7. Sweet Emmeline

Detective Sergeant Miller kam hinaus in den Garten und wischte sich den Staub von seinem zerknitterten grauen Anzug. Er erinnerte eher an einen Museumsdirektor als an einen Polizeibeamten - rosafarbene Haut, schütteres strohblondes Haar, wasserblaue Augen hinter kreisrunden Brillengläsern. Er trug eine Krawatte des Isle of Wight Yacht Club und hatte sich eine rosafarbene Rose ans Revers gesteckt.

Ich weiß nie so recht, was ich von Männern halten soll, die Blumen am Revers tragen - nicht etwa, weil ich sie für schwul halte, sondern weil ich bei ihnen immer den Eindruck habe, dass sie sich die adretten Jungs der fünfziger Jahre zum Vorbild nehmen: schicke Blazer und Seidenkrawatten mit Hufeisenmuster. Die adretten Jungs der fünfziger Jahre (wie mein Vater und mein Onkel Derek) hatten üblicherweise eine von Armut geprägte, unglückliche Kindheit hinter sich und glaubten, dass Blazer und Seidenkrawatten (und Rosen am Revers) sie automatisch zu Männern von Stil machten.

»Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, Mr. ... ähm ...?«, sagte er mir, während er sich im Garten umsah. »Es war ein Unfall, weiter nichts.«

»Ich sage Ihnen doch, ich habe Klauen gesehen.«

Mit der Fingerspitze drückte er seine Nase, um ein Niesen zu unterdrücken, aber dann musste er doch niesen. »Tut mir

Leid, Heuschnupfen«, sagte er, während er ein Taschentuch hervorholte.

»Ich weiß nicht, wie das ein Unfall gewesen sein soll«, sagte ich.

Nachdem er seine Nase geschnäuzt hatte, sah er mich so kurz an, als wolle er mir eigentlich nicht in die Augen blicken. »Auf diesem Dachboden gibt es eine ganze Menge hässlicher Haken. Er ist an einem von ihnen hängen geblieben, es war ein Unglück, nichts weiter. Er hat seinen Halt verloren, ist umhergewirbelt und hat sich dabei die Haut vom Kopf gerissen. Das ist alles. So was sehe ich nicht zum ersten Mal. Letztes Jahr ist ein Kerl mit seiner Hand in eine Drehbank geraten, drüben am Blackgang-Sägewerk. Das Ding hat ihm die Haut - ratsch - bis zum Ellbogen abgerissen.«

Ich legte meine Hand vor den Mund. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Ich war sicher, dass ich gesehen hatte, wie sich geschwungene schwarze Klauen in Harrys Kopf gebohrt hatten. Ich war sicher, dass irgendetwas da oben auf dem Speicher war, das ihm die Haut vom Kopf gerissen hatte. Wie sollte das ein Unfall gewesen sein? Wie sollte er sich so verfangen, dass ihm das ganze Gesicht einfach weggerissen wurde?

Ich wusste, dass Brown Jenkin das gemacht hatte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie er das hatte bewerkstelligen können. Ich hatte versucht, Detective Sergeant Miller zu erklären, dass sich auf dem Speicher möglicherweise eine Art >Hyper-Ratte< befand. Doch Miller hatte mich mit seinen blassblauen Augen angesehen, durch seine kleinen Brillengläser, und er hatte so entschlossen gewirkt, nicht an Brown Jenkin, sondern an einen Unfall zu glauben, dass ich beschlossen hatte, besser den Mund zu halten und lieber dafür zu sorgen, dass Danny und Liz vor den bedrohlichen Dingen geschützt wurden, die sich im Fortyfoot House befinden mochten. Und ich hatte beschlossen, dankbar dafür zu sein, dass die Polizei nicht auf die Idee gekommen war, mich wegen eines tätlichen Angriffs auf Harry Martin festzunehmen.

Die Polizei macht so etwas, wenn man am wenigsten damit rechnet. Manchmal muss man tatsächlich überlegen, ob man sie überhaupt informieren soll.

»Sie bleiben doch in der Gegend, oder?«, fragte mich Detective Sergeant Miller.

»Ja, ja, noch zwei bis drei Monate. Ich soll das komplette Haus renovieren, neue Leitungen verlegen, verputzen, tapezieren. Von allem etwas.«

»Dann kommen die Tarrants also zurück?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie wollen es verkaufen. Sie haben sich nach Mallorca zurückgezogen.«

»Manche Leute haben halt Glück«, meinte Miller. »Sie waren offensichtlich noch nie auf Mallorca.«

Er sah mich lange Zeit an, ohne zu blinzeln. Ich war mir nicht sicher, ob er mir Angst einjagen oder ob er mir auf telepathischem Wege zu verstehen geben wollte, dass er schon mal auf Mallorca gewesen war. Immerhin musste ein Mann mit einer Rose am Revers überall gewesen sein. Oder besser gesagt: Er sollte überall gewesen sein.

»Das wäre es dann für den Augenblick«, sagte er. »Ich gehe davon aus, dass wir uns noch mal bei Ihnen melden. Aber es sieht alles nach Routine aus.«

»Haben Sie den Dachboden abgesucht?«, fragte ich ihn.

Er starrte mich noch immer durchdringend an, während er antwortete: »Ja, wir haben alles abgesucht.«

»Keine Ratten? Auch keine Anzeichen für Ratten?«

»Nein, Mister... ? Keine Anzeichen für Ratten. Nur Haken. Drei verdammt große eiserne Haken. Vermutlich hat man die früher benutzt, um Dinge auf den Dachboden zu hieven. Bevor dieser Teil abgetrennt wurde.«

»Ich werde sie fortschaffen«, versprach ich ihm.

»Haben wir schon erledigt«, sagte er. »Jones ... sorgen Sie dafür, dass die Dinger vom Dachboden geholt werden?«

»Sofort«, sagte der Detective Constable und eilte zurück ins Haus.

Detective Sergeant Miller sagte nichts, bis Jones verschwunden den war. Er sah hinüber zu der verfallenen Kapelle, zu den Grabsteinen, zur See, zur Zeder. Schließlich sagte er: »Wissen Sie, ich habe schon einige Geschichten über dieses Haus gehört. Ich bin aber noch nie zuvor drinnen gewesen.«

»Was für Geschichten?«

Er zuckte mit den Schultern und grinste fast ein wenig albern. »Oh, nichts ... mein Cousin sagte immer, es sei verflucht.«

»O ja, das habe ich auch gehört.«

Er nahm seine Brille ab und steckte sie in seine Brusttasche. »Ich wollte Ihnen nur sagen, Mister, dass wir nicht ganz dumm sind.«

»Wie bitte?«

»Wir sind nicht ganz dumm«, wiederholte er. »Wir kennen alle Geschichten über das Fortyfoot House, vor allem über die Geräusche, die Lichtblitze und die verschwundenen Kinder. Aber man kann ein Geräusch ebenso wenig verhaften wie einen Lichtblitz. Und wenn ein Kind verschwindet und es nicht einmal einen einzigen Fußabdruck gibt ... was soll man dann machen? Für die Ermittlungen in einem Mordfäll werden uns 20.000 Pfund genehmigt. Wenn das Geld aufgebraucht ist, werden die Untersuchungen abgebrochen. Und wenn wir Geister suchen wollen, bekommen wir keinen Penny.«

Ich war sprachlos. Eben erst hatte er beteuert, dass Harry einen Unfall erlitten habe, und jetzt spekulierte er darüber, dass Harry etwas Übernatürlichem zum Opfer gefallen sein könnte. So hatte ich einen Polizisten noch nie reden gehört.

»Sie haben die vermissten Kinder mit dem Fortyfoot House in Verbindung gebracht?«, fragte ich. »Tatsächlich"?«

»Ja, tatsächlich. Harry Martin hat genug Beschwerden eingereicht. Zwei unserer Leute haben auf ihren dienstfreien Abend verzichtet, um das Haus zu beobachten.«

»Und?«

»Nichts war. Die Polizei hat das Fortyfoot House in den letzten drei Jahren zweimal von oben bis unten durchsucht.

Wenn Sie sich die Unterlagen seit dem Krieg ansehen, dann kommen noch sechs oder sieben weitere Durchsuchungen hinzu. Wir sind auch auf dem Dachboden gewesen, ohne Ergebnis. Jedenfalls ohne greifbares Ergebnis. Es gibt da oben nichts, dem man einen Zettel mit der Aufschrift >Beweisstück A< aufkleben kann. Aber das heißt nicht, dass wir es aufgegeben haben. Das heißt nicht, dass wir dumm sind. Das heißt nur, dass wir Beweise haben müssen, bevor wir etwas unternehmen können.«

Ich schüttelte langsam den Kopf. »Wollen Sie mir wirklich sagen, dass Sie an das Übersinnliche glauben?«

Er blinzelte mich auf eine fast herausfordernde Weise an: »Warum nicht?«

»Sie sind Polizist.«

»Viele Polizisten sind Freimaurer, Mister. Sie glauben an den großen Schöpfer. Viele Polizisten sind Fundamentalisten. Sie glauben an Feuer und Schwefel und an die Wiederkunft Christi. Ich bin kein Freimaurer und kein Fundamentalist, aber ich glaube daran, dass man für alles offen sein muss.«

Ich sagte nichts, sondern stand nur da im warmen Wind und wartete, dass er weitersprach.

»Würde ich das Übersinnliche völlig ausschließen«, sagte Miller in einem überzeugten Tonfall, »dann würde ich nicht meinen Pflichten genügen. Natürlich nicht in Bezug darauf, was die Handbücher besagen, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber ein guter Officer macht mehr, als nur den Handbüchern zu folgen. Ein guter Detective kombiniert Fakten, Logik und Schlussfolgerungen mit Fantasie und Inspiration.«

»Ich muss sagen, ich bin beeindruckt.«

Detective Sergeant Miller schnäuzte wieder seine Nase. »Seien Sie das besser nicht. Der größte Teil der Polizei besteht nach wie vor aus Schurken und Idioten und Nestbeschmutzern. Aber hin und wieder findet man auch mal einen Profi. Es gibt immer mal ein oder zwei, bei denen befindet sich oberhalb der Schultern tatsächlich ein Gehirn. Allerdings trifft das nicht auf die Übergeordneten zu.«

»Das heißt, Sie können nicht zu Ihren Vorgesetzten gehen und den Gedanken ins Spiel bringen, dass Harry Martin von etwas angegriffen wurde, das nicht von dieser Welt ist.«

Er lachte verbittert. »Mein Chief Inspector glaubt nicht mal seinem Spiegelbild.«

»Aber was würden Sie ihm sagen, wenn Sie so könnten, wie Sie wollten?« Mich interessierte, was Miller wirklich über den grauenhaften Zwischenfall auf dem Dachboden dachte. Hatte sich Harry wirklich in einem Haken verfangen und sich durch sein eigenes Körpergewicht die Haut vom Kopf geschält? Oder gab es etwas Bösartiges auf dem Dachboden? Etwas, das entsetzlich heftig reagierte, wenn es gestört wurde?

»Ich würde ihm einfach sagen, dass Mr. Martin keinen Unfall im üblichen Sinne erlitten hatte und dass es auch kein Angriff im üblichen Sinne war. Mehr nicht.«

»Sie würden keine Theorien entwickeln?«

»Nicht in diesem Stadium.« Er hielt sich zurück. »Es wäre nicht hilfreich.«

»Und was ist mit Ihrem Kollegen? Detective Constable Jones? Werden Sie ihm erzählen, was Sie glauben?«

Miller schüttelte den Kopf. »Jones versteht nur das, was er essen, trinken oder schlagen kann.«

»Das heißt also, Sie wissen, was nicht geschehen ist, aber Sie haben auch keine Ahnung, was passiert ist?«

Er sah mich mit seinen blassen ausdruckslosen Augen an. »Ein guter Ratschlag, Mister. Ich bin hier in der Gegend aufgewachsen. In Whitwell, um genau zu sein. An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig, was das Haus angeht. Als mein Cousin sagte, es sei verflucht ... na ja, das waren nicht nur Geschichten.«

»Glauben Sie, dass es Brown Jenkin wirklich gibt?«

»Ich weiß nicht, was es mit Brown Jenkin auf sich hat. Aber über die Jahre hinweg hat es so viele unerklärliche Zwischenfälle rund um Fortyfoot House gegeben, dass irgendetwas nicht stimmen kann. Kein Rauch ohne Feuer, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Nun ... Danke für die Warnung.«

In dem Moment kam Detective Constable Jones über den Rasen spaziert. Miller sagte: »Es war ein Unfall, mehr nicht. Ein verdammt hässlicher Unfall, das kann man wohl so sagen. Und ein sehr ungewöhnlicher dazu. Aber es war ein Unfall, weiter nichts.«

Er holte eine Visitenkarte aus der Jacke und reichte sie mir. »Sie können mich anrufen, wenn Sie wollen. Diese Woche bin ich tagsüber zu erreichen, nächste Woche habe ich Nachtdienst.«

Detective Constable Jones schnaufte. »Ich habe gerade eine Nachricht vom Krankenhaus erhalten, Sarge. Mr. Martin war bereits tot, als er eingeliefert wurde.«

Miller setzte seine Brille wieder auf. »Ich verstehe. Sehr bedauerlich. Wieder ein Original weniger.«

»Soll ich mit Mrs. Martin sprechen?«, fragte ich. Ich fühlte mich entsetzlich schuldig, weil ich Harry auf den Dachboden gelassen hatte.

»Nein, das erledigen wir schon«, sagte Miller. »Wir schicken jemanden hin, der in solchen Dingen gut ist. Tee und Mitgefühl.«

»Gut, ich ...«

»Es wird eine Untersuchung geben«, unterbrach mich Miller. »Wahrscheinlich werden Sie eine Zeugenaussage machen müssen. Ich werde Sie das frühzeitig wissen lassen.«

»Ja«, sagte ich nur und sah zu, wie sie fortgingen. Liz kam aus dem Haus, nachdem die beiden gegangen waren. Sie brachte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank mit, hatte einen weißen Schal um den Kopf gebunden und trug ein tief ausgeschnittenes schwarzes T-Shirt, dazu eine schwarze Radlerhose. Seite an Seite saßen wir auf der niedrigen Gartenmauer und öffneten unsere Bierdosen, dann tranken wir.

»Harry ist tot«, sagte ich nach einer Weile.

»Ja, der Detective hat es mir gesagt. Ich kann es nicht glauben.«

»Detective Sergeant Miller glaubt, es war ein Unfall.«

Liz legte die Stirn in Falten. »Wirklich? Er hat immer wieder gesagt, dass es ein Unfall war.«

»Ich glaube, er möchte die ganze Angelegenheit so unbedeutend wie möglich erscheinen lassen, darum sagt er es. Wenn er versucht, irgendeinem von seinen Kollegen zu erzählen, dass sich irgendetwas Sonderbares auf dem Speicher befindet, wird man ihn für verrückt halten.«

»Und was wird er machen? Und was werden wir machen? Wir können doch nicht mit irgendeinem Monster unter einem Dach leben, oder etwa doch?«

Ich blickte hinauf zum Dach des Fortyfoot House. Obwohl die Sonne an einem strahlend blauen Himmel hing, wirkte es so, als verdunkle eine vorüberziehende Wolke das Dach. Das Gebäude sah gehässig aus, so, als beherberge es alles Böse, das es an sich reißen konnte. Ich war sicher, dass ich, falls ich zu einem der oberen Fenster hinaufschaute, dort ein bleiches ovales Gesicht erblicken würde. Doch ich war genauso sicher, dass es nach nichts weiter als einer Spiegelung oder nach einem Muster auf der Tapete im Zimmer dahinter aussehen würde, sobald ich mich dem Haus näherte.

Was mich am stärksten irritierte, waren die Winkel des Dachs. Das Dach schien ein finsteres Zelt zu bilden, für das eigene geometrische Gesetzmäßigkeiten Gültigkeit hatten. Das westliche Ende, das am weitesten von uns entfernt war, wirkte viel höher als das östliche Ende, das uns am nächsten war. Schien die Sonne auf die nach Süden gelegene Seite, veränderten sich die Proportionen völlig. Die südöstliche Regenrinne erweckte den Anschein, als sei sie nach innen gerichtet, nicht nach außen. Insgesamt wirkte es so, als bestehe das gesamte Dach aus einem System von Gelenken und Scharnieren, damit es nach Belieben seine Form verändern konnte.

Der Anblick ließ mich schwanken - ein Gefühl wie nach zu vielen Runden auf einem Karussell.

»Geht es dir gut?«, fragte Liz. »Du siehst ganz blass aus.« »Mir geht's gut. Ich glaube, das ist der Schock.«

»Vielleicht solltest du dich ein wenig hinlegen.«

»Mir geht's gut, verdammt noch mal. Hör auf, so ein Theater zu machen.«

»Du trägst keine Schuld, er war fest entschlossen, da raufzugehen.«

»Ich weiß, aber das ändert nichts.«

Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. »Ich mag dich, weißt du?«, sagte sie mit einer fast unmöglichen Direktheit. »Mach dir darüber keine Gedanken. Und wenn du möchtest, dass ich mit dir schlafe, dann werde ich das machen.«

Ich beugte mich zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich glaube, das ist das Problem.«

»Ah, ich verstehe. Du möchtest eine Frau gerne erobern, richtig?«

»Das meinte ich nicht«, erwiderte ich, obwohl es eigentlich genau das war, was ich gemeint hatte. Ich mochte sie, ich war verrückt nach ihr. Aber im Augenblick genügte das nicht. Ich musste mehr mir selbst beweisen, dass ich in der Lage war, mein Leben in den Griff zu bekommen.

Danny rannte mit ausgestreckten Armen über den Rasen auf den kleinen Bach zu und verursachte einen Lärm wie eine Spitfire.

»Pass auf«, rief ich ihm zu. »Fall nicht rein.«

Vielleicht hatte er mich gehört, vielleicht auch nicht. Er sprang in einem Satz über den Bach, die Arme immer noch ausgestreckt, und schaffte es, das Gleichgewicht zu verlieren, um mit einem Fuß direkt ins Wasser zu treten. Er rannte ungerührt weiter, obwohl ich sogar hören konnte, dass seine Sandalen völlig durchnässt waren.

»Er ist schon ein Kerl, nicht wahr?«, lächelte Liz.

»Ich hoffe nur, dass ihm seine Mutter nicht zu sehr fehlt.«

Wir sahen zu, wie Danny über die Mauer auf den Friedhof kletterte und zwischen den Gräbern umherlief, während er das Geräusch eines Flugzeuges machte.

»Ich habe morgen meinen ersten Arbeitstag«, sagte Liz.

»Ich schätze, du musst morgen auch mit deinem Renovieren weitermachen.«

Ich sah wieder hinüber zum Fortyfoot House. Der Gedanke, das Haus zu renovieren und zu streichen, während sich dieses Ding noch immer auf dem Dachboden aufhielt, erfüllte mich mit großer Unruhe. Zum ersten Mal war ich versucht, einfach alles zusammenzupacken, zu den Maklern zu gehen und ihnen zu sagen, dass sie es vergessen sollten. Das einzige Problem bestand darin, dass sie mir das Gehalt für den ersten Monat im Voraus gezahlt hatten. Ich hatte es ausgegeben ich wusste nicht, wie ich es zurückzahlen sollte, außer durch die Arbeit, die ich zu erledigen hatte. Ich hatte auch einen Teil des Geldes ausgegeben, das sie mir für Farben und Materialien überlassen hatten. Und wenn sie das erführen, würden sie sicher sehr ungehalten sein.

Auswandern schien die einzige Alternative, die mir noch blieb.

Liz zog an meinem Ärmel. »Sieh mal. Wer ist das?«

Ich sah hinüber zur Kapelle auf dem Friedhof. Ich konnte Danny entdecken, wie er zwischen den Grabsteinen umherlief. Aber da war noch ein Kind auf dem Friedhof ... ein Mädchen, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, in einem langen weißen Kleid, das im strahlenden Sonnenschein leuchtete, als sei es von einem leichten Nebel umgeben. Das Mädchen stand vor der Tür zur Kapelle, als sei es gerade dort herausgekommen, obwohl sie fest verschlossen war. In den Händen hielt es etwas, das nach einer Girlande aus Gänseblümchen aussah.

»Wohl ein Kind aus der Gegend«, sagte ich.

Etwas am Erscheinungsbild dieses Mädchens störte mich. Es war nicht nur das weiße Kleid - die Kinder in der Gegend trugen fluoreszierende Bermudashorts und Ninja-Turtle-TShirts -, das Kind wirkte auch kränklich. Die Augen sahen aus wie tiefschwarze Flecken, und das Gesicht war so fahl, dass es fast schon grünlich wirkte.

Danny >flog< noch immer mit ausgebreiteten Armen über den Friedhof, begann sich dann aber dem Mädchen zu nähern, senkte die Arme und blieb stehen. Ich konnte sehen, dass sie sich unterhielten.

»Sehr gesund sieht sie nicht gerade aus, wie?«, bemerkte Liz.

Ich stellte meine Bierdose auf die Mauer und stand auf. Danny und das kleine Mädchen waren zu weit entfernt, als dass ich ihre Gesichter deutlich hätte sehen oder hätte hören können, was sie sprachen. Aber mit einem Mal ergriff eine unerklärliche Panik von mir Besitz. »Danny!«, rief ich, während ich über den Rasen zur Kapelle ging.

Danny drehte sich um und sah mich an, dann unterhielt er sich weiter mit dem Mädchen. »Danny!«, brüllte ich, während ich meine Schritte immer mehr beschleunigte.

»Danny, komm her!«

Ich lief an der Sonnenuhr vorbei. Hinter mir hörte ich Liz etwas rufen, aber das Geräusch des Windes und mein eigenes Atmen waren so laut, dass ich zunächst nicht verstand, was sie rief.

Erst als ich den Bach erreicht hatte und wieder zur Kapelle sah, verstand ich, was sie mir hatte sagen wollen. Zwischen den Türen der Kapelle waren die weiße Manschette und der schwarze Ärmel eines Mannes aufgetaucht, dessen Hand auf der Schulter des kleinen Mädchens ruhte. Das Mädchen drehte sich um, hob den Kopf und machte den Eindruck, als sage es etwas. Verstehen konnte ich davon nichts. Danny zog sich zwei, drei Schritte zurück, dann wurde er schneller, bis er in seiner Eile fast über einen Grabstein stolperte.

Ich trat in den eiskalten Bach, kletterte über die moosbedeckte Mauer und sprang in das hohe Gras des Friedhofs.

»Danny!«, rief ich. Er stand ein Stück von mir entfernt, eine Hand hatte er fest auf einen Grabstein gepresst. Er drehte sich um und sah mich ernst an. »Ich bin hier drüben, Daddy.« Die Kapellentüren waren so fest verkantet wie zuvor, doch das kleine Mädchen war verschwunden.

Ich ging zu Danny und legte ihm eine Hand auf die

Schulter. Auf dem Friedhof war es ungewöhnlich ruhig und windstill. Grillen zirpten, blaue Schmetterlinge tanzten um die Kreuze.

»Mit wem hast du geredet?«, fragte ich Danny.

»Mit Sweet Emmeline.«

»Sweet Emmeline? Das ist ein komischer Name.« Ich blickte zurück. Liz kam auch herübergelaufen. »Und wer war der Mann? «

»Der, den wir schon mal gesehen haben. Er hat gesagt: »Komm, Sweet Emmeline, wir müssen jetzt gehen.< Mehr nicht. Er hatte einen Hut auf.«

Oh Gott, nicht der junge Mr. Billings!

»Du meinst den schwarzen Hut? Den hohen schwarzen Hut?«

»Genau«, sagte Danny und hielt seine Hände hoch über den Kopf. »Den großen schwarzen Hut, der wie ein Schornstein aussieht. Sweet Emmeline hat mich gefragt, ob ich mit ihnen spielen will.«

»Mit ihnen? Hat sie gesagt, wer die anderen sind?«

Meine Fragen schienen Danny zu langweilen. Trotzdem schielte er ständig hinüber zur Kapelle, als fürchte er sich vor dem, was plötzlich dort zum Vorschein kommen mochte. Bauz! Da geht die Türe auf, Und herein in schnellem Lauf, Springt der Schneider in die Stub´, Zu dem. Daumen-Lutscher-Bub. Er schien so verwirrt und verunsichert wie ich darüber, dass Sweet Emmeline problemlos durch diese Türen hatte kommen können. Immerhin war das uns beiden nur gelungen, nachdem ich sie mit meiner Schulter und sehr viel Kraft einen Spaltbreit hatte öffnen können.

»Lebt sie im Dorf?«, fragte ich Danny.

»Sie hat nicht gesagt, wo sie lebt.«

»Und sie hat dir nicht gesagt, wer ihre Freunde sind?«

Er schüttelte den Kopf.

»Und sie hat nicht gesagt, wer der Mann ist, der sie mitgenommen hat?«

Wieder ein Kopfschütteln. Aber dann sah er mich an, und ich konnte in seinen Augen Verständnislosigkeit und Beunruhigung erkennen.

»Sie hatte Würmer in ihren Haaren. Als sie sich umgedreht hat, waren rote Würmer in ihren Haaren.«

Oh Jesus, dachte ich. Was ist hier los?

Liz betrat den Friedhof durch das Tor. Ich nahm Danny auf den Arm und drückte ihn an mich. »Wahrscheinlich war Sweet Emmeline ein Zigeunermädchen, weißt du? Die waschen sich nicht sehr gründlich.«

Danny klammerte sich an mich, sagte aber nichts. Liz kam zu uns und sah sich um. »Wo sind sie hin?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte ihr zu bedeuten, dass sie nicht weiterreden sollte. Doch sie verstand mich nicht. Sie ging zur Kapelle und versuchte, die Tür zu öffnen. »Hier durch kann sie wohl kaum verschwunden sein.«

»Danny und ich haben uns auch schon da durchzwängen können, nicht wahr, Danny?« Ich fühlte seinen spitzes kleines Kinn an meiner Schulter, als er nickte.

»Na, dann sollten wir doch mal sehen, ob sie dort sind«, schlug Liz vor.

Wieder wollte ich ihr mit einem lautlosen Nein zu verstehen geben, dass sie aufhören solle, doch Danny drehte sich um und sagte: »Ja, das machen wir.«

»Bist du sicher?«, fragte ich ihn. Wieder nickte er und rieb sich die Augen.

Ich ließ Danny wieder zu Boden und ging auf die Doppeltür der Kapelle zu. Liz hielt Danny an der Hand und lächelte ihm zu. Sie schien beruhigend auf ihn zu wirken. Sie wirkte auch auf mich beruhigend, weil sie nett war und weil sie hübsch war. Und weil das Leben ohne Frau immer unvollständig ist. Während ich meine Schulter gegen die Türflügel drückte, wusste ich, dass es mir bei ihr nicht nur um Sex ging, sondern dass ich ihre Weiblichkeit brauchte, so wie Danny auch.

»Drücken!«, sagte Liz, und ich drückte. Der rechte Türflügel gab ein wenig nach, und während ich ihn aufhielt, zwängten sich Liz und Danny durch die entstandene Öffnung. Ich folgte ihnen und riss mir an einem Nagel die Haut am Ann auf. Eine dünne Spur aus tiefrotem Blut bildete sich auf meiner Haut.

Die Kapelle war verlassen, sie war ein Meer aus grauen zerbrochenen Dachschindeln. Wir stapften umher, doch von Sweet Emmeline war nichts zu sehen. Auch nicht vom jungen Mr. Billings. Wie auch? Der junge Mr. Billings war seit über hundert Jahren tot, und nach Dannys Beschreibung zu urteilen, war Sweet Emmeline ebenfalls tot. Sehr tot. Tot und verwest, und in ihrem Haar hatten sich Würmer eingenistet.

Liz kam zu mir und sah mich an. »Irgendetwas stimmt hier nicht, oder? Irgendetwas ist hier sehr seltsam.«

Ich sah nach oben, wo eine 737 der British Airways über den morgendlichen Himmel donnerte, bis auf den letzten Platz besetzt mit Touristen, die auf dem Flug nach Malaga oder Kreta oder wer weiß wohin waren. Ich blickte nach unten auf den Boden der Kapelle und hinüber zu den leeren Fenstern und dem raschelnden Efeu. Es war schwer zu sagen, in welcher Zeit ich mich eigentlich befand.

»Ja«, erklärte ich. »Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas stimmt wirklich nicht. Das ganze Haus ist seltsam. Es sieht schon seltsam aus, ist dir das aufgefallen? Es verändert ständig seine Form.«

Liz senkte den Blick. Ihre Haut hatte den unschätzbaren Glanz der Jugend, nur mit ein paar Sommersprossen gesprenkelt, so wie ein Hauch Zimt. »Wärst du sauer, wenn ich sagen würde, dass ich ausziehen möchte?«

»Willst du die Wahrheit hören?«

»Natürlich.«

»Okay, ich wäre sauer.«

Liz' Blick trübte sich, als erinnere sie sich an eine frühere ähnliche Begebenheit. Oder vielleicht sogar Dutzende Begebenheiten dieser Art. Sie war eine von diesen Frauen, die sich nie ganz einem Mann hingeben konnten. Sie war eine von diesen Frauen, die irgendwann in Selbstgespräche vertieft, einsam und mit Wärmflasche in irgendeinem Altersheim sterben würden. Scheiße, ich hasste es, darüber nachzudenken. Aber ich musste schon auf mich selbst und auf Danny aufpassen, ich konnte nicht auch für jeden anderen die Verantwortung übernehmen, schon gar nicht für eine Frau wie Liz und für die Toten wie den jungen Mr. Billings, Sweet Emmeline und Harry Martin — mein Gott, wie musste Harry gelitten haben.

Danny zertrat die Schindeln mit einem Geräusch, das so klang wie der Knorpel, der von Harrys Knochen gerissen wurde.

»Aber ...«, sagte ich dann, »falls du wirklich gehen möchtest.«

Lange Zeit sagte sie nichts. Dann schließlich: »Nein, nein, ich bleibe. Ich kann nicht mein Leben lang vor allem davonlaufen, das mir nicht passt.«

»Hör zu. Ich möchte nicht, dass du hier gezwungenermaßen bleibst. Oder aus Mitleid. Harry Martin wurde das komplette Gesicht weggerissen, also ist irgendetwas da oben auf dem Speicher. Egal, ob es real ist oder nur Einbildung oder was auch immer. Also bleib nicht, weil du Mitleid mit mir hast. Die Welt ist voll von allein stehenden Männern mit siebenjährigen Söhnen.«

»Ich möchte bleiben«, beteuerte sie.

»Nein, das sagst du jetzt nur. Geh! Es ist besser für dich!«

»Hör mal, nur weil ich mit dir letzte Nacht ins Bett gegangen bin ...«

»Das hat damit überhaupt nichts zu tun! Das schwöre ich! Wir waren beide fertig mit der Welt, wir waren müde und wir hatten beide etwas zu viel getrunken.«

»Also, mir hat es gefallen«, sagte sie spitz. »Mir hat es gefallen, und ich möchte mehr. Und darum werde ich bleiben.«

Trotz allem Schrecklichen, das geschehen war, schüttelte ich den Kopf und begann zu lachen. Worüber streiten Menschen, wenn es wirklich darauf ankommt? Liebe, Lust, Unsicherheit, Frustration und Angst. Mein alter Freund

Chris Pert sagte mal, dass ein Mann und eine Frau, die den gleichen Geschmack bei TV-Komödien und bei chinesischem Essen haben, in einer himmlischen Beziehung leben.

»Guck mal, Daddy. Blut«, sagte Danny.

Ich hörte sofort auf zu lachen. Danny stand auf der anderen Seite der Kapelle vor dem Wandgemälde der Frau mit dem roten wallenden Haar. Ich ging zu ihm, Liz folgte mir.

Die Frau zeigte ein exzentrisches Lächeln - freudig erregt, erotisch und eine ganz kleine Spur verrückt. Ihre Augen erschienen mir strahlender als zuvor. Doch das rattenähnliche Ding, das sie wie eine Stola um ihren Hals gelegt trug, machte mir Angst. Die Augen dieses Dings waren hämisch und triumphierend, und aus seinem Maul tropfte Blut.

Vorsichtig berührte ich das Blut mit meiner Fingerspitze.

»liihh«, sagte Liz und rümpfte die Nase.

Ich hob meinen Finger. »Es ist nicht frisch. Es ist nicht mal Blut, es ist bloß Farbe.«

»Die ist aber zuletzt nicht da gewesen«, sagte Danny.

»Nein«, musste ich ihm zustimmen. »Das war sie auch nicht. Vielleicht haben irgendwelche Kinder es aus Spaß hingemalt.«

Liz konnte ihren Blick nicht von der an die Wand gemalten Frau lösen. »Toller Spaß«, gab sie von sich. »Wen stellt das dar?«

»Ich weiß nicht, wir haben es erst gestern entdeckt. Es muss seit Urzeiten von dem Efeu verdeckt gewesen sein.«

Liz näherte sich dem Wandgemälde. »Wie bösartig diese Frau blickt«, flüsterte sie.

Ich schaute sie an. »Wieso sagst du das?«

»Keine Ahnung. Sieh sie dir doch an, sie ist so bösartig! Und dieses entsetzliche Rattending da um ihre Schultern!«

Wir betrachteten das Gemälde und gingen im Kreis durch die Kapelle, weil wir keine Ahnung hatten, was wir machen sollten. Irgendein unwirkliches Phänomen bedrohte uns, das uns im Grunde überhaupt nichts anging. Ich wusste, dass es für uns alle am besten gewesen wäre, unsere Sachen zu packen und mich von den Maklern vor Gericht zerren zu lassen, damit sie das Geld einklagen konnten, das sie mir im Voraus gegeben hatten. Die Tarrants hatten offensichtlich erkannt, dass das Fortyfoot House verflucht war oder dass zumindest irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Sie hätten mich nicht einfach mit der Renovierung beauftragen, sondern mich warnen sollen, dass hier Leute verschwanden, dass Leute wahnsinnig geworden waren und dass hier Leute ihr Leben verloren hatten.

Zum Teufel mit ihnen, dachte ich. Ich haue ab.

In dem Moment rief Danny: »Sie ist da, Daddy! Sie ist da! Sweet Emmeline ist da!«

Er stand an dem Fenster der Kapelle und zeigte hinüber in den Garten. Ich lief zu ihm und stellte mich neben ihn.

Er hatte Recht. Das kleine Mädchen in dem langen weiten Kleid lief durch den Garten, nahe der Sonnenuhr. Das Mädchen näherte sich dem Haus, die Küchentür öffnete sich wie aus eigener Kraft. Es war zu weit entfernt, als das ich hätte Einzelheiten hätte erkennen können, doch ich könnte schwören, dass ich etwas Dunkles, Haariges von der Tür forteilen sah, als sich Sweet Emmeline näherte. Vielleicht hatte ich mich aber auch geirrt, vielleicht war es nur Sweet Emmelines Schatten gewesen. Doch Danny stand da und starrte mit offenem Mund aus dem Fenster, und ich wusste, dass er mehr gesehen hatte, als jeder Siebenjährige sehen sollte.

»Jetzt reicht's«, sagte ich zu Liz. »Wir reisen ab. Tut mir Leid, tut mir wirklich Leid. Aber ich weiß nicht, was hier los ist, und ich will es auch gar nicht wissen. Glaubst du, dass du irgendwo unterkommst?«

»Ich schätze schon. Ich werde mich umhören. Aber was werdet ihr machen?«

»Zurück nach Brighton vermutlich. Ich habe Freunde, bei denen wir eine Weile bleiben können. Ich gebe dir meine Adresse.«

»Ich dachte, der Polizeibeamte wollte nicht, dass du die Insel verlässt.«

»Sein Problem. Ich reise ab. Kann ich dich ein Stück mitnehmen? Wie lange brauchst du, um zu packen?«


Wir verließen den Friedhof und ließen das Tor hinter uns offen stehen. Wir überquerten den Bach und gingen zurück zum Haus. Die Wolken zogen sich zusammen, und wenn ihre Schatten über die Spitzen des Dachs und die Schlafzimmerfenster hinwegglitten, wirkte das Haus fast so, als verziehe es missbilligend das Gesicht. Ich spürte, wie mein Herz immer heftiger zu schlagen begann, je näher wir dem Haus kamen. Es verströmte eine solch bösartige Atmosphäre, dass ich kaum noch rational denken konnte. Ich wollte nur unsere Kleidung in den Koffer werfen, in den Wagen steigen und so viel Abstand zwischen das Fortyfoot House und uns bringen, wie es nur möglich war.

Danny zögerte und sah hinüber zum Meer. »Der Strand hat mir gefallen«, sagte er traurig.

Ich legte meine Hände auf seine Schultern. »Ich weiß. Mir auch. Aber wir müssen fort von hier, ich mag diese Geräusche nicht. Und ich mag keine Mädchen mit Würmern im Haar.«

»Was ist mit dem Mann passiert, der Ratten fängt?«, fragte Danny.

»Er hat sich oben auf dem Speicher verletzt. Das ist noch ein Grund, warum ich abreisen möchte. Ich will nicht, dass dir oder Liz oder mir etwas zustößt.«

»Kann ich meine Krebse mitnehmen?«, wollte Danny wissen. Er hatte ein halbes Dutzend kleiner grüner Taschenkrebse in einem Eimer gesammelt, der vor der Küchentür stand.

»Nein, leider nicht. Wir werden bei Mike und Yolanda wohnen, da ist kein Platz für Krebse. Warum bringst du sie nicht zurück zum Strand und veranstaltest ein Wettrennen, welcher von ihnen zuerst das Meer erreicht?«

»Darf ich wenigstens zwei mitnehmen?«

»Nein, die paaren sich und dann hast du tausende von ihnen.«

»Einen? Bitte!«

»Nein, er würde sich einsam fühlen.«

Widerstrebend nahm Danny den Eimer und marschierte in Richtung Strand davon. Mir war es lieber, wenn er nicht im Haus war, während wir packten. Ich hatte in letzter Zeit so häufig Koffer gepackt, dass es zu einem festen Bestandteil meines fehlgeschlagenen Lebens geworden war. Wenn man erst einmal mit dem Packen angefangen hat, findet man kein Ende mehr.

In der Küche nahm Liz meine Hand. »Das war's dann wohl mit unserem idyllischen gemeinsamen Sommer«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln.

»Es tut mir Leid, aber ich kann es nicht zulassen, dass Danny oder du verletzt werden oder dass irgendetwas noch Schlimmeres geschieht.«

Sie sah sich um. »Was, glaubst du, stimmt mit diesem Haus nicht?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Ich glaube aber auch nicht, dass ich das wirklich erfahren will. Jedenfalls nicht im Moment.«

»Vielleicht solltest du mit einem Priester reden. Du weißt schon, einem Exorzisten oder so etwas.«

»Ich glaube, das würde nichts bringen. Ich habe allmählich das Gefühl, dass dieses gesamte Haus mit einer ganz bestimmten Absicht errichtet wurde. Es ist nicht ganz hier, aber auch nicht ganz woanders.«

»Willst du noch ein Bier, während wir packen?«, fragte Liz, woraufhin ich nickte.

»Ich hätte dich wirklich lieben können«, sagte sie ehrlich. »Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.«

Ich warf ihr einen ironischen Blick zu. »Vor allem an einem anderen Ort.«

Wir tranken unser Bier aus, als es an der Tür klingelte. Wir erschraken beide.

»Himmel, ich bin ja zu Tode erschrocken!«, japste Liz.

»Ich glaube, dass weder Brown Jenkin noch Mr. Zylinder sich die Mühe machen und klingeln würden«, sagte ich und ging zur Tür.

Es war der Rentokil-Mann aus Ryde. Ein hitzköpfiger junger Mann mit Kurzhaarfrisur und Ohrring. Er trug einen glänzenden blauen Nylonoverall und Doc-Marten's-Stiefel. »Mr. Williams? Rentokil, ich bin hier wegen Ihrer Ratte.«

»Oh, Gott, das hatte ich ganz vergessen. Entschuldigung, aber es gab ein Problem.«

»Aha?«, sagte der junge Mann unbeeindruckt.

»Die Ratte ... na ja, heute können Sie wegen der Ratte nichts unternehmen. Es gab einen Unfall im Haus, die Polizei war hier.«

»Aha? Tja, aber Sie wissen ja, dass wir auf jeden Fall die Anfahrt berechnen.«

»Das geht in Ordnung, schicken Sie die Rechnung.«

»Dann müssen Sie hier unterschreiben.« Er trat in den Flur und holte ein Auftragsformular hervor, um eine Bestätigung zu erhalten, dass er mir einen Besuch abgestattet hatte."

Er reichte mir einen Kugelschreiber mit angeknabberter Spitze, und ich unterschrieb.

»Was war denn das für ein Unfall?«, fragte er und riss das oberste Blatt des Formulars ab, um es dann zusammenzufalten. »Irgendwas mit Ihrem Wagen?«

Ich sah ihn verständnislos an. »Mit meinem Wagen? Nein, damit hatte es nichts zu tun.«

»Oh«, sagte er. »Ich dachte nur, weil er so ramponiert aussieht.«

»Was meinen Sie mit ramponiert?«

»Der Audi da draußen, in der Einfahrt.«

Ich hatte keine Ahnung, was er meinte.

»Ja«, sagte ich. »Das ist mein Wagen. Zugegeben, er ist nicht im Bestzustand ...«

Er lachte in einem unangenehmen Stakkato wie ein Hooligan. »Das können Sie laut sagen.«

Ich schob ihn zur Seite und ging zur Vordertür. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Mein Wagen war ringsum verbeult, alle Scheiben waren eingeschlagen, die Reifen waren platt, die vordere Stoßstange war abgerissen worden. In der Nähe stand Vera Martín, Harry Martins Witwe, die offenbar auf mich wartete. Sie trug einen schwarzen Pullover, dazu ein einfaches graues Kleid. Neben ihr stand ein kleiner stiernackiger junger Mann mit schwarzem öligen Haar. Er trug eine grüne Tweedjacke, und in der Hand hielt er einen Vorschlaghammer.

Zuerst wunderte ich mich, dass ich davon nichts gehört hatte, aber dann wurde mir klar, dass es ein weiter Weg bis zur Kapelle war. Zudem kam der Wind von See und trug das Rauschen der Brandung mit sich. Aber selbst falls ich etwas gehört hätte, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass jemand meinen Wagen demolierte.

Ich ging zu meinem Audi, hob die Stoßstange auf, ließ sie dann aber wieder fallen. Da gab es nichts zu reparieren, der Wagen war hinüber.

»Was um alles in der Welt soll das?«, wollte ich wissen.

»Nennen Sie es Rache, wenn Sie wollen«, sagte Vera Martin, die mit verschränkten Armen dastand.

»Rache? Für was?«

»Für Harry«, sagte der junge Mann zornig. »Für ihn.«

»Wer ist das?«, fragte ich Vera.

»Keith Belcher, der jüngste Sohn meiner Schwester Edie. Es war nicht seine Idee, sondern meine. Aber er hat sich freiwillig gemeldet.«

Ich ging um meinen Wagen herum, um den Schaden zu begutachten. Keith Belcher hatte verdammt gute Arbeit geleistet. Es gab keinen Quadratzentimeter Blech, der vor dem Hammer verschont geblieben war. Er hatte es sogar geschafft, eine Beule ins Lenkrad zu schlagen.

»Mrs. Martin, ich habe Ihren Mann nicht umgebracht. Es war ein Unfall, nichts anderes.«

»Im Fortyfoot House gibt es keine Unfälle«, gab sie zurück.

»Es ist ein böser Ort für böse Menschen. Sie und dieses Ratten-Ding, Sie beide haben sich das verdient. Ich hoffe, Sie werden glücklich.«

»Ja, hoffentlich werden Sie zusammen scheißglücklich«, warf Keith Belcher ein und legte den Griff seines Vorschlaghammers so in die Handfläche, als wolle er mich auffordern, ihm das Werkzeug abzunehmen.

»Mrs. Martin, Sie verstehen nicht. Ich wollte ihn aufhalten, aber er ließ es sich nicht ausreden.«

»Ich habe Sie angefleht«, sagte sie, und mit einem Mal schossen ihr Tränen in die Augen. »Ich habe Sie wieder und wieder angefleht. Lassen Sie ihn nicht zu dem Ratten-Ding, habe ich Ihnen gesagt. Lassen Sie es nicht mal zu, wenn er es unbedingt will. Und jetzt? Er ist tot. Und alles nur Ihretwegen. Gott allein weiß, was ihm Schreckliches zugestoßen ist. Im Krankenhaus haben sie mich nicht mal zu ihm gelassen.«

Ich trat gegen einen der platten Reifen. »Tja ...«, sagte ich. »Sieht so aus, als hätten Sie erledigt, wozu Sie hergekommen sind.«

»Seien Sie bloß froh, dass es nur Ihr Auto war, nicht Ihr Kopf«, warf Keith ein.

»Darüber bin ich froh, das können Sie mir glauben.«

Ich sah ihnen nach, wie sie sich entfernten. Der Rentokil-Typ hatte die ganze Zeit über neben seinem Van gestanden. Er grinste mich freundlich an und sagte: »Ich hoffe, Sie haben eine gute Werkstatt, Kumpel.« Dann stieg er in seinen Wagen und führ ab. Am liebsten hätte ich ihm einen Ziegelslein hinterhergeworfen.

Liz kam nach draußen und trat neben mich. »Und was machst du nun?«, fragte sie.

»Nichts. Was soll ich machen? Ich kann eine Werkstatt anrufen und hören, ob noch was zu retten ist.«

»Willst du immer noch abreisen?«

»So bald wie möglich. Aber heute klappt es ja wohl nicht. Sieh dir nur dieses Meisterwerk an. Er hat sogar das Armaturenbrett zertrümmert.«

»Willst du nicht die Polizei anrufen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat gerade ihren Mann verloren, ich will ihr nicht noch mehr Kummer bereiten.«

»Aber dein Wagen. Was ist mit der Versicherung?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte ihr nicht sagen, dass ich gar keine Versicherung hatte. »Ich werde sagen, dass ich mich überschlagen habe und dass niemand sonst darin verwickelt war.«

Liz sah zurück zum Fortyfoot House. »Dann sieht es nach einerweiteren Nacht in der Herberge zum fröhlichen Stöhnen aus.«

»Du musst nicht bleiben, wenn du nicht möchtest.«

»Oh«, sagte sie nachdenklich. »Ich glaube doch, dass ich bleibe. Wir beide haben ja noch so etwas wie eine offene Rechnung, meinst du nicht auch?«

Ich sah ebenfalls zum Haus. Vielleicht hatte sie ja Recht, was die offene Rechnung anging. Ich dachte dabei nicht nur daran, mit ihr zu schlafen, sondern auch daran, dass es vielleicht gar kein Zufall war, der Danny und mich ins Fortyfoot House verschlagen hatte. Vielleicht war das unsere Bestimmung gewesen.

Vielleicht war der Zeitpunkt gekommen, an dem Danny und ich entscheiden mussten, wer wir waren und welches Leben wir führen wollten. Vielleicht war das auch der Zeitpunkt, an dem all diese seltsamen Gestalten, die rund um das Fortyfoot House auftauchten und wieder verschwanden, entscheiden mussten, in welche Realität sie gehörten.

»Es könnte gefährlich sein, hier zu bleiben«, sagte ich, doch Liz schien mich nicht zu hören. Sic hatte sich abgewandt und blickte hinüber zu den verfallenen Ställen, die von Efeu überwuchert waren. Ihr Profi vor dem Hintergrund des Gartens war präzise und vollkommen. Ich hatte das Gefühl, Liz sehr nah und doch sein lern zu sein - so, als würde sie mein gesamtes Leben und alle meine Geheimnisse in ihrem Herzen bewahren.

Danny trat mit einem leeren Eimer nach draußen. »Ich habe den Krebsen alle Beine abgemacht und sie ins Wasser geworfen«, verkündete er.

»Oh, Danny«, schimpfte ich. »Das ist widerlich! Und grausam!«

»Der Fischer hat mir gesagt, dass Krebse alles fressen, auch wenn es lebt. Der Fischer hat gesagt, dass die Krebse deine Füße und deine Ohren und alle weichen Stellen auffressen, wenn du zu lange am Strand liegst. Sie fressen zuerst immer die weichen Stellen.«

»Geh und wasch dir die Hände, es gibt bald Abendessen«, sagte ich ihm.

»Reisen wir nicht ab?«, fragte er, sah dann aber den Wagen. Sein Unterkiefer fiel nach unten, seine Augen weiteten sich.

»Was ist mit dem Auto passiert?«, fragte er fassungslos.

»Es hatte einen Streit mit einem Vorschlaghammer«, antwortete ich. »Darum bleiben wir.«


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