11.

Skar folgte dem brennenden Floß in mehreren hundert Metern Abstand; nahe genug, um es nicht aus den Augen zu verlieren, aber auch weit genug, nicht sofort gesehen zu werden, denn selbst wenn die Quorrl Wachen längs des Flusses aufgestellt hatten, würde das falsche Floß sie ablenken. Vielleicht lange genug für Skar, sich ihres Spähers anzunehmen.

Er erschrak ein wenig, als ihm die Kälte dieses Gedankenganges zu Bewußtsein kam. Es hatte einmal einen Skar gegeben - und es war nicht einmal sehr lange her! - der nicht so gedacht hätte, dem Leben heilig war, auch das Leben eines Quorrl. Irgend etwas war mit ihm geschehen, während seines endlos langen Schlafes im Tempel der Gesichtslosen Prediger. Er würde herausfinden, was.

Aber bis dahin hatte er noch ein paar andere Dinge zu erledigen. Die Kleinigkeit, am Leben zu bleiben, zum Beispiel.

Er ritt rascher, als der rote Glutpunkt vor ihm zusammenzuschrumpfen begann. Die Strömung mußte an dieser Stelle schneller sein, was dafür sprach, daß der Fluß entweder schmaler oder seichter oder auch beides wurde, und das wiederum wäre genau der Ort, den er für einen Hinterhalt aussuchen würde, wäre er an Trashs Stelle.

Und er sollte recht behalten: Skar war erst wenige Minuten in schärferem Tempo geritten, als er den Schatten vor sich sah, noch sehr weit und gegen den blaugrauen Nachthimmel kaum zu erkennen - den Schatten eines gewaltigen Reiters, der reglos auf dem Rücken eines kaum weniger monströsen Schlachtrosses hockte und auf den Fluß hinabsah.

Skar zügelte sein Pferd, sah sich rasch nach beiden Seiten um und ritt noch ein wenig weiter vom Flußufer weg. Der Quorrl war geschickt. So, wie er stand, mußte er vom Fluß aus vollkommen unsichtbar sein. Selbst Skar, der aus der entgegengesetzten Richtung kam, hätte ihn um ein Haar nicht gesehen, obwohl er ganz genau wußte, wonach er zu suchen hatte. Der Quorrl war nur ein tief schwarzer Schatten vor einem nicht ganz so schwarzen Hintergrund; gerade noch zu erkennen, wenn man wußte, daß er da war. Sonst nicht.

Der Anblick ließ ihn ein wenig neue Hoffnung schöpfen. Bisher war alles so gekommen, wie er vermutet hatte - Trash hatte vor, dem Floß an einer seichten Stelle aufzulauern, und er hatte einen Späher zurückgelassen, der die Quorrl-Krieger frühzeitig warnen würde, wenn ihr Wild auftauchte.

Aber das bedeutete nun nicht automatisch, daß auch der Rest seines Planes aufgehen mußte...

Skar löste die Hand vom Schwert, ließ das Pferd wieder antraben und näherte sich dem Späher in einem weiten Bogen, fast aus der entgegengesetzten Richtung, der seine Aufmerksamkeit galt. Trotzdem bemerkte ihn der Quorrl.

Die Hufschläge seines Pferdes erzeugten auf der dünnen Schneedecke kaum einen Laut, und auch Skar selbst bemühte sich, so still wie möglich zu sein - aber entweder hatte er verlernt, wie man sich anschlich, oder der Quorrl hatte weit schärfere Sinne, als er gehofft hatte - das riesige Schuppenwesen fuhr mit einem erschrockenen Laut im Sattel herum, als Skar noch zehn Schritte von ihm entfernt war. Metall blitzte, als seine Klaue zum Gürtel fuhr und ein gewaltiges Schwert hervorzerrte.

Skar ließ ihm keine Chance. Er versuchte nicht, den Quorrl mit dem Schwert anzugreifen, sondern sprengte los, kaum daß der Quorrl seine Drehung halb vollendet hatte, riß den Speer aus dem Sattelgurt und schleuderte ihn, aus kürzester Entfernung und mit aller Kraft. Die Waffe traf den schützend hochgerissenen Arm des Quorrl, durchbohrte ihn, drang knirschend durch den Brustpanzer des Wesens und schleuderte es aus dem Sattel. Der Quorrl starb ohne einen Laut.

Aber sein Pferd bäumte sich auf, stieß ein schrilles, panikerfülltes Kreischen aus und stob mit wehender Mähne davon. Skar fluchte, zerrte den Dolch aus dem Gürtel und riß den Arm in die Höhe - aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Das Pferd war schon zu weit, für einen sicheren Wurf, und wenn er es nur verletzte, würde es schreien und damit die Aufmerksamkeit der anderen Quorrl erst recht wecken - wenn das nicht ohnehin schon geschehen war.

Tief über den Hals seines Pferdes gebeugt jagte Skar los. Er wußte, daß er kaum eine Chance hatte, das flüchtende Tier einzuholen: Es wurde nicht durch einen Reiter behindert und war außerdem größerund um etliches kräftiger als sein eigenes Pferd. Aber wenn er es schon nicht aufhalten konnte, wollte er ihm wenigstens so dichtauf folgen, wie es nur ging. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.

Er verlor das Tier schon nach wenigen Momenten aus den Augen, denn seine schwarze Farbe ließ es mit der Nacht verschmelzen, und es war zudem sehr viel schneller, als er gehofft hatte. Aber seine Spur war auf dem frischgefallenen Schnee neben dem Fluß nicht zu übersehen, und Skar hoffte, daß seine Panik abklingen und es sich beruhigen wurde, ehe es Trashs Lager erreichte.

Sein Blick suchte das brennende Floß, das ein Stück unter und neben ihm dahintneb. Das Ufer war an dieser Stelle sehr steil, so daß er sich fast zehn Meter über dem Fluß dahinbewegte, und er ritt so schnell, daß er das Floß schon jetzt beinahe überholt hatte - wenn er sich täuschte und Trash den Späher in größerem Abstand zurückgelassen hatte, als er glaubte, dann war ihr ganzer sorgsam ausgeklügelter Plan beim Teufel - und Enwass und seine Leute, die dem kleinen Feuerfloß in zehn Minuten Abstand folgten, ruderten in den Tod.

Skars Plan war so einfach wie gefährlich; die Quorrl sollten das brennende Floß sehen und es für das von Enwass und seiner Familie halten; im ersten Moment, wenn sie den Betrug entdeckten, würde Skar sich ihnen zeigen und sie vom Fluß fortlocken, woraufhin Enwass und seine Familie den Hinterhalt ungefährdet passieren konnten, denn die Quorrl würden mit Sicherheit annehmen, daß das Floß zur Ablenkung gedacht war, während ihre Opfer in aller Seelenruhe auf dem Landweg an ihnen vorübereilten - ein doppelter Betrug, der (so hoffte Skar wenigstens) die geistige Kapazität eines Quorrl hoffungslos überforderte. Und das alles wurde jetzt vielleicht von einem durchgehenden Pferd zunichte gemacht!

Skar spornte sein Pferd rücksichtslos an, aber das Tier war am Ende seiner Kräfte. Obwohl es wie von Sinnen ausgriff, wurde es nicht merklich schneller, drohte dafür aber auf dem unsicheren Grund den Halt zu verlieren, so daß Skar sein Tempo wieder zurücknehmen mußte.

Trotzdem stürzte er.

Es ging so schnell, daß er machtlos dagegen war, obwohl er das Unglück kommen sah: Das Pferd trat in eine Bodenspalte, die unter dem Schnee verborgen gewesen war, sank mit den Vorderläufen ein und versuchte mit einer verzweifelten Kraftanstrengung wieder hochzukommen; mit dem Ergebnis, daß es vollends aus dem Takt geriet und schwerfällig in den Schnee stürzte. Skar hatte keine andere Wahl, als sich aus dem Sattel fallen zu lassen, wollte er nicht Gefahr laufen, unter dem zusammenbrechenden Tier begraben zu werden.

Der weiche Schnee dämpfte seinen Aufprall. Ganz instinktiv rollte er über die Schulter ab, wartete auf den stechenden Schmerz in seinem verletzten Bein und registrierte verwundert, daß er nicht kam, dann war er wieder auf den Füßen, fand mit einem torkelnden Schritt sein Gleichgewicht wieder und fuhr herum, die rechte Hand griffbereit am Schwert.

Er war noch immer allein. Wenige Schritte von ihm entfernt versuchte sein Pferd - benommen, aber offensichtlich ebenso unverletzt wie er -, wieder auf die Beine zu kommen, und zehn Meter unter ihm trieb das brennende Floß dahin. Von den Quorrl war noch keine Spur zu sehen.

Skars Schrecken wich einer Mischung aus Erleichterung und Ärger. Er nahm die Hand vom Schwert, schlug seinen Mantel zurück und stapfte durch den knietiefen Schnee auf das Pferd zu. Das Tier scheute, als er die Hand nach den Zügeln ausstreckte; Skar verlor die Balance, fiel ein zweites Mal auf Hände und Knie herab und schluckte einen Fluch herunter. Wenn Trash ihn jetzt sah, dachte er wütend, dann würde er sich wahrscheinlich totlachen.

Ärgerlich stand er auf, streckte erneut die Hand aus und näherte sich dem Pferd sehr viel vorsichtiger als beim ersten Mal. Das Tier scheute noch immer, wich mit kleinen tänzelnden Schritten vor ihm zurück und versuchte sogar nach ihm zu beißen. Skar unterdrückte die jähzornige Wut, die in ihm aufflammte, blieb stehen und begann mit leiser, sehr ruhiger Stimme auf das Pferd einzureden.

Es dauerte Minuten, bis er sich ihm so weit genähert hatte, daß er die Zügel ergreifen konnte; und dann noch einmal endlose Sekunden, bis er das scheuende Tier wieder unter Kontrolle hatte. Seine Chancen, das entkommene Pferd des Quorrl jetzt noch einzuholen, waren praktisch gleich null.

Besorgt sah er zum Fluß hinab. Das brennende Floß war fast schon außer Sicht - nur noch ein flackernder Glutpunkt, eine halbe Meile flußabwärts. Jeden Augenblick mußte das richtige Floß mit Enwass und seiner Familie auf dem Wasser auftauchen ...

Skar riß sein Tier herum, gab ihm die Sporen und jagte weiter, nicht mehr ganz so schnell wie bisher, aber auch nicht sehr viel langsamer. Und nicht sehr weit.

Er war noch nicht einmal hundert Schritte weit gekommen, als er das Pferd sah.

Es war das Tier des Quorrl, ein riesiges, schwarzes Ungeheuer von Pferd, und es war ganz eindeutig tot.

Eine eisige Hand schien Skar zu berühren, als er das Tier sah. Das Pferd lag auf der Seite, Kopf und Vorderläufe in unnatürlichem Winkel abgespreizt, und der Schnee unter ihm war dunkel von erst halb geronnenem Blut. Es mußte gestürzt sein, gestrauchelt und auf einen Stein gestürzt, der unter dem Schnee verborgen gewesen war, und an dem es sich den Schädel eingeschlagen hatte.

Aber das war vollkommen unmöglich! dachte Skar entsetzt. Sicher, auch er war gestürzt, aber ein Zufall wie dieser war... war ausgeschlossen.

Aber wenn es kein Zufall gewesen war - was dann?

Verwirrt, und mit einem Gefühl noch unterdrückten, aber stärker werdenden Schreckens, schwang sich Skar aus dem Sattel, ging steifbeinig zu dem verendeten Pferd und ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. Seine Hand zitterte leicht, als er sie nach dem toten Tier ausstreckte.

Sein Fell war noch warm, und das Blut noch nicht einmal geronnen, und jetzt, als er ihm ganz nahe war, sah Skar, daß es nicht an den Folgen des Sturzes gestorben war. Seine Beine und sein Genick waren zweifellos gebrochen, aber es war schon vorher tot gewesen.

Die rechte, halb im Schnee begrabene Seite seines massigen Pferdegesichtes war eine einzige Masse aus blutendem Fleisch und zertrümmerten Knochen. Irgend etwas hatte ihm den Schädel eingeschlagen, mit einem einzigen, so gewaltigen Hieb, daß sich etwas in Skar zusammenzog, als er sich das Wesen vorzustellen versuchte, das so etwas zu tun in der Lage war.

Skar fror plötzlich. Mit einer abgehackten, fast unkontrollierten Bewegung fuhr er hoch und herum, zog seine Waffe und starrte in die Dunkelheit hinaus.

War sie nicht irgendwie... massiver geworden, nicht mehr die bloße Abwesenheit von Licht, sondern das Dasein von etwas anderem, Finsteren, Bedrohlichen? Und bewegten sich die Schatten nicht? Skar hatte das Gefühl, irgend etwas kriechen zu sehen, ein schlängelndes schwarzes Ding aus Horn oder Eisen, klein und böse und lauernd...

Aber da war nichts. Und nach ein paar Sekunden gewann auch Skars gewohnt präzise Art zu denken wieder die Oberhand. In Gedanken schalt er sich einen Narren, sich von ein paar Schatten und einem toten Pferd Angst einjagen zu lassen. Es war absolut nichts Außergewöhnliches oder gar Unheimliches an dem, was er erlebte. Die Dunkelheit um ihn herum war Dunkelheit, sonst rein gar nichts, und die Schatten, die er zu sehen glaubte, entsprangen seiner eigenen, überreizten Phantasie. Das Pferd war gestolpert, ganz genauso wie sein eigenes Tier, aber es hatte das Pech gehabt, weniger glücklich zu fallen und sich den Schädel an einem Stein einzuschlagen, der unter dem Schnee verborgen gewesen war, basta. Wäre es ein Raubtier gewesen, das den Rappen getötet hatte, hätte er es sehen und hören müssen. Zumindest hören.

Das war die eine, logische Erklärung. Es gab noch eine andere, aber diesen Gedanken weigerte sich Skar auch nur zu Ende zu denken.

Zornig über sich selbst schüttelte er den Kopf, ging zu seinem Pferd zurück und lenkte es in respektvollem Bogen um den Kadaver des toten Tieres herum, ehe er weiterritt.

Er ritt jetzt sehr viel vorsichtiger, und wie sich zeigte, war diese Vorsicht durchaus angebracht, denn nur wenige Minuten später sah er den zweiten Wächter.

Es war ein Quorrl, wie der erste Späher, den Trash zurückgelassen hatte, und wie er saß er im Sattel eines gewaltigen Schlachtrossen und blickte auf den Fluß hinab, machte sich jedoch nicht einmal mehr die Mühe, in Deckung zu bleiben - für Skar ein deutlicher Beweis, daß die Hauptmacht der Quorrl nun nicht mehr weit sein konnte, wenn Trashs Krieger so offensichtlich keinen Wert mehr darauf legten, unentdeckt zu bleiben. Ganz im Gegenteil hatte er fast das Gefühl, daß der Quorrl gesehen werden wollte: Reiter und Pferd hoben sich deutlich gegen den Nachthimmel ab; zwei mißgestaltete, riesenhafte Schatten, die drohend über den Fluß hinausragten, nahe, aber sicherlich nicht durch Zufall auch wieder gerade weit genug entfernt, daß ein vom Fluß aus abgeschossener Pfeil wenig Aussichten hatte, sie zu treffen.

Diesmal verzichtete Skar darauf, den Quorrl offen anzugreifen. Er hörte noch immer nichts außer dem Wispern der Windböen und dem Rauschen des Flusses, aber er war sehr sicher, daß Trash und die anderen Quorrl ganz in der Nähe waren, und sein Glück noch einmal auf die Probe zu stellen, hieße das Schicksal herauszufordern. Skar verspürte keine besondere Lust, die Grenzen des Kredites auszuloten, den ihm die Götter eingeräumt zu haben schienen.

Er hielt an, schwang sich behutsam aus dem Sattel und streichelte den Hals seines Pferdes, damit das Tier kein verräterisches Schnauben von sich gab. Gebannt blickte er zu den Schatten des Quorrl und seines gewaltigen Reittieres hinüber, die sich jetzt deutlich vor dem Hintergrund der Wolken abhoben.

Der Quorrl wiederum starrte offensichtlich konzentriert auf den Fluß hinunter, auf dem das brennende Floß immer näher kam. Skar versuchte in Gedanken die Zeit abzuschätzen, die es noch brauchen würde, ehe es nahe genug war, den Quorrl den Betrug erkennen zu lassen. Mit etwas Glück konnte er den Posten bis dahin erreichen.

Geduckt schlich er los, das Tschekal halb unter dem Mantel verborgen, damit sich kein verräterischer Lichtstrahl auf der Klinge brach, den Dolch wurfbereit in der Linken. Sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, während er sich dem Quorrl näherte, jederzeit darauf gefaßt, daß das riesige Wesen sich im Sattel herumdrehte und einen gellenden Warnruf ausstieß.

Aber er hatte abermals Glück. Der Quorrl rührte sich nicht, sondern starrte unverwandt auf den Fluß hinab, selbst als Skar sich ihm bis auf drei, vier Schritte genähert hatte. Hätte sein Pferd nicht dann und wann den Schweif bewegt oder mit den Ohren gezuckt, hätte man die beiden für lebensgroße finstere Statuen halten können.

Skar blieb stehen, starrte den Quorrl mit einer Mischung aus Erstaunen und Mißtrauen an und hob den Dolch.

Ein schneller Wurf, und...

Er konnte es nicht.

Etwas in ihm sträubte sich gegen den Gedanken, dem Quorrl die Klinge in den Rücken zu werfen. Da war noch eine andere Stimme, die ihm zuflüsterte, daß er sich wie ein Narr benahm und der Quorrl umgekehrt keine Sekunde gezögert hätte, ihn hinterrücks auszuschalten. Aber es ging nicht.

Skar trat einen weiteren Schritt auf den Quorrl zu, hob den Dolch noch ein wenig höher und zog gleichzeitig das Tschekal unter dem Mantel hervor.

»Heda!« sagte er leise.

Der Quorrl rührte sich nicht.

Skars Sinne waren mit einem Male bis zum Zerreißen gespannt. Es war unmöglich, daß der Quorrl ihn nicht gehört haben sollte. Er hatte leise gesprochen, aber in der Nacht war jeder Laut doppelt weit zu hören, und er war dem Quorrl bis fast auf Armeslänge nahegekommen.

Eine Falle! dachte er. Es war eine Falle! Eine Falle, oder... Dann sah er die dunklen Flecken, zu denen sich der Schnee unter dem Pferd zusammengeklumpt hatte. Den breiten, glitzernden Strom, der die Flanke des Tieres besudelte, an seinem Bauch entlanglief und zäh zu Boden tropfte, spürte den süßlichen Blutgeruch.

Und plötzlich fiel ihm die Haltung auf, in der der Quorrl auf dem Pferd hockte: unnatürlich verkrampft und nach vorne gebeugt, die mächtigen Pranken auf dem muskulösen Pferdehals abgestützt, um sein Körpergewicht zu halten, den Kopf, der fast zur Gänze unter einem mächtigen Lederhelm verborgen war, zur Seite geneigt, als müsse er sein Gewicht mit der Schulter stützen.

Er mußte es. Hätte er es nicht getan, wäre sein Kopf vermutlich heruntergefallen, denn irgend jemand hatte dem Quorrl die Kehle durchgeschnitten, so tief, daß er ihn dabei fast geköpft hatte. Und als wäre dies allein noch nicht genug, hatte der gleiche Jemand sein Gesicht und einen Teil seiner Brust zerfetzt. Der Quorrl mußte auf der Stelle tot gewesen sein, so schnell, daß er nicht einmal Zeit gefunden hatte, eine erschrockene Bewegung zu machen, die sein Pferd aufscheuchen konnte. Und es konnte erst Augenblicke her sein, denn die entsetzlichen Wunden bluteten noch.

Was immer ihn getötet hatte, war noch in der Nähe!

Skars Herz kam mit einem schmerzhaften Ruck aus dem Takt und schlug ungleichmäßig und so heftig weiter, daß er glaubte, sein dumpfes Pochen müsse noch in hundert Schritt Entfernung zu hören sein. Er fuhr herum, hob sein Schwert und starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Der Schnee breitete sich glatt und unberührt auf dem Ufer aus, sah man von seinen eigenen und den Spuren des Quorrl ab. Keine Spuren, dachte Skar hysterisch. Keine Spuren. Was den Quorrl umgebracht hatte, hatte keine Spuren hinterlassen!

Und plötzlich war er sicher, eine Bewegung in der Dunkelheit zu erkennen. Irgend etwas, das zugleich klein wie gewaltig, zugleich unsichtbar wie unübersehbar war, umschlich ihn. Etwas, das...

Skar begriff, daß er dicht davor war, wirklich in Panik zu geraten. Mit aller Macht zwang er sich zur Ruhe, kämpfte die aufkeimende Panik nieder und konzentrierte sich, bis es ihm gelang, sein Herz wieder in den gewohnten Rhythmus zu zwingen, seinen Atem zu beruhigen und das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Es gab eine Erklärung, dachte er. Es mußte eine natürliche Erklärung geben - er wußte nicht welche, und er wagte sich nicht einmal vorzustellen, wie ein Wesen aussehen mochte, daß so etwas anrichten konnte, ohne einen Laut zu verursachen oder auch nur die mindeste Spur zu hinterlassen, aber es würde eine Erklärung geben, auch wenn er sie nicht fand. Es war nicht das erste Mal, daß er sich Dingen gegenübersah, die andere mit dem Wort Zauberei bedacht hätten. Es wurde eine Erklärung geben. Keine Spuren.

Auf der anderen Seite des Hügels erscholl eine gellender Schrei, so hoch und schrill und spitz, so unmenschlich, so sehr voller Qual und unsagbarem Grauen, daß Skar für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte.

Das Pferd neben ihm scheute. Der tote Quorrl kam aus dem Gleichgewicht, rutschte mit einem widerwärtig weichen Laut über den Pferdehals und fiel wie eine stürzender Fels zu Boden. Skar sprang im letzten Moment zur Seite; trotzdem streifte ihn einer der lose pendelnden Arme des Kolosses und schleuderte ihn zu Boden.

Als er sich aus dem lockeren Schnee hochstemmte, war der Schrei verstummt. Dafür hörte er jetzt andere, auf schreckliche Weise vertrautere Geräusche: Schreie, das Trappeln hastiger Schritte, das schrille Wiehern von Pferden, das dumpfe Krachen von Stahl, der auf Widerstand schlug - Kampflärm!

Skar sprang vollends auf, streifte noch in der gleichen Bewegung seinen Mantel ab und hetzte mit fünf, sechs weit ausgreifenden Schritten über die Hügelkuppe, wobei er bei jedem Schritt bis fast über die Knie im Schnee einsank, so daß er trotzdem nicht nennenswert schneller von der Stelle kam.

Dann lag das Lager der Quorrl unter ihm. Und Skar blieb abermals stehen.

Der Lärm hatte ihm verraten, daß die Quorrl kämpften, und er hatte ihm noch mehr verraten - nämlich daß es auf keinen Fall Enwass und seine Leute waren, die vielleicht auf unbegreifliche Weise an ihm vorbeigerudert sein mochten und über die Quorrl herfielen, sondern ein Feind, der den Fischgesichtern ebenbürtig sein mußte.

Aber er hatte ihn nicht auf das vorbereitet, was er nun wirklich sah: Es mußten an die zwei Dutzend Quorrl sein, die Trash gefolgt waren, um ihm und den Flüchtlingen aufzulauern, aber die Hälfte von ihnen war tot oder lag im Sterben, und der Rest befand sich auf einer verzweifelten Flucht - ein paar versuchten die Pferde zu erreichen, die ein Stück weit nördlich angebunden waren, zwei oder drei waren auf das Eis des Flusses hinausgewichen, und einer stürmte in direkter Linie auf Skar zu, den Hügel hinauf.

Etwas verfolgte ihn.

Skar konnte nicht genau erkennen, was es war, aber es schien ihm zu klein und zu schnell für einen Menschen, und es löste - obwohl er nicht einmal genau erkennen konnte, was es war - ein entsetzliches Gefühl des Wiedererkennens in Skar aus. Es war - Er sah die Bewegung aus den Augenwinkeln und ließ sich instinktiv fallen, und dieser blinde Reflex rettete ihm das Leben. Trashs Axt fuhr mit einem saugenden Geräusch in den Schnee, ganz genau dort, wo er vor einer halben Sekunde noch gestanden hatte, kam mit einer ungeheuer schnellen, kraftvollen Drehung wieder hoch und zischte nun waagrecht durch die Luft, genau in der Höhe, in der sich sein Kopf befunden hätte, hätte er versucht, aufzustehen.

Aber Skar versuchte es nicht. Statt dessen rollte er sich herum, zog die Knie an den Leib und stieß dem Quorrl beide Füße gegen die Knie. Er legte alle Kraft in diesen Stoß, und sein kaum verheiltes Fußgelenk quittierte diese Bewegung mit wütenden Schmerzen. Trotzdem reichte der Tritt nicht, den Giganten zu Boden zu schleudern, oder ihm auch nur wirklich weh zu tun. Aber Trash strauchelte. Sein nächster Axthieb verfehlte Skar abermals, und als er die Waffe diesmal wieder hochbekam, war Skar bereits auf den Füßen und zwei, drei Schritte zurückgewichen.

»Du!« brüllte Trash mit vor Wut überschnappender Stimme. »Du hast sie geholt! Du!«

Skar sprang blitzschnell zurück, als der Quorrl abermals seine gewaltige Waffe schwang. Er versuchte den Hieb mit dem Tschekal zu parieren, aber er traf nicht richtig - die Klinge prallte mit der Breitseite gegen Trashs Waffe; statt ihren Stiel zu zerschneiden, wurde das Schwert Skar fast aus der Hand geprellt. Er strauchelte, wich ungeschickt zwei, drei Schritte weiter vor dem Quorrl zurück und spürte plötzlich keinen Widerstand mehr: Er hatte die Böschung erreicht. Hinter ihm war jetzt nichts mehr als ein zehn Meter tiefer Abgrund, und darunter das beinharte Eis des Flusses.

Trash schrie triumphierend auf, als er sah, daß er sein Opfer in der Falle hatte, schwang seine Waffe und stürmte brüllend heran. Skar spannte sich, um den erwarteten Anprall so gut wie möglich aufzufangen.

Er kam nicht.

Wieder konnte Skar nicht wirklich erkennen, was geschah: Es war, als wäre da plötzlich ein unsichtbarer Vorhang, ein Schleier aus Schwärze, der verhinderte, daß er wirklich etwas erkannte. Vielleicht ging es auch einfach nur zu schnell - aber mit einem Male war etwas da, das vorher noch nicht dagewesen war, etwas Kleines und Schwarzes, von der Dunkelheit hinter dem Quorrl ausgespien wie ein böser Spuk, eine glitzernde, insektoide Scheußlichkeit, nicht viel größer als ein Kind, aber mit den Kräften eines Giganten, das Trash ansprang und herumriß. Eine hornige Kralle blitzte, und mit einem Male wurde aus Trashs Wutgebrüll ein gellender Schmerzensschrei. Der Quorrl taumelte, stolperte ungeschickt zwei, drei Schritte rücklings den Hang hinab und fiel auf die Knie. Sein Arm, der die Axt gehalten hatte, war nur noch ein blutender Stumpf, von der entsetzlichen Klaue dicht unterhalb des Ellbogengelenks abgerissen. Dunkles Quorrl-Blut sprudelte in den Schnee. Trash schrie. Das schwarze Etwas folgte ihm.

Und dann erkannte Skar, was es war...

Irgend etwas in ihm schien zu zerbrechen, als er das kleine, schwarzglitzernde Ding sah, für einen endlosen Moment so deutlich, als stünde es im hellen Sonnenlicht: ein schwarzes namenloses Etwas, augenlos und klein, ein Ding, das nicht lebte, aber tötete, und zu keinem anderen Zweck erschaffen war: der Daij-Djan.

Skar schrie gellend auf, riß sein Schwert in die Höhe und sprang. Es war nicht mehr sein bewußtes Denken, das die Bewegung lenkte, nicht einmal mehr seine Satai-Reflexe, sondern ein Instinkt, ein Etwas, das so alt wie die menschliche Rasse, vielleicht das Leben an sich war: das absolute Wissen, dem Erzfeind gegenüberzustehen, dem unerbittlichen Feind allen Lebens, allem, was dachte und fühlte. Vielleicht dem Bösen an sich. Mit einem einzigen Satz war er bei dem Gestürzten und der schwarzen Spottgeburt, prallte auf, federte hoch und herum und trat zu, mit der ganzen, ungeheuren Wucht seines Sprunges. Es war, als hätte er gegen Stahl getreten.

Ein entsetzlicher Schmerz schoß durch seinen verletzten Fuß, aber es war nicht nur die bloße Kraft seines Trittes, es war die Berührung selbst, die ihm Schmerzen und Qual bereitete, flammende Linien aus Pein durch seinen Körper jagte und zugleich etwas in seiner Seele zu verbrennen schien.

Der Daij-Djan wankte nicht einmal.

Aber er fuhr herum, mit einer so ungeheuer schnellen, kraftvollen Drehung, daß Skar die Bewegung nicht einmal sah. Seine schreckliche Insektenklaue zuckte hoch, zum Schlag gekrümmt, eine siebenzinkige Forke, die ihn zerfetzen mußte.

Dann erstarrte er.

Das Ungeheuer blickte ihn an, und Skar spürte genau, daß es ihn erkannte, obwohl es weder Augen noch sonstige Sinnesorgane hatte, bloß einen schwarzen, unbeschreiblich häßlichen Schädel, glatt und schimmernd wie polierter Stahl und so häßlich, daß sein bloßer Anblick Skar fast in den Wahnsinn trieb. Mit einem schrillen Entsetzensschrei schlug er zu.

Der Daij-Djan machte nicht einmal den Versuch, dem Hieb auszuweichen.

Das Tschekal prallte von seinem Schädel ab.

Die Götterklinge, die Stahl und Felsen zerschneiden konnte, versagte. Das sagenhafte Schwert der Satai, geschmiedet aus Sternenstahl und Symbol ihrer Macht, prallte vom Schädel dieses so zerbrechlich aussehenden Wesens ab.

Aber der Schlag war heftig genug, Skar das Schwert aus den Händen zu prellen. Er taumelte, fiel zwei Schritte vor dem Ungeheuer auf die Knie und riß instinktiv die Arme über den Kopf. Der Daij-Djan rührte sich nicht. Er stand einfach da, eine einzige, endlose Sekunde lang, starrte ihn aus seinem schrecklichen gesichtslosen Schädel heraus an - und dann begann er zu sprechen. Wie die Male zuvor - auf der Eisinsel des Dronte, aber auch in seinem entsetzlichen Traum, von dem er nun gar nicht mehr so sicher war, daß es wirklich nur ein Traum gewesen war - erklang seine Stimme direkt in Skars Kopf, ein entsetzliches, nachhallendes Hecheln und Wispern, das trotzdem von zermürbender Kraft war: BALD, SATAI, flüsterte die entsetzliche Stimme. BALD. Skar krümmte sich wie unter einem Hieb. Allein der Klang dieser fürchterlichen Stimme schien irgend etwas in ihm zu verbrennen, einen Teil seines Menschseins zu versengen. Er hatte das Gefühl, besudelt zu sein, als hätte ihn die bloße Berührung dieses entsetzlichen Geistes eines Teiles seiner Menschlichkeit beraubt.

BALD!

Damit verstummte die Stimme.

Skar blieb noch sekundenlang hocken, zusammengekrümmt, wimmernd vor Furcht und Entsetzen, kein Satai mehr, nicht einmal mehr ein Mensch, sondern nur noch ein wimmerndes Bündel aus Angst und kreatürlicher Furcht.

Als er es endlich wagte, die Hände herunterzunehmen und die Augen zu öffnen, war der Daij-Djan verschwunden. Der Kampflärm unten am Fluß war verstummt, und mit einem Male fiel Skar die Stille auf, die sich über das Ufer ausgebreitet hatte, eine entsetzliche, angstmachende Stille, wie sie nur der Tod hinterließ.

Sein Blick tastete den schneebedeckten Hang hinunter.

Der Kampf war vorüber. Die Quorrl, die das Gemetzel überstanden hatten, waren fort, alle anderen tot, ein Dutzend dunkler, verkrümmt daliegender Bündel, unter denen sich der Schnee dunkel zu färben begann, zu weit entfernt, um ihn Einzelheiten erkennen zu lassen. Aber Skar dachte an das verstümmelte Pferd, das er gefunden hatte, und den toten Wächter hier oben, und er wußte, was er sehen würde, wenn er hinunterging. Ihm wurde übel; zum Teil vor Anstrengung, zu einem Teil sicher auch vor Furcht, zum allergrößten aber vor purem Entsetzen. Tod und Töten waren sein Geschäft, aber der Daij-Djan war...

Ein leises, unendlich schmerzhaftes Stöhnen drang in seine Gedanken. Skar sah erschrocken auf, erblickte ein weiteres, blutendes Bündel nur zwei Schritte vor sich im Schnee und registrierte entsetzt, daß in Trashs geschändetem Körper noch Leben war.

Er kroch los. Sein Herz hämmerte zum Zerspringen, und seine Arme schienen kaum die Kraft zu haben, das Gewicht seines Körpers zu tragen. Es war nicht die Anstrengung des Kampfes. Der Daij-Djan hatte ihn all seiner Energie beraubt, einfach, indem er ihn berührt hatte, und er hatte etwas anderes, Finsteres dafür in ihm hinterlassen, etwas, das weiter in ihm fraß und bohrte.

Mit letzter Kraft erreichte er den Quorrl, fiel neben ihm in den Schnee und hob die Hand, um ihn zu berühren. Als er Trashs Gesicht sah, zuckten seine Finger zurück. Es gab nichts mehr, was er noch für den Quorrl tun konnte. Er würde ihm nur unnötige Qualen bereiten, versuchte er, ihm zu helfen.

Aber trotz seiner entsetzlichen Verletzungen war der Quorrl noch immer bei Bewußtsein. Und er schien Skars Nähe zu spüren, denn er drehte den Kopf, wandte sein zermalmtes Gesicht in die Richtung, in der er Skar fühlte, und versuchte die Hand zu heben. Sein verstümmelter Arm zuckte wie eine blutende Schlange im Schnee.

»Bist... du das, Satai... ?« krächzte er. Seine Stimme war kaum mehr zu verstehen. Es hörte sich an, dachte Skar schaudernd, als liefe sein Hals langsam voller Blut.

»Ja«, antwortete er.

»Du hast... mich besiegt, Satai«, fuhr der Quorrl stöhnend fort. Seine gesunde Hand kam hoch, tastete blind durch den Schnee und fand die Skars. Ihre Berührung war unangenehm, kalt wie die einer Schlange und so kraftvoll, daß sie weh tat. Trotzdem zog Skar die Hand nicht zurück. Auch nicht, als Trashs Finger an seinem Arm emporkrochen und nach seiner Schulter tasteten.

»Du hast... mich besiegt«, wiederholte Trash würgend. »Und alle... alle meine Männer. Jetzt... sei gnädig.« Er lachte voller Qual. »Du kannst es dir leisten. Töte... mich. Laß mich... nicht leiden.« Seine Hand tastete nach Skars Hals, legte sich um seine Kehle. Es wäre dem Quorrl ein Leichtes gewesen, zuzudrücken und Skar zu töten, selbst jetzt noch, aber aus irgendeinem Grund wußte Skar mit unerschütterlicher Sicherheit, daß Trash es nicht tun würde.

Er nickte, obwohl er wußte, daß der Quorrl die Bewegung nicht mehr sehen konnte, beugte sich vor und hob sein Schwert auf. Die Klinge glitzerte wie eine stählerne Schlange im Mondlicht, als er die Spitze auf Trashs Herz setzte.

»Kann ich... noch irgend etwas für dich tun, Trash?« fragte er. »Tun?« Wieder dieses entsetzliche, peinerfüllte Lachen, das plötzlich in ein qualvolles Husten überging. »Nein«, keuchte Trash. »Aber auch du... wirst sterben, Satai. Sie werden dich töten. Wie alle.«

»Sie?« fragte Skar. »Wen... wen meinst du?«

»Sie sind wieder da«, stöhnte Trash. »Sie werden uns alle töten, Satai. Erst uns, und dann... dann dich. Sie sind wieder da!« Trash bäumte sich auf. Seine Hand rutschte von Skars Hals herab und krallte sich in den Schnee. Er begann zu schreien. Skar stand auf und schloß die Augen, ehe er sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Griff des Schwertes warf und die Waffe tief in Trashs Herz stieß.

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