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Die Straße unter mir war nicht gepflastert. Sie war staubig und heiß, lang und schmal. Sie führte nach Norden.

Ich betrachtete sie.

Sie war leer.

Es war schwer zu glauben, daß sich das Expeditionsheer von Cos nordwestlich von hier in der Nähe des Vosk aufhielt, während sich jenseits von Teslit in südlicher Richtung vor oder in Holmesk das Winterlager von Ar befand, das angeblich über ein beträchtliches Verpflegungsdepot verfügte und eine der größten Truppenkonzentrationen darstellte, die man jemals so weit im Norden des Kontinents gesehen hatte.

Es war später Nachmittag. Ich hielt mir die Hand schattenspendend über die Augen. Von dem langen braunen Pfad, der zwei gewaltige Flächen aus vertrocknetem Gras wie eine trockene Linie teilte, stieg kein Staubwölkchen in die Luft. Der sich darüber wölbende Himmel war hell und klar, beinahe wolkenlos. Wie die Straße schien auch er leer zu sein.

Es war einsam hier.

Doch im Leben eines Kriegers sind solche Augenblicke willkommen, Augenblicke, in denen man allein sein, in denen man nachdenken kann.

Er, der nicht denken kann, ist kein Mann, sagt der Kodex. Doch der, der nur denkt, ist es auch nicht, heißt es dann weiter.

Teslit, ein kleines Dorf, war bis auf eine oder zwei Familien verlassen worden. Frauen und Vieh waren in aller Eile fortgeschafft worden. Ich hielt das nicht für unklug. Cos stand nördlich von hier, Ar südlich. Hätten die Heere die Auseinandersetzung gesucht, wäre es durchaus vorstellbar gewesen, daß sie auf der Holmesk-Straße aufeinandertrafen, vielleicht in der Nähe von Teslit, etwa auf halbem Weg zwischen dem Vosk und Holmesk. Ich musterte die Straße. Es hieß, hier hätte vor langer Zeit eine Schlacht stattgefunden, vor mehr als zweihundert Jahren, die Schlacht von Teslit, die zwischen den Streitkräften von Ven und Harfax ausgetragen wurde. Viele wissen nicht einmal, daß es dort überhaupt ein Dorf gibt. Und doch hatte dieses in der Nähe befindliche Dorf der Schlacht ihren Namen verliehen. Derartige historische Details muten oft eigentümlich an.

Ich lauschte einen Augenblick lang, und es kam mir so vor, als könnte ich von dort unten und zugleich aus weiter Ferne, wie aus einer anderen Zeit, ganz schwach das Schmettern der Trompeten und das Dröhnen der Trommeln hören, die Schreie der Männer und das Klirren von Stahl. Einst war diese friedliche Straße, dieses staubige Band zwischen den Grasfeldern, von Blut getränkt worden. Aber dann war da nur wieder diese Stille und die staubige Straße, die nach Norden führte.

Tatsächlich befand sich das Heerlager von Ar an derselben Stelle wie das Lager von Harfax zweihundert Jahre zuvor. So etwas ist kein Zufall. Es hat mit dem Gelände, dem Wasser, den Verteidigungsmöglichkeiten und dergleichen zu tun. Das Territorium, sein Gefälle, seine Quellen, seine Flüsse, ihre Breite und Tiefe, ihre Strömungsgeschwindigkeit, ihre Furten, das Klima, die Jahreszeit, die Sichtweiten, der Niederschlag, das alles bestimmt das vierdimensionale Brett, auf dem das Spiel des Krieges stattfindet. Es ist kein Wunder, daß gute Soldaten oftmals scharfsinnige Historiker sind, die eingehend Karten und Feldzüge studieren. Gewisse Routen, Situationen und Jahreszeiten sind optimal für bestimmte Zwecke, während andere es wiederum nicht sind und sich sogar als verhängnisvoll erweisen können. So wurden zum Beispiel auf Gor gewisse Pässe immer wieder benutzt. Sie sind einfach die beste Verbindung zwischen wichtigen Punkten. Hier finden sich die Inschriften oder Zeichen Dutzender Heere, die im Verlauf von Jahrhunderten – manche sprechen sogar von dreitausend Jahren – dort eingeritzt wurden.

Ich hielt mich seit fünf Tagen in dieser Gegend auf und hatte ein kleines, getarntes Lager aufgeschlagen, von dem aus ich die Straße überblicken konnte. Am Morgen nach meinem kleinen Zusammenstoß mit dem gefürchteten Borton in dem Paga-Ausschank hatte ich einer Suchmannschaft freiwillig meine Hilfe angeboten und war auch willkommen geheißen worden; man hatte sie zusammengestellt, um in südlicher Richtung nach dem ›Spion‹ und ›Dieb‹ zu suchen. Wie ich erfreulicherweise vermelden kann, blieben sie erfolglos. Außer mir setzte sich die Gruppe aus fünf Männern zusammen, Söldnern, die von einem cosischen Berufssoldaten angeführt wurden. Sie hatten mich erfreut bei sich aufgenommen, da es schwierig war, Freiwillige für die Suche im Süden zu finden, dort, wo angeblich das Heer von Ar stand. Ich hatte erklärt, mich ihnen gern anzuschließen, vor allem, da mich meine Geschäfte in diese Richtung führten. Des weiteren gestand ich ihnen, wie erfreut ich war, zumindest eine Zeitlang von ihrem Schutz profitieren zu können. Das entsprach mehr der Wahrheit, als sie ahnten. Sie schützten mich vor der Suche, was allein schon unbezahlbar war, ganz zu schweigen vor den plötzlichen Angriffen der cosischen Tarnsmänner, die oft aus heiterem Himmel erfolgen. Außerdem war es schön, am hellichten Tag offen reisen zu können. Als sie es nach drei Tagen eilig hatten, zur Truppe zurückzukehren – vor allem da sie am Himmel zwei Tarnpatrouillen aus Ar gesehen hatten –, verabschiedete ich mich von ihnen und ging allein weiter.

Die Straße unter mir schien so leer wie zuvor.

Ich hatte mein Lager in den Hang eines kleinen, mit Büschen bewachsenen Hügels westlich der Straße gegraben. Die Neigung des Hügels sorgte dafür, daß der waagerechte Einschnitt nicht auffiel. Ein Nadelbaum bot einen beinahe vollständigen Sichtschutz nach oben.

Ich beobachtete die Straße.

Es gab in Teslit noch einige wenige Hütten, deren Bewohner bis jetzt nicht geflohen waren; in einer von ihnen hatte ich übernachtet und mit einem Mann und zwei seiner Söhne den Kessel geteilt. Ich hatte Fragen gestellt, einige Vorräte eingekauft und war am Morgen weitergezogen. Nach einer Ahn hatte ich natürlich die Richtung gewechselt und mein jetziges Lager bezogen.

Die Sonne schien warm.

Ich hatte damit gerechnet, Marcus hier irgendwo zu finden, ganz in Übereinstimmung mit seinem sorgfältig ausgeklügelten Notfallplan. Aber ich hatte von ihm keine Spur entdeckt. Auch in dem Dorf hatte ich nichts gehört. Ich ging davon aus, daß er das Lager vernünftigerweise schnell verlassen hatte, bevor man sich an unsere mutmaßliche Bekanntschaft erinnerte, und dann, nachdem er mehrere Ahn in der Nähe von Teslit verborgen gewartet hatte, weitergeeilt war, um seine Informationen so schnell wie möglich den Arern zu überbringen. Genau das hatte ich auch von ihm erwartet. Er war ein ausgezeichneter junger Offizier, mit einem ausgeprägten Pflichtbewußtsein. Er hätte sich nicht so wie ich unvernünftigerweise in der Nähe des feindlichen Lagers herumgetrieben, nur um der entfernten Möglichkeit willen, einem in Gefahr geratenen Kameraden zu Hilfe kommen zu können. Eine derartige Unbedachtsamkeit hätte seine Chance, die Informationen zu überbringen, in ernste Gefahr gebracht. Man konnte sich darauf verlassen, daß Marcus seine Pflicht tat, selbst wenn das bedauerlicherweise bedeutete, einen Kameraden zu opfern. Er hatte mir im Lager der Cosianer eindringlich und in aller Ausführlichkeit klar gemacht, daß er in einer ähnlichen Situation freudig dazu bereit wäre, geopfert zu werden. Tatsächlich hatte er sogar darauf bestanden, und ich hatte ihm nicht widersprochen, denn wie ich schon sagte: Es ist schwer, mit Leuten zu diskutieren, die recht haben.

Die Straße lag verlassen da.

Ohne Marcus hatte ich keine große Lust, mich dem Lager der Arer zu nähern. Man hätte mich für einen Spion halten können. Dasselbe war mir schon in Ar-Station widerfahren. Allein schon mein Akzent würde mich verdächtig machen. Davon abgesehen war Marcus vermutlich schon längst in Holmesk, oder zumindest in seiner Nähe. Und selbst wenn nicht, ging ich davon aus, daß der Heerführer von Ar die Position und die Bewegungen des cosischen Expeditionsheers genausogut kannte wie Marcus oder ich. Aufgrund der mangelnden Aktivitäten im Winterlager wollte Marcus das nicht glauben. Natürlich gab es für diese Untätigkeit eine einfache Erklärung, deren bis jetzt schlimmste Auswirkung in dem Unvermögen bestand, Ar-Station während seiner Belagerung zu Hilfe zu kommen. Die Erklärung war wirklich einfach. Es ging um Verrat an höchster Stelle.

Ich betrachtete auch den Himmel eingehend. Er war ebenfalls menschenleer. Obwohl der Nachmittag schon weit fortgeschritten war, brannte die Sonne noch immer hell.

Ich erwog, nach Port Kar zurückzukehren. Ich wußte nicht, ob es dort für mich sicher war oder nicht. Links neben der Türschwelle meines Freundes Samos, des ersten Sklavenhändlers von Port Kar, befand sich eine Fahnenstange. An dieser Stange hingen ein paar Sklavenketten, dort, wo sich Stange und Wand trafen. Für gewöhnlich hatte man ein Stück rote Sklavenseide an der Kette festgebunden. Wenn dieses Stück durch gelbe Seide ersetzt worden war, bestand keine Gefahr mehr. Doch es gab nur wenig, das mich in dieser Situation nach Port Kar rief. Der Versuch, mich nach Torcodino durchzuschlagen, reizte mich viel mehr. Dort konnte ich mit dem derzeitigen Beherrscher der Stadt Dietrich von Tarnburg in Kontakt treten, der dort wie ein Larl in seinem Versteck lauerte. Ich würde ihm berichten, wie man mich in Ar verraten hatte und was ich mir daraufhin zusammengereimt hatte. Vielleicht konnte er mit Myron, dem Polemarkos von Temos, dem Oberbefehlshaber der cosischen Invasionsstreitmacht, eine Abmachung treffen über den sicheren Abzug aus Torcodino, falls es dazu noch nicht zu spät war. Dietrichs Kühnheit und Tapferkeit, der brillante Schachzug, Torcodino, Cos’ Nachschubbasis im Süden, einzunehmen und damit die Invasion zum Stillstand zu bringen, erschien nun ziemlich sinnlos. Ar war nicht losmarschiert, um Cos dort zu stellen, sondern hatte sein Heer nach Norden geschickt. Nun mußte man davon ausgehen, daß es Myron im Verlauf des Winters geschafft hatte, sein Kriegsmaterial aufzustocken. Da der Winter nun vorüber war, konnte er auch wieder seine zahllosen Söldner um sich scharen, indem er ihre Standarten aus Dutzenden Winterlagern rief. Torcodino war zumindest kein wesentliches Hindernis mehr auf dem Marsch nach Ar. Natürlich hatte Dietrich nichts davon, er würde sich nicht von seinem Posten absetzen können. Ich war davon überzeugt, daß Ar ihm nicht zu Hilfe kommen würde, genausowenig wie es Ar-Station, immerhin seinem eigenem kolonialen Außenposten am Vosk, der nun in Schutt und Asche lag, zur Hilfe gekommen war.

Früher oder später wollte ich Ar einen Besuch abstatten. Ich hatte dort noch etwas zu erledigen.

Ich blickte auf die leere Straße hinunter.

Am besten ging ich nach Torcodino. Andererseits hätte ich aus Achtung vor Marcus den Versuch wagen müssen, Ars Winterlager zu erreichen. Im Gegensatz zu Marcus schuldete ich Ar keine Untertanenpflicht. Und doch hätte er genau das gewollt; er hätte gewollt, daß ich den Oberbefehlshaber von Ar über die Bewegungen und Positionen des cosischen Expeditionsheers informiere. Ich konnte nicht davon ausgehen, daß er es geschafft hatte. Also würde ich versuchen, das Winterlager zu erreichen.

Die Straße war menschenleer.

Am Morgen würde ich das Lager abbrechen und nach Holmesk reisen. Ich würde mich wieder als Kaufmann tarnen.

Ich blickte wieder zur Straße.

Sie war noch immer leer.

Ich mußte an Ephialtes denken, den Marketender aus dem Krummen Tarn, der mir vor Ar-Station wiederbegegnet war. Ich nahm an, daß er das Expeditionsheer begleitete. Auch er hatte unter Borton zu leiden gehabt. Tatsächlich hatte der Tarnsmann Ephialtes’ Schlafplatz in der Herberge für sich beansprucht, einen ziemlich guten Platz, einen Eckplatz, und er hatte den Marketender einfach davongejagt und ihn sich genommen. Eine Meisterleistung an Kühnheit. Ephialtes hatte mir dann später geholfen, den Kurier hereinzulegen. Danach hatte er als mein Agent gearbeitet. Er war ein guter Kerl. Zur Zeit behütete er vier meiner Frauen, die Sklavin Liadne und die drei freien Frauen Amina, Rimice und Phoebe.

Am Morgen würde ich aufbrechen, um nach Holmesk zu reisen.

Plötzlich beugte ich mich vor. Da war ein winziger Punkt. In der Ferne. Ich war mir nicht sicher, ob es sich nicht um eine optische Täuschung handelte. Gespannt wartete ich. Ein paar Ehn später wußte ich es genau. Auf der Straße, dieser langen, schmalen, staubigen Straße, die kaum mehr als ein Pfad war und zu beiden Seiten von vertrocknetem Gras begrenzt wurde, näherte sich eine Gestalt.

Ich wartete.

Ich wartete mehrere Ehn, fast eine Viertelahn. Langsam entstand in mir Gewißheit.

Ich lachte leise.

Einige Zeit später hob ich einen Stein auf und warf ihn, als der Mann mein Versteck passierte, hinter ihn auf die Straße. Da es dort keinerlei Deckung gab, tat der Mann genau das, was ich erwartete. Er drehte sich blitzschnell um, ließ das Marschgepäck fallen, bewegte sich zur Seite, nahm eine geduckte Haltung an, alle Sinne gespannt. Er wandte sich der dem Geräusch entgegengesetzten Richtung zu. In einer derartigen Situation, die von dem Geräusch des auftreffenden Steins heraufbeschworen worden war – etwas Unerwartetes auf der linken Seite des Reisenden –, kam die Drohung von dem bewachsenen Hügel und nicht von der Grasebene. Die spätnachmittägliche Sonne spiegelte sich im Stahl der blankgezogenen Klinge. Der Mann hatte sich fast schon über einen Meter von seinem Gepäck entfernt. Schon im nächsten Augenblick würde er die Deckung der Büsche erreicht haben.

Ich stand auf, hob grüßend die rechte Hand, die frei von jeder Waffe war.

Seine Klinge glitt zurück in die Scheide.

»Wie ich sehe, bildet Ar seine Krieger noch immer gut aus!« rief ich zu ihm hinunter.

»Ar-Station!« erwiderte er lachend. Er nahm sein Marschgepäck auf und stürmte den Hügel herauf.

Einen Augenblick später schüttelten Marcus und ich uns die Hände.

»Ich hatte befürchtet, sie hätten dich gefangengenommen«, sagte er erleichtert.

»Ich habe hier auf dich gewartet. Was hat dich aufgehalten?«

Sein Gesicht lief plötzlich rot an. »Ich wurde am Vosk aufgehalten«, antwortete er. »Ich konnte nicht früher kommen.«

»Geschäfte?« fragte ich.

»Natürlich«, antwortete er ausweichend.

Ich lachte. »Du hast darauf gewartet, etwas über mich zu hören – ob sie mich erwischt haben.«

»Nein.« Die Antwort kam etwas zu schnell.

»Du hättest sofort nach Holmesk aufbrechen sollen«, sagte ich.

»Vielleicht.«

»Aber du hast es nicht getan«, bemerkte ich.

Er errötete.

»Das war doch unser Plan, oder?« fragte ich ihn mit einer Unschuld, die Boots Tarskstück alle Ehre gemacht hätte. Ich war nicht umsonst mit einer Truppe fahrender Schauspieler durch das Land gezogen. Zugegeben, meistens hatte ich nur geholfen, die Bühne aufzubauen und die Räder steckengebliebener Wagen aus dem Dreck zu ziehen.

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte er verdrossen.

»Aber man muß sich doch an einen Plan halten«, erwiderte ich. »Zum Beispiel muß man dazu bereit sein, den Kameraden und Freund zu opfern.«

»Natürlich«, bestätigte Marcus gereizt. »Natürlich!«

»Es ist gut, daß es Menschen wie dich gibt, die Faulpelze und weniger verantwortliche Kerle wie mich über ihre Pflichten aufklären.«

»Danke.«

»Aber anscheinend hast du dich bei dieser Gelegenheit nicht daran gehalten.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Danke, mein Freund.«

Wir schüttelten uns erneut die Hände.

»Pst«, zischte er plötzlich. »Dort unten!«

»Hallo, ihr da!« rief ein Mann fröhlich von der Straße aus. Er war in Begleitung zweier weiterer Männer, hochgewachsene, halbrasierte, zerlumpt aussehende Burschen. Sie waren bewaffnet, und sie sahen gefährlich aus.

Marcus’ Hand fuhr zum Schwertgriff.

»Warte«, flüsterte ich ihm zu. Ich hob grüßend die Hand. »Tal«, rief ich den Männern auf der Straße zu.

»Wir sind Reisende«, rief der Sprecher der Gruppe. »Wir suchen den Weg nach Teslit.«

»Das liegt weiter südlich von hier, an dieser Straße«, sagte ich.

»Das sind keine Reisenden«, murmelte Marcus.

»Nein.«

»Ist das weit?« rief der Mann.

»Einen Pasang.«

»Sie kommen von Süden«, bemerkte Marcus.

»Ich weiß«, entgegnete ich. Ich hatte die Straße beobachtet. Wären sie Marcus gefolgt, hätte ich sie gesehen. Aber was noch viel wichtiger war, von dieser Höhe aus konnte man die Spuren im Straßenstaub sehen.

»Sie tragen kein Gepäck«, sagte Marcus.

»Das befindet sich vermutlich in Teslit.« Ich war nicht der einzige, der in Teslit Erkundigungen einziehen konnte.

»Vielleicht sind sie mir gefolgt«, sagte Marcus bitter.

»Das halte ich für unwahrscheinlich. Jedenfalls nicht direkt. Solche Verfolger wären dir doch aufgefallen.«

»Das hoffe ich zumindest«, sagte er. Es ist gefährlich, einem Krieger zu folgen.

»Ihr braucht keine Angst zu haben!« rief der Kerl auf der Straße.

»Vielleicht haben sie vorausgesehen, daß du vom Lager südwärts reist«, meinte ich. »Vielleicht hatten sie angenommen, daß du früher aufbrichst. In Teslit haben sie dann erfahren, daß jemand, auf den meine Beschreibung paßt, kürzlich dort war, aber allein, und dann anscheinend weiter nach Süden reiste. Sie sind dann so weit nach Süden geeilt, wie sie es wagte, aber jetzt kehren sie zurück. Noch wahrscheinlicher ist, daß sie damit gerechnet haben, daß ich in der Nähe an einem Treffpunkt warte.«

»Wir möchten gern mit euch sprechen!« rief der Mann.

Ich konnte es ihnen nicht verdenken, daß sie nicht heraufkommen wollten.

»Vielleicht sind es Straßenräuber«, flüsterte Marcus.

»Das glaube ich nicht.«

»Was denn dann?«

»Jäger«, sagte ich. »Menschenjäger.« Ich wandte mich wieder den Männern auf der Straße zu. »Wir sind einfache Kaufleute«, rief ich.

»Dann kommt runter, damit wir euch etwas abkaufen können!«

»Ihr könntet Soldaten aus Ar sein«, erwiderte ich. Es war durchaus möglich, daß Ar Geheimpatrouillen in der Gegend hatte.

Die drei Männer blickten einander an. Sie berieten sich leise. Dann hob der Sprecher den Kopf. »Nein, wir kommen nicht aus Ar.«

Marcus lächelte. »Dann ist es wahrscheinlich, daß sie aus dem Lager am Vosk kommen.«

Ich nickte.

»Keine Angst«, rief der Mann. »Ihr habt nichts von uns zu befürchten.«

»Wir sind einfache Kaufleute«, erinnerte ich ihn.

»Dann wollen wir euch etwas abkaufen!«

»Was denn?« fragte ich.

»Wir brauchen viele Dinge«, rief er. »Zeigt uns eure Waren.«

»Dann kommt rauf.«

»Kommt ihr runter.«

»In zwei oder drei Ahn ist es dunkel«, murmelte Marcus.

»Ja.« Es war durchaus nicht unwahrscheinlich, daß wir das kleine Lager bis dahin halten konnten. In der Dunkelheit konnten wir uns dann davonschleichen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie Lust verspürten, den Hügel emporzuklimmen. Außerdem würden sie ihr Werk gern schnell verrichten.

»Sie könnten uns am Morgen folgen«, meinte Marcus.

»Das ist wahr.«

»Kommt runter!« rief der Mann auf der Straße.

»Vielleicht sollten wir herausfinden, was sie wollen«, sagte ich.

»Genau«, erwiderte Marcus grimmig.

»Lächle«, riet ich ihm.

Dann kletterten und rutschten wir zur Straße hinunter.

»Ihr habt eure Waren vergessen«, sagte der Söldner und lächelte. Seine beiden Freunde rückten von ihm ab. Auf diese Weise hatten sie genug Platz, um Stahl schwingen zu können.

»Die Bündel sind schwer«, antwortete ich. »Ich hielt es für klüger, erst einmal herauszufinden, wofür ihr euch interessiert.« Er glaubte doch wohl nicht ernsthaft, daß ich mich von einem Bündel behindern lassen würde, wenn ich den Hügel hinuntersteigen, wenn ich unten mein Gleichgewicht wiederfinden mußte.

»Ihr fürchtet euch noch immer«, sagte der Söldner.

»Nein«, erwiderte ich.

Er holte ein blaues Armband aus der Tunika, das er grinsend über den linken Ärmel hinaufschob, bis über den Ellbogen. »Seht ihr, kein Grund zur Angst. Wir kommen nicht aus Ar.« Seine beiden Freunde grinsten ebenfalls und befestigten kennzeichnende Merkmale am linken Arm, der eine ein Armband, der andere ein blaues Tuch, das mit einem Knoten versehen war. Viele Söldner tragen keine Uniformen. Sie identifizieren sich durch Zeichen wie Armbänder, Tücher, Bänder und Federn, die verkünden, zu welcher Seite sie gehören. Ich brauche sicher nicht eigens zu erwähnen, daß solche beliebigen Merkmale schnell ausgetauscht werden können; die Farben verändern sich mit dem Schlachtverlauf. Viele Söldnerkompanien bestehen aus kaum mehr als bewaffnetem Pöbel, andere, wie die Regimenter Dietrich von Tarnburgs, Pietro Vacchis oder Raymond von Rive-de-Bois, sind erstklassig, sie stellen genauso erprobte Krieger wie die Ars und Cos’ dar.

Beim Umgang mit Söldnern ist es außerordentlich wichtig, genau zu wissen, mit welcher Sorte man es zu tun hat. Es kann einen großen Unterschied machen, was die Taktik angeht. Mehr als nur ein Regiment regulärer Truppen wurde dezimiert, weil seine befehlshabenden Offiziere die gegenüberstehenden Söldner unterschätzten. Um noch einmal auf den eben angesprochenen Seitenwechsel zurückzukommen – was auch immer von dem Schlachtenglück des Tages abhängt –, so ist auch auf Gor der Überläufer nicht gänzlich unbekannt. Es gibt beispielsweise Tuniken, deren Innenseite eine andere Farbe aufweist. So kann man sie nach Einbruch der Dunkelheit unbemerkt wenden. Allerdings werden solche Tuniken auf Gor nur selten getragen. Zum einen wird jeder Mann, der mit einem solchen Gewand erwischt wird, kurzerhand gepfählt, und zwar von beiden Seiten, deshalb finden sie hauptsächlich für Infiltrationszwecke Verwendung, genau wie falsche Uniformen und dergleichen.

»Ihr seid Söldner«, stellte ich fest. »Im Sold von Cos.«

»Und ihr steht der cosischen Sache ebenfalls loyal gegenüber«, grinste er, »wie eure Anwesenheit im Lager am Vosk bewiesen hat.«

»Wollt ihr denn nichts kaufen?« fragte ich.

Sie zogen die Schwerter. Auch mein Schwert glitt aus der Scheide.

»Wir wollen nur ihn«, sagte der Sprecher, der offensichtlich auch der Anführer der kleinen Gruppe war, zu Marcus. »Misch dich nicht ein.«

Marcus rührte sich natürlich nicht von der Stelle.

»Tritt zurück«, sagte ich zu Marcus.

Er bewegte keinen Muskel.

»Wer ist das erste Schwert?« fragte ich den Anführer.

»Das bin ich«, sagte der Mann zu seiner Linken. Mir war sofort klar, daß das nicht der Wahrheit entsprach. Immerhin stand er auf der linken Seite des Anführers, wo er dessen waffenlose Seite beschützen konnte. Seine Stärke würde vermutlich in der Verteidigung liegen. Es ist schwer, die Verteidigung eines Mannes zu durchbrechen, der sich allein darauf konzentriert. Während ich mich also mit ihm beschäftigte oder vielmehr von den dreien hauptsächlich ihn im Auge behielt, würde der Anführer freien Zugang zu meiner linken Seite haben. Meiner Meinung nach war der Anführer das erste Schwert. Bei kleinen Gruppen ist es oftmals die überlegene Schwertkunst, die über diese Einteilungen entscheidet.

»Also gut«, sagte ich und konzentrierte mich scheinbar auf ihn.

»Wer ist das erste Schwert?« fragte der Anführer.

»Das bin ich«, sagte Marcus. Das fand ich interessant. Natürlich war das durchaus möglich.

»Wir sind an dir nicht interessiert«, sagte einer der beiden hinten stehenden Männer unbehaglich. »Du darfst dich zurückziehen.«

Marcus rührte sich nicht. Wenn er sich zurückzog, stand es drei gegen einen.

»Ich dachte, du wolltest etwas kaufen«, sagte ich zu dem Anführer.

Er lachte. »Was verkaufst du denn?«

»Stahl«, sagte Marcus gleichmütig.

Der Mann zur Linken des Anführers wich ein Stück zurück, verschaffte sich einen weiteren Schritt Abstand zwischen sich und Marcus. Der junge Krieger wirkte bedrohlich.

»Mutiger junger Vulo-Hahn«, spottete der Anführer.

»Ganz ruhig«, sagte ich zu Marcus. Ich hatte die Befürchtung, er würde sich zu früh aus der Reserve locken lassen.

»Geh«, sagte der Söldner auf der linken Seite. »Wir wollen nichts von dir.«

Marcus rührte sich nicht. »Weil ich jung bin, glaubt ihr, ich wäre auch dumm. Da seid ihr im Irrtum.«

»Nein«, sagte der Söldner.

Einen Augenblick lang kam es mir so vor, als würde sich der Boden unter unseren Füßen unmerklich bewegen. Es war ein flüchtiger Eindruck.

»Ihr haltet uns für Spione«, sagte Marcus. »Ihr wollt uns beide, allerdings einen nach dem anderen.«

»Nein«, sagte der Söldner. »Bestimmt nicht.«

»Darum geht es also«, rief ich aus und tat so, als sei ich erleichtert. »Ihr seid gar keine Straßenräuber, die, wie wir befürchteten, ehrliche Leute ausrauben wollen. Ich glaube, wir können die Sache schnell regeln. Es handelt sich hier einfach um eine Verwechslung.«

»Du windest dich«, sagte der Anführer.

»Für wen haltet ihr uns?« fragte ich.

Der Anführer grinste. »Für die von uns Gesuchten.«

»Spione?«

»Für mich macht es keinen Unterschied, ob ihr Spione seid oder nicht.«

»Wie habt ihr uns gefunden?« fragte ich. Sie waren zu dritt. Ich wußte nicht, wie gut Marcus mit der Klinge umgehen konnte. Nach Möglichkeit wollte ich ihn beschützen.

»Policrates hat uns höchstpersönlich in sein Zelt gerufen«, sagte der Söldnerführer.

»Der Kommandant des Expeditionsheeres hat vorausgesagt, daß man euch nach dem Ende der offiziellen Suche ohne größere Mühe im Süden finden würde, in Richtung Holmesk. Dann würdet ihr mit keiner Verfolgung mehr rechnen und euch am sichersten fühlen. Er war es, der das Verbot aussprach, den jungen Burschen da zu ergreifen, der befahl, ihn unbeschadet gehen zu lassen, damit er uns zu dir führte.«

»Tarl, mein Freund, es tut mir leid«, sagte Marcus. »Aii!«

Der Anführer warf mir einen wilden Blick zu, dann senkte sich langsam sein Schwert. Er sackte auf die Knie, dann stürzte er kopfüber in. den Straßenstaub. Ich wandte mich seinem Kameraden zu, der die ganze Zeit rechts von ihm gestanden hatte. Marcus trat mit bleichem Gesicht zwischen das erste Schwert und mich.

»Euer Anführer wäre besser beraten gewesen, sich auf keine Erklärungen oder Unterhaltungen einzulassen. Wäre er so klug wie Policrates gewesen, wäre ihm so etwas vermutlich nicht passiert.«

Der Söldner wich vor mir zurück.

»Ich habe nicht einmal gesehen, daß sich dein Schwert bewegt hat«, sagte Marcus voller Ehrfurcht.

»Dein Anführer ließ zu, sich ablenken zu lassen«, sagte ich zu dem Söldner. »Vielleicht folgst du ja seinem Beispiel.«

Der Mann schüttelte den Kopf und wich weiter zurück.

Der Anführer hatte sich für den Aggressor gehalten. Er hatte mich als ängstlich eingeschätzt. Er hatte es für sein Vorrecht gehalten, den ersten Schlag zu führen. Der Stich der von der Seite geführten Klinge, die sauber zwischen zwei Rippen vorbei bis zu seinem Herz geführt und sofort wieder zurückgezogen worden war, hatte ihn völlig überrascht.

Dann schien der Boden wieder zu dröhnen, aber diesmal wallte auch Staub auf.

Ich wollte den Söldner vor mir nicht aus den Augen lassen.

Der Söldner, den Marcus in Schach hielt, stieß einen furchterfüllten Schrei aus. Dann blickte sich mein Gegner wild um, wandte mir den Rücken zu und ergriff die Flucht.

Aus der Staubwolke hinter mir erscholl eine Stimme. Sie rief »Tarsk!«, ein Befehl, den man oft bei der Tarskjagd hört, ein Signal, das Tier niederzureiten, damit man ihm dabei die Lanze in den Rücken oder die Seite stoßen kann. Aber das wurde mir erst richtig bewußt, nachdem der Boden direkt neben mir erzittert und ich zur Hälfte herumgefahren und dabei beinahe von einem Sattel-Tharlarion umgestoßen worden war, während sich eine Lanzenspitze zwischen die Schulterblätter des flüchtenden Söldners bohrte, der im nächsten Augenblick von dem Tharlarion niedergeritten wurde. Die Echse drehte sich in einer Staubwolke um, ihr Reiter hob die blutige Lanze.

»Männer aus Ar, wir grüßen euch!« sagte Marcus und hob die Hand. Er hatte das Schwert weggesteckt. Sein Gegner lag verstümmelt im Staub, ebenfalls von einer Lanze niedergestreckt. In dem Staub und dem Blut konnte man die blaue Farbe des um seinen Oberarm gewickelten, Zugehörigkeit signalisierenden Tuches nur noch mit Mühe ausmachen.

»Steck dein Schwert weg!« rief Marcus mir zu.

Ich tat es. Es waren etwa zehn Männer, die alle auf Tharlarion ritten. Fünf trugen Armbrüste. Drei davon waren auf Marcus gerichtet, zwei zielten auf mich.

»Senkt eure Armbrüste«, rief Marcus.

Die Waffen blieben, wo sie waren.

»Wir sind in Sicherheit«, sagte Marcus zu mir. »Das sind Männer aus Ar.«

Ich war davon nicht überzeugt, und wäre Marcus älter und erfahrener gewesen, wäre er es ebenfalls nicht gewesen. Sicher, sie trugen die Uniform von Ar. Aber für eine Patrouille befanden sie sich ziemlich weit nördlich. Natürlich war es durchaus möglich, daß es sich um Fernaufklärer handelte. Vielleicht hatte der Hauptteil des Heeres das Winterlager verlassen und marschierte nun auf den Vosk zu. In diesem Fall war diese Patrouille nicht so weit von ihrer Basis entfernt, wie es den Anschein hatte. Den besten Beweis, daß diese Männer tatsächlich aus Ar kamen, lieferte natürlich die Tatsache, daß sie die Söldner ohne zu zögern gnadenlos niedergeritten hatten. Die blauen Insignien hatte sie eindeutig als Männer von Cos identifiziert.

»Wir danken euch, daß ihr uns zu Hilfe gekommen seid«, sagte Marcus. »Ruhm und Ehre für Ar!«

»Ruhm und Ehre für Ar!« wiederholten vier oder fünf der Reiter.

Ihr Anführer schien jedoch nicht auf Marcus’ Worte zu reagieren. Er sah müde aus. Er war staubbedeckt. Das Halstuch hing um seinen Hals. Für gewöhnlich schiebt man es vor einem Kampf herunter, damit Befehle nicht gedämpft ertönen und man freier atmen kann. Seine Kapuze war ebenfalls zurückgeworfen.

Auch das war eine normale Verhaltensweise vor einem Kampf, weil so das Sichtfeld vergrößert werden soll. Er sah Marcus mißtrauisch an.

Sowohl Männer wie Tiere waren staubbedeckt. Die Männer sahen hager und erschöpft aus. Ich fürchtete, daß sie weit von ihrer Basis entfernt waren. Während das Heer in seinem gemütlichen Lager überwintert hatte und seine Soldaten dabei vermutlich dick und fett geworden waren, hatten Männer wie diese Ranger, Kundschafter oder Fourageure mehr als genügend Strapazen und Gefahren auf sich genommen, hatten mehr als nur einmal Kontakt mit dem Feind gehabt, mehr als nur einmal an den Scharmützeln teilgenommen, die in dem Niemandsland zwischen den Heeren stattfanden. Ich sah in ihren Gesichtern, daß diesen Männern Krieg und Mühsal nicht fremd waren. Sie hatten Situationen erlebt, in denen nur der Schnelle, Skrupellose und Unerbittliche überlebt.

»Ich bin Marcus Marcellus, von den Marcelliani!« sagte Marcus.

Im Blick des Anführers regte sich kein Erkennen; zumindest konnte ich keines sehen.

»Aus Ar-Station!« verkündete Marcus.

»Renegaten«, sagte einer der Reiter.

»Bringt uns zu Saphronicus, dem Kommandanten vor Holmesk!« sagte Marcus. »Wir sind Spione! Wir kommen aus dem cosischen Lager. Wir haben Informationen!«

»Und ob das Spione sind«, sagte ein anderer Reiter.

»Bringt uns zu Saphronicus!« wiederholte Marcus.

Einer der Männer spukte aus. »Verräter!«

»Sleen aus Ar-Station!«

»Wir Bürger von Ar-Station sind keine Verräter!« rief Marcus wütend aus.

»Die Cosianer haben sich den Zugang zu Ar-Station erkauft, mit Bestechung!«

»Nein!« rief Marcus.

»Es gehört jetzt zu Cos.«

Marcus schüttelte den Kopf.

»Und ihr beiden seid Spione!«

Der Anführer sah mich an. »Kommst du auch aus Ar-Station?«

»Nein.«

»Und woher dann?«

Es gefiel mir keineswegs, diesen Männern eine solche Auskunft zu geben, andererseits schien es wenig zu bringen, es ihnen zu verheimlichen.

Ich sagte: »Ich komme aus Port Kar, dem Juwel des schimmernden Thassa!«

»Das ist ja noch schlimmer als Ar-Station!« lachte einer der Reiter. »Eine Zuflucht für Halsabschneider und Piraten!«

»Port Kar hat einen Heimstein«, sagte ich.

»Bringt uns zu Saphronicus!« verlangte Marcus wütend. »Wenn wir tatsächlich Spione für die andere Seite wären, warum haben uns die Cosianer, von denen mein Kamerad vor eurem Eintreffen einen getötet hat, dann bedroht?«

»Auf diese Weise wolltest ihr unser Mißtrauen ausschalten«, sagte der Anführer. »Vielleicht waren das nur Strohmänner, die getötet werden sollten, um uns von eurer Ehrlichkeit zu überzeugen.«

»Ich weigere mich, weiterhin mit Untergebenen zu debattieren«, sagte Marcus. »Anhand der Autorität meines Offizierrangs in den Streitkräften von Ar-Station, einer Kolonie des Stadtstaates Ar, befehle ich euch, uns nach Holmesk zu Saphronicus zu bringen, eurem Kommandanten. Und zwar so schnell wie möglich. Weigert ihr euch, so tragt ihr die volle Verantwortung.«

»Saphronicus ist nicht in Holmesk«, erwiderte der Anführer.

Marcus sah ihn bestürzt an.

»Das Winterlager wurde aufgelöst?« fragte ich.

»Ar marschiert«, verkündete einer der Reiter stolz. »Nach Westen.«

»Auf Brundisium zu?« fragte Marcus ungläubig.

Der Anführer nickte.

Ich vermied jede Gefühlsregung, aber auch ich war von dieser Nachricht verblüfft. Diese Marschrichtung würde die Arer nicht zu den Cosianern führen, zumindest nicht auf dem direkten Weg. Vielleicht planten sie, die cosischen Truppen von Brundisium abzuschneiden. Das würde einen Sinn ergeben.

»Wir kommen aus dem Heerlager von Cos«, sagte Marcus, »wo wir unter großem persönlichen Risiko für Ar spioniert haben. Wir haben Informationen. Ich weiß nicht, welchen Wert diese Informationen haben. Diese Entscheidung sollte man Saphronicus überlassen. Bringt uns zu ihm.«

Der Anführer raunte zwei seiner Reiter etwas zu. Sie stiegen ab.

»Was soll das!« protestierte Marcus wütend, als einer von ihnen hinter ihn trat, ihm die Hände auf den Rücken riß und Handschellen zuschnappen ließ. Mit mir verfuhr man ebenso. Sie nahmen uns die Schwertgürtel, Waffen und Kleidung ab. Dann warfen zwei Reiter Leinen aus Leder auf den Boden, die in Kragen endeten. Man legte uns die Kragen an, während die anderen Enden der Leinen an den Sattelknäufen befestigt wurden.

»Auf dem Hügel befinden sich noch ein paar Dinge, die uns gehören«, sagte ich und deutete auf mein kleines Lager.

Der Anführer gab ein Zeichen. Einer seiner Männer stieg den Hügel hinauf und kam einen Augenblick später mit unserem Marschgepäck zurück. Man band es mit unseren anderen Besitztümern zusammen und warf sie einem Tharlarion um den Hals.

»Ihr habt euch als Kaufleute getarnt«, stellte der Anführer fest.

Ich nickte. Das war aus dem Gepäck ersichtlich geworden. Die Späher hatten es durchsucht.

»Und diese Kerle haben euch verfolgt.« Der Anführer zeigte auf die toten Söldner.

»Ja.«

»Das war wohl ihr Fehler«, sagte er.

»So sieht es aus«, erwiderte ich.

»Was haben sie euch abgekauft?«

»Nichts.«

»Falsch«, sagte der Anführer. »Ihr habt ihnen den Tod verkauft.« Dann befahl er einem seiner Männer, die Leichen in die Büsche zu schleifen. »Überlaßt sie den Sleen!«

»Macht uns los!« verlangte Marcus und riß an seinen Ketten. Aber der Anführer mißachtete ihn.

Die Lanzen wurden zurück in die Sattelschuhe gesteckt, die Armbrüste an ihre Haken gehängt.

»Wir sind Partisanen für Ar!« rief Marcus wütend.

»Das wissen sie nicht«, erklärte ich ihm.

»Was habt ihr mit uns vor?«

»Wir bringen euch zu Saphronicus«, sagte der Anführer.

Marcus blickte mich freudestrahlend an. »Dann ist ja alles in Ordnung. Wir haben nichts zu befürchten.«

»Ihr werdet nicht miteinander reden«, sagte der Anführer. Er senkte die Hand, und sein Tharlarion setzte sich in Bewegung.

Marcus’ Leine war am Sattelknauf des zweiten Tharlarion befestigt. Er drehte den Kopf und warf mir einen Blick zu. Dann riß der Kragen an seinem Hals, und er stolperte halb gezogen neben der riesigen Echse her.

Sechs Tharlarion folgten ihr, in Einerreihe, damit ihre Anzahl verschleiert wurde. Dann setzte sich das neunte Tharlarion in Bewegung, und ich lief in Ketten gefesselt hinterher. Das zehnte Tharlarion bildete den Abschluß.

Es war heiß und staubig.

Marcus und ich würden tatsächlich nicht miteinander sprechen können, denn wir waren einige Meter voneinander entfernt. Marcus hatte es besser als ich. Er befand sich fast an der Spitze. Dort war es weniger staubig. Vermutlich war es nur logisch, daß er diesen bevorzugten Platz erhalten hatte. Der Anführer des Spähtrupps hatte ihm offensichtlich geglaubt, daß er ein Offizier und der Ranghöhere unser kleiner Gruppe war. Außerdem stammte er aus Ar-Station und nicht bloß aus Port Kar. Mich hielt man für seinen Untergebenen, was unter diesen Umständen wohl nur natürlich war. Aber es gab noch einen Grund, warum sich Marcus in der Nähe des Anführers aufhielt, der die Dinge in eine gewisse Perspektive rückte. Im Falle von Schwierigkeiten würde man Marcus, den vorgeblichen Anführer der Gefangenen, ganz schnell ausschalten.

Das Tempo erhöhte sich. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß uns eine angenehme Reise erwartet. Ich hatte jetzt schon Durst.

In einer Ahn würde es vermutlich dunkel sein. Ich fragte mich, wo das Heer von Ar zur Zeit tatsächlich stand.

Eine Stechfliege surrte vorbei. Es würde schwierig sein, sich in Ketten vor einem solchen Geschöpf zu schützen. Es war schon die zweite, die ich heute sah. Für gewöhnlich schlüpften sie an Flüssen und im Sumpfland, wenn auch zu einer späteren Jahreszeit. In bestimmten Gegenden schlüpften sie in großer Zahl.

Der Staub wogte wie eine Wolke in die Höhe, aufgewühlt von den schweren, krallenbewehrten Pfoten der Tharlarion.

Marcus hatte mir versichert, daß es nichts zu befürchten gab, daß man uns zu Saphronicus brachte.

Die Leine lag um meinen Hals.

Ich verließ mich darauf, daß Marcus recht hatte, daß wir wirklich nichts zu befürchten hatten.

Ich bewegte die Hände in den engsitzenden Stahlreifen, die sie auf so ausgeklügelte Weise hinter meinem Rücken hielten.

Ja, wir hatten nichts zu befürchten.

Zumindest hoffte ich das. Denn wir waren hilflose Gefangene, völlig der Gnade unserer Häscher ausgeliefert.

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