6.

Er starb nicht, aber in der Nacht kam das Fieber. Und mit ihm die Träume.

Er sah sich selbst aus einer erhöhten Position, als hätte er sich in einen großen Vogel verwandelt, der mit lautlosen Flügelschlägen über dem Land schwebte, wie er das Haus erreichte und hineinkroch; dann, nach einem jähen Schnitt, das verdreckte Bett, auf dem er sich ausgestreckt hatte, vielleicht um zu sterben. Für einen Moment verwirrte sich das Bild. Rote Linien aus Schmerz und dunklere, breitere Spuren der Angst wanden sich vor seinen Augen wie Schlangen. Dann war er wieder er selbst, blickte gegen die Decke, durch die Sternenlicht und Schnee rieselten, und plötzlich, auf jene völlig unlogische und trotzdem keinen Widerspruch duldende Weise, die Träumen und Phantasien nun einmal eigen ist, spürte er, daß er nicht mehr allein war. Obwohl ein Teil von ihm schlief und so von Fieber und Krämpfen geschüttelt wurde, daß er nicht einmal einen Finger rühren konnte, drehte ein anderer Teil den Kopf und neben seinem Bett stand der Daij-Djan. Helths Spottgeburt. Das Ungeheuer von der Eisinsel!

Aber das war unmöglich. Skar wollte schreien, sich aufbäumen, fortkriechen, weg, nur weg von diesem entsetzlichen schwarzen Ding, das aus den Abgründen seiner eigenen Seele emporgekrochen war, um ihn zu vernichten, aber er konnte es nicht, er war gelähmt vor Entsetzen und Angst, hilflos ausgeliefert. Er wußte, daß es unmöglich war. Es war tot. Der Dronte hatte es vernichtet, mit dem Feuer der Sterne, dem nichts widerstehen konnte, aber es war da, schwarz und klein und böse, starrte ihn mit seinem augenlosen glitzernden Schädel an, ein Schädel wie aus poliertem schwarzem Stahl, stachelgekrönt und häßlich. Es stand einfach da, starrte ihn an und streckte plötzlich die Hand nach ihm aus. Aber es war keine Hand, es war eine Insektenklaue, hart und klein und mit zu vielen Fingern, die wie Messer gekrümmt und ebenso scharf waren, und diese Hand berührte ihn, glitt wie eine mißgestaltete gepanzerte Spinne über seinen Arm, kroch an seiner Schulter empor und näherte sich seinem Gesicht, verharrte, kroch zurück und glitt an seiner Brust herab. Gib es mir! wisperte eine Stimme in seinem Kopf. Gib es mir, und du wirst leben.

Dann riß die Monsterklaue seine Brust auf.

Skar spürte keinen Schmerz. Aber er sah, wie die hornige Klaue des Daij-Djan seine Haut teilte, Muskeln und Sehnen durchdrang und schließlich die Knochen beiseite schob. Kein Blut. In ihm war kein Blut, sondern nur etwas, das so schwarz und wabernd wie der Daij-Djan war und das pulsierte, aber nicht im Takt seines Herzens. Gib es mir! Gib es mir, und du darfst leben! Das Sternending wühlte weiter, grub sich in seine Brust hinein und suchte, tastete nach etwas, das tief in ihm verborgen war und rief, auf den Daij-Djan wartete (als Freund oder als Feind?), und plötzlich spürte Skar doch Schmerz, einen entsetzlichen, grauenhaften Schmerz, der um so schlimmer war, weil er noch immer nicht schreien konnte.

Der Daij-Djan verschwand.

Seine Hand war fort, Skars Brust unverletzt, aber er war noch immer nicht allein. Wo das Ungeheuer gestanden hatte, stand nun eine schmale, in weiße glatte Gewänder gehüllte Gestalt, ein alter Mann mit grauem Haar und ohne Gesicht. Seine Hand berührte Skar, genau dort, wo einen Herzschlag zuvor noch die Klaue des Daij-Djan gewesen war, aber statt Pein brachte sie Linderung; Skar konnte die wohltuende Betäubung fühlen, die sich in seinem Körper ausbreitete, schnell und fließend und sehr warm. Dann veränderte sich auch der alte Mann, und statt seiner saß plötzlich Syrr an seinem Bett, und Skar erwachte.

Der Daij-Djan war verschwunden, ebenso wie der Gesichtslose Prediger, aber Syrr war noch da.

Sie saß auf der Kante seines Bettes, halb nach vorne gebeugt, das Körpergewicht mit nur einem Arm abgestützt und so, daß sie ihn nicht berührte. Sie sah sehr müde aus. Ihr Haar hing ihr in dünnen, verklebten Strähnen in die Stirn, sie war blaß, und ihre Augen waren rot und entzündet; mit dicken, schweren Tränensäcken unterlegt, als hätte sie stundenlang in die Sonne gestarrt. Skar begriff plötzlich, daß sie die halbe Nacht neben ihm gesessen und gewacht haben mußte.

Obwohl das Mädchen nicht in seine Richtung sah, schien sie seinen Blick zu spüren. Sie blickte auf, fuhr mit deutlichen Anzeichen von Erschrecken zusammen und beugte sich vor. »Du bist wach!« rief sie. Ihre Stimme klang unendlich erleichtert - was einigermaßen sonderbar war für jemanden, der ihm noch vor Tagesfrist den Schädel einzuschlagen versucht hatte. Aber die Freude in ihrem Blick war echt. Und auch Skar verspürte eine fast absurde Erleichterung, sie zu sehen. Er hätte sie hassen oder zumindest zornig sein müssen, aber weder das eine noch das andere war der Fall. Vielleicht war es einfach die Tatsache, daß er nicht mehr allein war. Sie war ein Mensch, und sie hatte den Dämon aus seinen Träumen vertrieben, einfach dadurch, daß sie da war.

»Wie... kommst du hierher?« murmelte er. Das Sprechen bereitete ihm Mühe. Seine eigene Stimme klang in seinen Ohren wie die eines alten Mannes, brüchig und ohne Kraft. Seine Zunge lag wie ein geschwollener Klumpen aus Schmerz in seinem Mund. Er hatte Durst.

Syrr richtete sich für einen Moment auf und sah zur Tür zurück. Für die Dauer eines Lidzuckens erschien ein angespannter Ausdruck auf ihren Zügen. Dann sah sie wieder auf ihn herab. Als sie weitersprach, flüsterte sie, und redete sehr schnell. »Talin und ich sind nicht allein«, sagte sie hastig. »Sag niemandem, wer du bist, Skar. Sie werden dich töten, wenn du dich zu erkennen gibst. Hast du das verstanden?«

Skar verstand ganz und gar nicht, aber er dachte an den Satai, der bei den Quorrl gewesen war, und an Syrrs und Talins völlig unverständliche Reaktion, als er sich zu erkennen gegeben hatte. Er nickte.

»Gut.« Syrr seufzte erleichtert. »Merke es dir. Ich erkläre dir alles später. Aber es ist wichtig - auch für Talin und mich.« Skar versuchte ihr zuzulächeln - er war nicht sicher, ob es ihm auch gelang, aber Syrr erwiderte sein Lächeln - stemmte sich umständlich auf die Ellbogen hoch und schlug die Decke zur Seite. Bedachte er, wie elend er sich fühlte, ging es sogar überraschend gut. Es gab zwar kaum einen Quadratzoll auf seinem Körper, der nicht weh tat, aber die Schmerzen waren erträglich, und sogar seine Schwäche war nicht mehr so entsetzlich wie am Abend zuvor. Der Schlaf hatte ihm gut getan.

Dann sah er, daß es nicht nur der Schlaf gewesen war. Jemand hatte ihn gesäubert und die zahllosen Schnitte und Risse in seiner Haut verbunden. Sein rechtes Bein war geschient; ungeschickt mit einem Stock und Streifen, die offenbar aus einem alten Sack herausgerissen worden waren, aber sehr fest. Er hatte kaum noch Schmerzen. Aber er spürte das Bein auch kaum mehr. Vom Knie abwärts war es taub. Als er versuchte, die Zehen zu bewegen, ging es nicht.

»Hast du... mich verbunden?« fragte er mühsam.

Syrr schüttelte den Kopf, zog die Decke wieder über seinen Leib und drückte ihn mit sanfter Gewalt in die Kissen zurück. »Nein. Ich dachte...« Sie brach ab, als hinter der Tür Schritte polterten. Skar drehte den Kopf in den Kissen und sah an ihr vorbei.

Die Tür wurde unsanft aufgestoßen, und ein breitschultriger, in schmutzige Felle gehüllter Mann von vielleicht fünfzig Jahren betrat den Raum. Wie Syrr sah er müde aus. In seinem Haar, seinen buschigen Brauen und dem kurzgeschnittenen schwarz-grauen Bart klebte Schnee. Skar spürte die Kälte, die er mit ins Haus brachte, selbst unter seiner Decke.

Syrr stand auf und trat einen Schritt zur Seite, um dem Fremden Platz zu machen. Der Blick, den sie Skar dabei zuwarf, war fast beschwörend. Er hatte das sichere Gefühl, daß sie Angst vor dem Fremden hatte. »Das... das ist Enwass«, sagte sie stockend. »Talin und ich haben ihn getroffen, als wir -«

»Ich kann selbst reden«, unterbrach sie der Fremde. Er machte sich dabei nicht einmal die Mühe, Syrr anzusehen, sondern scheuchte sie mit einer unwilligen Handbewegung zur Seite, trat dicht an Skars Lager heran, betrachtete eine Weile sein geschientes Bein und musterte dann eingehend seinen Körper, nicht in der Art, in der man einen Menschen ansieht, sondern kalt und abschätzend, als betrachte er eine Ware, die er vielleicht kaufen wollte. Erst dann sah er Skar ins Gesicht.

»Wer bist du?« fragte er.

Skar schwieg. Die Augen des Mannes waren schmal; ihr Blick war müde, aber gleichzeitig hart. Entweder, überlegte Skar, war er von Natur aus ein grausamer Mann, oder einer, der zuviel erlebt hatte, um noch irgend jemandem zu trauen. Er wußte nicht, welcher Möglichkeit er den Vorzug geben sollte.

»Hast du dir auch die Zunge gebrochen ?« fuhr er fort, als Skar keine Anstalten machte, zu antworten.

»Skar«, antwortete Skar. »Mein Name ist Skar. Und wer bist du?«

»Die Fragen stelle ich«, versetzte der Enwass. »Dein Name ist also Skar? Und was bist du?«

Skar zögerte. Ohne Syrr anzusehen, spürte er, wie sie sich versteifte, und ihr Blick noch beschwörender wurde. Schließlich rettete er sich in ein gequält wirkendes Lächeln.

»Das möchte ich selbst gerne wissen«, antwortete er. »Anscheinend jemand, der ein gewisses Geschick darin entwickelt hat, von einer Schwierigkeit in die nächste zu stolpern.«

Enwass lächelte, aber es wirkte nicht echt. »Oder darin, direkten Fragen geschickt auszuweichen«, sagte er. »Nicht wahr?« Er drehte sich halb zu Syrr herum, machte eine ungeduldige Handbewegung und wartete, bis sie das Zimmer verlassen hatte. Skar war nicht sicher, ob es wirklich Zufall war, daß er dabei gerade richtig stand, um den Blickkontakt zwischen ihnen zu unterbrechen.

»So«, fuhr er dann fort. »Jetzt können wir reden. Also - wer bist du und vor allem, was bist du?« Er kam näher, ließ sich mit einem erschöpften Laut auf die Bettkante sinken und schüttelte sich den Schnee aus dem Haar. »Das Mädchen hat uns erzählt, wie sie dich gefunden haben. Du warst im Tempel?«

»Ja«, antwortete Skar. »Und bevor du fragst - ich weiß nicht, wie lange.«

»Du weißt es nicht?«

»Ich habe geschlafen«, antwortete Skar, etwas lauter als bisher und in bewußt scharfem, ungeduldigem Ton. »Ich weiß nichts von alledem, was hier vorgeht - von den Quorrl und dem Krieg und den...«

»Den Satai?« fiel der Fremde ein, als Skar nicht weitersprach. »Was soll damit sein?« erwiderte Skar.

Der Fremde lächelte dünn, griff unter seinen Mantel und zog das schmale lederne Stirnband mit dem Satai-Stern hervor, das Skar dem Toten abgenommen hatte. »Das haben wir bei dir gefunden«, sagte er. »Es ist das Zeichen eines Satai, nicht? Bist du einer?«

Skar schnaubte. Wütend deutete er auf das Schwert, dessen Griff unter dem Mantel des Fremden hervorlugte. »Du trägst ein Schwert«, sagte er ärgerlich. »Bist du ein Krieger?«

Enwass ohrfeigte ihn. Der Schlag kam so schnell, daß Skar keine Zeit mehr fand, ihn abzuwehren. Mit aller Kraft unterdrückte er den Impuls, seine Hand zu packen und zu verdrehen. Statt dessen hob er selbst den Arm und tastete nach seiner brennenden Wange.

»Noch einmal«, fuhr der Fremde fort, in einem Ton, als wäre nichts geschehen. »Bist du ein Satai?«

Skar ließ die Hand sinken und starrte ihn an. »Wenn ich das wäre, wärst du jetzt tot«, antwortete er kalt.

Einen Moment lang schwieg der Fremde, dann nickte er. Seltsamerweise schien dies genau die Antwort zu sein, auf die er gewartet hatte. »Was bist du dann?« fragte er. »Nur ein Satai besiegt einen Satai. Oder ein Vede. Bist du ein Vede?«

»Sehe ich so aus?« fauchte Skar. »Zum Teufel, nicht nur die Satai und Veden können kämpfen!«

»Das stimmt«, seufzte Enwass. »Auch ich weiß mein Schwert zu führen. Aber ich kenne niemanden, der einen Satai und drei Quorrl gleichzeitig erschlagen könnte. Und den Hund.«

»Den Hund hat der Junge getötet«, antwortete Skar ausweichend. »Und sie waren unaufmerksam. Ich habe sie hinterrücks angegriffen. Der Satai hatte keine Chance.«

»Gegen dich?« fragte Enwass zweifelnd.

»Ich habe ihm keine gelassen«, antwortete Skar - was sogar der Wahrheit entsprach. »Ich wußte, daß er mich töten würde in einem fairen Kampf. Und die Quorrl...« Er zögerte einen Moment. »Sie sind so dumm wie groß. Und sie sind sehr groß.« Diesmal huschte ein amüsiertes Lächeln über die Lippen des Fremden. Aber das Mißtrauen in seinem Blick erlosch nicht. »Warum hast du es getan?« fragte er. »Nimm an, ich glaube dir - warum solltest du einen Satai und drei Quorrl angreifen, mit bloßen Händen?«

Skar fuhr auf. »Zum Teufel, weil ich keine andere Wahl hatte!« fauchte er. »Was soll dieses Verhör? Wenn du mit Syrr gesprochen hast, weißt du auch, wie sie mich fanden. Was hätte ich tun sollen? Nackt durch den Schnee bis nach Denwar laufen?«

»Denwar?« hakte Enwass nach. »Du wolltest nach Denwar?«

»Ich wollte -« Skar brach ab, richtete sich auf, so weit es sein verletztes Bein und Enwass zuließen, und starrte ihn finster an. »Was soll das eigentlich?« fauchte er. »Du behandelst mich wie einen Feind! Ich weiß ja nicht einmal, wer du bist!«

»Mein Name ist Enwass«, sagte der Fremde ruhig. »Und es wäre besser, du würdest meine Fragen beantworten, Skar.« Er legte die Hand auf das Schwert an seiner Seite. »Besser für dich. Ich müßte dich nämlich sonst töten.«

»Ach?« sagte Skar wütend. »Und warum?«

»Weil ich es mir nicht leisten kann, jemanden am Leben zu lassen, von dem ich nicht weiß, wer er ist«, antwortete Enwass grob. »Weiß ich, ob du nicht zu ihnen gehörst? Vielleicht ist das alles hier eine Falle.«

»O ja, sicher«, antwortete Skar spöttisch. »Du hast mich durchschaut, Enwass. Ich gebe es zu. In Wahrheit, mußt du wissen, bin ich ein verkleideter Satai. Ich habe meinen Kameraden erschlagen und die beiden Quorrl, um mir euer Vertrauen zu erschleichen. Und dann habe ich mir noch selbst das Bein gebrochen und mich hierher geschleppt, weil ich nämlich wußte, daß du hierherkommen und mich finden würdest!«

Einen Moment lang starrte Enwass ihn voll unverhohlener Wut an. Und dann geschah etwas Seltsames: Seine Anspannung fiel von ihm ab, er seufzte, senkte den Kopf ein wenig und fuhr sich nervös mit der Hand über das Kinn. Und plötzlich begriff Skar, daß seine Härte nichts anderes als Angst war.

»Vermutlich hast du recht, Skar«, sagte er leise. »Ich war wohl ein wenig zu hart. Es... es tut mir leid. Aber du mußt mich verstehen. Wir sind seit drei Monaten auf der Flucht. Viele von uns sind tot. Und jetzt, wo wir uns der Grenze nähern...« Er lächelte nervös. »Wir können einen Mann wie dich gebrauchen«, fuhr er fort, in verändertem, fast - aber eben nur fast - freundlichem Tonfall. »Aber wir müssen vorsichtig sein.«

»Einen Mann wie mich ?« Skar verzog schmerzhaft die Lippen. »Einen Krüppel?«

»Dein Bein wird heilen«, erwiderte Enwass. »Wir haben gute Heilkräuter, und du bist stark. Es wird eine Woche dauern, bis wir die Grenze erreichen, vielleicht länger, denn wir können nur nachts reisen. Du wirst laufen, bis dahin.«

»Und wenn nicht?«

»Du wirst es müssen«, sagte Enwass, als wäre dies Erklärung genug. Dann fügte er hinzu: »Wenn wir dich am Leben lassen, heißt das.« Wieder legte er die Hand auf das Schwert. Sein Ton war viel freundlicher geworden, aber die Entschlossenheit in seinem Blick hatte nicht nachgelassen. Skar begriff, daß er ihn trotz allem töten würde, wenn er nur eine einzige falsche Antwort gab. »Also?« sagte er. »Wie kommt es, daß du einen Satai und die Quorrl erschlagen hast, Skar? Wer hat dich gelehrt, so zu kämpfen?«

»Du hast recht«, gestand Skar. »Ich... habe das Kämpfen von einem Satai gelernt.«

»Einem Satai?« Enwass versteifte sich.

»Ich war mit einem befreundet«, erwiderte Skar ruhig. »Sein Name war Del - kennst du ihn?«

Enwass schüttelte den Kopf. »Befreundet, sagst du?«

Skar nickte. Er versuchte, seine Enttäuschung zu unterdrücken. Es war närrisch gewesen, im Ernst zu erwarten, daß Enwass den Namen Del kannte - es gab Tausende von Satai, und Enwor war groß. Enwass' Kopfschütteln bedeutete nicht, daß er nicht mehr am Leben war. Wenigstens redete sich Skar das ein. »Ja«, antwortete er. »Aber das ist lange her. Lange bevor...« Er sprach nicht weiter. Er konnte es nicht, denn er hatte keine Ahnung, bevor was.

Aber seine Rechnung ging auf. Das Lächeln auf Enwass' Lippen wurde schmerzlich. »Ja«, sagte er, »das verstehe ich. Es tut weh, ich weiß.« Er seufzte. Dann, ganz plötzlich, änderte sich sein Gesichtsausdruck.

»Erzähle weiter«, verlangte er. »Wie bist du in den Tempel gekommen?«

»Wie alle, die die Hilfe der Gesichtslosen Prediger brauchen«, antwortete Skar.

»Hilfe? Wobei?«

»Das geht dich nichts an«, erwiderte Skar grob. »Ich kam zu ihnen, und sie versprachen mir zu helfen.«

»Einfach so?« Enwass' Augen wurden schmal. »Die Gesichtslosen Prediger helfen niemandem ohne Gegenleistung.«

»Dann haben sie bei mir eben eine Ausnahme gemacht«, erwiderte Skar gereizt. »Ich ging zu ihnen, weil ich gehört hatte, daß sie Zauberer seien. Und ich brauchte die Hilfe eines Zauberers.«

»Du glaubst an Zauberei?«

»Nein«, antwortete Skar. »Aber sie.«

Enwass starrte ihn an, blinzelte - und lachte leise. »Eine gute Antwort«, sagte er. »Erzähle weiter.«

»Es gibt nichts weiter zu erzählen«, erwiderte Skar. »Sie gaben mir einen Trank und sagten, ich würde schlafen. Lange schlafen. Sie sagten nicht«, fügte er hinzu, »daß es so lange sein würde.«

»Wie lange?«

»Woher soll ich das wissen?« fauchte Skar. »Als ich erwachte, war der Tempel leer. Hätte ich nicht Syrr und den Jungen getroffen, wäre ich vermutlich dort unten verhungert.«

Enwass nickte. »Es ist ein Wunder, daß du überhaupt noch lebst, Skar«, sagte er. »Die Prediger sind fortgegangen - vor mehr als zwei Wochen.«

»Weißt du, wohin?« fragte Skar.

Zu seiner Überraschung antwortete Enwass sogar, wenn auch anders, als er gehofft hatte. Er seufzte, schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig die Achseln. »Wohin alle gehen«, sagte er. »Nach Süden. Nach Bayfour, Lora oder Malab. In die freien Länder.«

»Die freien Länder...« Skar wiederholte den Begriff nachdenklich. »Ich... erinnere mich. Syrr sprach davon. Die anderen Länder...?«

»Sind besetzt«, führte Enwass den Satz zu Ende. »Von den Quorrl und deinen Satai-Freunden, Skar. Kohon, das Drachenland, Kohon-West, Tuan, ein Teil von Ikne...« Er seufzte abermals. »Der Winter hat sie aufgehalten. Wäre er nicht gekommen, gäbe es auch sie vielleicht nicht mehr.«

»Cosh«, murmelte Skar. »Was ist mit Cosh?«

»Die Sümpfe?« Enwass schüttelte den Kopf. Seine Stimme wurde bitter. »Die Sumpfleute waren die ersten, die zu den Quorrl überliefen. Noch vor den Satai.«

Es fiel Skar schwer, zu schweigen. Enwass' Worte bestätigten nur, was er gefürchtet hatte - aber es war unmöglich. Er war froh, als Enwass weitersprach und seine Aufmerksamkeit beanspruchte.

»Wir werden dich mitnehmen«, sagte er zögernd. »Was nicht heißt, daß ich dir glaube. Der Krieg ist vor einem halben Jahr ausgebrochen. Das bedeutet, daß du sechs Monate lang geschlafen haben mußt. Ich habe nie davon gehört, daß ein Mensch ein halbes Jahr lang schläft. Andererseits... die Gesichtslosen Prediger sind Zauberer, auch wenn du nicht an Zauberei glaubst. Wir werden sie fragen, ob deine Geschichte stimmt.«

»Du weißt, wo sie sind?«

»Wir werden sie finden«, sagte Enwass überzeugt. »Oder einen anderen, der die Wahrheit ergründet.«

»Warum hilfst du mir, wenn du mir nicht glaubst?« fragte Skar verwirrt.

»Weil ich kein Mörder bin«, erwiderte Enwass. »Ich habe getötet und werden weiter töten, um mein Leben zu retten, Skar. Aber dich zurückzulassen, bedeutet deinen Tod. Die Quorrl werden wiederkommen.« Er lächelte flüchtig, als er Skars Überraschung bemerkte. »Das Mädchen hat uns alles erzählt«, sagte er, »Einer der Quorrl ist entkommen. Es ist ein weiter Weg bis zu ihrem Heerlager, aber sie sind rachsüchtig. Zweifellos sind sie jetzt bereits auf dem Weg zurück, um sich an dir zu rächen. Von den Satai ganz zu schweigen - sie schätzen es nicht, wenn einer von ihnen getötet wird.«

»Wenn das so ist, bin ich wohl eher eine Gefahr für euch, als eine Hilfe«, sagte Skar, aber Enwass fegte seine Worte mit einer bewußt beiläufigen Bewegung zur Seite.

»Wir haben keine Angst vor einer Bande fischgesichtiger Quorrl«, sagte er. »Und wir reisen noch heute weiter, sobald die Sonne untergegangen ist. Die Quorrl können frühestens in einem Tag hier sein. Bis dahin sind wir fort.«

»Sie werden meinen Spuren folgen. Und euren.«

»Wir hinterlassen keine«, behauptete Enwass. Er seufzte. »Genug jetzt. Du wirst uns begleiten - oder sterben. Oder uns begleiten und später sterben, solltest du mich belogen haben. Bist du hungrig?«

Skar nickte. »Sehr. Aber wieso -«

»Später«, unterbrach ihn Enwass mit erhobener Stimme, »ist Zeit genug zum Reden.« Er stand auf. »Ruh' dich aus. Ich schicke das Mädchen mit einer heißen Suppe zu dir. Du kannst im Bett bleiben, bis wir aufbrechen. Wenn du willst, darfst du das Zimmer verlassen, aber nicht das Haus.« Er machte eine vage Geste. »Ich habe Befehl gegeben, dich zu töten, wenn du es versuchen solltest. Also sei vernünftig. Ich komme später noch einmal zu dir.«

Damit wandte er sich um, verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Skar hörte ihn draußen mit jemandem reden, ohne die Worte zu verstehen, dann verklangen seine Schritte endgültig auf dem hartgefrorenen Holzboden.

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