»Ich möchte den Hauptmann sprechen«, sagte ich zu dem Soldaten.
»Ich habe ihm deine Bitte übermittelt«, erwiderte der Soldat. »Und jetzt halt den Mund.«
Ich ließ mich in meinen Fesseln auf den Sand zurücksinken.
Insekten krochen über meinen Körper; ich biß die Zähne zusammen. Dann wechselte ich die Position. Es war so gut wie unmöglich, mich mit den Händen zu schützen. Ich wollte gequält aufschreien. Ich fragte mich, ob eine solche Qual einen Mann in den Wahnsinn treiben konnte. Aber ich schwieg. Ich legte mich wieder auf den Rücken und sah zum Himmel. Dort schwebten die Sterne und zwei der drei Monde. Ein paar Meter entfernt schrie ein Mann wütend auf und schlug auf seinen Körper. Es waren viele Soldaten versammelt.
Das Delta des Vosk ist ein trügerisches Gebiet, in dem man sich nur mit großer Mühe zurechtfindet. Seine Wege verändern sich beinahe über Nacht. Die Sicht ist meistens sehr schlecht, wegen des hohen Renceschilfs reicht sie selten weiter als ein paar Schritte. Fahrrinnen, in denen das schlammige, träge Wasser tief genug ist, um ein Rundschiff zu tragen, wechseln sich mit nur zentimetertiefen Rinnsalen ab. Zu dieser Jahreszeit, nach der im Frühling eintretenden Schneeschmelze flußaufwärts, beträgt die durchschnittliche Wassertiefe zwischen einem und eineinhalb Metern.
Es gibt hier viele Sandbänke.
Auf einer solchen Bank hatten etwa fünfzig bis sechzig Soldaten ihr Lager aufgeschlagen. Sie hatten ihr kleines Boot auf die Sandbank gezogen. Bei der ersten Übernachtung vor etwa zehn Tagen waren einige Boote verlorengegangen. Wegen der Strömungen sind die Anzahl und die Form der Sandbänke ständigen Veränderungen unterworfen; der Sand wird weggeschwemmt und neu verteilt. Nach jener ersten Nacht hatte man die kleineren Boote zusammengebunden, Pflöcke in den Boden gerammt und die Taue daran festgemacht. Meine gefesselten Knöchel waren mit einem kurzen Seil an einem von ihnen festgebunden, die Leine hing an einem anderen.
»He, hör mal«, rief ich.
Der Soldat sah zu mir herüber.
»Bin ich der einzige Gefangene im Delta?«
»Keine Ahnung.«
Nach der Gefangennahme waren Marcus und ich voneinander getrennt worden. Nach unserer Ankunft in dem provisorischen Lager vor Holmesk hatte ich allerdings ein paar Tage lang gewußt, wo man ihn untergebracht hatte. Dann hatten sie ihn weggebracht und mich in einen Käfig gesperrt. Vermutlich hatte man ihn zu Saphronicus gebracht oder ihn zumindest einem zuständigen Offizier vorgeführt. Das hatte der Anführers des Spähtrupps, der uns gefangengenommen hatte, zumindest vorgehabt.
»Man hat mich zusammen mit meinem Freund, einem jungen Kerl aus Ar-Station, in das Lager von Ar gebracht«, sagte ich.
»Dein Offizier?«
»Mein Freund.«
»Ihr wart beide Spione«, sagte der Mann grimmig.
»Was ist aus ihm geworden?«
»Was glaubst du denn?«
»Keine Ahnung.«
»Vermutlich wurde er kastriert, gefoltert und gepfählt«, meinte der Soldat.
»Er stammte aus Ar-Station, aus einer uralten und ehrenhaften Familie. Den Marcelliani.«
»In diesem Fall wurde er vielleicht nur ausgepeitscht und geköpft.«
»Hast du davon gehört?«
»Nein. Ich weiß nichts von ihm.«
»Warum hat man mich ins Delta gebracht?« fragte ich.
»Damit du Zeuge wirst, wie man deine Lügen enthüllt«, sagte er. »Damit du siehst, wie wir die Sleen aus Cos einholen, damit du miterleben kannst, wie deine Freunde, deine Zahlmeister niedergemacht werden, damit du miterlebst, wie sie die Rache Ars trifft! Ruhm und Ehre für Ar!«
»Und wie viele Cosianer habt ihr getötet?«
»Wir werden sie bald eingeholt haben«, sagte der erste Soldat wütend. »Vielleicht schon morgen. Schlaf jetzt!«
Ich lag noch eine Zeitlang da und betrachtete die Sterne. Einmal zeichneten sich krallenbewehrte, membranhafte Schwingen vor einem der Monde ab, der gleitende Umriß eines riesigen, räuberischen Uls, das gefürchtete fliegende Tharlarion des Delta. Das ist die einzige Kreatur, die es in dieser Gegend wagt, ihre Gestalt am Himmel zu zeigen. Ich versuchte, die winzigen Füße zu ignorieren, die über meinen Körper krabbelten. Irgendwann gegen Morgen schlief ich schließlich ein.