bequemer Reichweite für jeden Gast oder Kunden hängen sieht, für sie selbst jedoch einen Fingerbreit außer Reichweite.

Plötzlich erschallte ein großes Geschrei. Ich bemühte mich, durch die Haube alles zu hören.

Harte Krieger brachen in Tränen aus.

»Wehe uns, wir sind verloren!« rief einer.

Nach wenigen Augenblicken konnte ich mir genug zusammenreimen. Drei Regimenter waren zum nördlichen Rand des Deltas vorgestoßen. Dort hatte man sie schon erwartet und in Stücke gehauen. Der Fahnenträger des Siebzehnten hatte sich bis zu uns durchschlagen können. Es hatte zahllose Verwundete gegeben. Wie viele auf dem Schlachtfeld gefallen waren, erfuhr ich nicht. Im Vergleich zu den Verlusten bei dem Ausbruchsversuch im Süden hatten die nördlichen Regimenter schwerere Verluste davongetragen. Anscheinend hatten die Männer festen Boden, Gras und Felder gesehen und waren freudig darauf zugestürmt, und die Falle war erst eine Ehn später zugeschnappt, als das zweite Regiment aus dem Delta gekommen war.

»Wir sind hier gefangen!« rief ein Soldat. »Es gibt kein Entkommen!«

»Labienus, führe uns!«

»Wir gehen nicht weiter nach Westen! Das ist doch Wahnsinn!«

»Wir können nicht zurück!«

»Aber hierbleiben können wir auch nicht!«

Ich fragte mich, wie es die Männer des Siebzehnten und des ihm zugeteilten Dritten und Vierten geschafft hatten, sich bis zu uns durchzuschlagen. Anscheinend waren sie auf keine Gegenwehr der Rencebauern gestoßen. Natürlich war schon klar, warum sie zumindest ein paar Mann durchgelassen hatten: der Anblick auseinandergetriebener, besiegter Soldaten würde bei den anderen Regimentern seine Wirkung nicht verfehlen, aber soweit ich es mitbekam, war nicht einer von ihnen Partisanen begegnet.

Noch immer schrie alles durcheinander.

»Hauptmann, führ uns nach Osten!«

»Der Osten ist abgeriegelt. Das wissen wir doch!«

»Dann eben nach Norden! Nach Norden«

»Du Narr! Sieh dir doch die Kameraden des Siebzehnten an!«

»Führ uns nach Süden, Labienus!«

»Meuterei!« Das war die Stimme des Unteroffiziers.

Schwerter wurden gezogen.

Die Abwesenheit der Rencebauern war mir unbegreiflich. Warum stürzten sie sich jetzt nicht auf die verwirrte, rebellische, hilflose Vorhut, die völlig erschöpft im Sumpf umherirrte?

»Wir müssen nach Süden!«

»Nein, nicht nach Süden!«

»Labienus hat uns hierhergeführt« rief jemand voller Wut. »Es ist seine Schuld! Tötet ihn! Er ist ein cosischer Spion!«

»Deine Worte sind Verrat. Verteidige dich!«

Stahl traf klirrend auf Stahl.

»Aufhören!« Man trennte die beiden Männer gewaltsam voneinander.

»Labienus, was sollen wir nur tun?«

»Vorsicht!« schrie plötzlich jemand. Ein Summen erfüllte die Luft. Es war das Geräusch großer Flügel, die sich schnell näherten.

»Das ist doch bloß eine Zarlitfliege.«

Die Zarlitfliege ist groß, mißt etwa einen Meter in der Länge und verfügt über vier große, durchsichtige Flügel mit einer Spannweite von fast einem Meter. Sie hat große, paddelähnliche Füße, mit denen sie über die Wasseroberfläche huschen kann. Sie bietet ein prächtiges Erscheinungsbild und kann einem einen höllischen Schreck einjagen, wenn man auf sie stößt, aber für den Menschen sind sie harmlos. Einige der Arer fühlten sich in ihrer Nähe noch immer unbehaglich. Die Zarlitfliege erbeutet kleine Insekten, meistens im Flug.

»Das ist noch eine«, bemerkte ein anderer Mann.

Das war merkwürdig. Zwei von ihnen, so nahe zusammen?

»Sag was, Labienus!«

Eine weitere Fliege brummte heran.

»Was sind denn das für dunkle Wolken am Himmel? Ich habe noch nie solch dunkle Wolken gesehen.«

»Das muß ein Sturm sein.«

Plötzlich verspürte ich ein übles Gefühl in der Magengegend.

»Was ist das für ein Geräusch?«

Falls Labienus etwas hatte sagen wollen, wartete er noch.

Vermutlich hatten alle Soldaten die Blicke nach Westen gerichtet. Ich war in dieser Jahreszeit noch nie im Delta gewesen. Trotzdem wußte ich jetzt, warum die Rencebauern verschwunden waren.

»Hört euch das an!«

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie ein derartiges Geräusch gehört, aber man hatte mir davon berichtet.

»Die Wolken bedecken den ganzen Horizont. Die sind ja riesig. Und so dunkel!«

»Die Geräusche kommen aus den Wolken«, sagte ein Soldat. »Da bin ich sicher.«

Jeden Sommer zu dieser Zeit ziehen sich die Bauern in ihre Hütten zurück, nehmen Wasser und Vorräte mit und verbarrikadieren sämtliche Öffnungen mit Renceschilf. Zwei oder drei Tage später kommen sie wieder heraus.

Plötzlich erfolgte ein schmerzerfüllter Aufschrei. »Das war eine Nadelfliege.«

»Vorsicht, da kommen noch mehr!«

Die meisten Stech- oder Nadelfliegen – wie sie in den Gegenden südlich des Vosk genannt werden – stammen aus dem Vosk-Delta und vergleichbaren Orten; sie legen ihre Eier an den Halmen der Rencepflanzen. Die Regelmäßigkeit ihrer Fortpflanzungs- und Brutzeit führt oftmals zur gleichzeitigen Schlupfzeit. Man vermutet, daß ein Zusammentreffen natürlicher Faktoren wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit des Deltas dafür verantwortlich sind, nicht zu vergessen die hohe Zuverlässigkeit dieser Faktoren. Wie man sich vielleicht denken kann, wird die Schlupfzeit von den Bauern sorgfältig im Auge behalten. Sobald die Stechfliegen, die die Zeitspanne ihres ausgewachsenen Lebens als Einzelgänger verbringen, das Delta verlassen haben, verteilen sie sich über das ganzer Land. Von den Millionen Insekten, die jedes Jahr innerhalb von vier bis fünf Tagen im Delta ausschlüpfen, kehren nur wenige im Herbst dorthin zurück, um den Zyklus erneut zu beginnen.

Weitere Schmerzensschreie ertönten; ich hörte, wie die Männer nach den Insekten schlugen.

»Die Wolken kommen näher!«

Das ständig in seiner Stärke anschwellende Geräusch, das aus dem Westen kam, war nicht länger zu überhören. Es füllte allmählich das ganze Delta aus. Es wurde verursacht vom unvorstellbar schnellen Schlagen von Millionen und Abermillionen bis jetzt noch winziger Flügel.

»Das sind keine richtigen Wolken, das sind Nadelfliegen! Paßt auf!«

Wieder ertönten Schmerzensschreie. Ich nahm den Kopf zur Seite, obwohl ich die Haube trug. Ein kleiner Körper landete in Höhe meines Gesichts auf der Lederhaube.

Ich zuckte zurück, stieß einen leisen Schmerzenslaut aus, der von dem Knebel gedämpft wurde. Ich war an der Schulter gestochen worden. Ich tauchte ins Wasser ein, bis nur noch mein vermummter Kopf herausragte. Überall sprangen Männer ins Wasser. Das Summen war nun ohrenbetäubend.

»Meine Augen!« schrie ein Soldat. »Meine Augen!«

Augen zogen die Fliegen unwillkürlich an, wie alle feuchten, hellen Dinge.

Das Floß schaukelte, als die Männer heruntersprangen.

Der Stich der Stechfliege ist außerordentlich schmerzhaft, aber nicht gefährlich, solange man nicht übermäßig viele davonträgt. Mehrere Stiche können Übelkeit hervorrufen. Es sind auch schon Männer daran gestorben, aber in solchen Fällen mußte schon eine große Anzahl an Stichen zusammenkommen. Für gewöhnlich verursacht das Gift der Fliege eine schmerzhafte Schwellung. Ein paar Stiche im Gesicht können eine Person unkenntlich machen. Die Schwellungen bilden sich normalerweise nach ein paar Ahn wieder zurück.

Ich zog an dem Geschirr. Dem Gefühl nach zu urteilen war das Floß menschenleer.

»Sie verdunkeln die Sonne!«

Noch mehr Soldaten sprangen ins Wasser.

Die Luft war erfüllt von kläglichen Schreien, aufklatschenden Händen und wilden Flüchen.

Kleine Insektenkörper trommelten gegen meine Haube.

Ich zerrte das Floß nach rechts, mit schnellen, wilden Bewegungen. Dabei blieb ich so gut es ging unter Wasser, hob nur von Zeit zu Zeit den verhüllten Kopf. Falls jemand das Floß auffiel, hoffte ich nur, daß er glaubte, es würde aus eigener Kraft dahintreiben, im Griff einer Strömung. Immer wenn ich auftauchte, um Atem zu schöpfen, lauschte ich angestrengt, aber niemand brüllte mir hinterher, niemand befahl mir, sofort stehenzubleiben. Das Summen wurde nicht leiser. Ich traf auf eine Sandbank, fluchte und zog das Floß darüber. Das Wasser reichte mir hier nur bis zu den Knien, erst dahinter wurde es wieder tiefer. In diesem kurzen Augenblick wurde ich viermal gestochen. Darüber hinaus waren zahllose Insekten auf mir gelandet, ohne mich zu stechen. Ich stieß gegen einen Soldaten, aber er war sofort verschwunden. Ich konnte nicht einmal sagen, ob er wußte, mit wem er zusammengestoßen war. Als ich wieder zum Luftholen nach oben kam, prasselten Insekten gegen die Haube. Ein weiterer Stich traf meinen Nacken. Beim Tauchen wurden die meisten Fliegen abgespült. Möglicherweise hatten sich auch einige, die nicht weiterfliegen konnten, daran festgeklammert.

Mein Vorstoß nahm nur ein paar Ehn in Anspruch. Dabei versuchte ich die ganze Zeit über sogar, die Schritte zu zählen, damit ich eine ungefähre Ahnung hatte, wie weit ich mich von dem Regiment entfernte. Ich wollte mich tief genug ins Schilf schlagen, um der erneuten Gefangennahme zu entgehen, aber nicht so weit, daß ich den Kontakt verlor. Vor Rencebauern brauchte ich während des Fliegenschwarms, der vermutlich in mehreren Wellen stattfand und mindestens ein paar Ahn, wenn nicht sogar einige Tage dauern würde, keine Angst zu haben.

Überall um mich herum fühlte ich Rence. Also hatte ich eine gewisse Deckung. Nichts sehen zu können machte mich rasend. Es war durchaus möglich, daß in diesem Augenblick ein Soldat belustigt meine Bemühungen beobachtete.

Etwas Weiches glitt an meinem Nacken vorbei. Es konnte durchaus eine Mokassinschlange sein. Ich hatte keine Lust, bei Einbruch der Dämmerung noch im Wasser zu sein.

Ich ballte die Hände, die mir mit Handschellen vor den Körper gebunden waren, zu Fäusten.

Dann machte ich mich daran, die Haube an dem Floß zu reiben, an einem scharfkantigen Vorsprung. Dabei bemühte ich mich, es in der Höhe des Knebels zu machen, möglichst mein Gesicht zu schützen. Fliegen umschwärmten die Haube und ließen sich darauf nieder. Ich rieb weiter, obwohl meine Wange brannte. Es war sehr schwer, einen beständigen Druck an derselben Stelle auszuüben, aber ich versuchte es, so gut es ging, und glich das Verrutschen der Haube aus. Ich konnte die Reibung fühlen. Ich versuchte, den unteren Haubenrand über den Vorsprung zu stülpen und die Haube herunterzureißen, aber auf diese Weise schnitt ich mir nur in den Hals. Also rieb ich weiter. Ein paar Ehn später konnte ich fühlen, wie sich die Rinde vom Holz löste. Jetzt rutschte das Leder über eine glatte, feuchte Oberfläche, was noch enttäuschender war.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, aber plötzlich spürte ich einen kühlen Hauch auf der Haut. Außerdem zeigte sich ein winziger Lichtschimmer im Inneren der Haube. Ich konnte die rechte Innenseite sehen! Und dann kroch eine Stechfliege durch die Öffnung herein und ließ sich auf meiner Wange nieder.

Ich verharrte reglos, und sie bewegte sich auf das Licht zu und verschwand wieder durch die Öffnung. Sofort nahm ich meine Bemühungen wieder auf, verstärkte sie, rieb die Haube gegen das Holz – und dann riß das Leder.

Die Haube wies an der rechten Seite eine große Öffnung auf. Im ersten Augenblick war das Licht grell und blendend. Ich konnte die Öffnung sehen, und behutsam stülpte ich ihren zerfetzten Saum über das Holz und senkte den Kopf. Das Floß senkte sich, und die Sklavenhaube wurde zur Hälfte abgerissen. Fast im gleichen Augenblick sah ich, wie ein kleines, von Stechfliegen bedecktes Tharlarion, das kaum größer als einen halben Meter war, von dem Floß ins Wasser sprang. Die Stämme waren mit einer dicken Schicht Fliegen überzogen. Andere schwärmten dicht darüber.

Schnell erkundete ich meine Umgebung.

Überall ragten Rencehalme in die Höhe. Von den Soldaten fehlte jede Spur. Auf der einen Seite gab es eine kleine Sandbank. Drei ausgewachsene Tharlarion lagen dort und beäugten mich. Sie waren mit Stechfliegen übersät, aber es schien sie weder zu stören noch ihnen irgendwelches Unbehagen zu bereiten. Sie betrachteten mich durch die dritten, transparenten Augenlider hindurch. Ich schob das Floß tiefer in das Rencefeld, von ihnen fort. Wären sie auf mich zugekommen, hätte ich versucht, mich auf das Floß zu retten. Tharlarion können außerordentlich gefährlich sein, aber der Mensch ist nicht ihre bevorzugte Beute. Außerdem sind sie daran gewöhnt, ihre Beute im oder in der Nähe zum Wasser zu töten, daher ist es unwahrscheinlich, daß sie auf Flöße klettern. Manchmal paddeln die Rencebauern in ihren leichten Gefährten mitten durch sie hindurch. Sie klettern auch nicht auf die Renceinseln. Und sollte dies doch einmal vorkommen, können Kinder sie mit Stöcken vertreiben. Etwas anderes ist es jedoch, wenn eine der Echsen einmal Menschenfleisch gefressen hat; nähert sie sich einem Renceboot oder will sie auf eine Renceinsel steigen, droht höchste Gefahr. Für gewöhnlich erlegen die Bauern ein solches Tier, da es eine Bedrohung darstellt.

Ich tauchte immer wieder unter, um meinen Kopf und die Reste der Sklavenhaube von den Fliegen zu befreien. Tief innerhalb der Schilfansammlung befanden sich spürbar weniger Fliegen.

Dann kam der Knebel an die Reihe. Ich zwang das Halteband über den Vorsprung und zerrte, so hart ich konnte, wobei ich das Floß mehr als nur einmal zur Hälfte untertauchte. Es gelang mir, das Band einen Viertelhort zu lockern. Dann drückte ich mit einiger Zungenarbeit das Tuch aus dem Mund. Ich warf den Kopf in den Nacken und atmete tief ein; jetzt lag nur noch das Halteband über meinen Zähnen. Ich konnte froh sein, daß sie keinen Eisen- und Lederknebel benutzt hatten. Ein solcher Knebel besteht aus zusammengenähten Lederstücken, die von einem Eisenband an Ort und Stelle gehalten werden; dieses wird im Nacken verschlossen und verhindert jede Manipulation. Es sind auch Modelle in Gebrauch, bei denen der eingeführte Knebel aus einer lederüberzogenen Eisenkugel besteht, in die ein Eisenreifen hineinmontiert wurde. Eine Mechanik aus gezahnten Sperrstangenund Haken erlaubt, daß man ihn an die jeweils benötigte Größe anpassen kann. Es gibt zwei Größen, für Männer und für Frauen. Der Vorteil dieser Art von Knebel liegt darin, daß der Gefangene ihn selbst mit freien Händen nicht entfernen kann. Wie man sich sicher denken kann, werden die kleineren Schloßknebel weitaus häufiger benutzt, und dann so gut wie nie bei Männern, sondern bei Sklavinnen. So kann ihr Herr über ihre Hände verfügen, sie arbeiten oder ihn erfreuen lassen, muß sie aber nicht sprechen hören, wenn er nicht will.

Mit einigen Schwierigkeiten kletterte ich auf das Floß und zerrte mit meinen aneinandergeketteten und an der Taille festgebundenen Händen das Geschirr ebenfalls hinauf.

Der Stich einer Fliege hätte mich beinahe aufschreien lassen.

Da ich die Hände vor dem Körper hatte, gelang es mir, das Geschirr von dem Floß zu lösen. Gefesselt wie ich war konnte ich mich selbst jedoch nicht davon befreien. Aber wenigstens konnte ich jetzt das Floß verlassen. Ich war nicht länger daran gefesselt, ich war kein Zugochse für Ar mehr. Trotz der Handschellen verfügte ich wieder über eine gewisse Beweglichkeit. Ich kniete auf dem Floß und fühlte mich großartig.

Ich blickte mich um. Um mich herum gab es nichts anderes als Rence. Ich zerrte an dem Riemen um meinem Leib, der die Handschellen hielt. Ich war noch immer nackt und ziemlich hilflos. Auch ein zweiter Versuch erwies sich als fruchtlos: ich konnte den Riemen nicht zerreißen. Er war sehr stabil. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, es mit den Eisenmanschetten zu versuchen, aber dabei würde der Riemen schmerzhaft in meinen Rücken schneiden. Ich wollte keine offenen Wunden dem Sumpfwasser aussetzen, wenn es sich vermeiden ließ. Bei vielen der Soldaten hatten sich die Wunden entzündet, selbst wenn es sich nur um geringfügige Verletzungen wie Schnitte von den Rencehalmen handelte. Diese Entzündungen hatten die Strapazen und Härten des Deltas nur noch verstärkt. Ich kroch zur Seite des Floßes und schob den Riemen über einen der unregelmäßigen Holzvorsprünge. Dann griff ich mit beiden Händen zu und bewegte ihn mit wohldosierten kleinen Bewegungen vor und zurück. Wenige Ehn später ging er entzwei, und ich streckte die Arme aus. Ein großartiges Gefühl.

Ich riß die Handgelenke auseinander. Die kurze Kette dazwischen stoppte sie fast sofort. Meine Bewegungsfreiheit war auf wenige Zentimeter beschränkt. Die mittlerweile angerosteten Kettenglieder erfüllten noch immer ihren Zweck. Trotzdem hätte ich jubeln können. Auch ein auf diese Weise gefesselter Mann kann gefährlich sein.

Ich entfernte das Halteband des Knebels. Die Männer von Ar rechneten zweifellos damit, daß ich tiefer in den Sumpf floh. Ich hatte das auch durchaus vor. Aber da waren noch vorher ein paar Dinge zu erledigen; es galt, einen Schlüssel zu finden. Zweifellos war die Flucht aus dem Delta – von der ich keinen Augenblick lang zweifelte, daß sie mir gelänge – mit ein paar Vorräten einfacher zu bewerkstelligen. Sicherlich würden mir die guten Soldaten von Ar, die alle schließlich das Herz auf dem rechten Fleck trugen, das nicht verübeln. Außerdem war ich der Meinung, daß sie mir das schuldeten, zog man die ganzen Unannehmlichkeiten und die Arbeit in Betracht, für die ich nicht entschädigt worden war. Immerhin war ich ein freier Mann.

Ich glitt vom Floß ins Wasser, um den Fliegen weniger ausgeliefert zu sein. Ein Blick nach oben zeigte, daß noch immer Millionen von Fliegen durch die Luft summten, aber der Schwarm war deutlich kleiner geworden.

Ich würde auf die nächste Welle warten.

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