Ausgehöhlt kann der Rencehalm als Atemrohr dienen. Auf diese Weise kann man sich unter Wasser einigermaßen sicher und unbemerkt fortbewegen, vorausgesetzt, die Halmöffnung befindet sich in unmittelbarer Nähe der Wasseroberfläche und diejenigen, die sich in der Nähe aufhalten, sind nicht mit den Feinheiten des Sumpfläufertums vertraut und nicht wachsam und scharfsinnig genug, um mit einer solchen Möglichkeit zu rechnen. Natürlich müßte die Bewegung des Halmes eigentlich sofort für Mißtrauen sorgen, vor allem wenn seine Bewegungen gesteuert erscheinen. Rencebauern sind mit diesen Techniken vertraut, machen aber nur selten Gebrauch davon, außer bei Messer- oder Dreizackangriffen. Ein Eintauchen des großen Bogens, vor allem wenn es sich um eine längere Zeit handelt, in der er viel Wasser aufnehmen kann, mindert seine Spannkraft; das Leben der Sehne, für gewöhnlich mit Seide durchwirkter Hanf, wird ebenfalls verkürzt. Jeder auf diese Weise durchgeführte Angriff erfordert ein Untertauchen im Sumpf, was nicht ungefährlich ist. Rencebauern greifen daher normalerweise mit ihren Booten an und benutzen die allgegenwärtigen Schilfinseln als Deckung. Eine Angriffseinheit besteht aus zwei Mann; der eine bewegt das Boot mit einer Stange oder dem Paddel vorwärts, während der andere mit dem Bogen schießt.
Ich hob den Kopf ein Stück aus dem Wasser.
Viele der Soldaten hatten auf Sandbänken Zuflucht gesucht. Man hatte Lagerfeuer entzündet, in die man feuchtes Schilf warf, um mit dem entstehenden Rauch die Fliegen abzuwehren. Viele drängten sich zitternd um die Flammen. Es lagen viele Kranke am Boden. Vermutlich waren das Reaktionen auf das Gift der Stechfliegen. Die Männer hatten sich Decken übergeworfen; andere saßen mit gesenkten Köpfen da, die Tuniken übers Gesicht gezogen. Andere wiederum hatten sich Gesichter, Arme und Beine mit Schlamm und Asche eingerieben, ein kläglicher Schutz vor den Fliegen. Überall waren rote Augen zu sehen, es wurde gehustet. Ich hörte, wie sich ein Mann in den Sumpf übergab. Ich hörte Männer weinen und stöhnen. Einige der Gesichter waren unförmig zugeschwollen, verfärbt und mit pustelähnlichen Wucherungen bedeckt. Arme und Beine waren mit ähnlichen Schwellungen übersät. Ein paar Männer konnten nicht mehr aus den Augen blicken.
Ich entdeckte den Soldaten, von dem ich überzeugt war, daß er den Schlüssel zu meinen Handschellen verwahrte. Er lag zitternd auf dem Bauch, halb mit Renceschilf bedeckt. Anscheinend hatte er viele Stiche davongetragen. Der Schlüssel befand sich sehr wahrscheinlich in seiner Gürteltasche. Überall lagen Ausrüstungsgegenstände herum. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es schwer sein würde, sich einige davon anzueignen. Davon abgesehen waren selbst Schilde und Waffen im Sumpf weggeworfen worden. Man hätte dem Regiment allein aufgrund dieser Spur folgen können. Bei den anderen Einheiten sah es vermutlich nicht anders aus. Nicht daß ich vorgehabt hätte, seinen Weg zurückzuverfolgen.
Ein Soldat schrie schmerzerfüllt auf; er war gerade gestochen worden. Aber im Augenblick summten weniger Fliegen durch die Luft.
Vielleicht waren die Männer, die so elend hier auf den Sandbänken hockten, der Meinung, daß die Fliegenplage endgültig vorbei war.
Ich hatte jedoch schon vom Schilf aus gesehen, daß sich aus dem Westen neue Wolken näherten, die noch dichter und dunkler waren. Die erste Welle ist nie die schrecklichste. Das ist immer die mittlere. Die letzten sind dann kleiner. Manchmal verlassen die Sumpfbauern sogar schon während der letzten Wellen, die wie weit verstreute Wolken über ihren Köpfen hinwegsummen, ihre Hütten.
Nach dem ersten Blick auf diese neue Dunkelheit, die wie ein schwarzer, aufgehender Mond am Horizont über den Schilffeldern erschienen war, hatte ich das vorbereitete Atemrohr genommen und war zu dem Regiment zurückgekehrt. Dem ersten Eindruck nach zu urteilen war sich keiner auf der Sandbank der herannahenden neuen Fliegenschwärme bewußt.
Das konnte mir nur von Nutzen sein.
Sollte der neue Sturm sie wie ein Blitz treffen.
»Hört mal!« rief da ein Soldat entsetzt.
Mit Zufriedenheit beobachtete ich, wie die Männer aus Ar verzweifelt nach Schutz suchten; sie gruben sich in den Sand ein, zogen Wolldecken über sich, bedeckten sich mit Schilfbüscheln, wickelten sich Kleidungsstücke um Kopf und Augen, begruben den Kopf in den Armen, taten, was sie nur konnten, um sich für die unmittelbar bevorstehende Ankunft ihrer zahllosen kleinen Besucher vorzubereiten, der zeitweiligen Herren des Vosk-Deltas.
In diesem Augenblick hätte sich ein Larl unbemerkt zwischen den Soldaten bewegen können.
Ein Mann schrie auf, gestochen von einer Fliege, die kaum mehr als ein Bote der herannahenden Wolke sein konnte. Es ist wie ein Regenguß, dachte ich, zuerst nur ein paar Tropfen, dann sind es schon mehr, dann kommen Sturzbäche herunter, vielleicht sogar eine lange Zeit, bis der Spuk dann schließlich nachläßt, die letzten Tropfen fallen und – wenn man vielleicht schon alle Hoffnung aufgegeben hat – es sich wieder aufhellt. Hier fällt der Regen allerdings horizontal, und er ist trocken und schwarz, und einige der ›Tropfen‹ bleiben und krabbeln umher.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann war die Luft voller Bewegung. Diese Bewegungen waren flink und unvorhersehbar, beinahe verschwammen sie ineinander. Und doch bildeten sie keine erkennbare Masse. Es war, als würden diese kleinen, wütenden fliegenden Lebewesen durchsichtige Tunnel durchrasen, die sie voneinander trennten.
Soldaten schrien gepeinigt auf. Manche warfen sich bäuchlings zu Boden und bedeckten den Kopf mit den Händen.
Ich tauchte kurz unter, um Fliegen von meinem Gesicht zu waschen. Die meisten der Fliegen, die sich auf einem niederließen, stachen natürlich nicht. Wäre das der Fall gewesen, wären wir bei dem kumulativen Effekt solcher Gifte in wenigen Ehn alle tot gewesen.
Plötzlich war die Luft erfüllt von schnellen, hin und her flitzenden Körpern, die auf einen niederprasselten und dabei sogar gegeneinander prallten. Ich erhob mich aus dem Sumpf und rannte zusammengeduckt los. In weniger als einer Ehn befand ich mich hinter dem Soldaten, der mit Rence bedeckt reglos auf der Sandbank lag. Ich kniete mich auf seinen Körper, und noch bevor er überhaupt begriff, was da geschah, drückte ich ihm mit meinen aneinandergeketteten Händen den Kopf in den Sand. Jetzt konnte er nicht mehr atmen. Aber er konnte hören. Für einen kurzen Augenblick bäumte er sich auf, lag dann aber still. Ich glaube, mein Gewicht und mein Griff machten ihm sofort die Hoffnungslosigkeit seiner Lage begreiflich. Er konnte nicht atmen, wenn ich es ihm nicht erlaubte. Er wußte, daß er in meiner Gewalt war.
»Kein Laut«, flüsterte ich. »Oder ich breche dir das Genick.« Es gibt verschiedene Techniken, wie man das bewerkstelligen kann, es kommt auf die Körperkraft an. Da wäre zum Beispiel ein kräftiger Fausthieb oder ein Fußtritt direkt unterhalb der Schädelbasis, oder ein Schlag mit der Handkante oder der Außenseite des Fußes, der den Kopf zur Seite zwingt, was besonders wirksam ist, wenn sich der Körper in einer Position befindet, in der er sich nicht mit dem Schlag bewegen kann.
Ich hob seinen Kopf ein Stück, nicht so weit, daß sein Mund nicht mehr den Sand berührte, aber immerhin so weit, daß er etwas Luft durch die Nase bekam, vielleicht auch noch durch den Mundwinkel. Sein Gesicht war mit Sand bedeckt; vermutlich hatte er auch Sand in den Augen. Ich stieß seinen Kopf wieder nach unten.
»Du wirst zehn Ihn in dieser Position verharren«, ließ ich ihn wissen. »Hast du verstanden?« Der Kopf bewegte sich unmerklich. Dann nahm ich die Hände von ihm und zog ihm den Dolch aus dem Gürtel. Mit dem Dolch schnitt ich den Schwertgurt los und entwaffnete ihn. »Du darfst den Kopf heben«, flüsterte ich. »Ein kleines Stück.«
Er gehorchte und fühlte seinen Dolch an der Kehle.
»Du!« flüsterte er halb erstickt. Er hatte die Kettenglieder der Handschellen im Nacken gefühlt.
»Wie heißt du?« fragte ich ihn.
»Titus.«
»Also gut, Titus. Wo ist der Schlüssel für die Handschellen?« Ich ging davon aus, daß er sich in seiner Gürteltasche befand, hatte aber keine Lust, sie zu durchstöbern, falls er doch an anderer Stelle untergebracht war. Es konnte durchaus sein, daß er sich im Marschgepäck des Soldaten befand. Der Schlüssel war mit einer Schnur versehen, an der sich ein kleines Holzstück befand. So konnte man ihn um den Hals tragen oder ihn sich ums Handgelenk binden. Das Holz diente zur Sicherheit, für den Fall, daß der Schlüssel in den Sumpf fiel. Auf diese Weise war er nicht sofort verloren.
»Ich habe ihn nicht.«
»Keine Lügen«, sagte ich grob. Um ein Haar hätte ich ihm das Messer in den Hals gerammt. Ich hatte es nicht bis hierher geschafft, um jetzt enttäuscht zu werden.
»Ich habe ihn nicht!« stieß Titus hervor.
Einen kurzen Augenblick lang wurde ich mir der Fliegenschwärme bewußt. Ich mußte mit Fliegen bedeckt sein. Ich war bestimmt gestochen worden, aber meine Gefühle und meine Konzentration waren so stark, daß ich es nicht bemerkt hatte.
»Wer hat ihn dann? Wo ist er?«
»Töte mich nicht!«
»Wo ist der Schlüssel?«
»Plenius weiß das.«
»Dann werden wir ihm einen Besuch abstatten«, sagte ich. »Erhebe dich langsam auf die Knie.« Mit einer schnellen Bewegung schlang ich ihm die Kette um den Hals, damit er da blieb, wo ich wollte, und hielt ihm auch wieder die Klinge an den Hals. »Und jetzt schiebst du Hände und Unterarme unter den Gürtel deiner Tunika. Sehr gut.«
Nachdem er sich auf die Knie erhoben hatte, warf er einen Blick auf das Schwert, das in seiner Scheide dort am Boden lag, wo es hingefallen war, nachdem ich den Gürtel durchtrennt hatte.
»Und jetzt suchen wir deinen Freund Plenius.«
Wenige Augenblicke später waren wir bei einer Gestalt angelangt – er auf den Knien, ich hinter ihm –, die zusammengekrümmt unter einer Decke lag.
»Ruf ihn, aber leise.«
»Plenius, he, Plenius!«
Wütend zog Plenius die Decke ein Stück zurück. Dann warf er sie trotz der Fliegen ganz beiseite. Seine Hand flog zum Schwertgriff, aber mein Gesichtsausdruck und die Bewegung des Messers am Hals meines Gefangenen ließen ihn innehalten. Plenius’ Gesicht war eine einzige Schwellung. Ein Auge war völlig zu.
»Den Schlüssel für die Handschellen«, sagte ich.
Er stand auf, trat die Decke beiseite.
Überall waren Fliegen. Zeitweise konnte ich ihn nicht mal mehr deutlich sehen.
»Der Schlüssel.«
Das Summen der Insekten war ohrenbetäubend.
Ich beobachtete, wie seine Hand unwillkürlich nach seiner Tunika griff. Er hatte ihn also unter der Tunika, vermutlich am Hals. In seinem geöffneten Auge schimmerte ein eigentümlicher Glanz.
»Ich dachte mir, daß du zurückkommst«, sagte er.
»Sprich leise«, erwiderte ich und drückte fester mit dem Messer zu.
Er zog den Schlüssel an seinem Band unter der Tunika hervor. »Aus diesem Grund habe ich auch den Schlüssel behalten, damit du zu mir kommen mußtest, um ihn zu holen.«
»Titus hatte ihn davor, richtig?«
»Ja.«
Das freute mich, denn es bewies, daß ich mich nicht geirrt hatte.
»Wenn du ihn haben willst, mußt du ihn mir abnehmen«, sagte Plenius.
»Ich hätte wissen müssen, daß du ihn wieder an dich nimmst«, meinte ich, »daß du dir diese Verantwortung auflädst, das Risiko eingehst, daß ich deswegen zurückkehren könnte.«
»Ich wollte, daß du deswegen zurückkommst«, sagte er.
»Dann hat sich dein Wunsch ja erfüllt.«
Plenius grinste. »Du erwartest doch sicher nicht, daß ich ihn dir freiwillig gebe, oder?«
»O ja, genau das erwarte ich.« Ich hielt das Messer dichter an den Hals meines Gefangenen. Titus rückte näher zu mir, damit er sich nicht selbst den Hals aufschnitt.
»Gib ihm den Schlüssel«, flüsterte er. »Gib ihm ihn!«
»Niemals!«
»Ich finde, es ist ein guter Handel«, meinte ich. »Ein Stück Eisen, an einem Band, im Austausch für deinen Freund.«
»Niemals!« wiederholte Plenius.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wie du willst!«
»Nein!« Mein ehemaliger Wärter streckte die Hände aus. »Ich gebe dir den Schlüssel!«
»Leg ihn zwischen uns auf den Sand.«
»Laß Titus los.«
»Erst den Schlüssel.«
»Vielleicht tötest du ihn ja, sobald du den Schlüssel hast.«
»Vielleicht greifst du mich ja an, sobald er frei ist«, hielt ich dagegen.
»Ich brauche bloß zu rufen, und ein Dutzend Krieger kommen angelaufen.«
»Aber Titus wird nicht unter ihnen sein«, erwiderte ich.
»Plenius, gib ihm den Schlüssel«, flüsterte Titus mit weit zurückgelegtem Kopf.
»Zuerst läßt du ihn frei«, beharrte Plenius.
»Also gut.« Ich nahm die aneinandergeketteten Hände von Titus’ Hals, und er bewegte sich halb laufend und halb kriechend von mir fort, und zwar so schnell, daß der Sand aufspritzte. Erst nach einem halben Dutzend Schritten blieb er stehen und zog die Arme aus dem Gürtel. »Gib ihm den Schlüssel, Plenius.«
Mein Wärter grinste. Er wischte sich Fliegen vom Gesicht, dann zog er den Schlüssel an seinem Band über den Kopf. »Fang!« rief er plötzlich und warf ihn weit an mir vorbei. Ein schneller Blick über die Schulter ließ mich sehen, wie er ins Wasser fiel, während gleichzeitig Stahl aus einer goreanischen Schwertscheide glitt.
»Plenius, nein!« rief jemand.
Ich fuhr herum, riß die Hände in die Höhe und fing die herabsausende Klinge mit der Kette auf. Funken stoben durch die Luft. Dann wurde die Klinge zurückgezogen, noch bevor ich Gelegenheit gehabt hatte, die Kette darumzuwinden oder sie zu packen. Ich hätte mit dem Messer zustechen können, aber Plenius befand sich außerhalb meiner Reichweite.
»Was ist mit deiner Ehre!« rief ich wütend.
»Einem Spion schuldet man keine Ehre«, erwiderte er. »Genausowenig wie einem Sleen aus Cos. Zu den Waffen, Männer!«
Soldaten sprangen auf. Zweifellos hatten sie Titus’ Schrei und das Klirren des zuschlagenden Schwertes gehört. Ich wich in Richtung Wasser zurück. Soldaten eilten umher, aber die Fliegenschwärme behinderten sie. Plenius wischte sich mit dem Unterarm Fliegen vom Gesicht, mit dem Arm, mit dem er das Schwert hielt. Selbst auf der Klinge saßen Fliegen. Plenius kam auf mich zu. Ich sah, wie Titus ihn zurückhalten wollte, aber da er größer und stärker war, stieß er ihn einfach beiseite. »Der Spion ist unter uns!« rief er. »Tötet ihn!«
Ich hatte das Wasser erreicht. Plenius watete hinter mir her. Zweimal wehrte ich die Klinge mit dem Messer ab. Plötzlich wandte sich Plenius ab und watete in den Sumpf hinein. Er wollte den Schlüssel holen. Ich folgte ihm. Er drehte sich um und hielt mich mit dem Schwert in Schach. Ich erblickte das Holzstück zwischen Hunderten von Insekten, die auf der Wasseroberfläche trieben. Ich wollte Plenius umgehen, auf seine linke Seite zu kommen, die Seite, an der er durch das zugeschwollene Auge behindert wurde. In meinem Herzen haßte ich ihn. Aber es gelang mir nicht, ihn zu überrumpeln. Er ließ das Schwert durch die Luft sausen. Ich rutschte aus, fiel auf ein Knie. Soldaten näherten sich uns, wie das aufspritzende Wasser verriet. Plenius wandte sich wieder mir zu.
»Komm zurück«, hörte ich Titus’ Stimme. »Laß ihn gehen. Der Schlüssel steht ihm zu.«
»Tötet den Spion!«
Vor lauter umherschwirrender Fliegen konnte ich kaum etwas sehen. Ich wischte sie mir wütend aus den Augen, suchte wieder nach dem Holzstück.
Plötzlich schrie Plenius laut auf und hieb mit dem Schwert auf die Wasseroberfläche ein. Mit der linken Hand hielt er sich das Gesicht. Ich vermutete, er war in der Nähe seines gesunden Auges gestochen worden. Möglicherweise konnte er nun gar nichts mehr sehen. Die Schwertschläge hatten das Wasser aufgewühlt und das Holzstück weitertreiben lassen. Vermutlich hatte Plenius die Schnur zerschneiden wollen. Es war natürlich auch möglich, daß er mich lediglich von dem Schlüssel hatte fernhalten wollen.
»Vorsicht!« rief da einer der näherkommenden Soldaten und streckte deutend den Arm aus.
»Ein Hai!«
Neben mir, so nahe, daß ich sie hätte berühren können, schnitt eine Rückenflosse durch das Wasser.
Die Dämmerung war hereingebrochen.
Einige der Soldaten beeilten sich, aus dem Wasser zu kommen.
Das Holzstück und die daran befestigte Schnur lagen plötzlich auf dem Rücken des Hais, dann rutschten sie auf der anderen Seite wieder herunter. Ich griff nach der Schnur. Ein Schwerthieb hatte das Holz getroffen, es aber nicht in zwei Hälften teilen können. Der Schlüssel baumelte noch immer an der Schnur. Ich stieß den Hai mit einem Fußtritt in eine andere Richtung und hängte mir den Schlüssel um.
»Da kommt noch einer!«
Ein von der Sandbank geschleuderter Speer tauchte ins Wasser ein.
Ich warf mich ins Wasser und schwamm auf das Schilf zu. Dabei berührte ich einen Hai. Ein solches Geschöpf ist unverwechselbar. Seine Haut ist sehr rauh, was für ein im Wasser lebendes Wesen überraschend ist. Sie fühlt sich an wie Schmirgelpapier. Sie kann einem schlimme Schürfungen zufügen. Die Rencebauern benutzen sie dazu, um Holz zu glätten. Ich stieß den Hai beiseite. Er schwamm weiter; der Schlag des sichelförmigen Schwanzes wühlte das Wasser auf. Der Mensch ist nicht die natürliche Beute des Hais. Aus diesem Grund wird er auch zuerst in Augenschein genommen, der Hai stößt ihn an und reibt sich an ihm, bevor er genug Mut oder Selbstvertrauen zum Angriff hat. Sobald er allerdings einmal Menschenfleisch gekostet hat, wird er viel aggressiver als üblich. Blut im Wasser steigert diese Aggression noch zusätzlich. Genau wie unregelmäßige Bewegungen im Wasser, die ihn vermutlich an einen verletzten Fisch erinnern. Sicher hatten Plenius’ Schwertschläge aufs Wasser den Hai angelockt. Wobei ich davon überzeugt bin, daß der Krieger sich nicht bewußt gewesen war, welche Folgen diese Handlung haben würde.
Aus der Deckung des Rence blickte ich zur Sandbank. Die Männer hatten sich wieder aufs Trockene zurückgezogen. Sie ließen die Blicke über den Sumpf schweifen, direkt in meine Richtung, allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, daß sie mich in dem schwindenden Licht und durch die Fliegenschwärme hindurch sehen konnten.
»Verfolgt ihn! Ich kann nichts mehr sehen!« Das konnte nur Plenius sein. Falls ihn die Fliegen nicht direkt ins Auge gestochen hatten, würde er sich wieder erholen. Aber er würde zweifellos ein paar sehr unangenehme Tage vor sich haben, soviel war sicher. »Verfolgt ihn!« Aber anscheinend verspürte keiner große Lust, mir ins Wasser zu folgen.
»Die Haie werden ihn erwischen.«
»Holt die Boote!« schrie Plenius.
Niemand rührte sich.
»Die Fliegen!« brüllte jemand schmerzerfüllt. »Geht in Deckung!«
Zuletzt stand Plenius ganz allein am Wasserrand; er hatte das Schwert in die Scheide zurückgeschoben und hob die Fäuste, um dem Sumpf zu drohen.
Ich wog das Risiko ab, jetzt zurückzukehren und ihn zu töten, solange er dort allein stand. Es schien nicht besonders groß zu sein. Aber dann trat ein Mann auf ihn zu, vermutlich Titus, und nahm ihn beim Arm. Er ließ sich widerstrebend zu den anderen führen.
Im Licht der Monde, das immer wieder von den am Himmel vorbeischwebenden lebenden Wolken verdunkelt wurde, schloß ich die verrosteten Handschellen auf und schleuderte sie zusammen mit dem Schlüssel weit in den Sumpf hinaus.
Ich versuchte, meinen Haß auf die Soldaten zu beherrschen.
Was hätte ich davon, wenn ich die Sandbank betreten, mir ein Schwert greifen und wahllos töten würde?
Davon abgesehen gab es unter ihnen nur einen, dessen Blut ich wirklich wollte.
Nein, sagte ich mir. Überlaß sie dem Sumpf.
Ich verließ das Rence und schwamm langsam und bedächtig um die Sandinsel herum. Auf der gegen überliegenden Seite kroch ich an Land und bediente mich bei den Bündeln von Ausrüstungsgegenständen. Ich lud alles in eines der heruntergekommenen Renceboote, dessen Boden bereits halb verfault war, löste das Tau, mit dem es festgebunden war, und paddelte zu der Stelle im Rence zurück, wo ich das Floß versteckt hatte; dabei hockte ich bis zu den Knien im Wasser.
Wenige Ehn später lag ich, gestärkt von Fleisch und Fladenbrot, in eine Tunika aus Ar gekleidet und mit Dolch und Schwert bewaffnet auf dem Floß. Trotz der Hitze hatte ich eine der gestohlenen Decken über mich gezogen. Das verschaffte mir einen gewissen Schutz vor den Fliegen. Davon abgesehen würde sie nützlich sein, wenn der Schüttelfrost einsetzte, eine vorhersehbare Auswirkung des Giftes der Stechfliegen.
Eine Ahn später schwitzte ich unter der Decke und mir war übel. Erst da wurde mir richtig bewußt, wieviel Stiche ich davongetragen haben mußte. Sicher, von den Hunderten von Fliegen, die sich auf mir niedergelassen hatten, hatten mich vermutlich nicht mehr als zwanzig oder dreißig gestochen. Ich hatte große Schmerzen, und mir war schlecht, aber trotzdem war ich in bester Stimmung. Tatsächlich verspürte ich ein Hochgefühl.
Die Reise aus dem Delta hinaus, würde gefährlich sein, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie übermäßig schwierig sein würde, nicht für einen Mann, der allein reiste, einen Mann, dem das Handwerk des Sumpfläufers vertraut war. Auch wenn ich mich vor den Rencebauern in acht nehmen mußte, fürchtete ich sie nicht sonderlich. Ihre tatsächliche Zahl ist nicht allzu groß, und davon abgesehen würden sie in der Nähe des Heeres bleiben, oder dessen, was davon noch übrig war. Die Wahrscheinlichkeit, bei den Tausenden von Quadratpasang, die das Vosk-Delta maß, auf sie zu stoßen, war eher gering, vor allem wenn man sich bemühte, ihnen aus dem Weg zu gehen. Außerdem muß man wissen, daß die meisten Bauerndörfer Warnzeichen aufstellen. Vor langer Zeit hatte ich einmal ein solches Zeichen mißachtet. Ich hatte nicht die Absicht, diesen Fehler zu wiederholen.
Da waren die Tarnspäher und cosischen Patrouillen schon gefährlicher.
Einige Zeit später, während ich am ganzen Körper schwitzte und zugleich zitterte, zog ich die Decke zurück, um mir die Monde anzusehen. Sie schwebten nun klar am Himmel. Die zweite Fliegenwelle war vorbei. Ich hatte es nicht eilig, die relative Sicherheit des Schilfs zu verlassen. Ich hatte Vorräte und konnte, falls das mein Wunsch war, auch von dem leben, was der Sumpf bot. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich sogar für unbegrenzte Zeit im Sumpf leben können.
Ich beschloß, mindestens zwei oder drei Tage hierzubleiben. Ich konnte eine Pause gebrauchen. Das Schleppen des Floßes, die Schläge und die allgemeine Behandlung hatten mir schwer zugesetzt. Außerdem dürfte die Fliegenplage dann vorbei sei. Bis dahin würde es mir auch wieder bessergehen, die Schmerzen würden verschwunden sein, genau wie die Schwellungen. Eine der größten Gefahren auf feindlichem Territorium ist die Ungeduld. Man muß dort sehr geduldig sein. Mehr als nur ein Mann ist nur wenige Meter vor der Freiheit wieder in Gefangenschaft geraten, weil er unvorsichtig, hastig und unüberlegt handelte. Ein Krieger muß begreifen, daß die letzten paar hundert Meter, das letzte, einladende Pasang, den gefährlichsten Schritt einer gefährlichen Reise darstellen können.
Ich schaute zu den Monden hoch.
Zum erstenmal seit Wochen konnte ich mich strecken und bewegen, wie ich wollte. Zum erstenmal seit Wochen war ich nicht mit gefesselten Händen an zwei Pflöcken angebunden.
Ich hatte gegessen. Ich trug Kleidung. Ich war bewaffnet.
Die Monde waren wunderschön.
In ein paar Tagen würde ich nach Norden aufbrechen. Ich hatte Freunde in Port Cos. Oder ich würde mich direkt nach Port Kar begeben.
Plötzlich mußte ich mich in den Sumpf übergeben.
Ich zitterte am ganzen Körper, hätte am liebsten die Schmerzen hinausgebrüllt, aber ich schwieg. Ich hätte mich am liebsten am ganzen Körper gekratzt, aber ich blieb reglos liegen.
Ich war zufrieden.
Die Monde waren wunderschön anzusehen.