»Hör auf zu singen«, sagte ich.
»Tut mir leid«, sagte Ina glücklich. Es war nicht das erste Mal, daß ich sie wegen solcher Dinge verwarnen mußte.
Ina saß am Heck des Floßes. Ihre Beine waren schlammverschmiert. Wir hatten kurz ins Wasser springen müssen, um unser Gefährt durch ein dichtes Rencefeld zu schieben. Auch wenn sie nicht besonders kräftig war, half sie mir sofort und bereitwillig. Es war schon ein seltsamer Anblick, sie, eine Lady aus Ar, dabei zu beobachten, wie sie eifrig in den Sumpf sprang und ihre geringen Kräfte gegen die sperrigen Baumstämme einsetzte, um auf diese Weise zu unserem Fortkommen beizutragen. Meistens fuhr sie jetzt hinten auf dem Floß. Da ihr Gewicht im Vergleich zu dem Floß unbedeutend war, beeinträchtigte dies unsere Reise nicht im mindesten. Ihre Hände waren nicht mehr gefesselt, aber die Leine um ihren Hals war am Floß festgebunden. Natürlich war ihr verboten, sie ohne Erlaubnis zu lösen.
Dies war der zwanzigste Tag unserer Reise. Die Jagd hatte unseren Proviant immer wieder ergänzt. Ina hatte sich in dieser Zeit sehr verändert. Sie war sehr reinlich geworden, tat was sie konnte, damit ihr Haar gewaschen und gekämmt blieb, was im Sumpf bestimmt nicht einfach war. Sie hatte ihre wahre Identität als Frau entdeckt.
Sie blickte auf. »Weißt du, ich bin völlig deiner Gnade ausgeliefert«, sagte sie unvermittelt.
Ich nickte.
»Und du wirst mit mir machen, was du willst, nicht wahr?«
»Natürlich«, erwiderte ich.
»Gut.«
»Was?«
»Nichts«, sagte sie.
Ich steuerte das Floß nach rechts. In einer Entfernung von etwa einhundert Metern befand sich eine kleine Insel, die sich gut als Lager eignen würde.
»Du könntest mich unter Umständen sogar verkaufen, nicht wahr?« fragte sie.
»Ja.«
»Willst du mich denn verkaufen?«
»Vielleicht.«
Ina sah zu mir hoch.
»Der Gedanke beschäftigt dich, stimmt’s?« fragte ich.
»Ja«, flüsterte sie.
»Und du bist neugierig, wie es wohl wäre, die sinnlichste, aufregendste und begehrenswerteste Frau von allen zu sein, eine Sklavin?«
»Eine freie Frau wagt es nicht einmal, an solche Dinge auch nur zu denken.«
»Denk ruhig darüber nach.«
»Ja, Herr«, antwortete sie etwas ängstlich. Dann kam sie heran und küßte mich.
Ich steuerte das Floß auf die Sandbank. Ich wollte Ina gerade von dem Kragen um ihren Hals befreien, als aus der Ferne ein kläglicher Schrei ertönte.
»Das ist ein Tier«, sagte Ina ängstlich.
Ich runzelte die Stirn.
»Ein Tier, das in Treibsand geraten ist.«
Der Schrei wiederholte sich. Es war wirklich nicht zu bestreiten, daß ein seltsamer, unmenschlicher Unterton in ihm lag.
»Ja, genau das ist es«, sagte sie.
»Nein«, erwiderte ich. »Das ist ein Mensch.«
Ich watete in den Sumpf und schob das Floß höher auf die Sandbank.
Der nächste Schrei ertönte.
Ich zog einen Lederriemen hervor und band Ina die Hände auf den Rücken.
»Warum tust du das?« fragte sie.
Sie hatte noch immer etwas von einer freien Frau in sich, wie ich erkannte.
»Du wirst hier sein, wenn ich zurückkehre.«
»Ich laufe nicht weg.«
»Das glaube ich auch nicht.« Ich zog den Knoten zu.
Wieder hallte ein Schrei über den Sumpf.
»Sieh nicht nach«, bat sie. »Es könnte gefährlich sein.«
Ich packte sie an den Schultern und stieß sie herum. Sie sah mich furchtsam an. »Was ist denn?«
»Auf den Bauch!« stieß ich hervor.
Sie war klug genug, sofort zu gehorchen. Ich blickte auf sie hinunter. »Freie Frau!« sagte ich verächtlich.
»Ja, Herr!« schluchzte sie.
»Auf die Knie!«
Sie rappelte sich auf.
Ich brach auf, in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren. Einmal blickte ich zurück. Ina kniete im Sand. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken. Von dem improvisierten Kragen führte eine Leine zum Floß.
Sie sah hübsch aus, wie sie da kniete.
Aber eines durfte man nicht vergessen: Sie war noch immer eine freie Frau.
Der Mann steckte schon bis zur Taille im Sand. Es ist keine Seltenheit, zufällig auf diese Art Sand zu stoßen. Ohne es zu ahnen steht man unvermittelt mitten drin. Statt das Gewicht der betreffenden Person zu tragen, gibt der Untergrund unvermutet mehrere Zentimeter nach und scheint plötzlich nach ihren Knöcheln zu greifen. Dann beginnt die Schwerkraft ihr langsames Werk.
Für gewöhnlich ist Treibsand nicht besonders gefährlich; normalerweise kann man sich umdrehen und zurückweichen, bis man festeren Boden oder den Rand des Tümpels erreicht. Manchmal ist er auch nicht tiefer als einen oder anderthalb Meter. An einigen Stellen ist er allerdings extrem gefährlich. Wenn man schon mehrere Schritte hineingelaufen ist, bevor es einem auffällt, kann man steckenbleiben, falls der Sand tiefer als das Opfer ist. Lebensgefährlich sind Stellen, die von der Natur selbst getarnt werden, wo der obenliegende Sand von einer Oberflächenspannung gehalten wird und scheinbar an normalen sandigen Boden angrenzt, oder die von Algen oder Sumpfgewächsen bedeckt werden. Diese Stellen unterscheiden sich in ihrer Dichte; in einigen sinkt man relativ schnell, in anderen, in denen der Sand größere Dichte aufweist, kann ein vergleichbares Absinken mehrere Ehn dauern, in manchen Fällen sogar eine halbe Ahn.
Es gibt verschiedene Methoden, um den Gefahren des Treibsandes aus dem Weg zu gehen. Man kann sich an bekannte, erkundete Pfade halten, indem man seinem Vorgänger folgt oder sich an die markierten Wege hält, falls es sie gibt. Man sollte nie allein in solche Gegenden gehen, man sollte zu den anderen einen bestimmten Abstand wahren, immer ein Seil dabeihaben und was es an dergleichen Vorsichtsmaßnahmen noch mehr gibt. Schnelle, aufgeregte Bewegungen lassen einen schneller versinken. In bestimmten Fällen ist es angebracht, die Ruhe zu bewahren und um Hilfe zu rufen. Wenn sich natürlich niemand in der Nähe aufhält und man ansonsten unweigerlich versinken wird, ist es sinnvoll, einen Befreiungsversuch zu unternehmen, indem man auf das feste Land zuwatet oder versucht, sich freizuschwimmen. Stecken die Beine schon im Sand fest, erschwert das die Befreiungsversuche ungemein.
Allem Anschein nach hatte er heftig gegen den Sand angekämpft, was darauf schließen ließ, daß er allein war. Aber jetzt hatte er aufgehört zu kämpfen und rief nur noch um Hilfe, in der Hoffnung, daß trotz allem jemand in der Nähe sein könnte. Ich hatte den Eindruck, daß er seine Bemühungen in der Überzeugung eingestellt hatte, daß sie sinnlos waren. Der Meinung war ich auch.
Der Mann im Sand trug die Uniform von Ar.
»Hilfe!« rief er plötzlich, als er mich sah, und streckte die Hände nach mir aus. »Hilfe! Hilfe!«
Er war mit Schlamm und Sand bedeckt. »Freund«, rief er. »Kamerad! Hilf mir!«
Ich blieb am Rand des Treibsandes stehen. Er war etwa drei Meter von mir entfernt. Ich betrachtete ihn.
»Ich bin völlig hilflos! Ich stecke in der Falle! Ich kann mich nicht bewegen, ohne tiefer einzusinken.«
Er sprach die Wahrheit.
»Ich versinke!« rief er. »Hilf mir, oder ich sterbe.«
Ich sah keinen Grund, seiner Einschätzung der Situation zu widersprechen. Soweit ich es von meinem Standpunkt aus beurteilen konnte, traf sie zu.
»Kamerad, du kommst doch auch aus Ar!« rief er. »Hilf mir, ich bitte dich!«
»Ich bin kein Soldat von Ar.«
Er starrte mich an.
»Erkennst du mich nicht?«
Er stöhnte entsetzt auf.
In meinem Herzen fühlte ich nur Haß auf ihn. Wäre er in Reichweite meiner Klinge gewesen, hätte ich ihn durchbohrt und dann zu Tharlarionfutter gehackt.
»Hilf mir!« verlangte er.
Der Sand reichte ihm nun bis zur Brust.
Ich sah ihm zu.
»Hilf mir, Freund«, wiederholte Plenius und streckte mir die Hand entgegen.
»Ich bin nicht dein Freund«, sagte ich. »Und du bist kein ehrenwerter Mann.«
»Bitte!« rief er.
In seinen Augen flackerte ein gehetzter Blick. Seine Hand blieb auf mitleiderregende Weise hilflos nach mir ausgestreckt.
Ich drehte mich um und verließ den Treibsandtümpel.
»Sleen!« rief er mir schluchzend hinterher. »Verdammter Sleen!«
Ich schlug wütend den Weg zum Floß ein. Als Ina, die daneben auf der Sandbank kniete, meinen Gesichtsausdruck und den energischen Schritt sah, senkte sie schnell den Kopf. Voller Wut ergriff ich die Ruderstange und stapfte zu der Treibsandfalle zurück. Ich streckte sie dem Soldaten aus Ar entgegen. Plenius, meinem Bewacher. Der Sand reichte ihm bis zum Mund.
Er griff hektisch nach der Stange, konnte sie aber nicht erreichen. Dann gelang es ihm doch, zuerst nur mit einer Hand, dann mit beiden. Ich zog ihn auf festen Boden; er war dreckig, voller Wasser und Treibsand. Er zitterte am ganzen Leib.
Ich zog das Schwert. Er würde mich bestimmt angreifen.
Tatsächlich griff er nach dem Schwert, stieß die Klinge dann aber auf den Knien vor mir liegend in den Sand. Sein Dolch folgte.
»Ich bin dein Gefangener«, sagte er erschöpft.
»Nein«, erwiderte ich. »Du bist ein freier Mann.«
»Du, ein cosischer Spion, schenkst mir das Leben und die Freiheit?« Ich schwieg. »Ich habe mich dir gegenüber ehrlos verhalten, was die Sache mit dem Schlüssel betrifft, als du ihn rechtmäßig gewonnen hattest.«
»Das ist richtig.«
»Du beschämst mich.«
Ich schwieg.
»Wenn du willst, stoße ich mir den Dolch mit eigener Hand in die Brust.«
»Nein«, antwortete ich. »Geh einfach!«
Er griff nach dem Schwert. Ich stand fast über ihm, bereit, ihm den Kopf abzuschlagen.
»Hast du mein Leben nur gerettet, um es mir jetzt zu nehmen?« fragte Plenius.
»Wenn du mit mir kämpfen willst, dann stell dich mir mit dem Schwert in der Hand entgegen.«
Er schob die Klinge in die Scheide. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er. »Ich will nicht gegen dich kämpfen, ganz egal, was du auch sein magst.«
Ich trat einen Schritt zurück, für den Fall, daß er mit dem Dolch auf mich losging. Plenius stand mühsam auf. Erst jetzt erkannte ich, daß ihm nicht nur der Sand zugesetzt hatte, sondern daß Wochen voller Angst und Hunger ihn schwach und krank gemacht hatten.
»Wie hast du es geschafft, im Delta zu überleben?« fragte Plenius.
»Das ist nicht schwer.«
Er starrte mich überrascht an.
»Hunderte können das«, erklärte ich. »Denk an die Rencebauern.«
»Bist du ihnen begegnet?«
»Nicht in letzter Zeit.«
»Hier gibt es keine Wege, keine Pfade.«
»Zumindest keine, die auf euren Karten verzeichnet wären.«
»Es ist ein Labyrinth«, sagte er müde.
»Da sind die Sonne und die Sterne, der Wind, die Strömungen«, erinnerte ich ihn.
»Wir werden von den Bauern gejagt.«
»Sei zu gefährlich, um gejagt zu werden«, riet ich ihm.
»Wir verhungern.«
»Dann wißt ihr nicht, wo etwas zu essen zu finden ist.«
»Da sind die Haie, die Tharlarion.«
»Das ist doch Nahrung.«
»Wir sind aber zivilisierte Männer«, sagte Plenius. »Wir können im Delta nicht überleben. Wir sind verloren.«
»Die größte Gefahr für euch dürfte wohl in dem Versuch liegen, das Delta zu verlassen.«
»Das Delta hat das mächtige Ar bezwungen.«
»Das Delta ist wie jede Frau zu zähmen«, erwiderte ich. »Ihr wußtet nur nicht, wie ihr ihm die Fesseln anlegen mußtet. Hätte man euch ausreichend informiert und vorbereitet, hättet ihr es bezwungen, es hätte euch wie jede Frau als Sklavin zu Füßen gelegen.«
»Man hat uns verraten.«
»Natürlich.«
»Ich danke dir für mein Leben, für meine Freiheit.«
»Ich nehme an, du bist nicht allein«, sagte ich.
»Es gibt eine Handvoll Überlebender«, erwiderte er. »Aber wir sterben.«
»Was ist mit Labienus?« wollte ich wissen.
»Er überlebt«, sagte Plenius. »Auf seine Weise.«
»Auf seine Weise?«
Plenius zuckte mit den Schultern.
»Du solltest gehen«, sagte ich. »Es soll so sein, als wären wir uns niemals begegnet.«
»Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß der Tag kommt, an dem ich mein Leben und meine Freiheit einem cosischen Spion schulde.«
»Ich bin kein cosischer Spion.«
Er sah mich unsicher an.
»Nein«, sagte ich. »Mein Fehler war wohl, daß ich versuchte, Ar zu dienen. Damals, als ich dem jungen Marcus, einem Offizier aus Ar-Station, der für Ar arbeitet, helfen wollte, wußte ich noch nicht, daß Ar seine Freunde mit Peitsche und Ketten belohnt.«
»Du bist kein Bürger von Cos und spionierst auch nicht für die Insel?«
»Nein«, sagte ich. »Das waren falsche Beschuldigungen, von jenen aufgebracht, die tatsächlich im Sold von Cos stehen.«
»Saphronicus?« fragte er.
»Ja.«
»Mittlerweile ist uns klar geworden, daß er uns verraten hat.«
»Es wäre besser gewesen, ihr hättet es früher begriffen.«
»Aber vielleicht wissen nur wir, die wir im Delta sind, was man uns angetan hat.«
»Das ist schon möglich.«
»Draußen hält man Saphronicus möglicherweise für einen Helden«, sagte er verbittert.
»Dem würde ich nicht widersprechen.«
»Und ich kenne noch einen anderen Verräter«, fügte er hinzu.
»Wen denn?«
»Diese Schlampe, die hochmütige Lady Ina aus Ar!«
»Vielleicht hast du recht«, sagte ich.
»Nein, bestimmt sogar«, meinte Plenius. »Sie gehörte zu Saphronicus’ Stab und wußte daher sicherlich von seinem Verrat.«
»Das ist wahrscheinlich.«
»Ich würde sie zu gern in die Finger bekommen.«
»Die Ruderstange, mit der ich dich gerettet habe, stammt von ihrer Barke«, sagte ich. »Wenn du genau hinsiehst, kannst du noch etwas von der Vergoldung erkennen.«
»Also haben sie die Barke überfallen.«
»Ja. Anscheinend haben die Rencebauern sie angegriffen und verbrannt. Hier sind noch Brandspuren.
Ich habe im Sumpf noch andere Wrackteile gefunden.«
»Und was ist mit Lady Ina?«
»Anscheinend haben die Rencebauern sie gefangengenommen.«
»Sie werden sie töten«, sagte Plenius.
»Vielleicht machen sie sie ja auch zur Sklavin.«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein, sie ist nicht genug Frau, um zu verstehen, was es heißt, eine Sklavin zu sein, geschweige denn um eine zu werden.«
»Vielleicht hast du recht.«
»Wer weiß, vielleicht ist es ja besser so«, sagte Plenius. »Bekämen wir sie in die Hände, würde sie vor dem Kriegsgericht landen.«
»Und dann?«
»Ist das nicht offensichtlich? Sie würde gepfählt.«
Ich nickte.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte Plenius dann.
Darauf gab es nichts zu erwidern.
»Es tut mir leid, daß du die Soldaten Ars so sehr haßt.«
»Dafür habe ich ausgezeichnete Gründe.«
»Das ist allerdings wahr.«
»Was wolltest du eigentlich hier?«
Plenius verzog das Gesicht. »Ich war auf der Jagd.«
»Aber wohl nicht mit großem Erfolg.«
»Wir können im Delta nicht leben«, erklärte er. »Wir können ihm auch nicht entfliehen.«
»Ar hätte gut daran getan, sich vorher über solche Dinge Gedanken zu machen, bevor es ins Delta einfiel«, sagte ich.
Plenius nickte.
»Ihr seid für mich wie meine anderen Feinde«, sagte ich.
»Dann freue dich, denn wir werden hier alle zugrunde gehen.«
Darauf gab es keine Antwort.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte er erneut, und ich schwieg wieder. Er drehte sich um und ging, wobei er diesmal sorgfältig darauf achtete, wohin er den Fuß setzte. Ich blickte ihm nach, bis er in dem Renceschilf verschwunden war.
Und dann überkamen mich Haß und Wut auf die Soldaten von Ar, die mich so grausam behandelt hatten, wie eine Welle. Ich haßte sie, und tief in meinem Herzen verabscheute ich sie. Sollten sie doch im Sumpf zugrunde gehen oder den Söldnerklingen zum Opfer fallen, die an den Grenzen auf sie warteten. Es würde schon einem einzelnen Mann schwerfallen, hier mit heiler Haut herauszukommen, oder einem Mann und einer Frau. Wieviel schwieriger wäre es für eine Gruppe? Ich ging langsam zum Floß zurück.
Bei meinem Näherkommen kniete Ina schnell hin. Sie blickte mich mit einer gewissen Ehrfurcht an.
»Du hast nicht die Erlaubnis zu sprechen«, teilte ich ihr mit.
Gehorsam schwieg sie.
»Dreh dich um«, sagte ich zu ihr. »Leg den Kopf auf den Sand.«
Ich mußte nachdenken.
Sollten die Männer aus Ar doch sterben, dachte ich.
»Oh«, stieß sie plötzlich hervor.
»Sei still«, warnte ich sie.
Sie keuchte auf.
Sie hatten mich mißhandelt. Was spielte es also für eine Rolle, wenn sie bis auf den letzten Mann in der grünen Wildnis des Deltas starben?
»Laß den Kopf unten«, befahl ich Ina geistesabwesend. Was hatte ich mit ihnen zu schaffen?
»Oh, oh«, stieß Ina hervor. Ich duldete ihr leises Stöhnen. Ihre kleinen, auf dem Rücken zusammengebundenen Hände ballten sich zu Fäusten.
Es würde schon für einen Mann schwierig genug sein, dem Delta zu entkommen, oder einen Mann, der bereit war, die Belastung durch eine hilflose, schöne Gefangene in Kauf zu nehmen; wie sollte er sich da noch zusätzlich Sorgen um andere machen, möglicherweise einen ganzen Trupp.
»Oh!« keuchte Ina plötzlich laut auf.
Mit jeder zusätzlichen Person vergrößerte sich die Gefahr, von Rencebauern, einer Patrouille oder Tarnspähern entdeckt zu werden, um ein Vielfaches.
Ina schluchzte nur noch, bereitwillig, hilflos, dankbar.
Ich schrie auf.
Ina stieß ein ungläubiges, langgezogenes Keuchen aus.
Ich legte mich neben sie; sie blieb auf dem Bauch liegen. Sie war sehr hilfreich gewesen. Ich war zu einer Entscheidung gelangt.
»Du darfst sprechen«, ließ ich sie wissen.
Aber es hatte den Anschein, als würde sie es noch immer nicht wagen. Ich schob mich näher an sie heran und stützte mich auf den Ellbogen. Sie blickte mich schüchtern an.
»Es war kein Tier«, sagte ich. »Es war einer der Soldaten. Ich habe ihn gerettet.«
Sie schloß die Augen.
»Willst du wissen, was aus ihm geworden ist?«
»Ja«, flüsterte sie.
»Er ist zu seinen Kameraden zurückgekehrt«, sagte ich. »Anscheinend ist ihr Lager nicht weit von hier entfernt.«
In ihren Augen flackerte Entsetzen auf.
»Er weiß natürlich nicht, daß du bei mir bist.«
»Das ist gut.«
»Er sprach von einer Kriegsgerichtverhandlung, hier im Delta.«
Ina sah mich ängstlich an.
»Der natürlich der Pfahl folgt.«
Sie erschauderte.
»Allerdings glaubt er, die Rencebauern hätten dich erwischt.«
»Gut!«
»Interessanterweise hat er die Möglichkeit deiner Versklavung nicht einmal annähernd in Betracht gezogen. Er hält dich nicht für eine Frau, die auch nur im Ansatz die nötigen Voraussetzungen für eine Sklavin mitbringt.«
Sie warf mir einen ärgerlichen Blick zu.
Ich ließ die Hand über ihren Körper gleiten. Sie biß sich auf die Lippen, stöhnte auf und drängte sich mir sehnsuchtsvoll entgegen, schloß die Augen und gab sich ganz ihren Bedürfnissen hin. Sie war wunderschön, gefangen von ihrer Lust.
»Ich bin da anderer Meinung«, sagte ich. »Darum werde ich dich in eine Sklavinnentunika stecken.«
Sie schlug die Augen auf.
»Sie wird zwar nur das Nötigste bedecken, aber vermutlich wird es reichen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das wäre sonst, als brächte man ein Tablett mit dampfenden, gerösteten Delikatessen in einen Zwinger gezähmter, aber ausgehungerter Sleen bringen.«
»Was sagt Ihr da?«
»Man könnte es ihnen kaum verübeln, wenn sie sich mit hungriger Wildheit darauf stürzen würden und sie auf der Stelle verschlängen.«
»Ich verstehe Euch nicht.«
»Ich spreche von der Schwierigkeit, in Anwesenheit von Dingen, die unglaublich begehrenswert sind, die nötige Zurückhaltung zu üben«, sagte ich, »selbst wenn es sich um abgerichtete Tiere handelt, besonders unter bestimmten Umständen.«
Ina sah mich furchtsam an.
»Sicher, man könnte den Tieren die Delikatessen auch vor die Füße werfen, damit sie fressen. Früher oder später ist das zweifellos das beste.«
»Unglaublich begehrenswert?« stammelte sie.
»Du, liebe Ina, bist dazu geworden.«
»Nein!« protestierte sie. »Nein!«
»Du bist sehr schön«, sprach ich weiter. »Warte, bis du die Folgen davon erlebst.«
»Bitte, nein, Herr!« bettelte sie.
»Die Arer brauchen Hilfe«, sagte ich. »Ich bin nicht scharf darauf, wie du dir denken kannst, aber fest davon überzeugt, daß es mit ihnen ein böses Ende nimmt, wenn man sich ihrer nicht annimmt.«
»Das kann doch nicht Euer Ernst sein!«
»Das ist sogar mein voller Ernst«, erwiderte ich, »obwohl ich es nur ungern zugebe.«
»Und was ist mit mir?« fragte Ina.
»Du, meine Liebe, wirst ein stummes Rencemädchen sein.«
»Ein Rencemädchen!« wiederholte sie und bäumte sich auf.
»Ja«, sagte ich. »Es wird den Soldaten ganz selbstverständlich vorkommen, daß ich ein Rencemädchen erbeutet habe, besonders ein so hübsches wie dich. Das werden sie verstehen. Welcher Mann täte nicht das gleiche, falls sich die Gelegenheit böte? Außerdem hast du kein Brandzeichen, was die Geschichte nur unterstützt. Da du nicht gezeichnet bist, wäre es sehr unwahrscheinlich, daß es mir gelänge, dich als Sklavin auszugeben. Wer würde das schon glauben? Nach allem, was ich Plenius erzählt habe, dem Burschen, den ich aus dem Treibsand gerettet habe, werden sie dich kaum mit der Lady Ina aus Ar in Verbindung bringen. Alle werden glauben, daß sie den Rencebauern in die Hände gefallen ist und vermutlich von ihnen getötet oder versklavt wurde. Also dürftest du in keiner großen Gefahr schweben. Zumindest hoffe ich das. Vergiß nicht, sie haben das Gesicht der Lady Ina nie gesehen, da sie in ihrer Gegenwart immer verschleiert war. Außerdem hast du dich meiner Disziplin unterworfen, die ich auch weiterhin ausüben werde, und da halte ich es für unwahrscheinlich, daß du dich durch die Arroganz und das Gehabe der freien Frau verrätst. Es ist dir vielleicht nicht einmal bewußt, aber du verhältst und gibst dich mittlerweile anders als früher. Was du auch tust, du tust es anmutiger und schöner als zuvor. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es dir gelänge, wieder als freie Frau zu leben. Ich fürchte, das liegt, ob zum guten oder schlechten, nun hinter dir.«
»Es hat den Anschein, als hättet Ihr diese Probleme gründlich durchdacht«, sagte sie.
»Übrigens werde ich dich auch weiterhin Ina nennen.«
»Ist das klug?«
»Ich glaube schon«, erwiderte ich. »Ich glaube, die Arer werden sich daran erinnern, daß mich Lady Ina nicht besonders nett behandelt hat, und es als gelungenen Scherz ansehen, daß ich ihren Namen einem kleinen Rencemädchen gegeben habe. Und falls sie doch mißtrauisch sein sollten, möchte ich, daß du sofort und ohne Zögern auf den Namen Ina ansprichst. Es würde sicher Mißtrauen erzeugen, wenn du angeblich eine Feize oder Yasmine wärst und dann auf den Namen Ina reagierst.«
»Ihr sprecht von mir, als wäre ich ein Sleen«, sagte sie, »der auf einen Namen hört.«
»Du bist eine Gefangene«, erinnerte ich sie.
»Das ist wahr.«
»Außerdem gefällt mir der Name Ina. Er paßt zu dir.«
»Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?«
Ich blickte sie an. Ich fragte mich, wie sie wohl in Ketten und mit einem Eisenkragen aussähe. »Ja.« Ob sie wohl wußte, daß ›Ina‹ ein gebräuchlicher Sklavenname war?
»Und ich bin angeblich stumm?« fragte sie.
»Das dürfte für uns beide von Vorteil sein«, sagte ich. »Als einfaches Rencemädchen kannst du schlecht mit dem Akzent einer gebildeten Dame aus Ar sprechen.«
»Das wohl nicht«, gab sie widerstrebend zu. »Aber ich könnte doch in den Sand schreiben.«
»Nein! Rencemädchen können nicht lesen und schreiben.«
»Und wie soll ich mich dann mitteilen?«
»Mit Stöhnlauten, durch Wimmern.«
»Dann werde ich also letztlich nichts anderes als ein Spielzeug sein!«
»Genau«, sagte ich. »Und was das Stöhnen und das Wimmern angeht: In Anbetracht dessen, was man mit dir anstellen wird, wirst du solche Laute vermutlich durchaus angemessen finden.«
»Ich verstehe.«
»Dann gehe ich davon aus, daß du deine Rolle spielen wirst. Dein Leben könnte davon abhängen.«
»Dann werdet Ihr den Arern tatsächlich helfen.«
»Ja.«
Ina schloß ergeben die Augen und gab sich wieder meinen Liebkosungen hin, zuerst verhalten, dann immer drängender, bis sie sich stöhnend und am ganzen Leib zitternd im Sand wand.
Sie war wirklich wunderschön.