Der Abend kam, aber Skar fand keinen Schlaf. Er hatte noch lange mit Drask zusammengesessen, Stunden, in denen sich ihr Gespräch immer wieder um die gleichen, unbeantworteten Fragen gedreht hatte, unterbrochen von langen, schmerzhaften Pausen voll lastendem Schweigen. Skar hatte während dieser Zeit immer mehr den Eindruck gewonnen, daß der Alte ihm längst nicht alles erzählt hatte, was er wußte - wie konnte er auch: es waren achtzehn Jahre vergangen! - aber er war viel zu verstört, um in den gewohnten, logischen Bahnen denken zu können. Er hatte recht gehabt, mit dem ersten Gedanken, als er den Tempel der Gesichtslosen Prediger verließ: er war nicht mehr in seiner Welt. Dies hier war noch Enwor, aber nicht mehr das Enwor, in dem er geboren worden war.
Die Vorstellung war entsetzlich, und um so mehr, da Skar spürte, daß es die Wahrheit war. Er war in einer fremden Welt, und es spielte keine Rolle, daß es noch immer die war, in der er geboren worden und aufgewachsen war. Alle, die er gekannt hatte, mußten längst tot sein. Die alte Ordnung war dahin, nichts war mehr so, wie er es kannte. Die Dinge waren auf den Kopf gestellt, gründlicher und perfider, als er es in seinen schlimmsten Alpträumen hätte erwarten können. Die Satai, Garant für Frieden und Gerechtigkeit auf Enwor, waren zu seinen Feinden geworden, Verbündete der Quorrl, und als wäre dies allein noch nicht schlimm genug, zusammen mit - Skar zwang sich, den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Er hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden.
Und es war Wahnsinn. Großer Gott, was hatten sie getan? Welche satanische Macht hatten Vela und er aus den Abgründen der Zeit heraufbeschworen, ohne es zu wissen, dachte er entsetzt. Die Sternengeborenen - das war eine Legende, zu gräßlich, um auch nur einen Funken Wahrheit zu enthalten.
Er stand auf. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die Wände der kleinen Kammer, die Drask ihm zugewiesen hatte, schienen sich um ihn zusammenzuziehen, ihn zu erdrücken. Ihn schwindelte. Ein Entsetzen hatte ihn gepackt, das mit Worten nicht mehr zu beschreiben war.
Mit ein paar raschen Schritten trat er ans Fenster, stieß den schweren hölzernen Laden so wuchtig auf, daß er draußen gegen die Wand krachte, und sog beinahe gierig die eisige Nachtluft in die Lungen. In seinem Kopf drehte sich alles, und auch die Kälte, die plötzlich ins Zimmer strömte, änderte nichts daran. Er ballte die Fäuste, schlug sie auf die steinerne Fensterbrüstung und konzentrierte sich auf den dumpfen Schmerz, der durch seine Knöchel schoß.
Nur allmählich begann sich sein hämmernder Herzschlag zu beruhigen. Der Raum hörte auf, sich um ihn herum zu drehen, fast jedenfalls, und die Schatten der Angst krochen in die Ecken und Winkel zurück.
Aber etwas blieb. Skar wußte nicht, was es war, aber irgend etwas blieb in ihm. Er fühlte sich noch immer auf die gleiche, schwer in Worte zu fassende Weise unwohl, wie er es in Drasks Nähe getan hatte. Aber vielleicht war es gar nicht der Alte gewesen, der ihn so mit Unbehagen erfüllt hatte, sondern etwas anderes, und er hatte das Gefühl nur auf Drask projiziert, um - Um nicht zuzugeben, daß er in Wahrheit ganz genau wußte, was es war?
Skar drehte sich um, blickte aus eng zusammengepreßten Augen in die Dunkelheit, versuchte die Schatten zu durchdringen, die wie ein lautlos schwebender Vorhang aus Schwärze vor der Tür und der gegenüberliegenden Wand hingen. War er da? War es nichts als die Nähe des Daij-Djan, die er die ganze Zeit spürte? Drasks Worte fielen ihm ein, und genau wie in dem Moment, in dem er sie gehört hatte, überlief ihn ein eisiger Schauer. Du hast einen Schutzengel, Skar...
Vielleicht war es so. Aber wenn, dann war es ein schwarzer Cherubin, ein Engel des Todes, der Skar wie ein mordender Schatten überallhin folgte. War er da? War er hier?!
»Wo bist du?« flüsterte er. »Zeig dich, du Bestie!«
Natürlich antworteten die Schatten nicht. Die Dunkelheit schwieg, und nur das Echo seiner eigenen Worte kam zurück, wie leises, unendlich böses Hohngelächter.
Aber er spürte ihn. Er war hier, vielleicht nicht körperlich, aber er war hier. Vielleicht lauerte er in den Schatten, vielleicht... ja, vielleicht war er auch ein Teil von ihm, ein finsteres Stück seiner Seele, das auf gräßliche Weise Gestalt und Körper angenommen hatte.
Und plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn um ein Haar hätte aufschreien lassen.
Niemand hatte den Daij-Djan bisher gesehen. Niemand, der dieses Treffen überlebt hätte.
Keiner außer ihm.
War es das, was Drask ihm hatte sagen wollen? dachte er. Vielleicht existiert das Ungeheuer gar nicht, war nur eine Ausgeburt seiner Phantasie, eine Chimäre, die sein eigener Geist erschaffen hatte, um ihn vor der Wahrheit zu schützen.
Vielleicht war er der Daij-Djan.