1.

Er schlief lange und ausgiebig, und es war eine andere Art des Schlafes als die totenähnliche Starre, in die ihn der Trank des Predigers hatte fallen lassen. Diesmal träumte er, und diesmal erinnerte er sich auch hinterher, was er geträumt hatte, wenn es auch im großen und ganzen nichts als krauses Zeug war, das keinen Sinn ergab: Träume, in denen er sich selbst sah, rennend und rennend und rennend, auf der Flucht vor einer Gefahr, die immer ein ganz kleines bißchen schneller war als er, ganz gleich, wie schnell er auch lief, dann wieder gegen ein gesichtsloses Monstrum kämpfend, ein Ding mit dem Körper eines alten Mannes, aber den Kräften eines Titanen. Ein paarmal sah er das Kind, aber irgend etwas stimmte nicht damit. Er wußte nicht was, aber es machte ihm Angst.

Trotzdem: Als er erwachte, fühlte er sich noch immer müde und benommen, doch auf eine sehr angenehme Art. Eine Weile lag er einfach mit halb geschlossenen Augen da und genoß das Gefühl, ganz allmählich vom Schlaf ins Wachsein hinüberzugleiten. Dann stand er auf, trank den kleinen Wasserrest, der sich noch im Krug befand, und untersuchte zum zweiten Mal den Obstkorb - mit dem gleichen Ergebnis wie beim ersten Mal. Das Obst war so verrottet, daß ihm allein der Geruch schon wieder Übelkeit bereitete.

Sein Hunger war mittlerweile so quälend geworden, daß er eine der Früchte sogar aufbrach, um vielleicht noch einen kleinen, halbwegs eßbaren Rest zu finden. Aber sie waren verdorben. So gründlich, als lägen sie seit Wochen hier.

Skar maß diesem Gedanken große Bedeutung zu: Bei der sorgsamen, fast überpräzisen Art der Gesichtslosen Prediger war es eigentlich unvorstellbar, daß sie etwas wie diese Obstschale vergessen sollten; dazu kam, daß der Tempel zwar leer, aber keineswegs fluchtartig verlassen worden war. Er machte eher den Eindruck eines Gebäudes, das von seinen Bewohnern in aller Ruhe geräumt worden war. Skar war fast sicher, daß dieser Krug mit Wasser und die Schale mit verfaultem Obst und steinhart gewordenem Brot alles waren, was er finden würde.

Und das - zusammen mit der Tatsache, daß sie in seinem Gelaß gestanden hatten - konnte eigentlich nur bedeuten, daß beides für ihn zurückgelassen worden war. Aber wenn das stimmte - wie lange zum Teufel hatte er dann geschlafen?!

Der Gedanke beunruhigte ihn; weit mehr, als er sich eingestehen wollte. Irgend etwas Entsetzliches mußte geschehen sein, während er unter dem Einfluß der Droge dagelegen hatte... Er verscheuchte den Gedanken, trank den letzten Rest Wasser aus seinem Krug und verließ die Kammer. Ganz kurz dachte er noch einmal an das Gefühl, das er beim Erwachen am Tage zuvor gehabt hatte: das Gefühl, nicht allein zu sein. Aber er mußte sich wohl getäuscht haben.

In den nächsten Stunden durchsuchte er den Tempel der Gesichtslosen Prediger so gründlich, wie er nur konnte, ohne zu riskieren, sich abermals zu verirren. Alles, was er fand, waren Staub und leere Kammern. Die Gesichtslosen Prediger waren fort. So spurlos, als hätte es sie niemals gegeben. Und mit ihnen das Kind. Skar kehrte in die Kammer des Oberpriesters zurück, am Ende seiner ergebnislosen Suche. Sie war wie alle Räume hier - leer und kalt und voller Staub, aber sie schien noch ein bißchen leerer zu sein als die anderen; vielleicht, weil sie voller Erinnerungen war. Erinnerungen an den Alten, an all die Worte, die er nur zum Teil verstanden hatte - vielleicht, weil er es gar nicht gewollt und ihn der Teil, den er verstand, schon bis ins Mark erschreckt hatte - und Erinnerungen an das Kind, das...

Skar erschrak, als er begriff, daß es ihm unmöglich war, sich an seinen Sohn zu erinnern. So sehr er sich auch anstrengte - es ging nicht! Dabei war alles da - die Erinnerungen lagen vor ihm, säuberlich geordnet und ausgebreitet wie lose Blätter in einem Buch, aber es war wie gestern, nach seinem ersten Erwachen: Jedesmal, wenn er danach zu greifen versuchte, schien eine unsichtbare Hand die seine beiseite zu schlagen; seine Erinnerungen waren wie Nebel, der stets vor ihm zurückwich, wenn er nach ihm griff. Aber gestern war es seine Benommenheit gewesen, die Tatsache, daß er nach Tagen und Wochen des Dahindämmerns selbst so grundlegende Dinge wie das Denken erst wieder mühsam lernen mußte. Jetzt... war es anders.

Auf eine sonderbar unkörperliche Art erschöpft, ließ er sich auf die Tischkante sinken, stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln auf und bettete das Kinn auf die verschränkten Fäuste. Eine schwer in Worte zu fassende Stimmung ergriff ihn, während er so dasaß. Er verspürte Zorn; eine fast kindische Wut auf die Gesichtslosen Prediger, die ihm Hilfe versprochen und ihn statt dessen allein gelassen hatten, aber auch Zorn auf Gowenna-Kiina, wie sie jetzt hieß - die ihn hierhergeschickt hatte, auf sich selbst, der auf ihren Rat gehört hatte. Ja, dachte er sarkastisch: es war eine Art Weltschmerz, gepaart mit einer gehörigen Portion Selbstmitleid, und auf eine Skar selbst völlig neue Art erleichterte ihn dieses Gefühl. Bisher war er einfach nur ratlos gewesen. Jetzt hatte er wenigstens etwas, auf das er zornig sein konnte; wenn auch nicht sehr, denn mit einem anderen, völlig selbständig arbeitenden Teil seines Bewußtseins begriff er sehr wohl, daß all dies weder Zufall noch Teil eines heimtückischen Planes war, sondern...

Sondern ?

Sondern was? dachte er wütend. Was war hier geschehen? In diesem Moment hörte er das Geräusch.

Skar fuhr hoch. Er hatte den Laut nicht bewußt wahrgenommen, aber seine Sinne waren scharf wie eh und je, und etwas in ihm reagierte, ohne daß es des Zutuns seines bewußten Denkens bedurfte.

Er sah einen Schatten aus den Augenwinkeln, ließ sich blitzschnell zur Seite fallen und rollte hinter den niedrigen Steinquader, der dem Prediger als Tisch gedient hatte. Dann schnellte er wieder in die Höhe, kampfbereit, mit leicht gespreizten Beinen, die Linke zur Faust geballt und vor dem Leib, die rechte Hand leicht gespreizt und in Höhe seines Kehlkopfes haltend.

Im nächsten Moment kam er sich so albern vor wie schon seit langer Zeit nicht mehr.

Seine Sinne hatten ihn nicht getrogen - er hatte Schritte gehört, und er hatte eine Bewegung in seinem Rücken wahrgenommen. Aber es war kein Angreifer, der sich heimlich anschlich.

Hinter ihm stand ein schwarzhaariger Knabe von allerhöchstens acht Jahren, der ihn schreckensbleich und aus Augen anstarrte, die weit und dunkel vor Furcht waren. Seine Hände zitterten, und sein Mund stand ein wenig offen, als wolle er schreien. Trotzdem kam kein Laut über seine Lippen. Er starrte Skar nur an, mit einer Mischung aus Entsetzen und Erleichterung, wie sie Skar selten im Blick eines Menschen gesehen hatte. Seine kleinen Hände umklammerten einen Stock, ganz in der Art, in der ein Mann ein Schwert hielt, aber sie zitterten, und Skar sah die dunklen Linien in seinem Gesicht, die Furcht und Erschöpfung hineingegraben hatten. Skar sah auch, daß seine Knöchel und Knie blutig waren. Über seiner rechten Schläfe prangte eine große, erst halb verschorfte Wunde, und sein rechtes Bein war verbunden, mit mehr gutem Willen als Sachkenntnis. Sein Gewand, das mehr einem schmutzigen Sack glich als einem Kleid, klebte in dunklen Flecken an seiner Haut. Sein Atem ging sehr schnell. Er war gerannt.

Skar ließ langsam die Hände sinken, entspannte sich ein wenig und versuchte zu lächeln. Er selbst hatte den Eindruck, daß es ihm gelang, aber die Reaktion des Knaben bewies das Gegenteil: Der schwache Funke von Erleichterung in seinem Blick erlosch und machte jäh aufflammender Panik Platz. Und plötzlich schrie er doch: hoch und schrill und so spitz, daß Skar abermals erschrocken zusammenfuhr und unwillkürlich einen Schritt auf ihn zutrat.

»Warte!« sagte Skar hastig. »Ich -«

Der Junge wirbelte herum und rannte aus der Kammer, ehe er auch nur aussprechen konnte.

»Heda!« schrie Skar. »So bleib doch stehen! Ich tue dir doch nichts!«

Natürlich reagierte der Junge nicht. Im Gegenteil - Skar sah, wie er erschrocken über die Schulter zu ihm zurücksah und noch schneller lief, dann war er ganz aus der Kammer heraus und im Halbdunkel des Ganges verschwunden.

Skar schluckte einen Fluch herunter, sprang mit einem Satz über den Tisch und rannte hinter dem Jungen her, wobei er ihm unentwegt zuschrie, doch stehenzubleiben. Aber die einzige Antwort, die er bekam, war das verzerrte Echo seiner eigenen Stimme.

Der Junge hatte bereits einen gehörigen Vorsprung, als Skar aus der Kammer stürmte - er sah gerade noch einen Zipfel seines zerrissenen Gewandes in einem Seitengang verschwinden, dann war nicht einmal mehr das Echo seiner Schritte zu hören. Skar hörte auf, nach dem Jungen zu rufen, und sparte sich seinen Atem dafür, rascher zu laufen. Der Junge war nicht sehr schnell, obwohl ihm die Angst zusätzliche Kräfte verleihen mußte, aber Skars Herz begann bereits nach wenigen Schritten schnell und hart zu hämmern, und in seiner Kehle erwachte ein dünner, stechender Schmerz. Er war wahrlich nicht sehr gut in Form.

Trotzdem verdoppelte er seine Anstrengungen, ihn einzuholen, bog mit gesenktem Kopf in den Seitengang ein und sah den Jungen plötzlich dreißig, vierzig Schritte vor sich.

»Zum Teufel - bleib endlich stehen!« schrie er. »Ich will nichts von dir! Nur deine Hilfe!«

Und tatsächlich blieb der Junge stehen und sah zu ihm zurück, wenn auch nur für einen Moment - dann wirbelte er abermals herum und verschwand in einer Tür. Skar fluchte ungehemmt, griff noch weiter aus und versuchte das Stechen in seinen Lungen zu ignorieren. Wenn er den Jungen in diesem Labyrinth von Gängen und Treppenfluchten aus dem Auge verlor, hatte er keine Chance mehr, ihn einzuholen. Der Tempel war groß genug, eine Armee zu verstecken. Kaum drei Schritte hinter ihm stürmte er durch die niedrige Tür.

Er sah die Bewegung im letzten Augenblick, aber diesmal kam seine Reaktion zu spät. Skar versuchte sich herumzuwerfen und gleichzeitig die Arme in die Höhe zu reißen, aber er war zu langsam. Etwas traf ihn mit der Wucht eines Hammerschlages im Gesicht und schleuderte ihn zu Boden.

Er fiel, versuchte den Sturz ungeschickt mit Händen und Knien abzufangen und prallte schmerzhaft mit der Schläfe gegen die Wand. Kreise aus blutrotem Schmerz drehten sich vor seinen Augen. Er spürte, wie seine Arme unter seinem Körpergewicht nachgaben, prallte mit dem Gesicht gegen den harten Boden und stöhnte ein zweites Mal vor Schmerz. Er konnte nicht mehr richtig sehen. Schatten umtanzten ihn. Er hörte Schritte, dann einen überraschten, hellen Schrei - nicht den einer Kinderstimme - versuchte den Kopf zu heben und fühlte die Gefahr noch, dann traf ihn ein zweiter, sehr viel härterer Schlag gegen den Unterkiefer. Skar schrie vor Schmerz auf, riß ganz instinktiv die Arme über den Kopf und spürte, wie er irgend etwas traf, das unter seinem Hieb zurücktaumelte. Ein neuerlicher Schrei erscholl, gleichzeitig voller Wut und Schmerz, und dicht neben ihm stürzte ein Körper schwer zu Boden.

Skar wälzte sich stöhnend auf den Rücken, blinzelte die grellen Schmerzblitze vor seinen Augen fort und richtete sich auf. Auf seiner Zunge war Blut, sehr viel Blut, und Schmerz lähmte seine gesamte rechte Gesichtshälfte. Mühsam rappelte er sich hoch, spuckte Blut, ein Stück eines abgebrochenen Zahnes und noch mehr Blut und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen.

»Beweg dich nicht!« sagte eine Stimme neben ihm. »Bleib, wo du bist, oder ich schlage dir den Schädel ein!«

Skar sah mühsam auf. In seinem Kopf drehte sich alles. Ihm war übel und schwindelig zugleich, und der Schmerz in seinem Kiefer wurde fast unerträglich. Er wäre nicht einmal in der Lage gewesen, sich zu wehren, wenn er es gewollt hätte. Und er konnte noch immer nicht richtig sehen. Vor seinen Augen wogten blutige Schatten.

Mühsam richtete er sich weiter auf, sah einen der Schatten sich bewegen und fuhr erschrocken zusammen. Der Schlag, auf den er wartete, kam nicht, aber die Stimme wiederholte ihre Warnung, sich nicht zu bewegen.

Skar spürte kalten Stein im Rücken, ließ sich gegen die Wand sinken und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er fühlte Blut, das aus seiner aufgeplatzten Lippe quoll, und einen raschen, stechenden Schmerz.

Als er die Hände herunternahm, geronnen die Schatten vor seinem Blick zu den Umrissen zweier Menschen. Der eine war der Junge, den er verfolgt hatte. Er stand mit gespreizten Beinen da, den Stock, an dem jetzt Blut klebte, mit beiden Fäusten umklammernd und zitternd vor Angst, aber gleichzeitig auch sehr entschlossen.

Der andere war der einer Frau, und sie war es auch gewesen, die ihn vollends niedergeschlagen hatte, eine Frau von allerhöchstens fünfundzwanzig Jahren. Sie hockte vor ihm, halb auf ein Knie erhoben, und in ihren Augen stand die gleiche panische Angst, die er schon in denen des Jungen gelesen hatte. Ihre rechte Hand umklammerte den faustgroßen, kantigen Stein, den sie ihm ins Gesicht geschlagen hatte.

Skar versuchte etwas zu sagen, aber es ging erst, nachdem er einen weiteren Mundvoll Blut ausgespien hatte. Stöhnend hob er die Hand, fuhr sich über Kinn und Lippen und machte Anstalten, sich vollends zu erheben. Sofort hob die Frau den Stein drohend höher, und Skar erstarrte wieder. Aber er sah auch, daß ihre Hand zitterte. Der Ausdruck auf ihren Zügen war Panik, nicht Wildheit.

»Nimm den Stein herunter«, sagte er mühsam. »Ich bin nicht dein Feind!« Er stöhnte, berührte seine schmerzende Wange mit spitzen Fingern und fügte gepreßt hinzu: »Wenigstens noch nicht.«

Die Frau - nein, korrigierte sich Skar in Gedanken: das Mädchen - zögerte. Ihre Hand begann stärker zu zittern. Der Stein mußte sehr schwer sein. Und wahrscheinlich war sie halb wahnsinnig vor Angst. Aber es war die gleiche Angst, die ihr die Kraft gegeben hatte, ihn niederzuschlagen. Skar begriff plötzlich, daß er einfach Glück gehabt hatte - hätte der Stein seine Schläfe getroffen, statt seines Kiefers, wäre er jetzt wahrscheinlich tot. »Nimm den Stein herunter«, sagte er noch einmal. »Bitte.« Das Mädchen zögerte. Skar konnte den lautlosen Kampf, der hinter ihrer Stirn tobte, direkt sehen. Sie war noch immer halb wahnsinnig vor Angst, aber in ihrem Blick war auch die gleiche, vorsichtige Erleichterung zu erkennen wie zuvor in dem des Jungen. Trotzdem senkte sie den Stein nicht. »Wer... wer bist du?« stammelte sie. »Du gehörst nicht... nicht zu ihnen?«

»Ich habe keine Ahnung, wer sie sind«, antwortete Skar gereizt. »Aber ich glaube nicht, daß ich dazu gehöre.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf ihre Hand, die den Stein hielt. »Wie ist es - darf ich aufstehen, oder zertrümmerst du mir den Schädel, wenn ich es versuche?«

»Glaub ihm nicht, Syrr!« sagte der Junge. Er hatte sich Skar von der anderen Seite genähert und war abermals mit gespreizten Beinen stehengeblieben. Den Stock hielt er nun wirklich wie ein Schwert. Und trotz der Angst, die in seinem Blick flackerte, schien er wild entschlossen zu sein, zuzuschlagen. Wäre der Schmerz in seinem Gesicht etwas weniger heftig gewesen, hätte der Junge ihm wahrscheinlich sogar gefallen.

»Syrr, so.« Skar richtete sich auf, fuhr sich noch einmal mit dem Handrücken über den Mund und verzog schmerzhaft das Gesicht. Dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf den Jungen. »Wer ist das?« fragte er verdrossen. »Dein Sohn?«

»Mein... mein Bruder«, antwortete Syrr. Ihr Blick flackerte. Skar sah, welche Kraftanstrengung es sie kostete, den Stein weiter drohend erhoben zu halten. Ihre freie Hand spielte nervös an dem groben Strick, den sie anstelle eines Gürtels um die Taille trug. Wie die des Jungen waren ihre Hände und die nackten Arme mit einer Unzahl kleiner, zum größten Teil erst halb verheilter Kratzer und Wunden übersät.

»Und wer bist du?« fragte sie unsicher.

»Jemand, der dir und diesem Knirps da gleich eine Tracht Prügel verabreicht, wenn du nicht sofort den Stein fallen läßt«, antwortete Skar drohend. Er hatte beinahe Lust, seine Ankündigung in die Tat umzusetzen, denn zu dem pochenden Schmerz in seinem Kiefer gesellte sich nun auch noch Zorn; allerdings wohl eher Zorn auf sich selbst, daß er sich von einem Knaben und einem Mädchen so hatte übertölpeln lassen.

Syrr wich erschrocken vor ihm zurück, als er auf sie zutrat, und Skar bedauerte seine groben Worte fast sofort wieder. Jetzt, als Skar ihr gegenüberstand, sah er, daß sie sehr klein war: selbst hoch aufgerichtet reichte sie ihm kaum bis zur Schulter. Sie war sehr schlank, beinahe dürr, und auf ihren Wangen lagen Schatten, die von einer überstandenen schweren Krankheit, vielleicht auch von Hunger kündeten. Ihr Haar war schwarz wie das des Jungen und unter einem tief in die Stirn gezogenen Kopftuch verborgen. Und wie der Knabe trug sie ein sackähnliches, zerschlissenes Gewand und keine Schuhe.

Statt Zorn spürte Skar plötzlich beinahe Mitleid - aber nur beinahe. Der Schmerz in seinem Gesicht war ein wenig zu stark, um nicht jeden aufkeimenden Funken von Sympathie für Syrr und ihren Bruder sofort zu ersticken.

Stöhnend hob er den Arm, preßte die Hand gegen seine schmerzende Wange und musterte Syrr und den Knaben finster. Aber sein Zorn wich mehr und mehr Verwirrung - und dem unguten Gefühl, daß Syrrs verzweifelter Angriff auf ihn mehr als ein Versehen gewesen war. Die beiden mußten eine Menge mitgemacht haben, dachte er. Sie würden einen Mann wie ihn nicht aus purem Übermut angreifen, oder gar, um ihn auszuplündern. Ganz davon abgesehen, daß es bei ihm nicht sehr viel zu plündern gab...

Skar verharrte mitten im Schritt, sah an sich herab und runzelte die Stirn. »Gib mir dein Kopftuch«, verlangte er.

Syrr zögerte, aber als er die Hand ausstreckte, hob sie fast erschrocken den Arm, zog das Tuch herunter und reichte es ihm. Skar nickte dankbar, faltete es ganz auseinander und knotete es zu einem primitiven Lendenschurz zusammen. Erst danach wandte er sich wieder an das Mädchen.

»Also«, begann er, noch immer in scharfem Ton, aber lange nicht mehr so grob wie bisher. »Wer seid ihr, und was soll das, mich hinterrücks niederzuschlagen?«

Syrr antwortete nicht. Ihr Blick glitt über seine Gestalt, blieb an seinem Gesicht hängen und begann unstet durch den Raum zu irren, als suche sie einen Fluchtweg. Skar spürte, wie es in ihr arbeitete. Vermutlich begriff sie allmählich, daß er wirklich nicht zu den Männern gehörte, vor denen sie und ihr Bruder solche Angst hatten. Trotzdem traute sie ihm noch nicht.

Und wie konnte sie auch? dachte er. Er hatte einen Blick wie den ihren zu oft gesehen, um nicht zu wissen, was er bedeutete: der Blick eines gejagten Tieres, das so lange auf der Flucht gewesen war, daß es schon nicht mehr wußte, was das Wort Vertrauen wirklich bedeutete. Dieses Mädchen und ihr Bruder hatten zu viel erlebt, um noch irgendeinem Menschen vorbehaltlos trauen zu können - und schon gar keinem nackten Mann, der unversehens in einer vermeintlich vollkommen leeren Festung vor ihnen auftauchte.

»Laß den Stein fallen«, sagte er, laut, aber trotzdem beinahe sanft. »Wenn ich das wäre, wofür du mich hältst, wärst du schon lange nicht mehr am Leben, glaube mir. Also -?«

»Glaub ihm nicht«, sagte der Junge. »Er lügt! Sie lügen immer. Er wird uns zurückbringen. Oder gleich hier ermorden.«

Skar seufzte, drehte sich langsam zu dem Jungen um und trat einen halben Schritt auf ihn zu. Der Junge erbleichte noch mehr, wich aber nicht weiter vor ihm zurück. Seine Hände begannen stärker zu zittern. Er biß sich auf die Lippe, so fest, daß ein einzelner Blutstropfen aus seinem Mundwinkel lief. Aber er wich keinen Zoll vor Skar zurück.

»Du hast Mut, Kleiner«, sagte Skar. »Aber das allein reicht nicht - siehst du?«

Der Junge keuchte, als Skar eine schnelle Bewegung machte und plötzlich den Stock in Händen hielt, ohne daß er auch nur recht begriff, wie ihm geschah. Skar schüttelte tadelnd den Kopf, zerbrach den Stecken ohne sichtliche Anstrengung in zwei Teile und warf sie zu Boden. Für einen Moment bereitete es ihm eine absurde Befriedigung, den Knaben so spielend entwaffnet zu haben. Dann begriff er, daß er sich selbst sehr kindisch benahm. »Laß einen Mann niemals so dicht an dich herankommen, daß er dich entwaffnen kann«, sagte Skar. Er lächelte verlegen, obwohl er sich darüber im klaren war, daß es bei seinem geschwollenen Gesicht wohl eher einer Grimasse gleichkam, wandte sich wieder an das Mädchen und deutete auf den Stein in ihrer Hand. »Du scheinst an diesem Ding zu hängen«, sagte er. »Behalte es meinetwegen, aber mach keinen Unsinn damit, ja? Also, Syrr - du und dein Bruder, wer seid ihr? Und was tut ihr hier?«

»Wir... wir haben uns versteckt«, antwortete Syrr stockend. »Talin und ich sind ihnen entkommen, aber sie haben uns verfolgt, und... und da haben wir die Höhle entdeckt, und... und wir dachten, hier unten wären wir sicher, aber dann... dann hörten wir Schritte und...«

Skar hob die Hand, um ihren Redefluß zu unterbrechen.

»Nicht so rasch«, sagte er. »Wer sind sie, und warum verfolgen sie euch? Was habt ihr getan?« Er seufzte, ließ sich wieder zu Boden sinken und zog die Knie an den Leib. Sein Kiefer schmerzte so heftig, daß er nicht mehr klar denken konnte. Großer Gott, wie hatte er sich so übertölpeln lassen können - von einem Kind? »Quorrl«, antwortete Syrr nach langem Zögern. »Die... die Quorrl, Herr!«

»Quorrl?« Skar sah auf, blickte das Mädchen ungläubig an und vergaß für einen Moment sogar den pochenden Schmerz in seinem Kiefer. »Sagtest du: Quorrl?« wiederholte er.

»Sie haben uns verfolgt, Herr«, bestätigte Syrr. »Seit drei Tagen fliehen Talin und ich vor ihnen, aber sie... sie haben Hunde dabei, und...«

»Warum erzählst du ihm das?« mischte sich Talin ein. »Er gehört zu ihnen, das weiß ich. Er wird uns verraten!«

»Sehe ich vielleicht aus wie ein Quorrl?« fragte Skar zornig. »Es... es sind auch Menschen bei ihnen«, sagte Syrr. Ihre Stimme schwankte immer stärker. Und ganz plötzlich ließ sie den Stein fallen und begann zu weinen. »Es... es war so entsetzlich«, schluchzte sie. »Ich habe Angst, Herr. Bitte helft uns!« Und dann tat sie etwas, womit Skar hätte rechnen müssen, was ihn aber vollkommen überraschte - sie trat auf ihn zu, fiel plötzlich neben ihm auf die Knie, warf sich an seine Brust und begann hemmungslos zu schluchzen.

Skar blickte hilflos auf sie herab. Er hob die Hand, wie um sie an der Schulter zu berühren oder ihr Haar zu streicheln, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern ließ den Arm wieder sinken. Syrrs Körper wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Ihre Fingernägel krallten sich schmerzhaft in seine Haut, und plötzlich spürte er ihre Tränen heiß an seiner Brust herablaufen. »Helft uns, Herr«, stammelte sie. »Ich flehe Euch an - macht mit mir, was Ihr wollt, aber helft meinem Bruder und mir. Ihr... Ihr könnt mich haben, aber bringt... bringt uns hier heraus. Laßt nicht zu, daß sie uns zurückbringen!«

Skar fühlte sich... hilflos. Kindern und weinenden Frauen gegenüber hatte er sich immer hilflos gefühlt, aber nun kam noch seine Verwirrung hinzu, und das Gefühl, daß alles von vorne begann. Sollte denn das Kämpfen und Fliehen niemals ein Ende haben? Außerdem verunsicherten ihn Syrrs Worte, denn wenn sie das bedeuteten, was er glaubte, gefielen sie ihm nicht. Gott, sie war ein halbes Kind!

Behutsam löste er ihren Griff, legte nun doch die Hände auf ihre Schultern und schob sie auf Armeslänge von sich. Syrr weinte noch immer, wenn sie sich auch jetzt alle Mühe gab, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Ihr Haar hing aufgelöst in die Stirn und bis über ihre Schultern, und jetzt, als sie sich ganz nahe waren, korrigierte Skar seine Schätzung um ein gehöriges Stück nach unten, was ihr Alter anging. Sie war allerhöchstens zwanzig.

»Beruhige dich, Kind«, sagte er, so sanft er konnte. »Ihr seid sicher.« Er lächelte aufmunternd, schob sie mit sanfter Gewalt auf eine der steinernen Sitzbänke und ließ sich vor ihr in die Hocke sinken, bis ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Syrr sah ihn an, und sofort begannen die Tränen wieder heftiger über ihre Wangen zu laufen. Sie war ein Kind.

»Und jetzt erzähle«, sagte er. »Ich werde deinem Bruder und dir helfen, aber zuerst muß ich wissen, was überhaupt los ist - siehst du das ein?« Er lächelte erneut, verlagerte sein Gewicht ein wenig und hob die Hand, um sie sanft an der Wange zu berühren. Syrr nickte schluchzend, aber Talin trat mit einem zornigen Schritt zwischen sie und Skar, schlug seine Hand beiseite und funkelte ihn haßerfüllt an. »Rühr sie nicht an!« fauchte er. »Wenn du sie anfaßt, bringe ich dich um, Alter!«

Alter? dachte Skar. Dann fiel ihm ein, daß er wirklich alt war gegen diesen Jungen - an die vierzig Jahre älter als er. Mit Mühe unterdrückte er ein spöttisches Lächeln, bewegte sich ein Stück zurück, ohne sich aus der Hocke zu erheben, und ließ sich schließlich mit untergeschlagenen Beinen zu Boden sinken. »Wie du willst, du kleiner Held«, sagte er spöttisch. »Aber wenn ich euch helfen soll, müßt ihr mir wenigstens verraten, wie - und warum.«

Syrr wollte etwas sagen, aber wieder war ihr Bruder schneller. »Nein!« beharrte er. »Erst erzählst du! Wer bist du, und was tust du hier?«

»Laß ihn doch, Talin«, sagte Syrr matt. »Irgend jemandem müssen wir schließlich vertrauen, oder?«

»So wie Ghandrij?« Talin zog eine Grimasse, spie aus und deutete anklagend auf Skar. »Er soll verschwinden! Wir haben bisher niemanden gebraucht, und wir brauchen auch jetzt keinen. Bisher sind wir ganz gut allein zurechtgekommen, oder?«

Skar beschloß, das einzige zu tun, was ihm sinnvoll erschien - den Knaben zu ignorieren. »Erzähle«, sagte er, an Syrr gewandt. »Wie viele sind es, und warum verfolgen sie euch?«

»Erst du!« beharrte Talin. »Wer bist du?«

Skar seufzte. Für einen Moment wallte Ärger in ihm hoch; aber dann kam er sich einfach lächerlich vor bei dem Gedanken, sich mit einem Kind streiten zu sollen.

Resignierend zuckte er mit den Achseln. »Vielleicht hast du sogar recht«, murmelte er. »Mein Name ist Skar. Ich bin...« Irgend etwas hielt ihn davon ab, das Wort Satai auszusprechen; zumindest in diesem Moment. Vielleicht einfach die alberne Scham, von einem Kind niedergeschlagen und um ein Haar getötet worden zu sein. »Ich war der Gast der Gesichtslosen Prediger«, fuhr er fort.

Etwas an seinen Worten schien falsch gewesen zu sein, denn er sah, wie das alte Mißtrauen sofort wieder in Syrrs Augen aufflammte. Ihre Haltung versteifte sich. Ohne daß sie es selbst merkte, rutschte sie ein Stück vor ihm zurück. Und auch ihr Bruder versteifte sich. Seine Hände glitten an seinem Gewand herab, als suchten sie eine Waffe.

»Die Gesichtslosen Prediger?« wiederholte Syrr.

Skar nickte. »Das hier ist ihr Tempel.« Er blickte Syrr und Talin abwechselnd an. »Was ist falsch daran?«

»Du lügst!« behauptete Talin. Er fuhr herum, wandte sich an seine Schwester und deutete heftig gestikulierend auf Skar. »Ich habe es dir gesagt: er lügt. Er gehört zu ihnen!«

»Zum Teufel, was soll das?« fragte Skar ärgerlich.

»Sie... sie sind fort«, murmelte Syrr. »Sie sind geflohen, Skar, schon vor Wochen.«

»Vor Wochen?« Skar schwieg einen Moment. Die Worte des Mädchens überraschten ihn nicht sonderlich. Aber sie erschreckten ihn trotzdem, denn sie enthielten eine Wahrheit, die er zwar geahnt, gegen die er sich aber bis zu diesem Moment noch gesträubt hatte.

»Vor Wochen...«, wiederholte er. »Nun, das... das kompliziert die Sache.«

»Das beweist, daß du lügst!« sagte Talin.

»So?« Skar lächelte sanft. »Meinst du? Glaubst du wirklich, ich würde mir eine so offensichtliche Lüge aus den Fingern saugen, Talin?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ich verstehe es selbst nicht. Ich kam hierher, weil ich ein... nun, ein Problem hatte«, sagte er zögernd. »Ich brauchte ihre Hilfe, und sie gaben mir einen Trank. Ich habe geschlafen. Aber ich wußte nicht, daß es so lange war.«

»Ich glaube dir nicht«, beharrte Talin. In seinen Augen blitzte ein Mut, wie ihn wohl nur Kinder aufzubringen vermochten. Skar war sicher, daß er sich auf ihn gestürzt hätte, hätte er eine Waffe besessen.

»Ich schon«, sagte Syrr. Sie schüttelte sanft den Kopf, als ihr Bruder abermals auffahren wollte. »Bitte, Talin - es spielt keine Rolle, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Wenn er lügt und zu ihnen gehört, sind wir sowieso verloren. Und wenn er die Wahrheit sagt, wird er uns helfen.«

Die eiskalte Logik dieses Gedankenganges überraschte Skar. Aber er sagte nichts, denn er spürte, daß er mehr erfahren würde, wenn er einfach schwieg und das Mädchen reden ließ.

»Talin und ich stammen aus Jeda«, begann Syrr mit leiser, zitternder Stimme. »Ihr werdet es nicht kennen. Es... es ist ein kleines Dorf, drei Tagesreisen von hier. Als die Quorrl kamen, sind die meisten von uns fortgegangen, aber ein paar sind geblieben; zumeist Alte und Kranke. Und... und wir auch.«

Quorrl? dachte Skar verwirrt. Wovon zum Teufel sprach dieses Mädchen ?! Laut sagte er: »Und ihr? Ihr seid weder das eine noch das andere.«

»Unsere Mutter war krank«, antwortete Syrr. »Ich blieb, um sie zu pflegen. Talin habe ich mit den anderen weggeschickt, aber er ist ausgerissen und zurückgekommen.« Sie seufzte. Wieder liefen Tränen über ihr Gesicht, aber sie weinte jetzt still, und als sie weitersprach, war ihre Stimme sogar erstaunlich klar. Eine Kälte war darin, die Skar im ersten Moment fast erschreckte - bis er begriff, daß sie sich mit äußerster Kraft beherrschte. »In der Nacht darauf kamen die Quorrl. Es war... schrecklich, Skar. Sie haben alle getötet, die sich zu wehren versuchten, und dann alle, die ihnen zu krank oder zu alt waren, um von Nutzen zu sein.« Skar verbiß sich im letzten Moment die Frage, ob ihre Mutter auch dazu gehört hatte. Er kannte die Quorrl.

»Die anderen haben sie verschleppt«, fuhr Syrr fort. »Auch meinen Bruder und mich. Aber wir konnten fliehen, als sie einen Moment unaufmerksam waren.«

»Ich habe einem von ihnen den schmutzigen Hals durchgeschnitten!« sagte Talin stolz. Skar sah ihn an, schwieg einen Moment und runzelte die Stirn. Die Wortwahl des Jungen gefiel ihm nicht. Aber jetzt war nicht der Moment, darüber zu sprechen. Er nickte Syrr aufmunternd zu.

»Sie haben uns verfolgt«, berichtete sie. »Ich weiß nicht, wie viele es sind - fünf, vielleicht sechs. Sie haben Pferde und Hunde, aber wir konnten sie abschütteln. Wir sind in die Wälder geflohen, und dann hierher in die Berge, aber die Hunde haben unsere Spur immer wieder aufgenommen. Und dann hat Talin den Eingang entdeckt. Wir... wir dachten, wir wären hier sicher.« Sie schluckte krampfhaft, um die Tränen zurückzuhalten. Es gelang ihr nicht. »Talin sagte, die Quorrl wären ein abergläubisches Volk, das sich niemals hier herunter trauen würde.«

»Damit hat er recht«, sagte Skar.

»Vielleicht.« Syrr lächelte bitter. »Aber sie haben die Hunde. Und es sind Menschen bei ihnen. Wir... haben Schritte gehört, und -«

»Und?« hakte Skar nach, als sie nicht weitersprach.

»Sie sind hier«, sagte Syrr schluchzend. »Ich habe niemanden gesehen, und auch Talin nicht, aber... aber ich spüre sie.« Skar dachte an sein eigenes, beunruhigendes Erlebnis vom Vortage und schwieg. Vielleicht lag es einfach an diesem Tunnellabyrinth, dachte er. Diese Wände hatten so viel Magie und Zauberei erlebt, daß irgend etwas davon zurückgeblieben sein mußte. Sie sollten nicht hier sein. Niemand sollte das.

»Sprich weiter«, sagte er halblaut.

Syrr sah auf, blickte Skar aus weiten Augen an und versuchte vergeblich, das Zittern ihrer Lippen zu unterdrücken. Ihre Stimme wurde fast flehend. »Als... als ich sah, wie Ihr Talin verfolgtet, hielt ich Euch für einen von ihnen, Herr. Ich wollte Euch nicht verletzen, wirklich! Ich hatte nur Angst, und ich... ich dachte -«

»Schon gut«, Skar unterbrach sie mit einer Handbewegung und lächelte. Sein Gesicht schmerzte noch immer, und in den nächsten Tagen würde er wahrscheinlich begreifen, was das Wort Zahnschmerz wirklich bedeutete - aber er konnte das Mädchen verstehen. Er hätte nicht anders reagiert, in ihrer Lage. Und es gab Wichtigeres, als sich in Selbstmitleid zu üben oder gar dieses Kind mit Vorwürfen zu überhäufen, das nichts anderes getan hatte, als um sein Leben zu kämpfen.

»Quorrl, sagst du«, fuhr er fort. »Wieso tut der Herzog von Denwar nichts gegen sie? Hat er Krieger geschickt?«

»Krieger?« Syrr starrte ihn an, als zweifele sie nun ernsthaft an seinem Verstand. »Aber... aber was für Krieger denn? Orkala ist besetztes Land, Herr. Bisher haben sie uns in Ruhe gelassen, hier in den Bergen, aber... aber jetzt -«

»Besetztes Land?« unterbrach sie Skar. Seine Gedanken überschlugen sich. Ein eisiger, ungläubiger Schrecken breitete sich in ihm aus. »Du willst sagen, es ist Krieg? Mit den Quorrl?«

»Zwischen ihnen und den freien Ländern«, bestätigte Syrr in einem Ton, als habe er sie gefragt, ob die Sonne wirklich jeden Tag aufging. »Aber wißt Ihr denn nichts davon, Herr?« Das alte Mißtrauen flammte wieder in ihrem Blick auf, stärker als zuvor. Aus den Augenwinkeln sah Skar, wie Talin ein Stück vor ihm zurückwich.

»Vergiß den Herrn«, sagte er automatisch. »Und um deine Frage zu beantworten - nein, ich weiß nichts davon. Ich fürchte, ich war länger hier, als ich bisher angenommen habe.«

»Dann müßt Ihr... - du - sehr lange geschlafen haben«, stellte Syrr fest. Etwas in ihrer Stimme hatte sich verändert, registrierte Skar. Sie weinte nicht mehr. Und plötzlich begriff er, daß die schmale Brücke aus Vertrauen, die zwischen ihnen entstanden war, unter der Last seiner Fragen zusammenzubrechen drohte. Vielleicht begann sie sich einfach zu fragen, ob es nicht ebenso gefährlich war, mit einem Verrückten zusammen zu sein, wie mit einem ihrer Verfolger. Bei allen Göttern - was war geschehen? Wie lange hatte er geschlafen?

»Es muß wohl sehr lange gewesen sein«, sagte er rasch. »Ich war... krank. Schwer krank.« Er lächelte unsicher. Syrr starrte ihn an. Das Mißtrauen in ihrem Blick legte sich nicht. Es war jetzt nur von anderer Art »Vielleicht stimmt irgend etwas mit meinem Gedächtnis nicht«, sagte er. »Weißt du, gestern, als ich aufgewacht bin, konnte ich mich nicht einmal an meinen Namen erinnern. Krieg also?« Im Grunde waren Syrrs Worte nicht einmal so überraschend, wie sie sich im ersten Moment angehört hatten: Die Quorrl überschritten die Grenzen ihres Reservates in fast regelmäßigen Abständen, um plündernd und mordend durch die Welt zu ziehen. Und wenn er alles bedachte - die verzweifelte Hetzjagd, zu der ihn Vela gezwungen hatte, ihre Flucht vor Dronte und die fast zweimonatige Rückreise nach Enwor, dazu die Zeit, die er dagelegen und geschlafen hatte... ja, es mußte fast ein Jahr her sein, daß er das letzte Mal Gelegenheit gehabt hatte, sich um die Geschehnisse draußen in der Welt zu kümmern. Mehr als genug Zeit, um einen Krieg zu verschlafen...

Er lächelte bitter.

»Was ist so komisch?« fragte Talin.

»Oh, nichts«, seufzte Skar. Er streckte die Hand aus, wie um Talins Haar zu streicheln, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als der Junge erschrocken vor ihm zurückwich, sondern seufzte nur abermals, und sehr tief. »Weißt du, Knirps«, sagte er, »es gibt einen Spruch, nach dem die Götter die lieben, mit denen sie ihre Scherze treiben. Sollte es wahr sein, dann müssen sie unsterblich in mich verliebt sein.«

Er lachte, als er die Verwirrung auf Talins Zügen sah, und stand mit einer kraftvollen Bewegung auf. »Habt ihr Essen?« Syrr schüttelte den Kopf. »Nein. Wir... hatten keine Zeit, Fallen zu stellen, und der Winter war sehr hart. Ich habe gehofft, hier etwas zu finden, aber...« Sie sah ihn fast hoffnungsvoll an. »Habt ihr... hast du etwas?«

Skar grinste. »Ja«, antwortete er. »Hunger. Ihr seid hier heruntergekommen - kennt ihr auch den Weg hinaus?«

Syrr nickte. »Warum?«

»Weil ich keine große Lust habe, in diesem Rattenloch zu verhungern«, antwortete Skar scharf. »Oder darauf zu warten, daß sie kommen und uns holen. Ich bringe euch raus. Zurück in euer Dorf, oder irgendwohin, wo ihr sicher seid.«

»Das nächste freie Land ist Lora!« protestierte Syrr. »Es sind zehn Tagesmärsche bis dorthin!«

»Wer sagt, daß wir zu Fuß gehen?« erwiderte Skar. »Wir brauchen Kleider, Waffen und Nahrung. Und Pferde. Könnt ihr reiten?«

Syrr nickte verwirrt. »Sicher. Aber wo... wo willst du Pferde herbekommen?«

»Woher schon?« sagte Skar leichthin. »Von den Quorrl natürlich.«

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