10.

Skar schätzte, daß es Mitternacht war, ehe sie eine geeignete Stelle gefunden hatten, um anzulegen. Der Fluß machte hier eine scharfe Biegung nach rechts, und die Strömung und das dichte Ufergestrüpp hatten verhindert, daß sich Eis bildete. Es gab zwar auch hier eine dünne, vielfach gesprungene weiße Schicht auf dem Wasser, die aber unter dem Gewicht des Floßes zerbrach wie Glas - übrigens auch ebenso laut, wie Skar mit einem raschen Gefühl von Besorgnis registrierte - so daß das schwerfällige Gefährt das Ufer erreichen konnte.

Wie in den Nächten zuvor war es sehr dunkel. Der Himmel hing tief und war voll schwerer, grauer Wolken, aus denen in scheinbar willkürlichen Abständen Schnee und eisiger Hagel auf das Land herabregneten, und das Ufer erhob sich wie eine schwarze, mit harten Linien gemalte gerade Linie vor dem Horizont. Die wenigen Büsche waren nackt und wirkten in der Dunkelheit wie bizarre Gebilde aus Draht, und mit der Nacht hatte das Heulen des Windes an Macht und Kälte zugenommen. Skar blickte nach Süden. Der Fluß verlor sich schon nach wenigen Dutzend Metern in der Dunkelheit, und wo das Bayfour-Gebirge sein sollte, gähnte ein finsteres Loch mit zackigen Rändern in der Nacht. Dabei war der Weg nicht einmal sehr weit - wenig mehr als eine Tagesreise, selbst bei der relativ niedrigen Geschwindigkeit ihres schwerfälligen Floßes. Für einen Moment kam es Skar vor wie bitterer Hohn, daß sie so weit gekommen waren, nur um hier zu sterben.

Das Floß stieß mit einem unsanften Ruck gegen das Ufer. Die Erschütterung riß Skar aus seinen Gedanken und Enwass aus seiner Erstarrung. Er rief einen halblauten Befehl, sprang mit einem kraftvollen Satz an Land und verlor auf dem Gemisch aus Schnee und Morast am Ufer um ein Haar das Gleichgewicht, fand aber im letzten Moment seine Balance wieder und streckte die Arme aus, um das Tau aufzufangen, das ihm einer seiner Söhne zuwarf. Skar beobachtete reglos, wie er das Floß an einem vorspringenden Felsen vertäute und prüfend mit aller Kraft am Seil riß, ehe er sich umwandte und den anderen ein Zeichen gab, ebenfalls an Land zu kommen.

Skars Sinne begannen mit der gewohnten, beinahe schon überpräzisen Art zu arbeiten, mit der sie es immer taten, wenn er bewußt in einen Kampf ging. Obwohl er sich noch immer schwach und matt fühlte und die zahllosen Wunden und Schrammen an seinem Körper noch längst nicht verheilt waren, fühlte er sich gleichzeitig beinahe wohl. Der Teil von ihm, der beim Anblick der Quorrl erwacht war, wurde immer stärker. Skar erschrak fast vor sich selbst. Nicht so sehr vor dem Gefühl der Zuversicht und Stärke, das er mit einem Male verspürte - das war normal, denn es war nichts anderes als das Ergebnis eines lebenslangen Trainings: Er war Satai, und er vermochte Reserven zu aktivieren, von denen die meisten anderen Menschen nicht einmal wußten, daß sie sie besaßen, ebenso, wie er seine Empfindungen und Ängste beinahe nach Belieben auszuschalten oder zumindest zu steuern imstande war. Und es war das erste Mal seit seinem Erwachen im Tempel, daß er wirklich bewußt in einen Kampf ging: In jener Nacht vor dem Tempel war es anders gewesen: Er war viel zu verwirrt und verstört gewesen, um überhaupt zu begreifen, was geschah, und eigentlich hatte er nichts anderes getan als um sein Leben zu kämpfen; auch wenn er zufällig der Angreifer gewesen war.

Jetzt war es... anders.

Skar schauderte ein wenig, als er begriff, daß sich etwas in ihm auf den Kampf freute...

»Was hast du, Skar?«

Skar fuhr zusammen, blickte in Syrrs Gesicht und begriff voller Schrecken, daß sich seine Empfindungen ziemlich deutlich auf seinem Gesicht abgezeichnet haben mußten. »Nichts«, sagte er ausweichend. »Es ist... nichts. Ich bin ein wenig nervös. Mein Bein schmerzt«, fügte er hinzu. Es war die Wahrheit, aber Syrr sah nicht einmal an ihm herab, sondern blickte ihm unverwandt in die Augen. Skar mußte sich gegen das unbehagliche Gefühl wehren, daß sie seine Gedanken las wie ein offenes Buch. »Glaubst du, daß... daß wir eine Chance haben?« fragte sie plötzlich.

Sie sprach sehr leise, flüsterte fast, und eine ganz leichte Spur von Angst vibrierte in ihrer Stimme. Aber es war eine völlig andere Art der Angst, als er sie auf den Gesichtern von Enwass und seinen Leuten gelesen hatte.

Es war...

Ja, dachte Skar verblüfft - es war Angst um ihn!

Skar war verwirrt. Er verstand Syrr immer weniger.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er, in einem Ton, der nicht einmal ihn selbst, geschweige denn Syrr überzeugte. »Ich habe nicht vor, sie zum Kampf herauszufordern.«

»Nein«, antwortete Syrr spöttisch. »So wenig wie vor einer Woche, nicht wahr?«

»Das war etwas anderes!« widersprach Skar gereizt. »Ich wußte nicht, wem ich gegenüberstehe. Ich wurde... überrascht. Jetzt kenne ich den Feind.«

»Erzähl das Enwass, oder seinem schwachsinnigen Sohn«, sagte Syrr ruhig. »Eine Stunde vor uns warten zwei Dutzend Quorrl, und du reitest ihnen allein entgegen, um -«

»Um sie abzulenken und euch eine Chance zu verschaffen, durchzubrechen«, unterbrach sie Skar grob; und eine Spur lauter, als nötig gewesen wäre. Aus den Augenwinkeln sah er, wie zwei oder drei von Enwass' Familienmitgliedern die Köpfe wandten und ihn verwirrt ansahen.

»Ich bin kein Selbstmörder, Syrr«, fuhr er fort, etwas leiser und mit einem gezwungen überzeugt wirkenden Lächeln. »Und es ist nicht das erste Mal, daß ich so etwas tue. Ich bin Krieger.«

»Und ich keine Närrin!« sagte Syrr. Warum war sie so zornig? dachte Skar verwirrt. War es wirklich nur Angst, die aus ihr sprach - oder etwas anderes? Und wenn ja, was?

»Du hast es selbst gesagt, Skar«, fuhr sie fort. »Die Quorrl wollen dich, nicht uns. Und ich lasse nicht zu, daß du dich opferst!«

»Nein?« fragte Skar kühl. »Tust du das nicht?« Er lachte, ganz leise und bewußt verletzend, trat einen halben Schritt zurück und maß Syrr mit einem sehr langen und sehr abfälligen Blick. »Und wenn es so wäre - was wolltest du tun, um mich daran zu hindern, Kindchen?«

Syrr erbleichte. »Du -«

»Du solltest dich um Dinge kümmern, von denen du etwas verstehst, Syrr«, fuhr Skar fort. »Und nun verschwinde - ich habe zu tun.«

Betont brüsk wandte er sich um, ergriff sein Pferd beim Zaumzeug und führte es grob ans Ufer. Das Floß begann unter dem Gewicht des Tieres bedrohlich zu schwanken. Eisiges Wasser schwappte über Skars Füße und ließ ihn schmerzhaft die Luft einziehen. Sein verstauchter Knöchel protestierte mit wütenden Schmerzen gegen die schnellen Schritte, zu denen er ihn zwang. Trotzdem ging er nicht etwa langsamer, sondern vergrößerte sein Tempo eher noch, bis er sich zehn, fünfzehn Meter vom Ufer entfernt in den Sattel schwang.

Enwass und seine Familie waren mit allen Vorbereitungen fertig, als er sich im Sattel umwandte und zum Floß zurücksah. Sie hatten auch nicht viel Zeit zu verlieren, denn zweifellos ließ Trash das Feuer von seinen Spähern beobachten, das sie im vorderen Drittel des Floßes entfacht hatten - und genau das sollte er ja auch. Wenn er es nicht tat, und somit nicht auf den Trick hereinfiel ... nun, dachte Skar ruhig, dann würde keiner von ihnen den nächsten Sonnenaufgang erleben.

Enwass scheuchte seine Leute auf das Floß zurück und hinter die improvisierte Brustwehr, während Skar ein letztes Mal seine Ausrüstung überprüfte - oder das, was sich so nannte...

Viel war es nicht, was er mitnehmen konnte: sein Tschekal, dazu den Speer und einen kurzen, beidseitig geschliffenen Dolch sowie den Morgenstern, den er Enwass' ältestem Sohn fortgenommen hatte. Eine erbärmliche Ausrüstung, um es mit einem Dutzend Quorrl aufzunehmen, dachte er. Aber alles, was sie hatten. Und es mußte genügen.

Skar hatte wirklich nicht vor, gegen Trash oder seine Krieger zu kämpfen; aber er hatte das sichere Gefühl, daß ihm keine große Wahl bleiben würde. Es gab eine Zeit der List und eine Zeit des Kämpfens, und irgendwie wußte er, daß diese Nacht dem Schwert gehörte.

Schweigend sah er zu, wie Enwass die Frauen und Kinder hinter den Kistenstapel in der Mitte des Floßes scheuchte und dann zusammen mit seinen beiden Söhnen zum Feuer ging. Für einen Moment hoben sich ihre Schatten wie scharf abgezirkelte flache Scherenschnitte vor dem hellen Rot der Flammen ab, und der Krieger in Skar registrierte besorgt, wie deutlich sie zu erkennen sein mußten und über welch große Entfernung. Er mußte an das denken, was Enwass' Sohn gesagt hatte - sie waren wirklich perfekte Zielscheiben. Was, wenn Trashs Krieger nicht ein paar Meilen, sondern nur ein paar Dutzend Schritte entfernt waren, sie beobachteten und sich über ihren närrischen Plan amüsierten, während sie in diesem Moment bereits die Pfeile auf die Sehnen legten und...

Skar dachte den Gedanken nicht zu Ende. Es gab ungefähr tausend Wenns, die gegen ihren Plan sprachen.

Die Männer hoben das kleine, hastig aus losgerissenen Kistenbrettern und Tauen zusammengefügte Floß in die Höhe, setzten es behutsam aufs Wasser und stießen es in die Strömung. Das Feuer begann zu flackern, und für einen Moment hatte Skar fast Angst, daß es ausging. Dann war das improvisierte Schiffchen aus den Windschatten des Segels heraus, und die Flammen schossen zu höherer Glut empor. Funken stoben auf und senkten sich wie kleine rotglühende Käferchen auf den Fluß herab, wo sie zischend erloschen. Skar beobachtete gebannnt, wie das brennende Miniaturfloß von der Strömung in die Flußmitte gezogen wurde und dabei immer schneller wurde. Wieder kamen ihm Zweifel. Es war so wenig, was sie Trash und seinen Quorrl entgegenzusetzen hatten - ein Stück brennendes Holz, das war alles! Und der Mut, den ihnen die Verzweiflung gab. Was, wenn er sich täuschte? Wenn er Enwass und alle, die bei ihm waren, in den Tod führte, statt in die Freiheit?

Mit sanftem Schenkeldruck lenkte er sein Pferd herum, hob noch einmal die Hand, um Enwass zuzuwinken, und ritt los. Er entfernte sich drei-, vierhundert Schritte vom Ufer, dann hielt er an, überzeugte sich davon, daß er vom Floß aus wirklich nicht mehr gesehen werden konnte, und griff unter seinen Mantel. Er begriff selbst nicht genau, warum er es tat - aber seine Hand glitt wie von selbst zum Gürtel, suchte das schmale Lederband mit dem Satai-Stern und zog es heraus. Mit einer schnellen Bewegung streifte er es über die Stirn. Seine Fingerkuppe strich fast liebkosend über das kalte, fünfzackige Silber, und es war, als durchströme ihn allein durch diese Berührung eine altvertraute Kraft, gleichermaßen erschreckend wie willkommen. Etwas in ihm, das so lange geschwiegen hatte, daß er es für tot gehalten hatte, erwachte mit einem lautlosen Schrei.

Die Quorrl würden ihren Kampf bekommen, dachte er. Trash hatte vielleicht nicht gewußt, was es hieß, mit einem Satai verbündet zu sein.

Jetzt würde er erfahren, was es hieß, ihn zum Feind zu haben. Skars Rechte glitt zum Gürtel und zog das Tschekal.

Er sprengte los.

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