12.

Skar wußte hinterher nicht, wie lange er so dagesessen und den Leichnam des Quorrl angestarrt hatte, ohne ihn wirklich zu sehen. Er erinnerte sich auch nicht, was er gedacht oder gefühlt hatte, in diesen Minuten: In ihm war nichts als eine tiefe, finstere Leere, die sich ganz allmählich mit Entsetzen zu füllen begann, wie schwarzer Morast, der aus dem Grund seiner Seele emporstieg und sein Denken überflutete. Er hatte Angst, zum ersten Mal in seinem Leben nackte, panische Angst, die keinen konkreten Grund hatte, aber vielleicht gerade deshalb um so schlimmer war: Da er nicht wußte, wovor er sich fürchtete, konnte er sie auch nicht bekämpfen.

Sie sind wieder da! Die Worte des Quorrl klangen immer und immer wieder hinter seiner Stirn nach, wie ein böses, höhnisches Echo. Sie sind wieder da, Satai!

Und er hatte sie hergebracht.

Das war alles, was er denken konnte. Bilder schossen durch seinen Kopf: der Dronte, der Jahrmillionenalte Schrecken der Meere, in dessen schwarzem Leib der Same des Bösen darauf wartete, erneut geweckt zu werden. Helth, der Vede, das erste Opfer des Daij-Djan, Vela, die mehr, millionenmal mehr getan hatte, als sie auch nur ahnte. Dann sah er sich selbst, eine einsame, schmerzverkrümmte Gestalt im Herzen der Stadt Combat, wie er das uralte Siegel brach, das Tor öffnete, das niemals geöffnet werden durfte, gegen Regeln verstieß, die er nicht einmal begriff, und - War es wirklich so gewesen? Sein Blick tastete über das entsetzliche Bild, das sich ihm am Flußufer bot, glitt wie eine suchende Hand, die vor dem zurückschreckte, was sie ertastete, über die verstummelten Leiber der Quorrl, und er sah einen anderen, viel entsetzlicheren Schrecken: Er sah Tausende und Abertausende der schwarzen Mörder über das Land ausschwärmen, sah die Tore des Chaos sich öffnen und die Welt abermals in dem Feuer und Blut versinken, aus dem sie schon einmal auferstanden war.

War es seine Schuld? Hatten Vela und er all dies getan, ohne es zu wollen, ohne es nur zu wissen, aber mit unbarmherziger Konsequenz?

Oder war es ganz anders? Waren sie vielleicht nur Werkzeuge gewesen, willenlose Puppen, nicht viel anders als der Daij-Djan, die Sternenbestie, Figuren, die sich nur einbildeten, einen freien Willen zu haben auf einem Schachbrett der Götter?

Geräusche drangen in seine Gedanken; Laute, die ihm sonderbar fremd und bedeutungslos erschienen, auf die aber ein winziger, noch zu klarem Denken fähiger Teil seines Bewußtseins reagierte, weil er sie erkannte und auch die Gefahr registrierte, die sie bedeuteten: Fast ohne sein Zutun griff seine Hand nach oben, streifte das schmale Satai-Stirnband ab und verstaute es unter seinem Gürtel, wo es niemand sehen konnte. Er wollte aufstehen, aber noch immer fehlte ihm die Kraft dazu, und so drehte er nur schwerfällig Oberkörper und Kopf und blickte wieder zum Fluß hinunter.

In der Mitte des glitzernden Bandes, dort, wo noch kein Eis war, schaukelte ein rechteckiger Schatten, ein finsterer Umriß, von dem kleinere, hektische Schatten ausschwärmten. Erschrockene Rufe wurden laut. Das Eis knisterte bedrohlich, als Enwass und seine Leute vom Floß heruntersprangen und auf das Ufer zueilten. Skar sah Metall in der Dunkelheit blitzen. Einer der Männer beugte sich über den Leichnam eines Quorrl, der auf das Eis hinausgeflohen war, ohne dem lautlosen Tod dadurch entkommen zu können, und prallte mit einem entsetzten Keuchen zurück, dann mischten sich weitere, entsetzte Stimmen in den schrillen Chor des Schreckens. Eine Fackel glomm wie ein rotes blinzelndes Auge auf dem Floß auf, dann eine zweite, dritte... Der kleine, klar gebliebene Teil Skars signalisierte ihm, wie gefährlich das Verhalten von Enwass' Leuten war - nicht alle Quorrl waren tot. Gut die Hälfte der Schuppenkrieger war entkommen. Wenn sie das Feuer sahen und die Stimmen hörten... Skar lächelte bitter. Nein, dachte er, sie würden nicht zurückkommen. Wahrscheinlich würden sie reiten, bis ihre Pferde tot unter ihnen zusammenbrachen, und dann weiterrennen, bis sie einfach nicht mehr konnten. Nein - wenn es eine Gefahr gab, so war sie völlig anderer Art. Und sie galt nicht Enwass und seiner Familie...

Enwass' Leute schwärmten auf dem Ufer aus, und Skar hörte ihre ungläubigen Schreie und Rufe, während sie von Quorrl zu Quorrl eilten und sahen, in welch entsetzlichem Zustand die Leichen waren. Ganz flüchtig nur dachte er über die Antwort nach, die er ihnen auf ihre Fragen geben sollte, aber der Gedanke entschlüpfte ihm, ehe er ihn wirklich zu Ende denken konnte. Er griff nach seinem Schwert, zog die Klinge aus Trashs Schuppenpanzer heraus und säuberte sie ganz automatisch im Schnee. Die Leichtigkeit, mit der der Stahl aus dem Körper des gigantischen Lebewesens herausglitt, schockierte ihn. Es sollte nicht so leicht sein zu töten, dachte er.

Jemand eilte auf ihn zu: Ein massiger Schatten, der mit weit ausgreifenden Schritten den Hang heraufkam und zu dem sich nach Augenblicken zwei weitere, kleinere Schatten gesellten. Erst als sie ihm bis auf fünf Schritte nahe gekommen waren, erkannte er Enwass, dicht gefolgt von Syrr und ihrem Bruder Talin. Er schob sein Schwert in den Gürtel zurück und stand auf. Nach der Schwäche, die er noch vor Augenblicken verspürt hatte, ging es erstaunlich leicht.

Enwass sagte kein Wort, als er bei ihm anlangte. Sein Blick heftete sich für Bruchteile von Sekunden auf das blutige Etwas, das einmal Trash gewesen war, und Skar glaubte ein unendlich tiefes Entsetzen in seinen Augen zu sehen. Aber als er ihn ansah, war davon nichts mehr zu erkennen. Enwass' Gesicht war wie eine Maske aus Metall.

»Du hast Wort gehalten«, sagte er knapp.

Skar schwieg. Was sollte er antworten? Die Wahrheit? Niemand würde ihm glauben. Und selbst wenn - es wäre nur schlimmer.

»Hast du sie alle erwischt, Skar?« fragte Talin. Anders als Enwass hatte er sich nicht in der Gewalt. Seine Stimme bebte, und auf seinem Gesicht tobte ein Kampf zwischen Entsetzen und Grauen und einer Zufriedenheit, die Skar frösteln ließ.

Er schüttelte den Kopf. »Nein«, murmelte er. »Die Hälfte ist entkommen. Aber sie... werden nicht wiederkommen. Jedenfalls nicht heute Nacht.« Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen. Alles, was er sagen konnte, erschien ihm so trivial. Was zählte ihr aller Leben, bei dem, was geschehen war? Was geschehen würde?!

Und dann, ganz plötzlich, fiel die Beherrschung von Enwass ab. Seine Augen weiteten sich, als hätte sich Skar vor seinen Augen in ein Ungeheuer verwandelt - was er wohl auch hatte - und seine Stimme begann zu zittern. »Was... was hast du getan?« stammelte er. »Was ist hier geschehen, Skar?« Seine Stimme war schrill, drohte umzukippen. Skar sah, daß sich seine Hand so fest um den Schwertgriff in seinem Gürtel schloß, als wolle er die Waffe zerbrechen.

»Nichts«, antwortete er ausweichend. »Nichts, was ich dir erklären könnte.« Er bot all seine Willenskraft auf, um Enwass' Blick standhalten zu können, richtete sich ein wenig weiter auf und sprach betont kalt und herablassend weiter: »Jedenfalls nichts, was du verstehen würdest, Bauer. Und ich glaube auch nicht, daß du es wirklich wissen willst...«

Enwass schwieg. Aber Skar wußte genau, was in ihm vorging was in ihnen allen vorgehen mußte, einschließlich Syrr: Längs des Ufers lagen sieben oder acht tote Quorrl, jeder einzelne ein Gigant, und jeder einzelne auf die gleiche, entsetzliche Weise niedergemetzelt; ein weiterer hatte sich aufs Eis hinausgeschleppt, um zu sterben, und hier oben, auf dem Hügel, lagen Trash und der tote Späher. Und all dies hatte ein einzelner Mann getan. Wenigstens war es das, was sie glauben mußten.

»Du bist ein Satai«, sagte Enwass plötzlich, ganz leise, und mit einer Stimme, die irgendwo zwischen Bewunderung und schierem Entsetzen schwankte. Das Entsetzen überwog. »Nur... nur ein Satai ist zu so etwas fähig.«

»Und?« gab Skar kalt zurück. »Wenn es so wäre? Was willst du tun? Mich im Fluß ertränken?«

Enwass schüttelte verwirrt den Kopf. »Du -«

»Ich habe getan, was du von mir verlangt hast, Bauer«, fuhr Skar fort, mit erhobener Stimme und in einem Ton, der ganz bewußt verletzend war. »Du hast mir das Leben gerettet, und ich habe meine Schulden bezahlt. Was spielt es für eine Rolle, wer oder was ich bin?« Er deutete zum Ufer hinab. »Statt der Quorrl lägen jetzt deine Leute dort, Enwass. Wäre dir das lieber?«

»Natürlich nicht«, antwortete Enwass hastig. »Aber du... die Satai sind... sind unsere Feinde! Warum... hilfst du uns?« In seinen Augen stand noch eine andere Frage, eine, die er nicht laut auszusprechen wagte, die Skar aber so deutlich hörte, als hätte er es getan: nämlich die Furcht, daß all dies nur Teil eines raffinierten, mörderischen Planes wäre, eines Planes, an dessen Ende vielleicht mehr als sein und der Tod seiner Familie stand.

»Warum tust du das?« fragte er noch einmal.

»Vielleicht stehe ich auf der falschen Seite«, murmelte Skar. Und er meinte es ganz genauso.

»Und was wirst du jetzt tun?« fragte Enwass leise.

»Was soll ich tun, deiner Meinung nach?« erwiderte Skar kalt. »Weiter mit euch reisen, als wäre nichts geschehen? Oder soll ich gehen?« Er deutete nach Süden. »Ein Wort genügt, Enwass. Gib mir Proviant und eine Decke, und ich verschwinde. Aber dann hättet ihr niemanden mehr, der die Drecksarbeit für euch erledigt.«

Enwass fuhr unter seinen Worten zusammen wie unter einem Peitschenhieb. »Natürlich nicht«, antwortete er, eine Spur zu hastig, um die Worte überzeugend klingen zu lassen. »Du... du kannst bei uns bleiben, bis wir Bayfour erreichen, und wenn du willst, auch länger...«

»Wie großzügig«, antwortete Skar böse. »Und ihr werdet mich natürlich nicht lynchen oder der nächsten Patrouille ausliefern, nicht wahr?«

Enwass reagierte ganz anders, als er erwartet hatte. Statt wütend zu werden oder ängstlich zu reagieren, wurde sein Blick mit einem Male ernst. Skar begriff, daß er ihn verletzt hatte, mit seinen Worten. Aber er hatte nicht den Mut, sie zurückzunehmen. »Das werden wir nicht, Satai«, antwortete er ruhig. »Weder das eine noch das andere. Du hast uns gerettet, und wir bezahlen unsere Schulden nicht mit einem Messer in den Rücken. Morgen bei Sonnenuntergang erreichen wir das Gebirge. So lange kannst du bei uns bleiben, wenn du willst. Wir werden niemandem sagen, wer du bist, weder dann noch später. Und - ja, du hast recht!« fügte er etwas heftiger hinzu. »Ich glaube nicht, daß ich verstehen würde, was du getan hast. Und ich will es auch gar nicht wissen!« Er straffte sich, drehte sich mit einem Ruck um und machte einen Schritt, blieb aber noch einmal stehen und sah zu Skar zurück.

»Wir fahren weiter, sobald wir die Waffen der Quorrl an Bord genommen haben. Ich überlasse es dir, ob du mit uns kommst oder nicht.« Und damit ging er, sehr schnell und ohne noch einmal zu Skar zurückzublicken.

»Warum warst du so hart zu ihm?« fragte Syrr, nachdem Enwass außer Hörweite war.

Skar antwortete nicht, sondern schenkte ihr nur einen bösen Blick. Sein Zorn auf Enwass schlug unvermittelt in Ärger auf Syrr um.

»Er hatte nur Angst«, fuhr das Mädchen fort.

»Ich weiß.« Skar ballte zornig die Faust. »Sie haben immer Angst, Syrr. So war es immer, und so wird es immer sein. Sie brauchen uns, wenn es ans Kämpfen geht. Sie schreien nach uns, wenn einer mit dem Schwert in der Hand auf sie losgeht, und wenn wir getan haben, wozu sie uns riefen...«

»Haben sie Angst vor euch?« unterbrach ihn Syrr. Sie nickte. »Auch ich habe Angst, Skar.«

»Vor mir?« Er wußte die Antwort, und Syrr wußte, daß er es wußte.

Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Vor dem hier«, sagte sie mit einer Geste auf den toten Quorrl. »Vor... vor dem Töten. Vor dem Kampf. Enwass ist ein einfacher Bauer, der vielleicht einmal ein Schwein oder eine Kuh geschlachtet hat. Vielleicht hat er einmal einen Wolf erschlagen, aber das war alles. Willst du ihm verübeln, daß er entsetzt ist?«

Trotz der einfachen Wahl ihrer Worte erschienen sie Skar beinahe eine Spur zu weise und einsichtig für ein Mädchen ihres Alters. Verwirrt schüttelte er den Kopf. »Das meine ich nicht«, antwortete er, aber wieder unterbrach ihn Syrr, ehe er zu Ende sprechen konnte.

»Doch, Skar, ganz genau das meinst du. Macht dir das Töten Spaß?«

»Natürlich nicht!« widersprach Skar zornig.

»Und dann verlangst du, daß er es akzeptiert?« Syrr seufzte. »Du bist ein Satai. Du bist anders als die anderen Satai, und du stehst auf unserer Seite, warum auch immer. Aber du bist ein Satai. Du gehörst zu denen, die für all dies hier verantwortlich sind. Was erwartest du von Enwass? Daß er dich dafür liebt?«

»Vielleicht ein wenig Dankbarkeit!«, mischte sich Talin ein. Mit einer ärgerlichen Handbewegung trat er zwischen Skar und seine Schwester und wies auf den Strand hinab. »Skar hat vollkommen recht. Ohne ihn lägen jetzt diese Bauern dort unten, wenn die Quorrl sie nicht langsam zu Tode gefoltert hätten. Und er -«

»Halt die Klappe«, sagte Skar grob. Talins Kopf flog mit einem Ruck herum. In seinen Augen blitzte es.

»Aber ich... ich verteidige dich doch!« sagte er verdattert. »Was soll das? Ich stehe auf deiner Seite, Skar. Vielleicht als einziger!«

»O danke«, murmelte Skar böse. »Ich verzichte auf deine Hilfe. Und jetzt verschwinde!«

»Was...«, stammelte Talin. »Aber wieso...«

»Hau ab!« brüllte Skar. »Bevor ich dir die Tracht Prügel verabreiche, die du schon lange verdienst!«

Talin starrte ihn ungläubig an, aber nur für eine Sekunde.

Dann fuhr er herum und rannte mit weit ausgreifenden Schritten den Hügel hinab.

Skar starrte ihm finster nach. Für einen Moment erfüllte es ihn mit aberwitziger Befriedigung, Talin weh getan zu haben. Er verstand es selbst nicht völlig - er hatte niemals irgendeine Beziehung zu Kindern gehabt, aber es hatte ihm auch nie irgend etwas gegeben, sie zu quälen. Talin zu verletzen, machte ihm Spaß. Es war etwas an dem Jungen, das ihn so abstieß, wie ihn seine Schwester anzog.

»War das nötig?« fragte Syrr. Sie gab sich Mühe, sich ihren Ärger nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Es gelang ihr nicht sehr gut.

»Wieso?« fauchte Skar. »Er hat nur bekommen, was er brauchte.«

»Dasselbe wie du, meinst du«, sagte Syrr ärgerlich.

Skar nickte. »Ja«, antwortete er ungerührt. »Und es wäre besser gewesen, ich hätte ihn wirklich verdroschen, statt nur damit zu drohen. Willst du, daß er so wird wie -«

»Wie du?« Syrrs Stimme war plötzlich ganz kalt.

Skar starrte sie an. Ihre Worte trafen ihn wie Pfeile, und sie taten weh, tausendmal mehr, als es Enwass' Furcht getan hatte. Aber er sagte nichts mehr, sondern drehte sich nach einer Weile wortlos herum und ging zurück, um seinen Mantel zu holen.

Eine halbe Stunde später war das Floß wieder auf der Fahrrinne und trieb mit geblähtem Segel nach Süden.

Enwass hatte sich verschätzt. Sie erreichten das Gebirge nicht am nächsten Abend, sondern bereits in den frühen Nachmittagsstunden; was zum einen daran lag, daß die Strömung des Flusses zunahm, je weiter sie nach Süden kamen, zum anderen aber auch am Wind, der während der Nacht beständig auffrischte und mit Sonnenaufgang bereits die Stärke eines kleinen Sturmes angenommen hatte - eines Sturmes zudem, der so präzise nach Süden blies, daß Skar sich allen Ernstes fragte, ob das wirklich noch Zufall war. Aber er verscheuchte diesen Gedanken, ehe er sich in seinem Bewußtsein ausbreiten und neuen Schrecken gebären konnte. Wenn es etwas gab, was fast ebenso gefährlich wie purer Leichtsinn war, dann war es, zuviel in die Dinge hineinzugeheimnissen. Man konnte die offensichtlichen Gefahren leicht übersehen, wenn man hinter jedem Schatten einen Verrat witterte.

Die Sonne hatte den Zenit leicht überschritten, als sie die Sperre erreichten. Trotz des eisigen Windes und der geschlossenen Schneedecke rechts und links des Ufers war es in der Sonne beinahe warm, und Skar, der wie alle anderen an Bord in dieser Nacht kein Auge mehr zugetan hatte, fühlte sich auf wohlige Weise müde. Er saß am Bug des Floßes, so dicht am Wasser, daß ab und zu kleine Spritzer auf seine Füße kamen und seine Hände benetzten, die er um die Knie geschlungen hatte. Er war allein, so weit dies auf einem zehn mal zwanzig Schritt messenden Floß möglich war, denn trotz der drückenden Enge waren alle - Syrr und ihr Bruder eingeschlossen - von ihm abgerückt, so weit sie nur konnten. Skar nahm es ihnen nicht einmal übel - als er es zuerst bemerkt hatte, war er zornig geworden, aber er hatte rasch begriffen, daß sie es nicht taten, um ihn zu verletzen. Er glaubte Enwass' Versicherung, daß sie schweigen und ihm helfen würden, und er sah auch in den Blicken der anderen keine wirkliche Feindschaft. Aber dafür etwas, das vielleicht schlimmer war: Angst.

Angst vor ihm.

Und fast - auch wenn er sich beinahe fürchtete, es vor sich selbst einzugestehen - begrüßte er dieses Gefühl. Es war etwas, das weh tat, aber gleichzeitig auch etwas, das er kannte; mit dem fertig zu werden er gelernt hatte, in den endlosen Jahren seines Lebens. Und das ihm gleichzeitig half, wenn auch auf andere Art, als ihm lieb gewesen wäre. Enwass und seine Leute, und nach dem, was letzte Nacht geschehen war, wohl auch Syrr und Talin, würden froh sein, wenn er ging. Ohne daß sie es auch nur gemerkt hatten, hatten sie ihn von der Verantwortung entbunden, in die er gegen seinen Willen hineingeschlittert war. Er war sehr froh darüber.

Das Blitzen eines Sonnenstrahles auf Metall riß ihn aus seinen Grübeleien. Er sah auf, rieb sich mit dem Handrücken über die Augen, um die körnige Müdigkeit fortzuwischen, und sah noch einmal genauer hin. Vor ihnen wurde der Fluß schmaler, und gleichzeitig nahm die Strömung zu. Sie bewegten sich jetzt mit einer Schnelligkeit dahin, die selbst ein galoppierendes Pferd schwerlich erreicht hätte, aber das Floß war schwer genug, noch immer ruhig im Wasser zu liegen. Doch Skar sah auch, daß ihre Fahrt bald ein abruptes Ende nehmen würde: Der Fluß war gesperrt. Das silberne Funkeln war eine Kette, über die große Entfernung betrachtet nicht dicker als ein Haar, in Wahrheit aber sicherlich massiv genug, ein schweres Kriegsschiff aufzuhalten. Skar hatte ähnliche Sperren schon auf anderen Flüssen gesehen und wußte, daß er beim Näherkommen tödliche Speerspitzen erkennen würde, die in die Kette eingewoben waren, wahrscheinlich zusammen mit schräg in den Flußgrund gerammten Eisenstangen; eine äußerst simple, aber auch äußerst wirkungsvolle Methode, einen Fluß zu sperren, vor allem dann, wenn seine Strömung so stark war wie diese.

Er stand auf, zog den Mantel enger um die Schultern zusammen und ging noch einmal in die Hocke, um sich einige Handvoll des eisigen Wassers ins Gesicht zu schöpfen. Hinterher war er immer noch so müde wie zuvor, aber seine Augen brannten nicht mehr, und sein Blick war klarer.

Konzentriert sah er nach Süden. Es war nicht das erste Mal, daß er hier war - er kannte diesen Fluß, auch wenn er seinen Namen vergessen hatte, und er wußte, daß es wahrscheinlich der einzige Fluß auf Enwor war, der ins Gebirge hineinfloß, statt aus ihm heraus. Irgendwo, fünfzig oder mehr Meilen weiter südlich, sammelte er sich zu einem gewaltigen See, um unterirdisch weiterzufließen, bis er sich auf der anderen Seite der Welt ins Meer ergoß, aber auf dem Wege dorthin schnitt er durch die Berge, ein Canyon, dessen Wände manchmal mehr als eine Meile hoch waren. Er war schon einmal hiergewesen, zusammen mit Del, in einem Leben, das ihm so lange zurückzuliegen schien, daß die Erinnerungen daran kaum mehr Intensität als die an einen Traum hatten. Aber damals war der Fluß nicht gesperrt gewesen. Und es gab noch mehr Unterschiede.

Skar erinnerte sich, damals einen kleinen, aus rohem Felsgestein erbauten Wachturm am Ufer gesehen zu haben, hundert Jahre alt und seit der Hälfte dieser Zeit verlassen. Jetzt war dieser Turm verschwunden, und an seiner Stelle erhob sich eine gewaltige, offensichtlich in aller Hast halb aus dem natürlich gewachsenen Felsen herausgehauene, halb aus nur roh bearbeiteten zyklopischen Blöcken errichtete Festung; eine titanische Trutzburg mit zwanzig Meter hohen Mauern und Türmen, die den Fluß wie die Finger einer zornig hochgereckten steinernen Riesenhand überragten. Er erblickte winzige, behelmte Gestalten auf den Zinnen dieser Türme; daneben die dürren Hälse von Feuerkatapulten. Die Herren Bayfours hatten den Fluß in eine Festung verwandelt. Wer immer unter dieser schwarzen Burg hindurchfahren wollte, würde einen entsetzlichen Blutzoll bezahlen - wenn es ihm überhaupt gelang.

Lange Zeit stand er einfach so da und starrte die finstere Riesenfestung an. Der Anblick traf ihn mehr, als er geglaubt hatte. Bisher hatte er nur vom Krieg gehört; einen winzigen Teil seiner Auswirkungen gesehen, nicht mehr als den Schatten, den er über das Land warf. Sicher, er hatte gekämpft, aber das war nichts anderes als das, was er zahllose Male zuvor getan hatte. Jetzt, jetzt erst, als er die Festung wirklich sah, begriff er wirklich, daß all dies mehr war als ein böser Spuk.

Sein Blick löste sich von der Festung, glitt die lotrechten Wände des Canyons hinab und verharrte einen Moment lang auf dem Wasser. Hinter der Stelle, an der der Fluß in die Berge eindrang, gab es kaum noch Eis, aber er sah, daß sich das Wasser schäumend an Hindernissen brach, die dicht unter seiner Oberflache verborgen waren. Manchmal blitzte Metall in der weißen Gischt. Der Fluß war auch weit hinter der Kette noch durch Speere und Schiffsfallen unpassierbar gemacht worden, und wahrscheinlich waren die Fallen, die er sah, noch lange nicht alle. Wäre Skar der Kommandant dieser Festung gewesen, hätte er einen Teil der Canyonwand unterminieren lassen, um sie im Notfall auf eine feindliche Flotte hinabstürzen zu lassen.

Er suchte die Ufer ab. Das Hindernis war mittlerweile ein gutes Stück näher gekommen, er konnte erkennen, daß die Kette wirklich so dick war, wie er erwartet hatte; und auch die erwarteten Widerhaken und noch einige andere böse Überraschungen enthielt. Dicht hinter der Stelle, an der sie mit den Uferfelsen verbunden war, erhoben sich zwei kleine, runde Türme, auf deren Plattform sich die Hälse gewaltiger Feuerkatapulte emporreckten. Die Luft über ihnen kräuselte sich. Die Waffen waren geladen. Und wahrscheinlich standen Männer an den Katapulten, die ihr Handwerk verstanden und jede Bewegung auf dem näherkommenden Floß voller Mißtrauen beobachteten.

Skar versuchte in Gedanken den Punkt abzuschätzen, ab dem sie in der Reichweite der Katapulte waren. Er kannte diese Waffe, und er wußte, wie unglaublich präzise sie sein konnte, wenn die Männer, die sie bedienten, ihr Handwerk verstanden. »Streicht das Segel!« sagte er hastig. »Schnell. Wir sind fast in ihrer Reichweite!«

Enwass antwortete nicht. Aber Sekunden später hörte Skar ihn gedämpfte Befehle bellen. Das Segel wurde eingeholt, und Skar selbst setzte einen weißen Fetzen als Zeichen des Friedens. Trotzdem verloren sie kaum merklich an Fahrt - ganz im Gegenteil hatte Skar beinahe das Gefühl, daß sie eher noch schneller wurden, und plötzlich begriff er, wie raffiniert die Falle war, der sie sich näherten. Auch ein größeres und wendigeres Schiff als das ihre würde Mühe haben, gegen die reißende Strömung des Flusses anzuhalten; erst recht, wenn an seinen Ufern Männer waren, die entschieden etwas dagegen hatten. Angreifende Schiffe mußten unweigerlich in die Kette gerissen und aufgespießt werden.

»Nehmt die Ruder!« befahl er. »Schnell. Wir müssen langsamer werden.« Er drehte sich um, unterstrich seine Worte mit einer hastigen Geste und griff selbst nach einem losgerissenen Kistenbrett, das ihm eine der Frauen reichte. Skar sah jetzt, daß das Eis unweit der Sperre aufgehackt worden war, so daß eine Art kleiner Hafen entstand, in den sie sich retten konnten. Wo er ans Ufer grenzte, erhob sich eine gewaltige Wehrmauer, die von zahllosen Schießscharten durchbrochen war. Über ihren Zinnen stand Rauch.

Mit aller Kraft begannen sie zu rudern; selbst die Frauen und Kinder. Trotzdem wurde es zu einem verzweifelten Wettlauf gegen die Zeit. Sie verloren an Schnelligkeit, aber das Floß begann nun doch zu schaukeln und zu bocken, und mehr als einmal stieß es scharrend gegen das Eis, das die schmale Fahrrinne begrenzte. Einmal wurden den Leuten an der Backbordseite die Ruder aus den Händen gerissen, und die Strömung zehrte ihren mühsam errungenen Vorsprung fast völlig wieder auf, ehe sie das Floß wieder unter Kontrolle hatten.

Skar war in Schweiß gebadet, als sie schließlich aus der Strömung herausschwenkten und sich dem vom Eis befreiten Ufer näherten - zehn Meter, ehe das Floß in die mit rasiermesserscharfen Dornen gespickte Kette hineingeschleudert werden konnte. Das Wasser war auch hier nicht ruhig. Strudel und Untiefen ließen das Floß wild kreiseln, und es gab nur eine einzige, von einem wuchtigen Turm überragte Stelle, an der ein Anlegen überhaupt möglich war. Trotz seiner Erschöpfung und dem daraus resultierenden Zorn mußte Skar dem Erbauer dieser Anlage seine Hochachtung zollen. Er selbst hätte auf Anhieb nicht gewußt, wie er diese Festung überwinden sollte, ohne den Fluß mit den Leichen seiner Männer zu füllen.

Aber schließlich hatten sie es geschafft. Das Floß stieß mit einem letzten, sehr harten Ruck gegen die Mauer. Ein Seil wurde durch eine Öffnung in der Wand geworfen und spannte sich, als Skar danach griff und es am Mast festband. Das Floß schaukelte noch immer gefährlich hin und her, aber das Seil war fest genug, es auch gegen die Strömung zu halten - solange niemand hinter der Wand eine Axt nahm und es kurzerhand kappte, dachte Skar finster.

In der gewaltigen Bronzetür, vor der sie angelegt hatten, öffnete sich eine Klappe, und ein finsteres, fast zur Gänze von einem wuchtigen Lederhelm bedecktes Gesicht starrte zu ihnen herab. Skar sah nicht viel mehr als die Augen des Mannes, aber die Feindseligkeit, die er in ihnen las, erschreckte ihn. Es war mehr als das bloße Mißtrauen Fremden gegenüber. Skar war sicher, daß der Mann nicht mit der Wimper gezuckt hätte, wären sie vor seinen Augen ertrunken.

»Wer seid ihr?« bellte eine unfreundliche Stimme. »Was wollt ihr hier? Woher kommt ihr?«

Skar wollte antworten, aber diesmal war Enwass schneller. Er warf Skar einen warnenden Blick zu, schüttelte fast unmerklich den Kopf und wandte sich an den Mann hinter der Tür: »Mein Name ist Enwass«, erklärte er. Er machte eine weit ausholende Geste, die das gesamte Floß und auch Skar einschloß. »Das hier ist meine Familie«, fuhr er fort, »und ein paar meiner früheren Knechte. Wir sind aus Orkala geflohen, um nicht von den Quorrl getötet zu werden. Wir verlangen Schutz und Unterkunft.« Skar registrierte sehr wohl, daß Enwass verlangen sagte, nicht erbitten. Und auch dem Mann mit dem Lederhelm schien dieser feine Unterschied keineswegs zu entgehen, denn er schwieg eine ganze Weile. Obwohl Skar kaum geglaubt hatte, daß das überhaupt noch möglich war, wurde sein Blick noch feindseliger. »Habt ihr Quorrl gesehen?« fragte er nach einer Weile.

Enwass nickte. »Gestern nacht. Fünfzig Meilen nördlich von hier. Aber nicht viele. Sie haben uns nichts getan.«

»Eine Beute wie euch?« fragte der Behelmte mißtrauisch. »Ihr sitzt auf dem Präsentierteller, Bauer, und sie haben euch entkommen lassen? Einfach so?«

»Sie waren anderweitig beschäftigt«, mischte sich Skar ein. »Womit?«

»Ich habe sie nicht gefragt«, sagte Skar gereizt. »Aber wenn du vielleicht die Güte hättest, die Tür zu öffnen und uns an Land zu lassen, können wir gerne gemeinsam darüber nachdenken. Verdammt, wir sind seit einer Woche auf dem Fluß«, fügte er wütend hinzu. »Und wir haben Frauen und Kinder bei uns.« Der Soldat starrte ihn ärgerlich an, aber die Antwort, mit der Skar gerechnet hatte, blieb aus. Statt dessen flog die Klappe mit einem unnötig lauten Knall zu, und Augenblicke später hörten sie das Geräusch eines offenbar sehr schweren Riegels, der beiseitegeschoben wurde. Knarrend öffnete sich das Tor. Skar sah, daß seine Flügel fast armdick waren; massiv genug, selbst dem Rammsporn eines Schiffes zu widerstehen.

Ein Dutzend Speerspitzen richtete sich auf Skar und Enwass, als sie nebeneinander durch das Tor traten. Die Mauer war sehr dick, aber dahinter erhob sich noch eine zweite, etwas höhere Barriere, hinter deren Zinnen eine gute Hundertschaft grimmig dreinblickender Bogenschützen stand, und als er stehenblieb und sich umsah, erkannte er, daß sie von gut dreißig Lanzenträgern umzingelt waren, die von dem Mann mit dem Lederhelm geführt wurden. Skar sah jetzt, daß er eine abgewetzte Hauptmannsuniform aus Kohon trug, dazu Stiefel, die offensichtlich einmal einem anderen gehört hatten, denn sie waren zwar sehr prachtvoll, aber um mindestens zwei Nummern zu groß. An seiner Seite baumelte ein gewaltiges Schwert. Da der Mann gerade groß genug war, Skar bis zum Kinn zu reichen, wirkte es etwas deplaciert. Er würde schlichtweg hintenüberfallen, dachte Skar amüsiert, wenn er versuchte, es zu schwingen. Laut sagte er: »Führt Ihr diese Leute, Hauptmann?«

»Warum?«

Skar lächelte. »Weil ich mich frage, was ihr wohl tun werdet, wenn die Quorrl eines Tages wirklich kommen, wo ihr doch offensichtlich vor ein paar harmlosen Flüchtlingen schon solche Angst habt, daß Ihr eine ganze Hundertschaft aufbietet?« Das Gesicht des Hauptmannes verdüsterte sich vor Zorn, und Enwass warf ihm einen raschen, fast beschwörenden Blick zu. Skar schluckte den Rest der Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, mit einem leisen Gefühl des Bedauerns herunter.

»Für einen, der als Bettler hierherkommt, bist du reichlich vorlaut, Kerl«, fauchte der Hauptmann. »Was sollte mich daran hindern, dich wieder ins Wasser zu werfen und zuzuschauen, wie du ersäufst?«

»Versucht es«, sagte Skar ruhig.

Enwass erbleichte noch weiter und starrte ihn so beschwörend an, daß es schon fast komisch wirkte, aber Skar ignorierte ihn. Er kannte Männer wie diesen Hauptmann zu gut, um nicht zu wissen, daß er sich keine Schwäche leisten konnte. Man traf sie in jeder Armee, und besonders in Zeiten wie diesen: grausame Männer, die im Grunde ihres Herzens schwach waren und das auch genau wußten, und die nur durch eine Fügung des Zufalls nach oben gekommen waren. Vermutlich war der Kerl niemals in irgendeiner Armee Enwors Hauptmann gewesen, sondern hatte die Uniform einem Toten abgenommen oder schlichtweg gestohlen. Aber ebenso feige, wie diese Männer im Grunde waren, so untrüglich war auch ihr Instinkt. Skar war sicher, daß der Mann ihn auch dann als Gefahr eingestuft hätte, hätte er den Mund gehalten. Es war besser, er zeigte ihm von vornherein seine Grenzen.

Und es kam noch etwas hinzu. Skars Muskeln schmerzten noch jetzt von der Anstrengung des Ruderns, und trotzdem waren sie dem Tod nur um Haaresbreite entgangen. Er war sicher, daß mehr als ein Boot vor ihnen in die Barriere geschwemmt und zerfetzt worden war, und er war ebenso sicher, daß der Hauptmann dabei ungerührt zugesehen hatte. Wahrscheinlich hatte es ihm noch Spaß gemacht.

»Wie ist Euer Name, Hauptmann ?« fragte er, als der Mann mit dem Lederhelm nicht auf seine Herausforderung reagierte, sondern ihn nur haßerfüllt anstarrte. Der Ausdruck auf den Gesichtern seiner Leute schwankte zwischen Verblüffung und Unterdrückter Schadenfreude. Der angebliche Hauptmann erfreute sich offenbar auch unter seinen eigenen Männern keiner allzugroßen Beliebtheit.

»Gorrn«, antwortete er schließlich. »Aber was geht dich das an, Kerl?«

»Mein Name ist Skar, nicht Kerl«, sagte Skar ungerührt. »Und ich weiß gerne, mit wem ich rede, das ist alles. Und nun, Hauptmann Gorrn«, fuhr er so rasch und mit völlig veränderter, plötzlich gelassener Stimme fort, daß Gorrn ihn nur mit offenem Mund anstarren konnte, »sagt uns, wohin wir gehen und wohin wir unsere Habseligkeiten bringen sollen.« Er deutete auf Enwass' Familie, die einer nach dem anderen vom Floß heruntertraten und sich auf dem kleinen Stück trockenen Bodens zusammendrängten, das Gorrns Speerträger ihnen zugestanden hatten. »Skar also«, murmelte Gorrn. Skar fragte sich, ob er einen Fehler begangen hatte, denn der Hauptmann wirkte für einen Moment sehr nachdenklich. Aber dann schüttelte er nur den Kopf. Skar atmete innerlich auf. Offensichtlich kannte hier niemand seinen Namen.

»Dein Flüchtlingspack kommt ins Lager, wo es hingehört«, fuhr Gorrn schließlich fort. »Und euren Plunder...« Er grinste, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte über Skars Schulter hinweg auf das Floß hinab, wobei er sich bemühte, einen möglichst angewiderten Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Nun, wir werden den Kram sichten und uns heraussuchen, was noch zu gebrauchen ist. Den Rest schmeißen wir ins Wasser zurück.«

»Wie bitte?« sagte Skar verwirrt. Er war nicht ganz sicher, auch richtig zu verstehen, was er hörte.

Gorrn grinste breit. »Du hast mich richtig verstanden, Bauernlümmel«, sagte er. »Das Zeug ist beschlagnahmt. Ihr behaltet eure Kleider und was ihr an Nahrung dabeihabt. Alles andere laßt ihr zurück. Vor allem die Waffen - falls ihr welche habt.« Sein Blick tastete über Skars Gestalt und erspähte den Umriß des Schwertes, das er unter dem Mantel trug.

»Fangen wir damit an«, sagte er fordernd. »Das Schwert da - gib es mir!« Er streckte fordernd die Hand aus, aber der Ausdruck auf seinen Zügen war nur Überheblichkeit und Zorn, keine wirkliche Entschlossenheit. Skar seinerseits widerstand im letzten Moment der Versuchung, den Mantel zurückzuschlagen und die Hand herausfordernd auf den Schwertgriff zu legen. Ganz davon abgesehen, daß er den Bogen damit wahrscheinlich überspannt hätte, hätten Gorrn oder einer seiner Leute garantiert das Satai-Schwert erkannt, das er trug.

»Was soll das?« fragte er scharf. »Wieso behandelst du uns, als wären wir Feinde?«

»Täte ich das, wärt ihr alle schon tot, Skar«, antwortete Gorrn wütend. »Aber was nicht ist, kann noch kommen.«

»Das beantwortet meine Frage nicht!« fauchte Skar. »Was soll dieser Empfang? Wir sind hier, weil wir Hilfe brauchen, nicht -«

»Hilfe?« Gorrn lachte schrill. »O sicher. Hilfe, wie die zigtausend anderen, die in den letzten Monaten gekommen sind, nicht? Was denkst du dir, Kerl? Daß wir nur darauf warten, von Tausenden von Flüchtlingen überflutet zu werden?« Herausfordernd trat er auf Skar zu und starrte ihn an. Daß er sich dazu auf die Zehenspitzen stellen mußte, machte ihn nicht unbedingt würdevoller. Skar unterdrückte ein abfälliges Grinsen.

»Und jetzt kommt an Land«, fuhr Gorrn fort. »Und beeilt euch. Wir haben Wichtigeres zu tun, als den ganzen Tag mit euch zu verschwenden.« Er machte eine befehlende Handbewegung, um seine Worte zu unterstreichen.

Skar wollte abermals widersprechen, aber in diesem Moment legte ihm Enwass die Hand auf den Unterarm und drückte rasch und sehr kräftig zu. »Es ist gut, Skar«, sagte er. »Ich regele das.« Zu Gorrn gewandt, fuhr er fort: »Verzeiht Skar, Hauptmann. Er... gehört nicht zu uns und kennt die Sitten und Gebräuche hier nicht.«

»Gebräuche?« fragte Skar böse. »Welche? Männer und Frauen, die alles verloren haben, auch noch ihrer allerletzten Habe zu berauben?«

Enwass' Blicke wurden fast beschwörend, aber diesmal war es Gorrn, der ihn nicht zu Wort kommen ließ.

»Berauben?« fragte er zornig. »Nennst du mich einen Dieb, Kerl?«

»Wie nennt man jemanden, der anderen etwas wegnimmt?« erwiderte Skar kühl.

»Einen Schmarotzer«, antwortete Gorrn. Er beugte sich leicht vor. Seine Augen wurden schmal. »Einen Dieb, Skar. Einen Flüchtling. Wer, denkst du, bezahlt für Essen und Unterkunft all derer, die hierherkommen? Wer sorgt für ihre Sicherheit? Wer hat diese Festung hier erbaut, und wessen Blut wird wohl fließen, wenn die Quorrl kommen? Das unsere!« Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. »Du nennst uns Diebe?« Er lachte böse. »Niemand zwingt dich, dich von uns bestehlen zu lassen, Skar. Nimm dein Floß und rudere zurück zu den Quorrl, vielleicht behandeln sie dich ja besser. Oder bleib hier und richte dich nach dem, was wir sagen!«

»Das ist -«

»Er hat recht, Skar«, unterbrach ihn Enwass hastig. »Bitte! Was sie uns nehmen können, ist nur ein kleiner Teil dessen, was wir von ihnen bekommen.«

»Ganz recht!« fügte Gorrn wütend hinzu. »Aber das wirst du auch noch begreifen, Skar. Spätestens, wenn das Frühjahr kommt und mit ihm die Quorrl. Vielleicht wirst du dann noch darum betteln, von uns bestohlen zu werden. Und nun geht!« Erneut machte er eine befehlende Geste mit der Hand, und diesmal widersprach Skar nicht mehr.

Flankiert von Gorrns Lanzenträgern gingen sie weiter. Es gab auch in der inneren Wand ein gewaltiges Bronzetor, aber es war gute hundert Schritt weiter nördlich angebracht, um einen eventuellen Angreifer davon abzuhalten, das erste Tor zu durchbrechen und seinen Schwung gleich zu nutzen, auch noch die innere Barriere niederzumachen. Skar bezweifelte, daß die Anlage ihren Sinn erfüllen würde, wenn der Angriff, den Gorrn offensichtlich befürchtete, wirklich kam. Für einen menschlichen Angreifer wäre dieser doppelte Steinwall sicherlich fast unüberwindbar gewesen. Aber die Feinde, mit denen die Männer hier rechneten, waren Quorrl - Wesen, die zehnmal so stark und zwanzigmal so wild wie ein Mensch waren.

Sie passierten das zweite Tor, hinter dem ein fünf Meter breiter und beinahe ebenso tiefer Graben gähnte, dessen Boden nun mit Schnee und braungrauem Matsch gefüllt war, und aus dem angespitzte Stöcke und kurze, mit Widerhaken versehene Spieße ragten. Eine dünne, nur an zwei rasch zu durchtrennenden Seilen hängende Brücke führte über diesen Graben. Dahinter lag ein gut hundert Schritt breites Stück vollkommen freien Geländes, das sorgfältig von jeglicher Vegetation gesäubert worden war. Und hinter ihm das Lager.

Skar wußte nicht genau, was er erwartet hatte - aber es war nicht das. Enwass hatte ihm erzählt, daß viele den Weg über die Grenzen suchten. Aber vor ihnen erstreckte sich eine ganze Stadt aus kleinen, schmutzigweißen Zelten, säuberlich in geraden Linien aufgereiht, Hunderte in einer Reihe, und Dutzende von Reihen tief. Die Luft über dem improvisierten Zeltlager flimmerte von Staub und aufsteigender Wärme, denn überall zwischen den kleinen Notunterkünften flackerten kleine Feuer, und selbst über die große Entfernung hinweg hörte Skar das Summen Abertausender von Menschen, die wie Vieh zusammengepfercht waren. Es mußten Zehntausende sein, die hierher geflohen waren. Und Skar war nicht sehr sicher, ob sie hier die Freiheit fanden, um derentwillen sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, denn das Lager war von einem übermannshohen, doppelten Zaun umgeben, zwischen dem bewaffnete Männer mit Hunden patrouillierten.

Abrupt blieb er stehen, kaum daß er den Graben überschritten hatte. »Was bedeutet das?« fragte er alarmiert. »Das ist -«

»Das Lager«, unterbrach ihn Gorrn kalt. »Was hast du erwartet? Einen Palast?« Er grinste hämisch. »Sicherlich. Du wirst ihn bekommen, aber im Moment... wir sind mit der Arbeit etwas im Verzug, weißt du? Ich werde meine Leute anspornen, für dich und deine Begleiter eine würdigere Unterkunft zu schaffen, aber bis der Marmor und die goldenen Möbel kommen, muß ich dich leider bitten, mit dem hier vorliebzunehmen.«

Skar starrte ihn an. »Was soll das?« fragte er noch einmal. »Das ist ein Gefangenenlager, Gorrn.«

Gorrn nickte ungerührt. »Und genau das seid ihr, Bauer«, antwortete er abfällig. »Jedenfalls so lange, bis wir entschieden haben, was mit euch zu geschehen hat.«

»Zu... geschehen?«

»Es ist Krieg, Tölpel!« antwortete Gorrn zornig. »Was denkst du dir? Jeden Tag kommen Hunderte wie du hier an, und jeder zehnte ist ein Spion oder Saboteur! Hast du gedacht, du müßtest nur kommen, um mit offenen Armen empfangen zu werden?« Er spie aus. »Verdammt, ich habe keine Lust mehr, mich mit euch Pack zu streiten! Du wirst tun, was ich sage, oder ich werfe dich eigenhändig zurück in den Fluß.« Wütend deutete er auf einen niedrigen, sechsbeinigen Tisch, der reichlich deplaziert direkt neben dem Graben stand, zusammen mit einem einzelnen Stuhl und einer wuchtigen, mit schweren eisernen Schlössern versehenen Truhe. Auf der zerkratzten Platte lagen Pergamente, die mit Steinen beschwert worden waren, damit der Wind sie nicht davontrug, dazu ein Tintenfaß und eine Schreibfeder. »Geht dorthin«, befahl er.

Skar wollte abermals widersprechen, aber wieder legte ihm Enwass die Hand auf den Arm und schüttelte hastig den Kopf. Sein Blick wurde beschwörend. Skar begriff plötzlich, daß er nicht nur sich selbst, sondern auch Enwass und alle anderen in Gefahr brachte, wenn er Gorrn weiter reizte. Schweigend wandte er sich um und folgte dem angeblichen Hauptmann zum Tisch.

Gorrn nahm auf dem Stuhl Platz, zog einen Stapel mit kleinen, roh zurechtgeschnittenen Pergamentblättern zu sich heran und zückte eine Schreibfeder, deren Ende zerkaut war. »Ihr bekommt jetzt Ausweise«, sagte er mit erhobener Stimme und in einem Ton, der klarmachte, daß er diese Sätze schon tausendmal gesprochen hatte. »Und dazu Lebensmittelscheine für den ersten Tag. Essen gibt es nur gegen diese Scheine, ist das klar? Die Ausweise habt ihr immer mit euch zu führen, wenn ihr euch im Lager bewegt. Wer ohne gültigen Ausweis erwischt wird, wird auf der Stelle hingerichtet - ist das klar?« Er wartete keine Antwort ab, sondern blickte betont gelangweilt zu Enwass auf, der als erster vor ihm Aufstellung genommen hatte. »Dein Name?«

»Enwass«, sagte Enwass gehorsam.

Gorrn kritzelte etwas auf das Pergament, warf einen Blick in eine engbeschriebene Liste, die neben dem Tintenfaß auf dem Tisch lag, und schrieb eine Nummer mit sehr vielen Ziffern unter Enwass' Namen. »Deine Waffen«, verlangte er.

Enwass zögerte einen winzigen Augenblick, schlug aber dann gehorsam seinen Mantel zurück und händigte Gorrn Schwert und Dolch aus. Der Hauptmann warf sie achtlos neben sich auf den Boden und fügte eine weitere Bemerkung auf Enwass' Paß hinzu. »Hast du Geld?« fragte er, ohne aufzusehen.

Enwass nickte zögernd. »Ein wenig«, sagte er. »Aber...«

»Was - aber?« Gorrn sah nun doch auf. Seine Augen wurden schmal. »Willst du Essen, Flüchtling?«

Ohne ein weiteres Wort händigte ihm Enwass seine Geldbörse aus. Gorrn warf einen flüchtigen Blick hinein, schüttelte abfällig den Kopf und klappte den Deckel der Truhe auf, die neben seinem Tisch stand. Als er den Beutel hineinwarf, sah Skar, daß sie fast zur Gänze mit Geldbörsen, Schmuck und einzelnen Münzen gefüllt war. Gorrns Geschäft schien prächtig zu gedeihen. Skar fragte sich, wieviel von dem, was er den Neuankömmlingen hier abnahm, auch wirklich in die Staatskassen von Bayfour gelangte. Schließlich setzte Gorrn ein kompliziert wirkendes Siegel unter Enwass' Ausweis, faltete das Blatt achtlos zusammen und reichte es Enwass, mit der automatischen Mahnung, es auch wirklich immer bei sich zu führen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, seinen Kopf zu verlieren.

So ging es weiter. Nach Enwass kamen seine Söhne, dann seine Frau und schließlich die Knechte an die Reihe. Gorrn nahm ihnen alles, was sie besaßen, und nicht einer wagte auch nur zu widersprechen. Skar hatte fast den Eindruck, daß Gorrn ein wenig enttäuscht darüber war.

Und schließlich waren nur noch Syrr, Talin und er übrig. Skar war sehr sicher, daß Gorrn ihn nicht durch Zufall bis zuletzt einfach stehengelassen hatte, während Syrr und ihr Bruder ganz automatisch in seiner Nähe geblieben waren.

Gorrn blickte ihn voller hämischer Vorfreude an. Aber er schien entschlossen, das Spiel noch ein wenig in die Länge zu ziehen, denn als Skar vortreten wollte, scheuchte er ihn mit einer Kopfbewegung zurück und winkte statt dessen Syrr herbei. »Dein Name, schönes Kind?« sagte er.

»Syrr«, antwortete Syrr ruhig.

»Syrr, so.« Gorrn machte keine Anstalten, nach seiner Feder zu greifen. Statt dessen verschränkte er die Finger vor sich auf dem Tisch, blickte erst Skar, dann Talin und schließlich wieder Syrr an. »Ein hübscher Name«, erklärte er grinsend. »Er paßt zu dir. Gehörst du zu diesem Tölpel da?« Er deutete auf Skar.

Syrr antwortete nicht, aber damit schien Gorrn auch gar nicht gerechnet zu haben, denn sein Grinsen wurde eher noch anzüglicher. Er stand auf, kam mit betont nachlässigen Schritten um seinen Tisch herum und baute sich ganz dicht vor Syrr auf. »Du bist wirklich hübsch«, wiederholte er. »Ein bißchen jung für einen so alten Kerl, findest du nicht?« Er hob die Hand, um Syrr im Gesicht zu berühren. Syrr wandte hastig den Kopf. Sie gab sich keine Mühe, ihren Ekel zu überspielen.

Gorrn kicherte, aber während er es tat, erlosch sein Lächeln. »Was ist mit diesem Balg da?« fragte er mit einer Geste auf Talin. »Hat Skar es dir gemacht?«

»Talin ist mein Bruder«, erwiderte Syrr gepreßt.

»Dein Bruder, so?« Gorrn schüttelte den Kopf. »Gut. Und du hast nichts mit Skar zu schaffen? Wenn es so ist, dann wird dein Nicht-Freund ja auch nichts dagegen haben, wenn wir beiden ein privates Abkommen treffen, wie?« Er grinste. »Du bist ein hübsches Kind. Es wäre schade, wenn du mit dem anderen Pöbel im Lager frieren müßtest, findest du nicht? Und das Essen ist auch nicht besonders gut.«

»Hör auf«, sagte Skar ruhig.

Gorrn fuhr herum und starrte ihn an. Seine Augen blitzten. »Was hast du gesagt?« fragte er lauernd.

»Laß sie in Ruhe«, sagte Skar noch einmal. »Sie sagt die Wahrheit. Ich habe nichts mit ihr und dem Jungen zu schaffen. Du triffst mich nicht, wenn du sie quälst.«

»Warum erregst du dich dann so?« erwiderte Gorrn scharf. »Was mischst du dich dauernd ein? Wer bist du überhaupt?«

»Skar ist unser Beschützer«, sagte Talin wütend. »Er wird dich in Stücke schneiden, wenn du meine Schwester auch nur anrührst!«

Gorrn erbleichte noch ein wenig mehr, preßte wütend die Lippen aufeinander und starrte Talin und Skar abwechselnd an. »Euer Beschützer, so?«

Skar warf dem Jungen einen beschwörenden Blick zu, aber Talin reagierte nicht darauf. Als Syrr die Hand ausstreckte, um ihn zum Schweigen zu bringen, tauchte er blitzschnell unter ihrem Arm hindurch und trat herausfordernd auf Gorrn zu. »Ja, das ist er!« sagte er wütend. »Er hat ganz allein ein Dutzend Quorrl erschlagen! Ich würde dir nicht raten, Syrr auch nur ein Haar zu krümmen, wenn dir dein Leben lieb ist.«

»Ein Dutzend Quorrl?« wiederholte Gorrn verwirrt.

»Der Junge übertreibt«, sagte Syrr hastig. »Es waren nur zwei. Aber er hat uns das Leben gerettet, das ist wahr.«

»Zwei?« Seltsamerweise schien Gorrn eher nervöser zu werden. Ein neuer, angespannnter Zug erschien auf seinem Gesicht. »Zwei Quorrl? Eine beachtliche Leistung für einen einzelnen Mann.« Er trat einen weiteren Schritt auf Skar zu, schob Talin einfach beiseite und musterte ihn von Kopf bis Fuß.

»Was bist du, Skar?« fragte er. »Ein Krieger?«

Skar nickte. »Ich bin... ich war Söldner«, antwortete er.

»Aber das ist lange her.«

»Nicht lange genug, daß du dein Handwerk verlernt hast, scheint mir. Ein Mann, der ganz allein zwei Quorrl erschlägt...«

»Es gibt Dinge, die man nicht verlernt«, erwiderte Skar, mit einer genau berechneten Spur von Drohung in der Stimme, die Gorrn keineswegs entging.

»Ein Krieger also«, wiederholte der Hauptmann. »Nun, das erklärt manches. Aber es ändert nichts. Deine Waffe!«

Skar rührte sich nicht. Gorrns Gesicht färbte sich dunkel vor Zorn, und einen Moment lang sah es beinahe so aus, als wolle er sich wirklich auf Skar stürzen, um ihm das Schwert mit Gewalt zu entreißen. Aber dann verzog er nur abfällig die Lippen. »Du willst also den starken Mann spielen, wie?« fragte er lauernd. »Glaubst du, uns alle besiegen zu können?«

»Nein«, erwiderte Skar. »Aber ich trenne mich nicht von meiner Waffe. Ihr braucht Krieger. Ich bin einer, und ein guter dazu. Ich werde -«

»Brauchen?« fiel ihm Gorrn ins Wort. Seine Stimme wurde schrill, fast hysterisch. »Ich werde dir sagen, was wir brauchen, du Beschützer der Armen. Vor allem brauchen wir keine Männer wie dich, die hierherkommen, um Ärger zu machen! Wir brauchen sie noch weniger als dieses Flüchtlingspack, das wie ein Heuschreckenschwarm über unsere Grenzen kommt! Und jetzt gib mir deine Waffe, Beschützer Skar, ehe ich dich töten lasse!«

»Traust du dich nicht, es allein zu versuchen?« fragte Skar lächelnd.

Gorrn wurde kreidebleich. Eine Sekunde lang starrte er Skar aus hervorquellenden Augen an, dann stieß er einen schrillen, halberstickten Schrei aus und warf sich mit geballten Fäusten auf ihn.

Skar machte eine blitzschnelle Bewegung mit der Linken, und Gorrn verlor wie durch Zauberei plötzlich den Boden unter den Füßen, segelte ein gutes Stückweit durch die Luft und landete unsanft auf dem Hinterteil.

Für den Bruchteil eines Herzschlages wurde es still. Dann schrie Gorrn schrill auf; gleichzeitig erhob sich aus den Reihen seiner Soldaten ein schadenfrohes Gelächter. Gorrn brüllte noch schriller, sprang mit einer ungelenken Bewegung auf die Füße und hob die Fäuste. Seine Augen flammten vor Haß. Das Gelächter verstummte abrupt.

»Du Hund!« brüllte er. »Dafür stirbst du! Du wirst bezahlen, das schwöre ich dir!«

»Wofür wird dieser Mann bezahlen, Hauptmann?«

Die Stimme erklang irgendwo hinter Skar und den anderen, und sie war so sanft und leise, daß Skar die Worte eher erriet, als daß er sie wirklich hörte.

Und trotzdem war ihre Wirkung fast unglaublich.

Gorrn, der sich mit haßverzerrtem Gesicht und hoch erhobenen Fäusten auf Skar hatte stürzen wollen, prallte mitten in der Bewegung zurück, als wäre er jählings gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Der Haß in seinen Augen schlug in Furcht, dann beinahe in Entsetzen um, und auch seine Krieger fuhren erschrocken zusammen. Die Waffen, die sich auf Skar gerichtet hatten, senkten sich wieder.

Skar drehte sich betont langsam herum.

Hinter ihm stand ein Mann - jedenfalls vermutete er, daß es ein Mann war, denn seine Gestalt wurde völlig von einem schmutzigweißen, an eine Mönchskutte erinnernden Gewand verhüllt, das nur seine in dünnen Schnürsandalen steckenden Füße und die Hände freiließ; sehr schmale, sehnige Hände, die einem alten Mann, aber auch einer sehr alten Frau gehören konnten. Das Gesicht war unter einer tief in die Stirn gezogenen Kapuze verborgen, und obwohl es eigentlich im Sonnenlicht liegen mußte, konnte Skar unter der Kapuze nichts als wogende Schatten erkennen. Die Gestalt erfüllte ihn sofort mit Furcht. Irgend etwas Unsichtbares, Düsteres schien sie zu umgeben. Dann begriff er, daß er sich täuschte. Was er fühlte, war Macht, eine so reine Aura von Macht, daß er fast meinte, sie berühren zu können.

Der Alte - Skar war jetzt sicher, daß es ein Mann war - ließ ihm ausreichend Zeit, ihn zu mustern, während seine unsichtbaren Augen gleichzeitig über Skars Gestalt wanderten. Sein Blick wirkte auf unangenehme Weise taxierend. Skar mußte plötzlich gegen den aberwitzigen Gedanken ankämpfen, daß die Gestalt in der weißen Kutte seine Gedanken las wie ein offenes Buch. »Nun, Hauptmann?« wiederholte der Mann, als Gorrn nicht antwortete. »Wofür soll er bezahlen, deiner Meinung nach?« In seiner Stimme war jetzt ein spöttischer Unterton, der weder Skar noch dem angeblichen Hauptmann entging.

Gorrn deutete anklagend auf Skar. »Der... der Kerl hat mich angegriffen, Herr!« stammelte er. »Er... er hat -«

»Dich angegriffen?« Der Fremde seufzte. »Nun, Hauptmann, ich stehe schon eine geraume Weile hier, und ich hatte eher den Eindruck, daß Ihr ihn gereizt habt, damit er ebendies tut - war es nicht so?«

Gorrn fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Dann nickte er. »Ja, Herr«, flüsterte er. »Verzeiht mir.« Plötzlich trat ein trotziges Funkeln in seine Augen. »Aber das ändert nichts daran, daß er versucht hat, mich umzubringen!« sagte er. »Er hat -«

»Dich umbringen?« Die Gestalt in der weißen Kutte lachte leise. »Du bist ein Narr, Gorrn. Wenn dieser Mann dich hätte töten wollen, hätte er es längst getan. Dieser Mann ist ein Satai.« Gorrn erstarrte. Seine Augen quollen vor Entsetzen ein Stück aus den Höhlen. Er öffnete den Mund, brachte aber nur einen krächzenden, halberstickten Laut zustande. Dafür ging eine erschrockene Bewegung durch die Reihen seiner Krieger. Mehr als ein Dutzend Speere richtete sich auf Skar. Schwerter wurden scharrend aus den Scheiden gezogen. Ein Mann hob einen Bogen und legte mit fliegenden Fingern einen Pfeil auf die Sehne. »Genug!« Die Stimme des Mannes in der weißen Kutte war wie ein Peitschenhieb, obwohl er noch immer nicht viel lauter sprach als zuvor. Die Waffen, die sich auf Skar gerichtet hatten, senkten sich nicht. Aber die Krieger machten auch keine Anstalten, ihn wirklich anzugreifen. Noch nicht, dachte Skar besorgt. Seine Hand tastete unter dem Mantel nach dem Schwertgriff. »Ein... ein Satai?« stammelte Gorrn. »Er ist -«

Der Alte seufzte hörbar. »Ein Satai«, bestätigte er. »Nicht wahr, Skar?«

Skar nickte. Er war nicht einmal sonderlich erschrocken; ganz im Gegenteil verspürte er eine fast absurde Erleichterung. Er wollte nicht mehr lügen. Und er hatte das sehr sichere Gefühl, daß es wenig genutzt hätte, es zu versuchen.

»Es ist wahr«, sagte er ruhig. »Ich bin Satai. Aber trotzdem bin ich -«

»Ich weiß, was du bist, Skar«, unterbrach ihn der Alte.

»Ebenso, wie ich weiß, daß du all diese Narren hier hättest töten können, wenn du es gewollt hättest. Ich danke dir, daß du es nicht getan hast. Wir haben zu wenige Krieger, um auch nur auf Narren wie sie verzichten zu können.« Er trat einen halben Schritt auf Skar zu, blieb wieder stehen und schlug mit einer raschen Bewegung beider Hände die Kapuze zurück. Darunter kam ein Gesicht zum Vorschein, das ein gutes Stück jünger war, als Skar beim Anblick seiner Hände und dem dünnen Klang der Greisenstimme erwartet hatte.

»Ich bin Drask«, sagte der Mann lächelnd. »Und die Waffe, die du da in der Hand hältst, wirst du nicht brauchen. Jedenfalls nicht jetzt. Willkommen, Skar.«

Skar nahm hastig die Hand vom Griff des Tschekal, schwieg aber weiter. Drasks Lächeln war nicht echt, das spürte er. Irgend etwas war falsch an diesem Mann, auf entsetzliche, nicht in Worte zu fassende, aber unübersehbare Weise falsch. Alles in ihm schien ein einziger Warnschrei zu sein, als er den Mann anstarrte. Was war das? dachte er entsetzt.

»Du... kennst mich?« fragte er ungläubig. »Woher?«

Drask lächelte. »Das ist eine lange Geschichte, Skar. Gib dich für den Moment damit zufrieden, daß ich weiß, wer du bist - und daß ich nicht dein Feind bin. Du hast lange gebraucht.«

»Lange?« Skars Verwirrung stieg mit jedem Wort, das er hörte. »Aber wieso... ich meine, was -«

Drask unterbrach ihn mit einer milden Handbewegung. »Du kannst es noch nicht verstehen, Skar«, sagte er. »Aber wir haben auf dich gewartet. Sehr lange.« Er seufzte. »Beinahe zu lange.« Skar verstand nun wirklich kein Wort mehr. Er fühlte sich hilflos wie selten zuvor in seinem Leben. Und noch immer hatte er kein anderes Gefühl als das der Gefahr, während er Drask anblickte. Was war das? Wer war dieser alte Mann?

»Du wirst alles begreifen, Skar«, sagte Drask milde, und plötzlich war Skar fast sicher, daß er seine Gedanken las. »Aber nicht jetzt, und nicht hier.« Er deutete zur Festung hinauf. »Du bist mein Gast. Folge mir.«

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