5.

Am Abend erreichte er den Fluß, und zum ersten Mal seit seinem Erwachen im Tempel der Gesichtslosen Prediger schien das Glück auf seiner Seite zu sein: Er fand nicht nur den Fluß - einen knapp hundert Meter breiten, ruhig dahinfließenden Strom, der allerdings zu mehr als zwei Drittel zugefroren war - sondern auch ein Haus.

Skar sah schon von weitem, daß es unbewohnt war. Das strohgedeckte Dach war auf einer Seite unter dem Gewicht des Schnees eingesunken, die Tür stand offen, und eines der Fenster war zerbrochen. Der Wind, der heulend und eisig über ihn hergefallen war, kaum daß er den Schutz der Bäume verlassen hatte, spielte klappernd mit einem losen Fensterladen, und von der anderen Seite des Daches stieg pulverfeiner Schnee wie weißer Rauch auf. Skar hatte selten ein Gebäude erblickt, das so verlassen und einsam aussah wie diese kleine Hütte. Aber das Haus würde ihm wenigstens Schutz vor dem Wind bieten, wenn schon nicht vor der Kälte, und mit ein bißchen Gluck fand er etwas Brennbares; vielleicht sogar Kleider.

Skar hatte schon vor Stunden angefangen, sich in Gedanken dafür zu verfluchen, daß er die Kleider des Toten nicht mitgenommen hatte. Pietät hin oder her - die Kälte war längst durch den Mantel gekrochen, den er um seine Schultern geschlungen hatte.

Zumindest dämpfte sie den Schmerz in seinem Bein auf ein erträgliches Maß.

Sein Pferd lief von selbst schneller, als es die Nahe des Wassers witterte. Wie sein Reiter hatte es seinen Durst während des Tages nur mit Schnee gestillt, den es selbst auf dem Boden, Skar auf den tiefhängenden Ästen der Bäume gefunden hatte, an denen sie vorüberkamen.

Das Absteigen wurde zu einem Problem. Sein Bein war während des Tages bis in die Hüfte hinauf steif geworden. Als er versuchte, sich aus dem Sattel zu schwingen, schrie er vor Schmerz. Sein Pferd machte einen erschrockenen Satz, und Skar konnte sich gerade noch an seiner Mähne festklammern, um nicht abgeworfen zu werden.

Beim zweiten Versuch war er vorsichtiger: Er rammte den Speer in den Boden, verlagerte ganz behutsam sein Körpergewicht und ließ sich halbwegs aus dem Sattel fallen, wobei er sich mit beiden Händen an den Speerschaft klammerte. Trotzdem fiel er auf ein Knie.

Es dauerte lange, bis er die Kraft fand, sich wieder hoch zu stemmen und zum Haus zu humpeln.

Wie er erwartet hatte, war es leer. Durch das zerbrochene Dach war Schnee gesickert und zu Eis erstarrt, und obwohl er aus dem Wind heraus war, schien ihm die Kälte hier drinnen grausamer als draußen. Er drückte die Tür hinter sich zu, so gut er konnte, lehnte sich erschöpft dagegen und sah sich um. Das graue Zwielicht und der zollstarke Eispanzer, der sich wie eine milchige Haut um die Möbel, den Boden und die Wände und selbst das zerbrochene Fenster schmiegte, gaben dem Haus etwas Geisterhaftes, Unheimliches. Skar glaubte, das Flüstern der Schatten in den Ecken und Winkeln geradezu zu hören.

Er blieb stehen, bis sich sein hämmernder Puls halbwegs wieder beruhigt hatte, und begann mühsam durch den Raum zu humpeln. Es gab eine zweite Tür auf der gegenüberliegenden Seite, die in einen kleinen Nebenraum führte, der den früheren Bewohnern dieses Hauses offensichtlich als Schlafkammer gedient hatte, denn er war vollkommen leer bis auf ein Bett und eine schwere hölzerne Truhe, deren Deckel offen stand und die jetzt außer Eis und Schnee nichts mehr enthielt.

Kein Essen, dachte er matt. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihm - er war nicht sicher, daß er noch einmal aufwachen würde, wenn er sich jetzt in dieses Bett legte, um zu schlafen. Aber er wußte, wie sinnlos es war, das Haus noch einmal zu durchsuchen. Es war verlassen, von seinen Bewohnern aufgegeben und geräumt wie der Tempel der Gesichtslosen Prediger, und vermutlich schon vor Monaten. Selbst wenn sie etwas von ihren Vorräten zurückgelassen hätten, wäre es mit Sicherheit mittlerweile verdorben.

Schwer auf seinen Speer gestützt schloß er die Tür, humpelte zum Bett und ließ sich stöhnend darauf niedersinken. Es war naß und die Decke hartgefroren; als Skar sie beiseite schlug, knisterte sie wie dünnes Glas. Er hatte fast Angst, daß sie unter seinen Fingern zerbrechen würde.

Er ließ den Speer fallen, schnallte das Schwert ab und kroch zitternd unter die feuchtkalte Decke, ohne auch nur den Mantel abzustreifen. Und plötzlich war es ihm egal, ob er noch einmal erwachen würde.

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