13.

Drask führte ihn zu einem wuchtigen, fensterlosen Turm aus Felsgestein, der den einzigen Zugang zu der Zyklopenfestung über dem Fluß darstellte; und wie Skar schon auf den ersten Blick sah, zudem einen, der mit wenigen Handgriffen unpassierbar gemacht werden konnte, denn in seinem Inneren befand sich nicht der Eingang eines Stollens, wie er instinktiv angenommen hatte, sondern ein lotrechter Schacht mit Wänden, die so glatt waren, als bestünden sie aus poliertem Glas. Sein Grund lag im Dunkeln, so daß Skar nicht erkennen konnte, wie tief er war; aber er spürte die Feuchtigkeit und Kälte und hörte das Dröhnen tobenden Wassers. Ein sehr schmaler, an dünnen silberfarbenen Ketten aufgehängter Steg führte über diesen Schlund, und Skar war sehr sicher, daß es irgendwo über seinem Kopf einen verborgenen Mechanismus gab, mit dem man diesen Steg entweder einziehen oder schlichtweg in die Tiefe stürzen lassen konnte. »Wer hat das alles hier gebaut?« fragte er, während er Drask über den schwankenden Steg folgte.

Der Alte sah über die Schulter zurück und lächelte. »Gefällt es dir?« fragte er.

»Nein«, antwortete Skar. »Es ist zum Töten gemacht. So etwas gefällt mir nicht. Aber es ist eine gute Anlage. Obwohl -«

»Obwohl?« fragte Drask, als Skar nicht weitersprach.

Skar lächelte flüchtig. »Mich würde es nicht aufhalten. Nicht lange, jedenfalls.«

Drask nickte anerkennend. »Aus dir spricht der Krieger«, sagte er. »Aber du hast natürlich recht - wenn die Quorrl Gorrns Krieger überrennen sollten, wird sie auch das hier nicht mehr lange aufhalten. Doch das muß es auch nicht. Wir haben andere Mittel, uns zur Wehr zu setzen.«

»Andere Mittel?«

Drask lächelte und schwieg. Skar begriff, daß er von ihm nicht mehr erfahren würde, wenigstens nicht hier und nicht jetzt. Und das Gefühl des Unwohlseins, das Drasks Nähe ihm vermittelte, wurde immer stärker. Skar versuchte vergeblich, sich einzureden, daß er nichts zu befürchten hatte. Hätte Drask ihn umbringen wollen, so hätte ein Wort an Gorrn und seine Männer gereicht.

Aber vielleicht gab es Schlimmeres als den Tod...

Der Steg endete vor einer niedrigen, sehr massiven Tür aus schmucklosem schwarzem Eisen, die wie von Geisterhand bewegt aufschwang, als Drask eine Handbewegung machte. Dahinter begann ein knapp fünf Fuß hoher, unbeleuchteter Gang, der so schmal war, daß Skar beim Gehen die Wände rechts und links berührte. Trotz des kaum vorhandenen Lichtes sah er die handgroßen Öffnungen, die in regelmäßigen Abständen in der Decke und den Wänden gähnten. Zweifellos konnte der Stollen mit Wasser oder kochendem Öl geflutet werden, sollte es einem Angreifer gelingen, in ihn einzudringen. Und trotzdem...

»Ist dies der einzige Zugang zur Festung?« fragte er.

Drask nickte. »Von hier aus, ja. Es gibt noch einen anderen Weg, aber der ist beinahe noch besser geschützt. Die Quorrl werden sich etwas einfallen lassen müssen, wenn sie die Burg stürmen wollen.«

»Wer sagt dir, das sie das tun?«

Drask lachte leise. Es klang nicht sehr amüsiert, und der enge Gang verzerrte seine Stimme fast bis zur Unkenntlichkeit, machte ein schrilles, hohl widerhallendes Meckern daraus, das Skar einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. »Ich weiß es«, sagte er. »Sie ziehen ihre Krieger zusammen, Skar, nicht einmal hundert Meilen von hier. Sobald der Winter vorüber ist, werden sie kommen. Dieser Fluß ist das Tor nach Bayfour. Sie müssen ihn haben. Aber genug jetzt - wir haben später Zeit zum Reden. Komm.« Er ging schneller. Sie erreichten eine Treppe, die in engen Windungen wie ein Schneckenhaus in einem senkrechten Schacht nach oben führte und ganz aus Holz erbaut war, wohl, um sie im Notfall anzünden zu können, und dann standen sie plötzlich wieder im hellen Licht der Nachmittagssonne.

Skar blinzelte, um seinen noch an die Dunkelheit gewöhnten Augen Zeit zu geben, sich auf die ungewohnte Helligkeit umzustellen. Im ersten Moment sah er nichts als flache schwarze Schatten, aber sein Blick klärte sich überraschend schnell. Und was er sah, ließ ihn erstaunt den Atem anhalten.

Der Stollen mündete in der Flanke des Berges, aus dem die Festung zum Großteil herausgemeißelt worden war, so daß sie nicht auf dem Burghof, sondern auf einem schmalen Sims in halber Höhe der gigantischen Anlage herausgekommen waren. Skar konnte die Festung von hier aus zum allergrößten Teil überblicken - und es war wirklich eine Festung! Wenn er jemals ein Bauwerk gesehen hatte, das diesen Namen verdiente, dann das hier. Ihre Mauern waren sehr viel höher, als es von unten betrachtet ausgesehen hatte - Skar schätzte ihre niedrigste Stelle auf gute zweihundert Fuß, über die sich drei gigantische schwarze Türme noch einmal um gut das Dreifache erhoben. Nicht einmal Elay mit seinen jahrtausendealten Wehrmauern hatte ihm einen solchen Eindruck von Macht und Wehrhaftigkeit vermittelt. Und es war etwas Finsteres an dieser Burg, etwas, das nicht in Worte zu fassen war, das er aber überdeutlich spürte, wie einen unangenehmen Geruch, den er nicht definieren konnte. Er schauderte. »Wer... hat diese Festung erbaut?« fragte er stockend.

»Wir«, antwortete Drask. Wie Skar war er stehengeblieben, wenn auch nicht, um die Festung in Augenschein zu nehmen, sondern nur, um ihm die nötige Zeit zu geben, den Eindruck gebührend zu verarbeiten. Skar war plötzlich sicher, daß der Alte ihn aus keinem anderen Grund als diesem hier heraufgeführt hatte. »Gefällt dir, was du siehst?«

»Sie ist... gigantisch«, antwortete Skar mühsam.

»Ich weiß«, antwortete Drask. »Und trotzdem wird sie fallen, wenn kein Wunder geschieht.«

»Fallen?« Skar ächzte. »Nicht einmal die Quorrl -«

»- können diese Festung stürmen, ich weiß«, unterbrach ihn Drask. »Aber es sind auch nicht die Quorrl, die wir fürchten, Skar.« Er schwieg einen Moment, fuhr sich mit der Hand über das Kinn und sprach mit sehr leiser und irgendwie trauriger Stimme weiter. »Wären es nur die Quorrl, deren Angriff wir erwarten, so würde ich keinen Gedanken an sie verschwenden. Nicht eine Million Quorrl könnten diese Mauern erstürmen.« Skar hielt das für etwas übertrieben, aber er hatte das Gefühl, daß der Alte mit diesen Worten ohnehin nur auf etwas Bestimmtes hinarbeiten wollte, und so schwieg er.

»Es gibt eine Macht auf Enwor, der wir nicht gewachsen sind«, fuhr Drask nach einer Weile fort.

Skar sah ihn ernst an. »Und wer?«

Drask antwortete nicht direkt, sondern drehte sich halb um seine Achse, machte eine sonderbare, flatternde Bewegung mit der Hand und sah wieder zu Skar auf. »Sag mir, Skar«, begann er, »könntest du diese Mauern stürmen?«

»Ich?« Skar blinzelte verwirrt. »Aber-«

»Nicht du allein, natürlich«, unterbrach ihn Drask mit einem raschen, verzeihenden Lächeln. »Aber gesetzt den Fall, du stündest dort unten, in Orkala, an der Spitze eines Heeres aus Männern wie dir...«

»Satai?« echote Skar ungläubig.

»Satai«, bestätigte Drask ruhig. »Deine Brüder, Skar. Wir fürchten nicht die Quorrl. Sie sind dumm. Was wir fürchten, sind die Satai. Sie sammeln sich.«

»Aber das... das ist unmöglich!« widersprach Skar automatisch. »Das kann nicht sein! Nicht, wenn...«

»Wenn was?« fragte Drask scharf. »Warum sprichst du nicht weiter? Was fürchtest du, Skar? Die Wahrheit? Oder hast du nur Angst, plötzlich festzustellen, daß du auf der falschen Seite gestanden hast, bisher?«

Skar schwieg.

»Ist es so?« fuhr Drask fort. »Hast du dich getäuscht? Stehst du auf der falschen Seite?«

»Ich weiß ja nicht einmal, welche Seite die richtige ist«, murmelte Skar.

»Aber du hast darüber nachgedacht«, beharrte Drask. »Seit dem Abend, an dem du den Satai getötet hast, quält dich diese Frage.«

Es dauerte einen Moment, bis Skar die wahre Bedeutung von Drasks Worten begriff. Dann versteifte er sich. »Woher weißt du das?« fragte er scharf.

Drask lächelte. »Ich lese deine Gedanken, Satai«, sagte er ruhig.

»Du -« Skar brach mitten im Wort ab, starrte den Alten aus ungläubig geweiteten Augen an und wich ganz instinktiv zwei, drei Schritte von ihm zurück, bis sein Rücken gegen den rauhen Fels stieß. Seine Hand senkte sich auf den Schwertgriff.

Drask schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. »Tu es nicht, Skar«, sagte er. »Ich bin ein alter Mann und du ein Satai, und trotzdem könnte ich dich vernichten, mit einer einzigen Bewegung meiner Hand. Aber ich bin nicht dein Feind.«

»Wer... wer bist du?« stammelte Skar. Es fiel ihm schwer, auch nur zu sprechen. Der Alte las seine Gedanken! Er wußte... alles!

»Nicht alles«, korrigierte ihn Drask ruhig. »Nur manches. Nur das, was an der Oberfläche liegt. Und auch nur dann, wenn du dich nicht wehrst.« Er lächelte dünn. »Du siehst, ich vertraue dir, Skar.« Plötzlich wurde seine Stimme hart. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Satai«, fuhr er fort, mit vollkommen veränderter, fordernder Betonung. »Auf welcher Seite stehst du? Auf unserer? Oder auf der deiner Brüder?«

Skar hätte nicht einmal dann antworten können, wenn er es gewollt hätte. Er war verwirrt, durcheinander wie nie zuvor in seinem Leben, und gleichzeitig fühlte er ein tiefes, fast körperlich schmerzendes Entsetzen. Der Alte liest seine Gedanken! »Ich verstehe«, sagte Drask plötzlich. »Du bist verwirrt. Du traust mir nicht - und wie könntest du auch? Und du fürchtest mich. Aber das eine ist so unbegründet wie das andere, glaube mir. Ich stehe auf deiner Seite. Wenn du auf unserer stehst.«

»Was... was meinst du damit?« stammelte Skar. »Wieso -« Drask unterbrach ihn mit einer herrischen Geste. »Vielleicht verlange ich zuviel von dir, Skar«, sagte er. »Du bist verwirrt, und da ist so vieles, was du nicht weißt. Du sehnst dich nach dem Tod. Dabei ist es so wichtig, daß du lebst.«

»Unsinn«, widersprach Skar, aber wieder unterbrach ihn Drask mit einer raschen, befehlenden Bewegung.

»O doch«, behauptete er. »Du hast ihn berührt, Skar. Was die Gesichtslosen Prediger mit dir getan haben, war ein Stück davon. Du hast den großen Schlaf gespürt, und etwas in dir sehnt sich danach zurück.« Er lächelte. »Du weißt es nicht, und wüßtest du es, würdest du es nicht zugeben - aber du hast den Tod gesucht, als du losgeritten bist, um Trash zu stellen. So wie vorhin, als du Gorrn herausgefordert hast. Aber dieser Ausweg ist dir verwehrt. Es wäre Flucht, und du bist noch nie vor etwas davongelaufen. Außer vor dir selbst. Aber das ist etwas, was wir alle versuchen, irgendwann einmal. Niemandem ist es bisher gelungen. Auf welcher Seite wirst du stehen, Skar?«

Skar antwortete nicht. Er verstand nicht einmal, was der Alte meinte.

»Gut«, sagte Drask, der die Antwort offensichtlich in seinen Gedanken gelesen hatte. »Dann laß mich die Frage anders stellen - wüßtest du, daß du dich getäuscht hast, daß du in Wahrheit nicht hierher, sondern zu deinen Brüdern nach Orkala gehörtest, daß sie im Recht und wir die Feinde in diesem Krieg sind...« Sein Blick wurde lauernd. »Hättest du Enwass und Syrr trotzdem geholfen?«

»Natürlich«, antwortete Skar. »Sie -«

»Mehr wollte ich nicht wissen«, sagte Drask. Seine penetrante Art, Skar niemals zu Ende sprechen zu lassen, begann ihn zu reizen. Aber vielleicht war das ganz natürlich für jemanden, der die Antwort auf eine gestellte Frage immer schon kannte, ehe sie laut ausgesprochen werden konnte.

Drask lächelte, und Skar begriff, daß er auch diesen Gedanken gelesen hatte.

»Das ist wahr«, sagte Drask. »Aber keine Sorge - ich werde es nicht zu einer schlechten Angewohnheit werden lassen. Es ist mühsam, die Gedanken eines anderen zu lesen, und entwürdigend; für beide. Aber es war wichtig.«

»So?« fragte Skar mißtrauisch. »Warum?«

»Weil viel von deinen Antworten abhing, Skar«, erwiderte Drask. »Für dich, für mich - aber auch für uns alle. Vielleicht das Schicksal dieser Welt.«

Das Schicksal dieser Welt... Skar schauderte. Aus dem Munde jedes anderen hätten diese Worte lächerlich geklungen. So, wie Drask sie aussprach, ließen sie ihn plötzlich frieren. Und wie ein böses, höhnisches Echo auf die Worte Drasks hörte er noch einmal, was Trash gesagt hatte, als er starb: Sie sind wieder da, Skar! Sein Blick löste sich von Skars Gesicht, glitt über die zyklopischen Mauern der Festung, über die Türme und Wehrgänge, die winzigen Gestalten der Posten, die hoch über dem Fluß patrouillierten, die Berge auf der anderen Seite des tosenden Wasserstromes und schließlich in den Himmel hinauf. Und plötzlich begriff er, daß er länger geschlafen hatte, als er bisher auch nur ahnte. Viel, viel länger.

»Was ist hier geschehen?« flüsterte er.

»Sie sind zurückgekehrt, Skar«, sagte Drask leise. »Die Götter, die diese Welt einst beherrschten, sind zurückgekehrt. Und sie wollen wiederhaben, was ihnen einmal gehörte.«

»Zurück?« murmelte Skar. Ein eisiger, ungläubiger Schrecken griff wie eine Klaue aus Glas nach seinem Herzen. Drasks Worte hätten ihn nicht so erschrecken dürfen; nicht einmal überraschen. Aber sie taten es.

Drask nickte ernst. »Folge mir«, sagte er. »Ich werde dir alles erzählen.«

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