8.

Noch am gleichen Abend zogen sie weiter. Skar hatte wieder Fieber bekommen, kaum daß Syrr ihn verlassen hatte, und den größten Teil des Tages in einem Dämmerzustand zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit verbracht, in dem er nicht zu unterscheiden vermochte, was Wahrheit und was Alptraum war. Aber die Visionen waren nicht zurückgekommen; was vielleicht daran lag, daß er nie allein war - irgend jemand saß immer an seinem Bett, entweder Syrr oder ihr Bruder oder ein Mitglied von Enwass' Familie, die weit größer zu sein schien, als er nach seinem Gespräch mit ihm angenommen hatte.

Als die Dämmerung hereinbrach, trugen ihn Enwass und ein junger Mann, den Skar später als seinen ältesten Sohn kennenlernen sollte, aus dem Haus. Skar protestierte schwach gegen diese Behandlung, aber Enwass ignorierte seine Worte einfach. Als sie das Haus verließen, trat Syrr zu ihnen. Sie hatte kein Wort mit Skar gewechselt, obwohl sie den größten Teil des Tages neben seinem Lager gewacht hatte; trotzdem war Skar auf schwer zu begründende Art froh, sie zu sehen. Talin ließ sich nicht blicken, aber Skar war sicher, daß er in der Nähe war, ebenso sicher, wie er war, daß seine Worte wenig genutzt hatten. Talin war zu jung, um schon wirklich zu begreifen, was er gemeint hatte. Und gleichzeitig wohl schon zu alt, als daß er noch irgend etwas ändern könnte, fügte Skar in Gedanken bitter hinzu.

Enwass und der schwarzhaarige Junge, die ihn trugen, umrundeten das Haus und wandten sich dem Fluß zu. Skar hatte angenommen, daß die Familie mit einem Wagen reiste, oder vielleicht zu Pferde, aber auf dem schmalen, offengebliebenen Wasserstreifen in der Flußmitte schaukelte ein Floß. Es war sehr groß - zehn Schritte breit und fast doppelt so lang, und aus seiner Mitte ragte ein hastig zurechtgezimmerter Mast, an dem ein Segel aus zusammengenähten Säcken und Kleidungsstücken hing. Skar verstand plötzlich, warum Enwass so überzeugt gewesen war, daß sie keine Spuren hinterlassen würden. Vielleicht, dachte er, hatten sie wirklich eine Chance, Trash und seinen Quorrl zu entkommen.

Die Eisdecke begann unter ihrem Gewicht zu knistern, als sie sich der Flußmitte näherten, und obwohl Enwass sich alle Mühe gab, möglichst gelassen zu erscheinen, entging Skar der besorgte Ausdruck auf seinen Zügen nicht. Der Winter war noch nicht alt; die Eisdecke konnte nicht sehr dick sein, und das Gewicht von gleich drei Männern war enorm. Ein Sturz in das eisige Flußwasser, dachte Skar besorgt, käme einem Todesurteil gleich, wenigstens für ihn.

Aber sie erreichten das Floß unbeschadet, und sogar trockenen Fußes.

Es wurde jetzt rasch dunkel, und keiner von Enwass' Leuten hatte es gewagt, eine Fackel oder Lampe zu entzünden. Trotzdem sah Skar, daß das Gefährt noch größer war, als er im ersten Moment geglaubt hatte - und in noch schlechterem Zustand: Die Bespannung war falsch und offenbar mit weit mehr gutem Willen als Sachkenntnis angelegt worden, und trotz seiner Größe herrschte an Bord des Floßes eine drückende Enge, denn Enwass' Familie bestand aus einem guten Dutzend Personen, die zudem ihren gesamten Hausrat mitgenommen zu haben schienen - einschließlich einer kleinen Ziegenherde, zweier Schweine und eines Pferdes. Dazu kamen nun auch noch Skars Reittier und die Syrrs und Talins - mit dem Ergebnis, daß an Bord des kleinen Gefährtes eine entsetzliche Enge herrschte. Obwohl er unter freiem Himmel lag, hatte Skar das Gefühl, lebendig begraben zu sein.

Skar schlief wieder ein, ehe sie ablegten. Er erwachte mitten in der Nacht, fiebernd und von Krämpfen geschüttelt und trank dankbar das eiskalte Flußwasser, das ihm jemand einflößte. Später spürte er, wie sich geschickte Hände an seinem Bein zu schaffen machten, hatte aber nicht einmal die Kraft, die Augen zu öffnen und sich seinen Wohltäter anzusehen.

Als er das nächste Mal erwachte, war heller Tag. Die Sonne hatte die Wolken vertrieben, und über dem Fluß spannte sich ein hellblauer, sehr klarer Himmel, dessen Farbe den Schnee und die Kälte zu verspotten schienen. Entgegen Enwass' Behauptung hatten sie nicht angelegt, um den Tag in irgendeinem Versteck zu verbringen, sondern glitten mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf dem Fluß dahin. Skar konnte nicht viel von seiner Umgebung erkennen, denn er war, während er schlief, in die Mitte des Floßes gebracht worden, direkt unter das Segel, wo ihm der Berg von Enwass' aufgestapelten Habseligkeiten Schutz vor dem eisigen Wind gab. Trotzdem war ihm entsetzlich kalt.

Aber das Fieber war fort. Seine Lippen und Augenlider waren taub und geschwollen, und in seinem Mund war ein entsetzlicher Geschmack, aber er hatte kein Fieber mehr; und er hatte genug schwere Krankheiten und Verwundungen überstanden, um zu wissen, daß es auch nicht mehr zurückkommen würde. Er war noch immer schwach und müde und würde sicher Tage brauchen, bis er sich wieder einigermaßen mühelos bewegen konnte, und Monate, um seine gewohnte Kondition zurückzuerlangen - wenn überhaupt -, aber die Krise war überstanden.

Umständlich setzte er sich auf, lehnte den Rücken gegen den Mast, an dem sich das Flickensegel bauschte, und sah sich um. Syrr saß dicht neben ihm. Sie hatte die Beine an den Körper gezogen und die Stirn auf die Knie gebettet und war eingeschlafen, und hinter ihr, nur halb aufgerichtet und eine Hand gegen den improvisierten Mast gestützt, stand Enwass. Sein Blick war leer, und obwohl er genau in Skars Richtung starrte, schien er ihn nicht zu sehen.

Skar räusperte sich. Das Geräusch war nicht sehr laut, aber es weckte Syrr aus ihrem Schlaf und Enwass aus dem sonderbaren Dämmerzustand, in den er versunken war. Syrr lächelte, während ihn Enwass nur mit der schon bekannten Mischung aus Sorge und Mißtrauen anblickte. Aber jetzt war noch etwas dazugekommen - Angst. Nackte, an Panik grenzende Angst. Aber wovor?

»Wie fühlst du dich?« fragte Syrr. Die Frage kam ganz automatisch - jeder hätte sie gestellt, an Syrrs Stelle - und trotzdem spürte Skar, daß ihre Sorge nicht geschauspielert war. Er lächelte, aber er fühlte sich nicht sehr wohl dabei. Syrr war ein Kind, trotz allem, was sie erlebt hatte. Es war möglich, daß er sie schon zu sehr an sich gebunden hatte, um die Trennung schmerzlos werden zu lassen.

»Nicht gut«, antwortete er nach einer Weile. »Aber schon besser als gestern. Danke.«

»Du hattest hohes Fieber während der Nacht.«

»Ich weiß.« Skar seufzte, fuhr sich mit dem Handrücken über die aufgerissenen Lippen und sah zu Enwass hoch. »Hast du einen Schluck Wasser?«

Enwass nickte, drehte sich schwerfällig herum und balancierte über das schlüpfrige Holz zum vorderen Rand des Floßes. Skar sah, wie er in die Hocke ging, um Wasser aus dem Fluß zu schöpfen.

Er lächelte Syrr abermals zu, setzte sich ein wenig höher auf und versuchte, über den Rand der aufgestapelten Kisten und Leinensäcke hinwegzusehen. Der größte Teil von Enwass' Familie schlief noch - ein Dutzend in Felle gehüllter, zusammengerollter Bündel, die sich eng aneinandergeschmiegt hatten, um Schutz vor der Kälte der Nacht zu finden, die hier auf dem Wasser besonders empfindlich gewesen sein mußte. Skar sah, daß auch einige Kinder unter ihnen waren, und mit einem plötzlichen Gefühl von Schuld begriff er, daß man ihm den einzigen windgeschützten Platz an Bord des Floßes gegeben hatte; den, der wohl normalerweise den Kindern und Frauen vorbehalten war. Er vertrieb den Gedanken. Wäre es anders gewesen, wäre er vielleicht gestorben. Er würde seine Schulden bezahlen.

Enwass kam zurück, die Schale mit Wasser in der rechten und einen halben Laib Brot in der linken Hand. Skar nahm das Wasser an, lehnte das Brot aber mit einem stummen Kopfschütteln ab. Er war noch immer sehr hungrig, aber er wußte, daß ihm übel werden würde, wenn er jetzt aß.

Das Wasser war eiskalt und wirkte auf schon fast unangenehme Weise belebend. Skar spürte sich von einem Gefühl neuer Kraft durchströmt, als er die Schale geleert und Enwass zurückgegeben hatte - ein Gefühl, daß sehr trügerisch war, wie er wußte. Gab er ihm nach, würde er bitter dafür bezahlen müssen. Aber er genoß es einfach, dazusitzen und es zu spüren.

»Habt ihr... die ganze Zeit bei mir gewacht?« fragte er.

Enwass nickte. »Abwechselnd«, bestätigte er mit einer Kopfbewegung auf Syrr. »Meine Frau hat sich um dein Bein gekümmert.«

Skar sah erst jetzt, daß der Verband um seinen Knöchel erneuert worden war. Die provisorische Schiene war verschwunden, und die Tücher jetzt sauber und sehr fest angelegt. Probehalber versuchte er, den Fuß zu bewegen. Es tat weh, aber es ging. Wenn es unbedingt nötig war, würde er laufen können, wenn auch nicht sehr gut und mit Sicherheit nicht sehr lange.

»Ich habe dir gesagt, daß er nicht gebrochen ist«, sagte Syrr, als sie seinen erstaunten Blick bemerkte. »Aber du glaubst mir offensichtlich nie.«

Skar überging die Bemerkung. Er war sicher gewesen, daß der Fuß gebrochen war - zum Teufel, er hatte gespürt, wie der Knochen brach! - aber die Tatsachen sprachen eindeutig dagegen. Vielleicht hatte das Fieber auch seine Erinnerungen verzerrt. Für einen Moment fragte er sich allen Ernstes, ob da vielleicht nicht noch mehr war, was er sich nur eingebildet hatte...

»Warum tut ihr das?« fragte er leise.

»Was?« Enwass legte den Kopf schräg.

»Mir helfen«, sagte Skar ernst. »Syrr und ihr Bruder glauben offensichtlich, in meiner Schuld zu stehen - aber du?« Er sah Enwass mit einer Art freundschaftlichem Mißtrauen an, die diesen vollkommen zu verwirren schien.

»Du riskierst eine Menge dabei, mich mitzunehmen«, fuhr er fort, als Enwass nicht antwortete. »Die Quorrl werden keine Ruhe geben, bis sie mich haben.«

»Die Quorrl geben keine Ruhe, bis sie uns alle haben«, antwortete Enwass abwehrend. »Du scheinst noch nicht zu verstehen, wer wir sind, Skar.«

»Nicht genau«, gestand Skar. »Wer seid ihr?«

»Flüchtlinge«, antwortete Enwass. Er sprach das Wort sehr bitter aus. »Ich war ein reicher Mann, ehe der Krieg ausbrach, Skar. Ich hatte einen Hof und Vieh und Gold, jedenfalls genug, um mir und den Meinen ein sorgenfreies Leben zu gönnen. Was du hier siehst -« er machte eine Bewegung, die das ganze Floß einschloß, »- ist alles, was mir geblieben ist. Meine Familie, ein paar meiner Knechte mit ihren Frauen und Kindern...« Er seufzte. »Wir sind geflohen, und wir sind nicht die einzigen, Skar. Es gibt Tausende wie uns, die versuchen, die freien Länder zu erreichen. Und die Quorrl machen sich einen Spaß daraus, sie zu jagen.«

»Das beantwortet meine Frage nicht«, sagte Skar.

Enwass runzelte unwillig die Stirn. »Doch«, behauptete er. »Das tut es. Du bist ein Krieger.«

»O ja«, murmelte Skar. »Und was für einer.«

»Du bist ein Kieger«, unterbrach ihn Enwass ärgerlich. »Du bist verwundet, aber es sind fünf Tage, bis wir die Berge erreichen. Bis dahin wirst du wieder gesund sein. Wenigstens gesund genug, um uns zu helfen.« Er lächelte. »Ich bin nicht so uneigennützig, wie du glaubst, Skar.«

Etwas in der Art, in der er diese Worte aussprach, gefiel Skar nicht. Dann begriff er.

»Du denkst, wir werden kämpfen müssen.«

»Ich fürchte.« Enwass nickte besorgt. »Und du wirst uns zeigen, wie. Du bist ein Krieger. Es... sind viele, die so fliehen wie wir. Tausende. Selbst für die Quorrl zu viele. Aber sie lauern an den Grenzen, und sie töten viele von denen, die versuchen, sie zu überschreiten. Wir sind einfache Bauern und Knechte, Skar. Du bist ein Krieger. Syrr und der Junge haben uns gesagt, was du getan hast. Wir brauchen einen Mann wie dich. Selbst wenn du nicht kämpfen kannst, kannst du uns sagen, was zu tun ist.« Skar starrte ihn an. »Du... du meinst das nicht ernst«, murmelte er. Ein müdes, sehr trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht und erlosch wieder. »Erzähle«, sagte er matt. »Erzähle mir alles, was du über die Quorrl weißt, und über die Situation an der Grenze.«

»Du hilfst uns also?«

Skar hob rasch und abwehrend die Hand. In Enwass' Stimme war ein neuer Ton, der ihm nicht gefiel. Er wußte aus bitterer Erfahrung, wie leicht es war, falsche Hoffnungen zu wecken. »Soweit ich es kann, Enwass«, sagte er ernst. »Und das ist nicht sehr viel.« Er deutete auf sein bandagiertes Bein. »Erwarte keine Wunder von mir. Mit dem Schwert oder der bloßen Hand gegen einen Feind zu kämpfen, ist eine Sache. Was du von mir verlangst, eine -«

»Ich verlange nichts«, unterbrach ihn Enwass. »Wir stellen keine Forderungen, Skar. Sag uns, was zu tun ist, das ist alles.«

»Und wenn es falsch ist?« fragte Skar ernst. »Ich bin kein Zauberer, Enwass.«

Aber Enwass ließ seinen Einwand nicht gelten. Skar begriff plötzlich, daß er keinen Einwand gelten lassen würde, in diesem Moment, ganz egal, wie gut oder zutreffend er war, aus dem einfachen Grund, weil er sich jedes Wort genau überlegt hatte. Für Enwass war die Sache ganz einfach: Sie brauchten einen Krieger, und er war einer.

»Es kann gar nicht so falsch sein wie das, was wir ohne dich täten, Skar«, sagte er überzeugt. »Ich bin Bauer, du bist Krieger. Und es ist Krieg.« Er lächelte. »Ich könnte verkrüppelt sein und mit hohem Fieber daliegen, und trotzdem würdest du mich um Rat fragen, müßtest du meinen Hof bewirtschaften, oder?« Der Vergleich hinkte, und Enwass mußte es ebensogut wissen wie er. Aber Skar widersprach nicht mehr. Er würde seine Schulden bezahlen. Und er wollte nicht, daß Enwass ihn noch deutlicher daran erinnern mußte.

Aber was erwartete Enwass von ihm? Daß er aus dem verstörten, eingeschüchterten Haufen verängstigter Männer, Frauen und Kinder, der Enwass' Familie letztlich war, eine Armee machte, in zwei oder drei Tagen? Enwass mußte so gut wie er wissen, daß das unmöglich war. Er konnte nicht Krieger aus Bauern und Knechten machen, schon gar nicht in drei Tagen. Vielleicht, überlegt Skar, suchte er einfach nur ein Paar Schultern, auf die er einen Teil der Last bürden konnte, die er tragen mußte. Enwass war ein starker Mann, aber die Situation war neu für ihn - er war zweifellos darin erfahren, Verantwortung zu tragen, für das Wohl und Wehe der Seinen, für den Hof, die Kinder, die nächste Ernte, die Steuern, die Sicherheit vor Jahreszeiten, Räubern und Tieren... Aber jetzt mußte er sich um das Leben seiner Leute sorgen, und das war etwas ganz anderes.

Und es gab eine Menge grundsätzlicher Dinge, die er ihnen zeigen konnte. Er würde Enwass' Söhne anweisen, das Segel zu streichen und die Bespannung zu ändern, wodurch das Floß ein gehöriges Stück schneller wurde, die Ladung so umzuverteilen, daß das Floß nicht nur gerade im Wasser lag, sondern die Kisten und Bündel auch eine niedrige Wehr längs des hölzernen Rechtecks bildeten, hinter die sie sich zur Not kauern konnten, sollten sie beschossen werden, den Männern zeigen, wie sie aus den Dingen, die sie bei sich führten, einfache Schilde und Panzer fertigen konnten - und vor allen Dingen diesem jungen Narren den Morgenstern abnehmen, ehe er sich selbst oder seinem Nebenmann damit den Schädel einschlug. Ja, er konnte einiges tun - er konnte ihnen sogar zeigen, wie sie ihre Waffen zu benutzen hatten; zumindest grundsätzlich.

Nicht, daß es etwas nutzen würde, wenn sie wirklich angegriffen wurden. Skar gab sich in diesem Punkt keinen Illusionen hin - möglicherweise würden sie mit einer kleinen Gruppe von Quorrl fertig werden, auf die sie zufällig stießen - mit Trash und seinen Kriegern nicht, wenn sie sie einholten.

Und Skar zweifelte eigentlich nicht daran, daß das geschehen würde: Er hatte den Haß in den Augen des Quorrl gesehen. Trash würde nicht aufgeben, ehe nicht einer von ihnen tot war, das wußte er. Er hoffte nur, die Konfrontation so lange hinausschieben zu können, bis Enwass und seine Familie in Sicherheit waren. »Gut«, sagte er schließlich. »Ich werde tun, was ich kann, Enwass.« Er deutete nach Süden, in die Richtung, in die der Fluß das Boot trieb. »Erzähle.«

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