4. Der Rattenfänger

Vor dem Mittagessen gingen Liz und Danny einkaufen, um Brot, Schinken und Tomaten zu besorgen. Nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten, saß ich eine Weile im riesigen leeren Salon im Sonnenschein, in dem Staubpartikel umhertanzten, und rief die Kreisverwaltung der Isle of Wight an.

»Ich habe hier eine Ratte. Vielleicht auch ein Eichhörnchen. Aber es klingt eher nach einer Ratte.«

»Tja, das tut mir Leid. Schädlinge fallen nicht mehr in unsere Zuständigkeit. Sie wissen schon, wegen der Einsparungen. Sie müssen sich einen privaten Schädlingsbekämpfer suchen.«

»Können Sie mir jemanden empfehlen?«

»In Bonchurch? Sie könnten es bei Harry Martin versuchen. Er lebt in Shanklin Old Village, das ist nicht allzu weil entfernt.«

»Sie haben nicht zufällig seine Telefonnummer?«

»Nein ... um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass er überhaupt ein Telefon besitzt.«

Liz bereitete ein Picknick aus Sandwiches mit Cheddarkäse und Schinken zu, das wir auf dem Rasen unter einem heißen, diesigen Himmel zu uns nahmen. Liz redete am meisten von uns allen. Sie war offen und direkt, und sie war wirklich witzig. Sie wollte in einer öffentlichen Verwaltung arbeiten. Sie war keine Marxistin-Leninistin, andererseits war sie aber auch keine zweite Margaret Thatcher.

Sie war überzeugt, dass sie etwas bewirken könne. »Daran glaube ich ganz fest«, sagte sie voller Begeisterung. Sie glaubte wirklich daran. In diesem Alter meint jeder, dass er etwas bewirken kann.

»Ich möchte einfach nur ein Genie sein, weiter nichts«, sagte Liz. »Ein berühmtes Genie. Ich möchte im Fernsehen auftreten und mit einem breiten deutschen Akzent reden, während ich über den Zustand der Gesellschaft spreche.«

»Und wie ist dieser Zustand?«

Sie legte sich auf den alten braunen Vorhang, den ich ersatzweise als Picknickdecke aus dem Haus geholt hatte, und trank den kalten Frascati direkt aus der Flasche. »Der Zustand der Gesellschaft ist der, dass die Männer die Frauen wie Göttinnen verehren, bis sie sie in ihre Klauen bekommen haben. Dann nutzen sie sie aus, missbrauchen sie, schlagen sie und schmähen sie. Und je mehr die Frauen ausgenutzt,

missbraucht, geschlagen und geschmäht werden, umso mehr gefällt es ihnen.«

»Gefällt es dir?«, fragte ich sie.

»Nein, beim besten Willen nicht. Andererseits hat mich ja auch noch niemand in seine Klauen bekommen.«

»Nicht alle Männer sind ungehobelt und schlagen ihre Frauen.«

»Die, die es wert sind, leider schon. Das ist die schreckliche Ironie dabei.«

Ich setzte mich auf und sah zu Danny, der am Fischteich spielte. »Pass auf, Danny, das Wasser ist tiefer als es aussieht.«

»Du betest ihn wirklich an, nicht wahr?«, fragte Liz, während sie ein Auge zukniff, um die Sonne abzuwehren.

»Natürlich.«

»Und seine Mutter liebst du nicht?«

»Aul gewisse Weise immer noch. Aber was bringt's? Sie lebt jetzt in Durham. Mit einem bärtigen Kerl namens Raymond.«

Liz nickte. »Ich weiß, was du meinst. Ich kannte auch mal einen Kerl, der Raymond hieß. Er war völlig nutzlos. In der Schule gab er sein Essensgeld an die Bedürftigen, und dann ging er rum und schnorrte den anderen Leuten deren Sandwiches ab. Er hielt sich für einen Heiligen.«

»Vielleicht wärer das ja auch.«

Liz lachte. »Ein schöner Heiliger. Nachdem er von der Schule abgegangen war, wurde er auf dem Dach eines Lagerhauses in South Croydon erwischt, als er Fernseher stehlen wollte.«

Ich aß mein Sandwich zu Ende, nahm die Flasche Wein und trank einen großen kalten Schluck. »Ich muss heute Nachmittag nach Shanklin Village fahren, um mit einem Rattenfänger zu reden. Oder mit einem Schädlingsbekämpfers wie man heute so schön sagt.«

»Darf ich mitkommen?«

»Mir wäre es lieber, wenn du auf Danny aufpassen könntest. Oder würde dir das was ausmachen?«

Liz schüttelte lächelnd den Kopf. »Liebend gerne. Er ist süß. Er hat mich gefragt, ob ich dich liebe. Ich glaube, wir werden sehr gut miteinander auskommen.«

»Hast du jüngere Geschwister?«

Das Lächeln wich aus ihrem Gesicht, während sie ihr Haar zurückstrich. »Ich hatte einen jüngeren Bruder. Marty hieß er. Aber es brach ein Feuer aus. Ein alter Ofen stürzte um, und er verbrannte. Er war gerade vier Jahre alt. Meine Eltern sind darüber fast verrückt geworden.«

»Das tut mir Leid«, sagte ich so sanft ich konnte.

Sie verzog den Mund. »Es ist nicht mehr zu ändern.«

»Was hältst du von der Geschichte, die uns Doris aufgetischt hat?«, wechselte ich das Thema.

»Uber den alten und den jungen Mr. Billings? Das fand ich toll. Aber solche Geschichten hört man immer über alte Häuser. Bei uns in der Straße gab es auch so ein Haus ... >The Laurels< hieß es. Die alte Frau, die dort gelebt hatte, war an Krebs gestorben, und wir Kinder glaubten alle, dass man ihr Gesicht immer noch sehen könne. An eines der oberen Fenster gepresst, ganz blass, mit weißen Haaren, während sie schrie, dass wir Kinder aus ihrem Garten verschwinden sollten. So, wie sie es immer gemacht hatte, als sie noch am Leben gewesen war. Bloß dass man sie hinter dem Fenster nicht hören konnte. Wir haben uns vor Angst verrückt gemacht.«

»Heute Morgen habe ich jemanden gesehen. Ich sah durch das Fenster der Kapelle hierher, und da stand jemand auf der Wiese, exakt hier.«

Liz schloss die Augen. »Komm schon, David. Das kann doch jeder gewesen sein.«

Es war schön zu hören, wie jemand meinen Namen aussprach. Das ist der einzige Luxus, der einem wirklich fehlt, wenn man allein ist.

Danny nannte mich immer >Daddy<, und >Daddy< war ja auch in Ordnung. Aber nichts war so gut wie Liz, wenn sie >David< zu mir sagte.

»Ich mache mich jetzt besser auf den Weg«, sagte ich zu ihr. »Und danke für die Sandwiches.«

Sie ließ sich wieder auf den alten braunen Vorhang sinken und sah mich mit zugekniffenen Augen an. »War mir ein Vergnügen, Monsieur. Was möchtest du zum Abendessen?«

»Wie wär's mit dem Chili, von dem du gesprochen hast?«

»Gerne. Kannst du eine Dose Kidneybohnen holen? Und Kümmel und Chilipulver?«

»Sonst noch was? Etwas Fleisch wäre doch auch nicht verkehrt, oder?«

Sie lachte. Wenn ich heute zurückblicke, dann glaube ich, dass es dieses Lachen gewesen ist, das mich dazu bewegte, meine Liebe zu Janie aufzugeben. Es gab auch noch andere Frauen auf der Welt. Vielleicht nicht unbedingt Liz, sondern andere Frauen, die lachen konnten und die liebenswürdig waren. Und die sich vielleicht auch um Danny kümmern wollten.

»Gehacktes«, sagte sie. »Nicht zu fett.«

Ich ging durch den Garten zum Haus zurück und bemerkte dabei eine fahle Gestalt hinter einem der Fenster im Obergeschoss. Eine fahle Gestalt, die mich beobachtete.

Ich weigerte mich, den Kopf zu heben und diese Gestalt anzusehen. Was Fortyfoot House nötig hatte, war eine gehörige Portion Skepsis - ein Verneinen durch geistig gesunde und sensible Menschen, dass Männer in Frack und hohem Zylinder umherlaufen, wenn sie seit hundert Jahren tot sind, ein Verneinen, dass haarige kichernde Dinge sich auf dem Speicher tummeln oder dass fahle Gesichter durch die Fenster starren.

Was mich anging, war Fortyfoot House nichts weiter als ein Wirrwarr aus Vorwürfen und Erinnerungen und Halluzinationen. Vielleicht war es nicht der geeignetste Platz für mich, wenn man meine Trennung von Janie und meine recht instabile Verfassung berücksichtigte. Aber da gab es nichts Böses oder Verfluchtes. Ich glaubte nicht an das »Böse«, nicht um seiner selbst willen. Und ich glaubte auch nicht an

Gespenster. Ich hatte gesehen, wie mein Vater in seinem Sarg zu den Klängen von The Old Rugged Cross hinter den roten Vorhängen des Worthing-Krematoriums verschwunden war. Und obwohl ich zu Gott gebetet hatte, er möge ihn auferstehen lassen, hatte ich ihn seitdem nirgends entdecken können. Ich war ihm nicht in der Bibliothek von Brighton begegnet und ich hatte ihn nicht mit seinem Bullterrier am Strand entdeckt, wo er immer spazieren gegangen war. Quod erat demonstrandum, dachte ich. Jedenfalls traf das auf mich zu.

Während ich aber im Schein der Sonne, die geradewegs aus 12 Uhr mittags hätte stammen können, die Stufen der Veranda hinaufging, sah ich kurz nach oben. Das blasse Ding war noch immer da. Spiegelte sich dort etwas? War es ein Vorhang?

Ich betrat das Haus und nahm meine Brieftasche und die Schlüssel. Dabei kam ich mir vor wie ein Eindringling, fast schon wie ein Einbrecher. Meine Schritte klangen unnatürlich laut und zaghaft. Fortyfoot House gehörte einem anderen, aber nicht mir oder Danny. Es gehörte nicht mal den Tarranis.

Ich sah mich um, während ich den Staub und die Feuchtigkeit und den Geruch von Schimmelpilzen im Keller einatmete.

»Hallo?«, rief ich. Dann noch einmal, aber lauter: »Hallo?«

Keine Antwort. Ich sprach ein kurzes Gebet, das mir in der Sonntagsschule von Miss Harpole beigebracht worden war, der Lehrerin mit ihrem Dutt wie Olivia Ol und ihrer blinden Brille.

»Jesus, schütz mich vor den Klauen der Dinge aus der Tiefe Grauen. Jesus, schütz, wenn ich nicht wach, mich vor der Hölle Drach'.«

Das Gebet ging noch weiter, aber ich konnte und wollte mich nicht mehr daran erinnern. Um ehrlich zu sein, hatte es mir damals eine Höllenangst verursacht. Die normalen Albträume waren für einen Fünfjährigen schon schlimm genug, ohne dass ihm eine Miss Harpole noch erzählen musste, die Schatten unter seinem Bett wollten ihn in Stücke reißen.

Ich verließ das Haus, ohne die Vordertür hinter mir zuzuziehen. Ich war sicher, dass ich ein schrilles Kratzen hörte, das von einem der Fenster im Obergeschoss kam, doch ich ging unbeirrt weiter zum Wagen und weigerte mich, einen Blick zurückzuwerfen.

Ich startete den Motor. Mein verschossener bronzefarbener Audi war elf Jahre alt und wieherte wie ein Pferd, bis er ansprang. Bevor ich die Handbremse löste, fasste ich genug Mut, um zum Haus zu sehen. Aber außer dunklen Fenstern und einem sonderbar winkligen Dach war da nichts. Ich wartete noch einen Moment länger, dann lenkte ich den Audi hinauf zur Straße.

Ich schaltete das Radio ein, während ich durch die engen schattigen Straßen fuhr, die nach Shanklin Village führten. Cat Stevens sang >I'm being followed by a moonshadow<, und ich stimmte ein: »Moonshadow ... moonshadow!«

Die Sonne blitzte grell zwischen den Blättern hindurch.

Der Rattenfänger lebte in einem kleinen blendend weißen Cottage am Rande von Shanklin Old Village. Im Garten blühten überall rote und gelbe Chrysanthemen und leuchtende Geranien, und er war voll gestellt mit braun lackierten Betoneichhörnchen mit Bernsteinaugen, mit Betongartenzwergen, Beton-Katzen, einer Miniaturwindmühle, einem Miniaturwunschbrunnen, einem Schloss und einem Betonspaniel.

Seine Frau saß auf der Veranda in einem Liegestuhl und strickte an etwas Braunem, Konturlosem. Eine korpulente Frau mit rosafarbenen Plastiklockenwicklern und in einem Baumwollkleid, das über und über mit Ankern bedruckt war. Auf den Fliesen neben ihrem Stuhl standen eine leere Teetasse und ein Tablett mit Biskuits. Ich stand am Gartentor und sah in den Garten, der so klein war, dass ich mich fast hätte vorbeugen und ihr das Strickzeug aus der Hand nehmen können. Sie schaute auf und sagte: »Ja?«, als habe sie mich nicht kommen sehen.

»Ich suche Harry Martin.« »Ach ja? Und wer sucht ihn?«

»Der Landrat sagt, dass er noch immer Ratten fängt.«

»Ach ja? Er ist im Ruhestand.«

»Ist er zu Hause?«

»Er macht sein Nickerchen.«

»Bitte?«

»Seinen Mittagsschlaf. Er ist siebenundsechzig, er braucht das.«

»Oh, sicher. Soll ich später wiederkommen?«

Im selben Moment wurde ich vom Erscheinen eines weißhaarigen Mannes in der Tür unterbrochen. Er stopfte gerade ein Hemd in seine braune Hose. Sein Nase war so verdreht, als sei sie in dem Moment gegen eine Glasscheibe gedrückt worden, in dem der Wind gewechselt hatte. Harry Martin, in voller Lebensgröße.

»Ich habe mitgekriegt, dass Sie nach mir gefragt haben«, sagte er. »Mein Schlafzimmerfenster ist gleich hier oben, da konnte ich Sie gar nicht überhören.«

»Tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht stören.«

Er öffnete das Gartentor. »Macht doch nichts. Kommen Sie rein.«

Mrs. Martin machte Platz, während Harry Martin mich ins Wohnzimmer schob. Das Zimmer war chronisch zu klein. Velourstapete, Sessel, über die Schondecken gelegt worden waren, ein Sideboard voller Blechnippes und Porzellanballerinas. Ein riesiger Fernseher füllte eine Wand aus, und auf dem Tisch aus den sechziger Jahren, auf dem er stand, stapelten sich monatealte Ausgaben der TV Times.

»Setzen Sie sich«, sagte er, und ich befolgte seine Aufforderung.

»Ich habe Probleme mit Ratten«, erklärte ich. »Besser gesagt, mit einer Ratte. Einer ziemlich großen.«

»Hmm«, sagte er. »Ich schätze, die Gemeindeverwaltung hat Sie direkt an mich verwiesen.«

»Das stimmt.«

»Einen Vollzeitjob wollen sie mir nicht geben, das können sie sich nicht leisten. Das hat alles mit dieser Kopfsteuer zu tun. Ich habe ihnen gesagt, dass ich keine Ratten mehr fange, aber sie schicken die Leute trotzdem zu mir. Ich mache jetzt in Gartenarbeit, das ist sicherer.«

»Ich würde Sie ja auch bezahlen«, sagte ich.

»12,50 Pfund. Außerdem Materialkosten, wenn ich zum Beispiel ein defektes Abflussrohr ersetzen oder ein Loch schließen muss.«

»Klingt akzeptabel.«

Harry Martin nahm eine Tabakdose vom Tisch neben seinem Sessel, öffnete sie und begann, sich eine Zigarette zu drehen, ohne hinzusehen.

»Und wo steckt Ihre Ratte?«

»Auf dem Dachboden.«

»Ja, aber wo? Auf welchem Dachboden?«

»Oh, entschuldigen Sie. Im Fortyfoot House.«

Harry Martin hatte ein Streichholz angerissen, um seine selbst gedrehte Zigarette anzuzünden, doch als er >Fortyfoot House< hörte, hielt er in seiner Bewegung inne und starrte mich an, während das Streichholz weiterbrannte. Die Zigarette hing unangezündet im Mund.

Erst als ich »Achtung!« rief, bemerkte er es, blies das Streichholz aus und öffnete die kleine Schachtel, um ein neues herauszuholen.

»Ich bin den Sommer über in Fortyfoot House«, erklärte ich. »Mr. und Mrs. Tarrant wollen es verkaufen, und ich erledige einige Reparaturen.«

»Ich verstehe ... und ich hatte davon gehört, dass sie es verkaufen wollten. Wenn Sie meine Meinung hören wollen ... es wäre besser, das ganze verdammte Ding einfach abzureißen.«

»Ich möchte nicht behaupten, dass ich da anderer Meinung bin. Aber ich soll es leer räumen und renovieren, und als Erstes möchte ich diese Ratte loswerden.«

Harry Martin zündete die Zigarette an und blies den dicken aromatischen Rauch in die Luft. »Aber Sie haben sie gesehen, diese Ratte?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nur ungenau. Sie sah ziemlich groß aus.«

»Sie ist ziemlich groß«, versicherte er mir.

»Sie wissen davon?«

»Natürlich. Jeder in der Gegend um Bonchurch und Old Shanklin Village weiß davon. Neulinge natürlich ausgenommen.«

Ich war erstaunt. »Jeder weiß davon?«

»Jeder weiß davon, aber niemand redet darüber, das ist alles.«

»Und warum nicht?«

»Wenn man darüber redet, dann muss man auch darüber nachdenken. Und das will keiner.«

»Wie lange ist sie schon da?«, fragte ich beunruhigt.

»Die Ratte war schon da, als ich ein kleiner Junge war«, antwortete Harry Martin schulterzuckend. »Ich bin jetzt siebenundsechzig. Sind Sie gut im Kopfrechnen?«

Ich begann zu vermuten, dass Harry Martin mich auf den Arm nehmen wollte. Bei diesen alten Kerlen muss man auf der Hut sein. Sie lieben es, andere aufzuziehen. Ihre Geschichten werden mit jedem neuen Dreh schräger und schräger, und ehe man sich versieht, grinsen sie einen schelmisch an, bis man erkennt, dass man ihnen auf den Leim gegangen ist.

»Ratten leben normalerweise nicht so lange, oder? Ich bin mal mit einem Freund durch die Londoner Kanalisation gegangen, und er sagte, dass sie meistens nur drei oder vier Jahre alt werden, wenn überhaupt.«

»Fortyfoot House hat nichts mit der Londoner Kanalisation zu tun, stimmt's?«, erwiderte Harry Martin. »Und das hier ist keine normale Ratte. Es gibt sogar einige Leute, die glauben, dass es sich überhaupt nicht um eine Ratte handelt.«

Irgendwie ließ die Normalität des mit Möbeln voll gestellten Salons diese Worte ausgesprochen beunruhigend wirken. Die Sonne schien auf die Oberseite des Fernsehers und beleuchtete ein Schiffssteuerrad mit einem imitierten Aquarium in der Mitte. Bienen flogen durch die geöffneten Fenster ein und aus. »Keine Ratte?<, wunderte ich mich. Wie meinte er das? Möglicherweise nahm er mich auf den Arm. Aber sein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht machte einen völlig ernsten Eindruck. Und wenn es ein Witz sein sollte, dann entging mir die Pointe.

»Was ist es dann?«

Harry Martin schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich habe mir auch noch nie die Mühe gemacht, es herauszufinden.«

»Haben die Tarrants Sie nie gebeten, die ... das Ding fortzuschaffen?«

»Die Tarrants waren dafür gar nicht lange genug dort. Sie haben es spottbillig gekauft, weil es so lange Zeit leer gestanden hatte. Sie hatten große Pläne. Ein Swimmingpool, Anbauten, was Sie wollen. Dann erlebten sie einige schlechte Nächte, danach blieben sie nicht mehr so oft da. Und dann gab es eine richtig üble Nacht, und seitdem sind sie nie wieder dort geblieben.«

»Was meinen Sie mit einer »richtig üblen Nacht

Harry Martin blies Zigarettenrauch in die Luft, während sein Gesichtsausdruck nichts davon verriet, was er dachte. »Lichter und Lärm. Grelles Licht. Und Geräusche, die man nicht beschreiben kann. Und Stimmen, die viel lauter waren als normale Stimmen.«

Ich lehnte mich zurück. »Jemand hat mir davon erzählt. Eine Frau namens Doris, unten im Strandcafe.«

»Oh, ja, die arme alte Doris. Sie war eine Belcher, müssen Sie wissen, bevor sie in die Randalls einheiratete.«

»Ich fürchte, dass mir das überhaupt nichts sagt.«

»Das würde es, wenn Sie in Bonchurch geboren wären. Die Belchers waren ein lustiges Völkchen. Mr. Belcher, also der Vater von Doris, war der örtliche Schuldirektor. Und George Belcher - ihr Bruder — machte viel Geld mit irgendeinem patentierten Lack für Boote. Aber er war immer etwas sonderbar. Er sagte, er habe die Ratte am helllichten Tag gesehen, aber natürlich wollte ihm niemand glauben.«

»Lebt er noch?«

»George? Nein, der nicht. Tabletten und Whisky besiegelten sein Schicksal. Tabletten und Whisky.«

Mrs. Martin kam von der Veranda herein und fragte, ob wir eine Tasse Tee haben wollten. Harry Martin sagte ja, ohne mich zu fragen, woraufhin uns Mrs. Martin ein Tablett mit Biskuits und zwei Tassen gesüßten Tee brachte.

»Und was soll ich mit dieser Ratte machen?«, fragte ich Harry Martin. »Immer vorausgesetzt, es ist eine Ratte. Oder auch, wenn es keine ist.«

Harry Martin blies nachdenklich Rauch in die Luft. »Ich schätze, ich könnte mich dazu überreden lassen, mal einen Blick draufzuwerfen.«

Sofort kam Mrs. Martin aus der Küche und herrschte ihn an: »Du jagst keine Ratten mehr, du bist jetzt Gärtner. Ich bin es leid, dass der Landrat dich immer bittet, Ratten zu jagen.«

Harry Martin warf mir über den Rand seiner Teetasse einen bedeutungsvollen Blick von Mann zu Mann zu. »Schätze, du hast Recht«, erwiderte er.

»Natürlich habe ich Recht«, erklärte seine Frau. »Du bist siebenundsechzig. Ich will nicht, dass du auf irgendwelche Dachböden krabbelst und nach Ratten suchst. Damit das ein für allemal klar ist!«

»Ja, ich schätze, du hast recht«, wiederholte Harry Martin und bedachte mich mit einem noch bedeutungsvolleren Blick.

Ich trank meinen Tee aus. Am Tassenboden war eine dicke Schicht Zucker zu sehen, die sich nicht aufgelöst hatte. »Dann mache ich mich wohl besser wieder auf den Weg«, sagte ich. »Vielleicht finde ich in Portsmouth jemanden, der mir helfen kann.«

»Sie können es bei Rentokil in Ryde versuchen«, schlug Mrs. Martin vor.

»Ja, danke. Und danke für den Kuchen.«

»Selbst gemacht«, verkündete sie und schob mich mehr oder weniger nach draußen.

Harry Martin blieb, wo er war, hob aber eine Hand und sagte: »Bis dann.«

Im Garten fasste mich Mrs. Martin unerwartet am Ärmel.

»Hören Sie. Ich möchte nicht, dass Harry hinter dem Ding herjagt. Mehr sage ich dazu nicht.«

»Okay, okay, ich habe verstanden«, beschwichtigte ich sie.

»Das Ding will einfach nur allein gelassen werden, sonst nichts«, sagte sie.

Die Hitze hatte ihr Make-up zum Zerlaufen gebracht, was ihrem Gesicht das glänzende Aussehen einer Plastikpuppe verlieh. Ihre Pupillen waren extrem klein.

»Ich muss das Ding irgendwie loswerden«, sagte ich. »Ich soll Reparaturen ausführen, renovieren und das Haus für die Tarrants fertig stellen, damit sie es verkaufen können.«

Ihr Griff wurde noch fester. »Sie können ein Hause heute reparieren, aber nicht gestern.«

»Ich verstehe nicht.«

»Wenn Sie erst mal lange genug da leben, werden Sie es verstehen. Das Haus ist nicht immer im Hier und Jetzt. Das Haus war, und es wird sein. Sie hätten es nie bauen sollen, aber nachdem es gebaut worden war, konnte niemand mehr etwas daran ändern. Und Sie können daran auch nichts ändern. Und Harry kann daran ebenso wenig ändern. Er hat irgendein persönliches Interesse an dieser Sache, aber fragen Sie mich nicht, was es ist. Und fragen Sie ihn nicht, ob er sich das Ding mal ansieht. Und wenn er das trotzdem will, dann hindern Sie ihn daran.«

»Also gut, ich verspreche Ihnen, dass ich ihn nicht noch mal fragen werde.«

Aus dem Wohnzimmer rief Harry: »Wie wäre es mit noch einem Tee, Vera?«

»Reg dich bloß nicht auf!«, rief Mrs. Martin zurück und wandte sich wieder mir zu. »Schwören Sie, dass Sie sonst der Schlag trifft?«

»Ich schwöre. Ich würde nur gerne wissen, was das für ein Ding ist.« »Eine Ratte, schätze ich.«

»Eine über sechzig Jahre alte Ratte?«

»Eine Laune der Natur. Es gibt auch Hunde mit drei Beinen, zweihundert Jahre alte Schildkröten.«

»Wissen Sie, was es ist?«, fragte ich sie ohne Umschweife.

Ihre Augen zuckten. Sie ließ mich los und wischte sich ihre Hände an ihrer geblümten Schürze ab.

»Sie wissen, was es ist, richtig?«, bohrte ich nach.

»Nicht wirklich. Ich weiß seinen Namen.«

»Es hat einen Namen?«

Sie sah mich an, als sei es ihr ein wenig peinlich, darüber zu reden. »Ich wusste davon schon, als ich noch ein kleines Mädchen war. Meine Mutter hat mir Gutenachtgeschichten darüber erzählt, um mir Angst einzujagen. Sie sagte immer, wenn ich etwas stehlen oder Unsinn erzählen würde, dann würde es in der Nacht zu mir kommen und mich an einen Ort verschleppen, an dem mich nicht mal die Zeit finden würde. Was es mit mir machen würde, wäre so entsetzlich, dass niemand etwas davon wissen wolle.«

»Hat sie Ihnen gesagt, wie es heißt?«

»Jeder kannte seinen Namen. Sogar meine Oma. Es war eins von diesen Dingen, die einfach jeder weiß. Und darum hat auch niemand von uns jemals in der Nähe von Fortyfoot House gespielt. Sie können jeden in Bonchurch fragen, auch die Jüngeren.«

»Und wie heißt es?«

Sie sah mich durchdringend an: »Ich möchte den Namen lieber nicht aussprechen.«

»Sie sind doch bestimmt nicht so abergläubisch?«, zog ich sie auf.

»Oh, ich bin überhaupt nicht abergläubisch. Ich spaziere unter zwanzig Leitern durch, wenn Sie das wollen. Ich verschütte Salz gleich kiloweise, und ich zerschlage den lieben langen Tag über Spiegel - und es kümmert mich überhaupt nicht. Aber ich möchte nicht den Namen dieses Dings aussprechen.«

In dem Moment trat aber Harry Martin auf die Veranda und zündete sich eine weitere selbst gedrehte Zigarette an.

»Das Ding heißt Brown Jenkin«, sagte er.

Mrs. Martin starrte mich an, in ihrem Blick war schiere Verzweiflung zu sehen. Sie schüttelte ganz minimal den Kopf, als versuche sie sich einzureden, nicht zuzuhören und nicht das zu wiederholen, was ihr Mann gerade gesagt hatte.

»Brown Jenkin, jawohl«, wiederholte Harry Martin. Fast schien es, als gefalle es ihm, etwas so Verbotenes laut auszusprechen.

Mrs. Martin legte die Hand vor den Mund. Im gleichen Moment schob sich eine Wolke vor. die Sonne und ließ den Garten grau in grau erscheinen.


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