Ich knöpfte gerade mein Hemd zu, als Danny die Tür zur Küche erreicht hatte.
»Na, keine Lust zum Taschenkrebsrennen?« Er rieb sich die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. »Ich mag keine Taschenkrebse mehr, weil sie Mrs. Kemble gefressen haben.«
»Das wussten sie doch nicht. Sie können nicht zwischen Fisch und Mensch unterscheiden.« »Sie sind gemein.«
»Tja, das könnte man wohl sagen«, meinte ich. »Möchtest du was trinken?«
Er warf etwas Dunkles, Metallisches in die Luft und fing es wieder auf.
»Was ist das?«, fragte ich, während ich ihm ein Glas Limonade eingoss.
»Schlüssel«, sagte er. »Hab ich am Strand gefunden. Die sind mindestens hundert Jahre alt.«
»Schlüssel? Lass mal sehen.«
»Sie sind ganz rostig, und es kleben Austern dran.«
Er gab mir einen Schlüsselbund. Ich betrachtete die Schlüssel und stellte fest, dass er Recht hatte. Sie mussten hundert Jahre alt sein. Das Metall der Stahlschlüssel war vom Meerwasser angegriffen worden, sodass sie nichts weiter waren als hauchdünne Plättchen, während sich die Messingschlüssel schwarz verfärbt hatten und mit winzigen Schnecken überzogen waren.
Der Ring, an dem die Schlüssel befestigt waren, bestand aus einer Metallscheibe mit einer Art Abzeichen darauf, um das Spuren von blauem Email zu sehen war, darunter, kaum leserlich, die Buchstaben >Re...lt<.
»Sind die Schlüssel viel Geld wert?«, fragte Danny. »Es könnten Piratenschlüssel sein, oder?«
Bedächtig schüttelte ich den Kopf. »Nein, das sind keine Piratenschlüssel, das sind Autoschlüssel.«
»Aber sie sehen so alt aus.«
»Sie sind alt. Aber sieh dir die Buchstaben an: R, E, Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen, L, T. Renault. Das sind die Schlüssel von Reverend Pickering, er hat sie heute Morgen gesucht.«
»Aber wenn er sie heute Morgen verloren hat, warum sind sie dann so alt?«, wunderte sich Danny.
Ich hatte seine Leiche aufs Meer hinaustreiben lassen, die Wellen hatten Pickering mitgenommen. Aber seine Schlüssel mussten aus seiner Tasche gerutscht und zwischen den Felsen gelandet sein. Damit waren sie über hundert Jahre alt, als Danny sie heute Morgen fand. Und obwohl sie so alt waren, hatten sie heute früh noch nicht am Strand gelegen.
Ich setzte mich hin und sah wieder und wieder auf Pickerings Wagenschlüssel, während Danny mich verwirrt beobachtete. Diese Schlüssel verdeutlichten sehr eindringlich das Paradox von Fortyfoot House. Hier konnte man die Vergangenheit und die Zukunft verändern. Man konnte dafür sorgen, dass Dinge in der Vergangenheit geschahen, obwohl sie sich nie ereignet hatten. Und was noch viel wichtiger war: Man konnte Dinge, die sich in der Vergangenheit ereignet hatten, ungeschehen machen.
Pickerings Leichnam hatte unter dem Fußboden des Wohnzimmers gelegen, seit Brown Jenkin ihn 1886 ermordet hatte. Ich hatte die Leiche gesehen. Jetzt aber war sie verschwunden, weil ich die Vergangenheit verändert hatte. Mit einem Mal wurde mir klar, dass Zeit nicht linear verlief, sondern parallel. Unser Bewusstsein bewegte sich von einem Ereignis zum anderen, doch wir konnten an den Anfang zurückkehren und Ereignisse ändern. Die Ereignisse waren immer da, von der prähistorischen Zeit bis zum Ende aller Zeit. Queen Viktoria war immer noch da, ebenso Heinrich VIII. und Julius Cäsar. Auch ich als kleiner Junge. Und Janie. Vielleicht konnte ich sogar verhindern, dass sie jemals Raymond begegnete.
Es wunderte mich nicht, dass die Alten so gierig die Chance nutzten, durch die Zeit zu reisen, und dass sie die sumerischen Priester übernahmen, die zurückgereist waren, um diese vormenschlichen Zivilisationen zu besuchen. Die Alten waren unglaublich hinterlistig, und sie waren unerbittlich an ihrem eigenen Überleben interessiert. Sie hatten, so wie ich mittlerweile auch, verstanden, dass die Zeit verändert und neu arrangiert werden konnte. So wie manche Wissenschaftler hatten sie mit herzloser Klarheit erkannt, dass die Beherrschung der Zeit zugleich die Herrschaft über alles und jeden bedeutet und eine Welt nach sich zieht, in der Moral nicht länger existiert und in der ihre eigene Selbstgefälligkeit genügt, um überlegen zu herrschen.
Wie ein ganz gewöhnlicher Schriftsteller wie H. P. Lovecraft jemals diesen Namen gehört hatte, wollte ich gar nicht erst wissen. Aber das Zeitalter von Yog-Sothoth stand unmittelbar bevor. Yog-Sothoth, der für alle Zeit als Urschleim in nuklearem Chaos jenseits der tiefsten Außenposten von Raum und Zeit schäumt!
Ich betrachtete die Schlüssel und hatte das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Sie waren der unwiderlegbare Beweis dafür, dass ich ins Jahr 1886 gereist war, dass Dennis Pickering tatsächlich von Brown Jenkin getötet worden war und dass ich seinen Leichnam ins Meer gebracht hatte. Das bedeutete auch, dass der »Dennis Pickering«, der mich am Morgen besucht hatte, auf keinen Fall Pickering war. Wahrscheinlich war mein Eindruck richtig gewesen, dass es Brown Jenkin gewesen war, der mit Hilfe von Kezia Masons Magie eine Illusion von Pickering erzeugt hatte. Sie hatte aus einem Türgriff eine menschliche Hand gemacht, also konnte sie auch sicherlich aus dem verlausten Brown Jenkin einen Vikar machen.
Ich ging in den Flur und rief Detective Sergeant Miller an, der mit vollem Mund ans Telefon ging.
»Sergeant Miller? Hier ist David Williams aus dem Fortyfoot House.«
»Ah, ja. Stimmt etwas nicht, Mr. Williams?«
»Sie sollten jemanden zum Vikariat von St. Michael's schicken.«
»Liegt irgendein bestimmter Grund vor?«
»Nur eine Kontrolle, ob es Mrs. Pickering gut geht.«
Miller schluckte, dann fragte er vorsichtig: »Ob es ihr gut geht? Wüssten Sie einen Grund, der dagegen spricht?«
»Sehen Sie«, sagte ich. »Von den Einwohnern hier abgesehen sind Sie der einzige Mensch, dem ich in Bonchurch begegnet bin, der glaubt, dass irgendetwas Gefährliches im Gange sein könnte.«
»Und?«, fragte er misstrauisch.
»Nun ... ich kann das im Moment nicht so genau erklären ... aber ich glaube nicht, dass Reverend Pickering der ist, für den er sich ausgibt. Pickering ist nicht der Pickering.«
»Verstehe«, bemerkte Miller mit einem leicht ironischen
Unterton. »Wenn er nicht er selbst ist... wer ist er dann? Und sollte seine Frau nicht sofort den Unterschied bemerkt haben?«
»Es gibt keinen Unterschied, er ist eine Art Trugbild.«
Ich hörte ihn kauen und schlucken, und dann schlürfte er an etwas; wahrscheinlich an einer Tasse mit sehr heißem Tee.
»Sie erwarten verdammt viel von meiner Fantasie, Mr. Williams.«
»Wäre es nicht besser, der Sache nachzugehen, solange es noch nicht zu spät ist?«, fragte ich.
»Schätze, Sie haben Recht. Passen Sie auf, ich sage Ihnen, was ich machen werde. Ich bin nachher ohnehin bei Ihnen in der Nähe, weil ich mit Mr. Divall vom Dorfladen reden muss. Ich hole Sie ab und wir fahren gemeinsam zum Vikariat. Dann können wir diese Angelegenheit ein für allemal aus der Welt schaffen.«
»Hört sich gut an.«
Ich legte den Hörer auf. Oben hörte ich Liz The Windmills Of My Mind singen. Die Schlüssel waren auch der unwiderlegbare Beweis für einen anderen Punkt: Liz hatte mich belogen, was meine Reise zurück ins Jahr 1886 und was Charity betraf. Und vermutlich hatte sie dann auch gelogen, als sie sagte, sie wisse nichts über den jungen Mr. Billings, über die sumerischen Durchgänge und über die Alten, die seit mehr als fünfeinhalbtausend Jahren im Körper unschuldiger Menschen überlebt hatten und darauf warteten, dass eines Tages die Erde genug verschmutzt war, damit sie zurückkehren konnten.
Die Schlüssel bedeuteten auch, dass der junge Mr. Billings die Wahrheit gesagt hatte und dass die geisterhafte Nonnengestalt, die in Liz eingedrungen war, dasselbe Hexenwesen war, das zuvor unter anderem von Kezia Mason Besitz ergriffen hatte.
Und ich hatte Liz die dritte und letzte Befruchtung gegeben, die des Blutes.
Ich stand im Flur und glaubte, mein Gehirn müsse explodieren. Aller Logik und allen Erlebnissen zum Trotz konnte ich fast nicht glauben, dass Liz tatsächlich besessen sein könnte. Sie sprach wie immer, machte die gleichen Witze, sah aus wie immer. Sie tauchte oben an der Treppe auf und trug eines meiner Hemden. Mit wehenden Haaren und wippenden Brüsten kam sie die Treppe zu mir heruntergelaufen.
»Stimmt was nicht?«, fragte sie und küsste mich auf die Nase. »Du siehst aus, als wäre dir ein Geist über den Weg gelaufen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist alles in Ordnung, du musst dir keine Sorgen machen. Aber Detective Sergeant Miller möchte, dass ich mit ihm nach Shanklin fahre, um noch ein paar Fragen zu beantworten.«
»Er glaubt doch nicht ernsthaft, dass du irgendwas mit dem Tod von Harry Martin oder Doris Kemble zu tun haben könntest, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Er will nur noch einmal alles überprüfen. Nächste Woche gibt es wegen Harry Martin eine gerichtliche Untersuchung. Er will nur sicher sein, dass ich nichts ausgelassen habe.«
»Oh, das ist gut«, sagte Liz. »Dann gehe ich mit Danny spazieren.«
Augenblicklich überkam mich Angst. Wenn sie von dem Hexending besessen war, konnte ich Danny dann mit ihr allein lassen? Der junge Mr. Billings hatte mir versichert, dass alle Märchen der Wahrheit entsprachen und dass Kinder das Grundnahrungsmittel für Hexen waren. Ich erinnerte mich entsetzt an ein Märchenbuch aus meiner Kindheit, das eine Hexe mit Hakennase zeigte, die sechs oder sieben verstörte Kinder auf einem riesigen Backblech in den Ofen schob.
»Ich ... ich dachte, dass ich Danny mitnehme. Sergeant Miller sagte, er würde ihm den Polizeiwagen zeigen.«
Liz ging vor mir und drehte den Kopf um, während sie die Nase rümpfte. »Laaaaaaangweilig! Danny will bestimmt nicht den Nachmittag mit einer ganzen Horde Bullen verbringen.«
»Ihn interessiert so etwas.«
In dem Augenblick betrat Danny die Küche, während er noch immer mit Pickerings Schlüsseln spielte.
»Dein alter Herr muss zur Polizei gehen«, sagte Liz und legte den Arm um seine Schultern. »Sollen wir nicht währenddessen nach Ventnor spazieren und Süßigkeiten kaufen? Danach bauen wir eine riesige Sandburg, setzen uns hinein und essen tonnenweise Süßes, bis wir keinen Hunger mehr aufs Abendessen haben.«
»Ich hatte eigentlich gehofft, dass du mit mir mitkommst«, sagte ich. »Sergeant Miller sagte, er wolle dir einen richtigen Polizeiwagen zeigen.«
»Und dann?«, fragte Danny.
»Und dann ... dann muss ich mit ihm noch ein paar Dinge durchsprechen. Das wird nicht allzu lange dauern.«
Ich wünschte, mir wäre eine bessere Lüge eingefallen, aber ich hatte mir bereits ein Bein gestellt. Ich konnte mir genau vorstellen, was in Dannys Kopf ablief. Er überlegte, ob er mit seinem Vater in einem muffigen Büro einen langweiligen Nachmittag verbringen oder ob er Süßigkeiten haben und am Strand spielen wollte.
Liz legte ihren Kopf schräg. »Du musst dir keine Sorgen machen, David. Ich werde schon auf ihn aufpassen.«
»Bitte, Daddy«, bettelte Danny und ließ mir keine andere Wahl, als schulterzuckend einzuwilligen.
Ich warf Liz rasch einen prüfenden Blick zu, ob ihr Gesicht irgendetwas Bösartiges, Zufriedenes oder Gieriges erkennen ließ, doch sie sah aus wie immer, und für einen Moment fühlte ich mich schuldig, dass ich an ihr zweifelte. Nur die Schlüssel sprachen einen andere Sprache.
Als Detective Sergeant Miller ankam, sah er ungeduldig und gerötet aus. Am Nachmittag war es fast unerträglich heiß geworden. »Sind Sie so weit?«, fragte er und blickte auf seine Armbanduhr, als hätte ich gerade etwas Impertinentes gesagt.
»Ja. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich weiß, dass das sehr an den Haaren herbeigezogen klingt.«
Er ging um seinen Wagen und öffnete die Tür. »An den Haaren herbeigezogen? Das trifft es nicht mal annähernd. Völlig verrückt, das klingt besser. Sie lassen sich von diesem Haus ins Bockshorn jagen. Nächstes Mal rufen Sie mich an und erzählen mir, Sie hätten Satan persönlich gesehen.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete ich und versuchte, ganz neutral zu klingen, während er zurücksetzte und um Pickerings Renault herumfuhr.
»Ist der Reverend noch nicht gekommen, um seinen Wagen abzuholen?«
»Er hatte den Schlüssel verloren«, antwortete ich. »Er wollte nach Hause gehen und den Ersatzschlüssel holen. Aber bislang habe ich ihn nicht wieder gesehen.«
»Sonderbar«, sagte Miller. »Er braucht seinen Wagen für seine Runde.«
»Vielleicht hat er den Wagen seiner Frau genommen.«
»Der ist in der Werkstatt. Sie hatte letzte Woche einen Unfall auf dem Parkplatz in Ventnor.«
»Wurde jemand verletzt?«
Miller schüttelte den Kopf. »Mrs. Pickering selbst wäre beinahe verletzt worden. Sie hat einen Einkaufswagen gerammt und die Einkäufe für eine ganze Woche platt gefahren.«
Ich drehte mich um, während wir Fortyfoot House hinter uns ließen. Liz und Danny standen auf der Veranda und winkten uns nach. Aber da winkte noch jemand. Hinter einem Fenster der Schlafräume oben unter dem Dach glaubte ich, Charity zu sehen. Ihr Gesicht hatte den Ausdruck von Angst und Verzweiflung. Und sie winkte nicht zum, Abschied, sondern um. Hilfe! Um Himmels willen!
»Halten Sie an!«, rief ich.
»Was?«, fragte Miller, der gerade auf die Straße gefahren war.
»Halten Sie bitte an! Ein Stück zurück ... das reicht. Ich muss etwas sehen.«
Ungeduldig tat Miller, worum ich ihn bat. Ich starrte zu dem Fenster, an dem ich Charity gesehen hatte, aber jetzt war von ihr nichts mehr zu sehen.
»Schon gut«, sagte ich schließlich. »Vielleicht haben Sie Recht, vielleicht lasse ich mich von dem Haus wirklich ins Bockshorn jagen.«
»Es würde mich nicht überraschen«, meinte Miller und fuhr erneut los.
»Wie hörte sich Mrs. Pickering an, als sie bei Ihnen anrief?«, fragte ich.
»Ich glaube, sie klang ganz normal. Um ehrlich zu sein, habe ich darauf nicht wirklich geachtet.«
»Hat sie Ihnen gesagt, was ihr Mann die ganze Nacht getrieben hat?«
Miller bremste ab, da die Hauptstraße unseren Weg kreuzte. »Wenn ein Ehemann die ganze Nacht über nicht zu Hause ist - und vor allem, wenn es ein Vikar ist -, dann stellen wir nicht so viele unangenehme Fragen. Ist nicht unser Job.«
Nachdem er auf die Hauptstraße eingebogen war, sagte er: »Ihnen ist doch klar, dass wir uns vollkommen zum Narren machen können.«
»Ich glaube das nicht«, erwiderte ich. »Ich versuche, mir einzureden, dass Pickering nicht wie Brown Jenkin aussah, aber es war einfach so. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Die Zähne, die Haare, alles. Kein Zweifel.«
Miller trat mit aller Kraft auf die Bremse und lenkte den Wagen an den Straßenrand. Der Lastwagen hinter ihm hupte wie wild, während Miller sein Fenster herunterkurbelte und schrie: »Du mich auch!«
Dann wandte er sich wieder mir zu. »Sie glauben wirklich, dass es nicht Reverend Pickering war?«
Ich nickte, während mein Mund trocken wurde. Vielleicht hatte ich Miller doch nicht so sehr auf meiner Seite, wie ich gedacht hatte. »Wie gesagt, es war nur für den Bruchteil einer Sekunde. Wenn ich in dem Moment gezwinkert hätte, wäre es schon wieder vorüber gewesen.«
»Und wenn er die Tür öffnet und völlig normal ist?«
»Keine Ahnung. Wir sollten einfach nachsehen, ob Mrs. Pickering in Ordnung ist.«
Miller überlegte einen Moment lang, dann ließ er den Wagen wieder an und fädelte sich ohne zu blinken in den fließenden Verkehr ein, was erneut zu einem Hupkonzert und wüsten Beschimpfungen führte.
Wir erreichten das Vikariat, und Miller fuhr in die Einfahrt. Dort stand nur ein altes in Schwarz lackiertes Fahrrad, das gegen die Veranda gelehnt war. Die Katze der Pickerings hatte es sich auf dem Sattel bequem gemacht und beobachtete uns aus den Augenwinkeln, während wir zur Tür gingen und klingelten. Niemand reagierte, also klingelte ich nochmals. Ich konnte das Echo der Klingel im Flur hören.
»Sie könnte jetzt natürlich einkaufen«, sagte Miller. »Und der Reverend kann überall sein. Er macht Krankenhausbesuche, sieht nach den alten Leuten und so weiter.«
Ich dachte, dass ich als alter Mensch ganz bestimmt nicht von Brown Jenkin besucht werden wollte. Miller beugte sich vor und öffnete die Briefklappe, spähte hindurch in den Flur und rief: »Hallo? Mrs. Pickering? Jemand zu Hause?«
Wieder keine Antwort. Miller sah weiter durch den Schlitz, dann richtete er sich auf, um aus seiner Jackentasche ein kleines schwarzes Ledermäppchen zu holen. Er öffnete es, und zum Vorschein kam ein Dietrich. »Das isl nicht immer so einfach, wie es im Fernsehen aussieht«, sagte er. »Vielleicht müssen wir die Tür doch noch eintreten.«
»Wieso?«, fragte ich. »Es ist doch niemand zu Hause.«
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte er düster. »Sehen Sie mal durch den Briefschlitz, und dann sagen Sie mir, was Sie da sehen. Auf der linken Seite, in der Nähe der offenen Tür. Auf dem Boden/«
Ich versuchte, etwas zu erkennen. Der polierte Parkettboden schien mit einem Muster überzogen zu sein, oder vielleicht hatte jemand eine dunkle glänzende Farbe fallen lassen. Ich konnte es nicht erkennen, also richtete ich mich wieder auf und zuckte mit dem Schultern. »Nein?«, fragte Miller. »Sie wissen nicht, was das ist? Vielleicht haben Sie in letzter Zeit noch nicht genug davon gesehen. Es ist Blut.«
»Oh Jesus«, sagte ich leise.
»Genau. Oh Jesus. Und Sie, mein Freund, werden so einiges erklären müssen. Zum Beispiel, wie es kommt, dass Sie ein so unglaubliches Talent besitzen, die Leichen gerade erst verstorbener Menschen zu entdecken. Das entwickelt sich allmählich zu einer Poirot-Geschichte. Oh Scheiße, dieses Schloss ist ja fast Houdini-sicher.«
Nach einigen weiteren Versuchen vernahmen wir aber dann doch noch ein erfreuliches Klicken, und dann ging die Tür auf. Sofort roch ich einen sonderbaren, markanten Geruch, eine Mischung aus etwas Süßem und Zerfall. Es war ein Haus, in dem sich etwas Totes befand.
»Sie können hier warten, wenn Sie wollen«, schlug Miller vor, ohne mich anzusehen. »Allerdings nur, wenn Sie mir versprechen, dass Sie nicht abhauen.«
»Nein, ich komme mit Ihnen. Ich will sehen, was hier passiert ist. Ich muss es sehen.«
Wir gingen langsam durch den Flur und näherten uns der Stelle, die ich für einen Schatten oder einen Schal auf dem Boden gehalten hatte. Jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, dass es sich um Blut handelte. Eine große dunkelrote Pfütze, auf der sich bereits Fliegen tummelten.
»Hier ist jemand abgeschlachtet worden, und das sehr gründlich«, sagte Miller mit tonloser Stimme. Er ging wie eine Ballerina auf Zehenspitzen in den Salon, um nicht in die Blutlache zu treten. Dann stand er lange Zeit einfach nur da und war so stumm, dass ich mich ernsthaft zu fragen begann, ob er vergessen habe, wo er sich befand, oder ob er möglicherweise im Stehen eingeschlafen sei.
»Sergeant?«, fragte ich.
Miller erwachte aus seiner Trance, hob die linke Hand und machte eine fast nicht wahrnehmbare Geste. »Sie kommen besser her und sehen sich das an«, sagte er. »Immerhin könnten Sie das veranstaltet haben. Ich möchte Ihre Reaktion beobachten.«
»Ist es Mrs. Pickering?«, fragte ich. Meine Stimme klang erstickt und fremd.
Er nickte. »Kommen Sie und sehen Sie selbst.«
Mit zwei Schritten war ich im Zimmer. Es war ein großer Raum, der von der nachmittäglichen Sonne hell ausgeleuchtet wurde. Es gab einen Kamin aus Marmor, schwere bequeme Sessel aus den dreißiger Jahren. Ein poliertes Tablett mit verzierten Beinen diente als Kaffeetisch. Ausgaben des Daily Telegraph Magazine sowie der Church Times und des Punch waren ordentlich in einen Zeitschriftenständer gepackt. Es war ein völlig normaler Salon an einem warmen Sommernachmittag in einem südenglischen Vikariat.
Das Zimmer war so normal, dass das Entsetzen in seiner Mille zehnmal schlimmer war als jeder Anblick eines schweren Verkehrsunfalls auf der M 25 mit Toten und Verletzten oder in der Notaufnahme jedes größeren Krankenhauses. Das Blut hatte mich darauf vorbereitet, eine Leiche zu sehen. Aber nichts auf dieser Welt hätte mich auf die Art vorbereitet, wie der Tod eingetreten war. Ich stand neben Miller und ging buchstäblich in die Knie - eine schreckliche, ungewollte Bewegung.
In einem der Sessel saß der kopflose Leichnam von Mrs. Pickering. Sie hatte eine pfirsichfarbene Seidenbluse und einen weißen Baumwollrock getragen, doch von beiden waren nur noch kaum wiederzuerkennende Fetzen übrig. Ihr gesamter Körper war mit solcher Gewalt zerrissen worden, dass Haut und Fettgewebe in Stücken auf den Armlehnen verteilt lagen.
... in gay profusion lying there - scarlet ribbons, scarlet ribbons ....
Ihr blutiger Halsstumpf ragte aus dem blutgetränkten Kragen ihrer Bluse heraus, den größten Teil ihrer inneren Organe - Lunge, Leber und Magen - hatte man durch ihre Luftröhre aus dem Körper gerissen und auf ihren Schultern verteilt. Es wirkte wie eine groteske Parodie auf das Wandgemälde von Kezia Mason mit Brown Jenkin auf ihren Schultern.
Ich konnte ihre Rippen und ihr Becken durch das zerfetzte Fleisch hindurch erkennen. Die Knochen glänzten weiß, nur wenige Fleischreste hingen noch an ihnen. Ihr Korsett und ihr Hüftgürtel waren in Stücke gerissen worden, ein Akt, der gerade bei der Frau des Vikars noch entsetzlicher wirkte als die Tatsache, dass man sie geköpft hatte. Zwischen ihren Beinen lag ein tropfendes Wirrwarr aus Innereien.
Alles war voller Blut. Die Wände, der Teppich, der Spiegel, die weißen Teerosen auf dem Tisch.
Zuerst konnte ich ihren Kopf nirgends entdecken. Ich wandte mich Miller zu und sagte: »Wo ist ihr Kopf?«
Er deutete auf eine Ecke des Zimmers. Sein Gesicht war grau und versteinert. Ich versuchte, das zu erkennen, was er mir zeigte, aber mein Verstand war einfach nicht in der Lage, ihm zu folgen.
»Um Himmels willen, Sergeant!«, schrie ich ihn nahezu an. »Wo ist ihr Kopf?«
Wieder deutete er in die Ecke, aber ich sah nur das braun lackierte Sideboard mit dem blutbespritzten weißen Läufer und dem Goldfischglas darauf.
Jesus, das Goldfischglas!
Das Wasser in dem Glas hatte eine rosarote Färbung. Zwei kleine Goldfische versuchten, in ihrem überfüllten Heim zu schwimmen, doch der eine schnappte nach Luft, der andere hatte eine verletzte Schwanzflosse.
Durch das trübe Wasser starrte mich das durch die Wölbung des Glases grässlich verzerrte Gesicht von Mrs. Pickering an. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund war mit farbigen Kieselsteinchen gefüllt. Miller ging auf das Sideboard zu und starrte das Fischglas an. Mrs. Pickerings angegrautes brünettes Haar trieb wie Tang an der Oberfläche.
»Können Sie ihn nicht da rausholen?«, fragte ich heiser. Mrs. Pickerings Kopf bewegte sich leicht, sodass es aussah, als würde sie mir nachblicken, während ich näher kam.
Miller schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Jedenfalls nicht, ohne das Glas zu zerbrechen.«
»Was?«, fragte ich. »Wenn Sie den Kopf nicht herausholen können, ohne das Glas zu zerbrechen, wie ist er dann hineingekommen?«
Detective Sergeant Miller sah sich im Zimmer um. »Sie hatten von Anfang an Recht«, sagte er. »Fortyfoot House ist verflucht oder besessen oder was auch immer. Und Brown Jenkin existiert wirklich, ganz egal, was die Polizei der Isle of Wight denkt.«
Er ging hinüber zu dem geöffneten Fenster, das den Blick auf einen Rosengarten bot. Der Garten hätte in keinem stärkeren Kontrast zu dem abscheulichen Blutbad im Zimmer stehen können.
»Sehen Sie«, sagte er und zeigte auf blutige Abdrücke auf der Fensterbank und auf dem Glas. Es waren Pfotenabdrücke, die von einem Nagetier stammten. Das Einzige, was sie von denen einer gewöhnlichen Kanalratte unterschied, war die enorme Größe.
Es war alles real, Brown Jenkin, Kezia Mason und auch Yog-Sotholh, wie Lovecraft das Böse genannt hatte. In dem Augenblick schoss mir eine Gedanke wie ein Aufschrei durch den Kopf: Danny!
»Wohin wollen Sie?«, herrschte Miller mich an, als ich mir einen Weg aus dem Raum bahnte.
»Das Haus! Liz hat Danny! Und ich wette, dass Brown Jenkin auch dort ist!«
»Was reden Sie da? Wir können doch nicht einfach ...« Er sah sich verzweifelt in dem blutigen Zimmer um.
»Sergeant«, flehte ich ihn an. »Bitte!«