20. Der Garten von morgen

Als wir in die enge Straße einbogen, die in Richtung Fortyfoot House führte, spürte ich bereits, dass etwas nicht stimmte. Obwohl es ein sonniger, warmer Nachmittag war, hatte der Himmel über Fortyfoot House etwas Düsteres an sich. Außerdem konnte ich Erschütterungen spüren. Die Luft um das Haus herum war verzerrt, und als wir das Haus erreicht hatten, sah ich Störungen in der Luft, die wie eine Fata Morgana wirkten. Die Bäume schienen sich zu verbiegen, und Fortyfoot House wirkte so, als schwebe es einige Zentimeter über dem Boden.

Miller lenkte seinen Wagen in die Einfahrt, stieg aus und schlug die Tür zu. »Passen Sie auf, was Sie machen«, rief er mir zu. »Technisch gesehen verfolgen wir einen mutmaßlichen Mörder, und dabei darf ich das Leben von Zivilpersonen nicht in Gefahr bringen.«

Ein lautes, dröhnendes Stöhnen kam von Fortyfoot House zu uns herüber, als sei es kein Gebäude, sondern eine gewaltige Bestie, deren Seele bis in die Grundfesten erschüttert wurde. Grelle blauweiße Lichter zuckten hinter den Fenstern im oberen Geschoss.

»>Technisch< interessiert mich einen Scheißdreck«, gab ich zurück. »Mein Sohn ist da drin.«

Ich versuchte, die Haustür zu öffnen, aber sie schien verschlossen, nein, verschmolzen zu sein, als bilde sie eine Einheit mit dem Türrahmen. Das Schloss war aus massivem Messing, aber das Schlüsselloch fehlte. Auf übernatürliche Weise wurde uns der Zutritt verwehrt.

»Das hat keinen Sinn«, sagte ich.

»Zur Küchentür«, rief Miller und warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. »Die Verstärkung wird jeden Moment hier sein.«

Wir rannten ums Haus. Die seltsame strahlende Finsternis lag auch über dem gesamten Garten. Die Eichen bogen sich in einem Wind, von dem ich nichts fühlte, und hier und da war ein Scharren in den Büschen zu hören. Hinter den Bäumen strahlte die See so matt wie beschlagenes Blei.

Wir liefen über die Veranda, und ich versuchte mein Glück an der Küchentür, die aber genauso verschlossen war wie die Vordertür. Miller zog sein Funkgerät aus der Tasche und sagte: »George? Wo zum Teufel bleibt ihr? Ich brauche zwei Trupps am Fortyfoot House, aber so schnell es nur geht!«

Ich hörte eine weit entfernte Stimme etwas von »Straßenarbeiten in Luccombe Village< sagen. Miller erwiderte nichts, doch sein Gesichtsausdruck machte jeden Fluch überflüssig. »Was ist los?«, fragte ich. »Kommen sie oder nicht?«

»Sie kommen«, sagte er atemlos. Dann: »Gibt es noch eine andere Tür? Es muss doch einen Weg ins Haus geben.«

Wieder erschütterte ein tiefes Grollen Fortyfoot House in seinen Grundfesten. Irgendwo in den Weiten meines Unterbewusstseins konnte ich einen langsamen vertrauten Gesang hören: »N'ggaaa - n 'ggaaa - sothoth - n 'ggaAAA.« Ein gereiztes Krachen war zu vernehmen, und die Steinplatten der Veranda begannen sich unter unseren Füßen zu bewegen, als bohre sich ein riesiger Tausendfüßler unter ihnen durch die Erde. Die Fenster knarrten in ihren Rahmen, und ein kleiner Schauer aus Dachziegeln regnete vom Dach herab und zerschellte auf der Erde.

»Danny!«, schrie ich. »Danny, bist du da drin? Danny!«

Der langsame Gesang hielt an, und das Gebäude zitterte förmlich. Wieder rutschten Dachziegel vom Dach, von denen mich einer an der Schulter traf.

»Sollte Danny hier sein?«, schrie Miller.

»Ich weiß nicht, wo er ist. Liz wollte einen Spaziergang mit ihm machen, aber da ich jetzt weiß, dass Liz nicht Liz ist...«

»Liz ist nicht Liz? Was soll denn das schon wieder heißen?«

»Sie ist ein Ding, eine Art antiker Geist. Ich weiß nicht. Wenn ich es erklären will, ergibt es keinen Sinn mehr. Aber es sind Geister aus einer prähistorischen Zeit, die durch die Jahrhunderte hinweg von einer Frau nach der anderen Besitz ergriffen haben und darauf lauern, dass ihre Zeit kommt, damit sie wiedergeboren werden können.«

Miller sah erst mich an, dann das nachgebende Dach von Fortyfoot House. Wieder lösten sich Dachziegel und stürzten zu Boden, diesmal gefolgt von einem Stück Fensterbank. Hätte er nicht selbst mit angesehen, wie das Gebäude stöhnte und erbebte, dann hätte er mich vermutlich auf der Stelle einweisen lassen. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass eine gewaltige und verzweifelte Macht Fortyfoot House erzittern ließ. Und auch nicht, dass die Bösartigkeit dieser Macht über jegliches menschliche Vorstellungsvermögen hinausging. Wenn seine Verwandten mit solcher Boshaftigkeit töten konnten, welchen Schrecken konnte dann die Macht selbst verbreiten?

Brown Jenkin tötete sinnlos und sadistisch, zu seinem eigenen Vergnügen. Er hatte mit einem menschlichen Leben genauso wenig Mitgefühl wie ein kleines Kind, das einem Käfer die Beine ausreißt. Aber er war nichts weiter als der Laufbursche von Kezia Mason, und die war ihrerseits nicht mehr als das Kuckucksnest, in dem Yog-Sothoth auf seine Erneuerung wartete.

Alles schien auf eine absurde Weise apokalyptisch. Das Ende der uns bekannten Welt. Ein Wechsel in der natürlichen Rangordnung, eine andere Spezies, die die Menschheit dominierte. Als ich aber darüber nachdachte, wie sehr sich die Welt allein seit Beginn dieses Jahrhunderts verändert hatte - vergiftete Meere, rußgeschwärzte Himmel -, konnte ich mir vorstellen, dass die Alten wiederauferstehen konnten und dass sich diese gewaltige kaltblütige Zivilisation aus vormenschlichen Zeiten wieder erheben konnte.

Immerhin hatten sie die jahrtausendelange Überlegenheit der Menschen überdauert, verborgen in Hexen und Hexern, in Gebäuden und in der Erde. Sie waren darauf vorbereitet, sich zu verstecken und zu warten. Inzwischen hatten wir

Menschen begonnen, alles das zu zerstören, was für sie als Versteck gedient hatte. Wir rodeten die Wälder, die unsere Atmosphäre mit Sauerstoff versorgten, jenem Element, dass die Alten als Kreaturen aus den Weiten des Kosmos zutiefst verabscheuten. Wir bebauten Wiesen und Marschen hektarweise, wir legten unsere Sümpfe trocken. Wir kippten Quecksilber und radioaktive Abfälle in die Meere, wir bliesen Schwefel und Blei in die Luft. Ob die Alten uns dazu möglicherweise heimlich antrieben oder nicht, in jedem Fall machten wir die Welt nach und nach wieder zu dem, was sie einmal gewesen war. Eine Welt der toten Ozeane und der finsteren Himmel, eine Welt der Schwermetalle und der arktischen Kälte.

Ich sah zu Miller und sagte: »Sie haben das nicht gesehen.«

»Was habe ich nicht gesehen?«, fragte er verwundert.

Ich überquerte die Veranda und nahm eine der Steinschalen von der Wand, in denen einmal Geranien geblüht hatten. Sie wog so viel, dass ich sie kaum heben konnte. Auf halbem Weg zurück zum Haus musste ich sie absetzen, woraufhin Miller zu mir kam und half, nachdem er verstanden hatte, was ich vorhatte.

»Ich habe nichts gesehen«, sagte er.

Gemeinsam schleppten wir die Schale bis zum Küchenfenster, holten aus und warfen sie gegen das Glas. Die Schale riss einen Teil des Fensters aus dem Rahmen und flog gegen die Spüle. Ich schlug ein paar übrig gebliebene spitze Splitter aus dem Rahmen, dann sprang ich durch das Fenster in die Küche, dicht gefolgt von Detective Sergeant Miller.

»Wir sind in fünf Minuten da, Dusty«, quäkte es aus dem Funkgerät.

Wir gingen durch die Küche, während unter unseren Schuhen Glas brach. Im Haus war ein Summen zu hören, als stünden wir in einem Hochspannungswerk. Sobald ich mich einer der Wände näherte, spürte ich, wie sich meine Haare statisch geladen aufrichteten.

Als ich die Küchentür öffnen wollte, sprangen Funken vom

Türgriff auf meine Fingerspitzen über. Mit einem Küchenhandschuh gelang es mir schließlich, die Tür aufzumachen.

Im Flur blieben wir stehen und lauschten. Der Gesang war nicht abgerissen, doch er war so tief, dass ich nicht wusste, ob ich ihn noch hörte oder nur noch fühlte.

»Mmm'ngggaaa, nn'ggaaa, sothoth, yashoggn.a ...«

Miller räusperte sich nervös und sagte: »Glauben Sie, dass Danny hier ist? Ich kann jedenfalls niemanden hören. Sie?«

»Danny?«, rief ich, dann ging ich zur Treppe und schrie: »Danny! Daddy ist hier! Bist du da?«

Ich wartete, während meine Hand auf dem Endpfosten des Geländers ruhte. Ich glaube, es sollte eine mutige Geste sein. Alles in Fortyfoot House fühlte sich so an, als krieche es - die Wände, der Boden, das Geländer. Ich hätte alles gegeben, um zurück in die Küche zu rennen und aus dem Fenster zu springen, um mich so weit von Fortyfoot House zu entfernen, wie mich der nächste Bus bringen konnte.

Doch dann hörte ich ein ganz leises Geräusch, das eigentlich mehr nach einem kleinen Kätzchen als nach einem Kind klang. Doch man erkennt immer die Stimme des eigenen Kindes, ganz egal, wie leise oder verzerrt sie auch sein mag.

»Was ist das?«, fragte Miller, doch ich hatte schon die Hälfte der Stufen zurückgelegt und rief: »Danny! Danny, hier ist Daddy!«

Die Tür zum Speicher stand offen, übel riechender Rauch wurde mit dem Luftzug ins Haus geweht. Es war der stechende Gestank, den ich schon zuvor wahrgenommen hatte und der mich an Tränengas oder brennende Reifen erinnerte.

Ich presste mir ein Taschentuch vor Mund und Nase, als ich hinter mir Miller hörte: »Um Gottes willen, David, passen Sie auf! Im Wagen gibt es Atemschutzgeräte!«

In diesem Moment hörte ich wieder das leise, gedämpfte Jammern, und diesmal war ich sicher, dass es sich um Danny handelte. Ich würde nicht zulassen, dass Brown Jenkin ihn in seine Klauen bekam, ob mit oder ohne Atemschutzgerät.

Ich eilte die Stufen hinauf zum Speicher und sah mich um.

Der gesamte Dachboden war mit grauem durchdringenden Licht gefüllt und mit Rauch, der in den Augen stach. Das Dachfenster war offen, und eine Trittleiter war darunter gestellt worden. Brown Jenkin befand sich auf halber Höhe auf dieser Leiter, und ganz oben stand Danny, der bereits Kopf und Schultern durch den Rahmen gesteckt hatte.

Am Fuß der Leiter stand Liz, ihr Gesicht war weiß, sie wirkte schockiert. Ihre Hände ruhten auf den Schultern des Kindes, das sie mir als Produkt meiner überanstrengten Fantasie hatte einreden wollen: Charity.

»Jenkin!«, brüllte ich. »Verdammter Brown Jenkin!«

Er wirbelte seinen Kopf herum und sah mich mit seinen gelben kranken Augen an. Seine Kleidung wirkte wie eine Parodie auf die eines Geistlichen, ein schmutziger, ehemals weißer Kragen, ein angestaubtes Jackett, eine schwarze Weste, die mit Suppenflecken übersät war. Eine Klaue war erhoben und drängte Danny, durch das Dachfenster zu klettern. Mit der anderen hielt er sich an der Leiter fest.

»Jenkin, lass ihn in Ruhe!«, schrie ich. Doch als ich auf ihn zustürmte, hob Liz eine Hand und richtete sie direkt auf meine Brust. Ein Gefühl, als werde mein Herz auf eine heiße Herdplatte gepresst, ergriff von mir Besitz. Ich blieb stehen und fasste mir an die Brust. Ich hatte das Gefühl, dass der Rauch meines schmorenden Herzens aus meinem Mund entweichen musste. Obwohl der Schmerz so entsetzlich war, konnte ich nicht mal Luft holen, um zu schreien. Ich fiel auf die Knie und hustete. Mein Herz brannte, und obwohl ich wusste, dass es nicht wirklich so war, dass Liz einfach nur ihre Hexenkraft spielen ließ, um mich von Brown Jenkin fern zu halten, hatte ich das Gefühl, auf der Stelle sterben zu müssen.

Brown Jenkin bekam Dannys Beine zu fassen und schob ihn so nach oben, dass er den Halt verlor und schreiend aus dem Fenster fiel. Dann folgte Brown Jenkin ihm mit einem kräftigen Satz.

»Jenkin!«, keuchte ich, aber ich schaffte es nicht, mich aufzurichten und ihm zu folgen. Er spähte durch das Dachfenster auf den Dachboden und lachte mich aus.

»Idiot-fucker, du kannst mich niemals fangen! Adieu bastard cet fois for always! Merci pour ton fils! Was für ein schmackhafter Knabe, nicht wahr, fucker?«

»Jenkin, ich bringe dich um!«, drohte ich ihm. Meine Stimme war aber so belegt, dass ich nicht annahm, von ihm gehört zu werden.

»Und nun zu dir, Charity, rauf mit dir!«, sagte Liz und schob sie auf die Trittleiter zu. Brown Jenkin streckte ihr vom Dachfenster mit dem boshaftesten Grinsen, zu dem er in der Lage war, seine Klauen entgegen. Charity starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Auf der Treppe zum Dachboden hustete jemand. Noch immer vor Schmerz gekrümmt, drehte ich mich um und sah, dass sich Detective Sergeant Miller einen Weg durch den Rauch bahnte.

»Sie da!«, schrie er Liz an. »Lassen Sie das Mädchen in Ruhe!«

»Sergeant ...«, japste ich. »Ich kann nicht ...« Ich deutete auf das Dachfenster.

Miller sah nach oben und entdeckte Brown Jenkin. Sein Mund ging auf. Er hatte von Brown Jenkin gehört, er hatte gesehen, zu welchen Dingen Brown Jenkin in der Lage war. Aber als er dieses böse, viel zu große Nagetier jetzt zum ersten Mal mit seinen eigenen Augen sah, schien er förmlich zu erstarren.

Das Brennen in meiner Brust ließ allmählich nach, und ich schaffte es unter Schmerzen, wieder aufzustehen. Liz hob Charity hoch, damit Brown Jenkin sie übernehmen konnte, doch Charity schrie und trat und strampelte. »Lass mich los! Lass mich los!« Doch Liz schien unnatürliche Kräfte zu besitzen. Sie hob Charity mühelos immer höher, egal, wie sehr das Kind sich auch zur Wehr setzte.

»Ah, ma chere petite«, sagte Brown Jenkin. »I serve you mit Kartoffeln und Sauerkraut, oui?«

Mit schriller Stimme rief Miller: »Polizei! Sie sind festgenommen, lassen Sie das Kind los!«

Brown Jenkin musste so sehr kichern, dass er sich fast übergab. Speichel lief ihm aus dem Mund, durchsetzt mit halb zerkautem Essen. »Under arrest shit-shit! Was sagst du bastard? C'est drole, n'est-cepas?«

Er öffnete seine Klauen, um nach Charity zu greifen, doch in dem Augenblick geschah etwas Außergewöhnliches. Charity hörte auf zu strampeln und erstarrte förmlich. Ihr Gesicht schien zu strahlen, auch wenn dieser Eindruck eine Kombination aus Rauch und hellem Tageslicht sein konnte. Ihr Haar umgab ihren Kopf wie ein sanfter wogender Heiligenschein, und ich hätte schwören können, dass sie helles weißes Licht ausstrahlte.

Liz, die wie ein schrumpfender Schatten aussah, ließ sie los, doch Charity verharrte in ihrer Position mitten in der Luft zwischen Boden und geneigter Decke.

Es war eigentlich unmöglich, aber ich sah es mit meinen eigenen Augen. Charitys Füße schwebten gut einen Meter über dem Boden des Speichers. Kein Trick, kein Netz, keine Fäden, nichts.

Brown Jenkin zog langsam seine Klauen zurück und betrachtete das Mädchen misstrauisch. »Was ist das?«, zischte er. »Qu'est-ce que c'est?«

Charity vollzog mitten in der Luft eine Drehung und wandte sich Liz zu. Als sie sprach, war ihre Stimme übernatürlich sanft, so als würden Tausende von Händen über Tausende von Samtvorhängen streichen. »Weiche zurück, Hexe«, flüsterte sie. Sie hob beide Arme, streckte die Finger aus und rollte die Augen nach oben, bis nur noch das Weiße zu sehen war. »Weiche zurück, Hexe«, wiederholte sie. Die Worte waren so verzerrt, dass ich sie kaum verstehen konnte.

Die Spannung war fast unerträglich, und dann geschah alles auf einmal. Mit einem gellenden Japsen brach Liz zusammen. Brown Jenkin schlug das Dachfenster zu und verschwand. Charity fiel zu Boden und landete auf wackligen

Füßen. Der Rauch wirbelte umher, die Lichter flackerten, und Miller erwachte aus seinem Schock wie ein Mann, der bemerkte, dass er seine Haltestelle verpasst hatte.

Sofort stürmte ich die Trittleiter hinauf, riss das Fenster auf und brüllte: »Jenkin! Jenkin! Ich will meinen Sohn zurück!«

Als ich aus dem Fenster sah, war ich von dem Anblick überwältigt. Ein dunkler schwefelgelber Himmel, eine Reihe kahler Bäume, ein Garten ohne Rasen, ohne Büsche und ohne Blumen. Alles war gelb oder grau. Keine Möwen schrien, kein Insekt summte, nichts. Die See war schwarz wie Ol, und ein Blick genügte, um zu wissen, dass in dieser See kein Fisch schwamm, jedenfalls kein gewöhnlicher Fisch.

Unter dem düsteren schwefeligen Himmel sah ich Brown Jenkin fortrennen, Danny in seinem Schlepptau. Beide wirkten wie winzige Figuren in einem Traum. Sie mussten über die Feuerleiter vom Dach geklettert sein. Ich schrie: »Danny!« Er versuchte, sich umzudrehen, und für einen Moment konnte ich sein ängstliches Gesicht sehen. Und dann hatte Brown Jenkin ihn schon über den Rasen in Richtung Kapelle hinter sich hergezerrt.

Ich wollte durch das Dachfenster klettern, bekam aber im gleichen Augenblick einen Hustenanfall, der mich zwang, meine Füße wieder auf die oberste Stufe der Trittleiter zu stellen. Ich spürte, dass jemand an meinem Hosenbein zog. Als ich mich umdrehte, sah ich Charity, die hinter mir auf der Leiter stand und mich anlächelte. Liz hatte sich unterdessen in eine Ecke des Dachbodens zurückgezogen und war so sehr von Rauch umgeben, dass ich sie kaum sehen konnte.

»Wenn Sie ihm folgen, David«, sagte Charity, »dann kehren Sie vielleicht niemals zurück. Keiner von Ihnen.«

»Er ist mein Sohn.«

Sie lächelte und nickte. »Ich weiß. Ich war die Tochter meines Vaters. Alle Kinder im Fortyfoot House waren Söhne oder Töchter.«

»Wer bist du?«, fragte ich sie.

Sie schloss und öffnete ihre Augen wie eine Katze. »Was Sie eigentlich von mir wissen wollen, ist, was ich bin.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ist das so?«

Miller kam zu uns herüber, während er seine Augen mit seinem Taschentuch wischte. »Hören Sie«, sagte er. »Meine Leute sind gerade eingetroffen. Ich lasse sie die Umgebung absuchen. Dieses ... Ding... kann Ihren Sohn nicht allzu weit verschleppt haben.«

Ich wollte ihm gerade sagen, dass sie ihre Zeit vergeuden würden, den Garten von 1992 abzusuchen, wenn Brown Jenkin Danny in die ferne Zukunft verschleppt hatte, doch Charity bedeutete mir, ich solle schweigen.

»Er soll ruhig beschäftigt sein«, sagte sie. »Er kann Ihnen nicht helfen.«

»Lass mich gehen«, knurrte Liz. »Hörst du mich, du kleines Miststück? Lass mich gehen!«

Charity drehte sich zu ihr, nickte und sorgte so dafür, dass sich Liz noch weiter in den Schatten zurückzog.

»Was zum Teufel hast du mit ihr gemacht? Was ist hier los?«

»Sie wissen, dass sie übernommen ist«, erwiderte Charity.

»Übernommen?«

»Besessen. Oder eben übernommen.«

Ich konnte nicht glauben, dass es wirklich Charity war, die da zu mir sprach. Trotzdem nickte ich verstehend. »Ich habe es gesehen. Der junge Mr. Billings hat mir erklärt, was es damit auf sich hat.«

»Oh, der«, sagte Charity lächelnd. »Der arme junge Mr. Billings. Er wollte alles haben. Er wollte Heiliger und Sünder sein, Gewinner und Verlierer, solange er seine Belohnung bekam.«

»Wer bist du?«, fragte ich wieder. » Was bist du?«

Sie berührte meine Hand, ich fühlte ihre Finger. Sie war real. Ihre Fingernägel waren abgekaut. Was hätte mich mehr davon überzeugen können, dass sie real war?

»Ich möchte Ihnen etwas erzählen«, sagte sie und flüsterte, so wie Kinder es tun, wenn sie ein Geheimnis verrieten. »Ich

bin zu Ihnen als Mädchen gekommen. Aber ich bin mehr als das. Die Alten haben überlebt, indem sie sich in menschlichen Wesen festsetzten. In Kezia Mason, in Ihrer Liz, in Vanessa Charles, die eines Tages die Alten zur Welt bringen wird, die leben werden. Sie haben versucht, sich zu verstecken, aber manchmal verrieten sie sich. So wurden Hexen entdeckt und verbrannt. Nur hat die Verbrennung niemals die Alten getötet. Jede Hexe hat versucht, die drei Söhne zur Welt zu bringen, die ein Sohn werden ... die Unselige Dreifaltigkeit. Der Sohn des Samens, der Sohn des Speichels, der Sohn des Blutes. Aber manche von ihnen«, sie machte eine Geste, die sich auf sie selbst bezog, »brachten Kinder zur Welt, die mehr menschlich als vormenschlich waren. Wenn auch nicht völlig menschlich.«

»Du meinst, so wie du?«

»Ja«, antwortete sie lächelnd. »So wie ich. Wir wurden das, was jeder eine weiße Hexe nennt. Frauen, die die Gabe besitzen, andere zu heilen, die Fruchtbarkeit spenden und die die Zukunft vorhersagen können, weil wir natürlich in die Zukunft reisen und mit unseren eigenen Augen sehen konnten, was kommen würde.«

»Aber du bist ein Kind«, sagte ich. »Ein Mädchen, keine Frau.«

Ihre Augen wurden groß. »Sie sollten das Alter nie nach dem Aussehen schätzen. Die jüngsten Gesichter haben die ältesten Augen.«

»Ich verstehe das nicht. Was hast du im Fortyfoot House gemacht? Du hast diese Kräfte ... aber du warst eine Waise.«

»Ja, eine Waise, aber eine besondere Waise. Ich war eine Waise, weil meine Mutter im Kindbett starb. Ich war eine Waise, weil meine Mutter bei der Geburt meiner drei Brüder zerrissen wurde. Drei Brüder, verstehen Sie? Meine Mutter war von dem Hexen-Ding besessen, doch sie brachte mich zuerst zur Welt. Erst vier Jahre später gebar sie meine drei Brüder, die drei Söhne. Das Haus war erfüllt von schrecklichen Schreien und grässlichen Gerüchen und blitzenden

Lichtern. Natürlich starben meine drei Brüder, weil die Luft zu gut und das Wasser voller Dinge war, die sie nicht schlucken konnten. Sie lösten sich spurlos auf. Aber ...« - sie bekreuzigte sich - »... das Hexen-Ding meiner Mutter überlebte. Im Wandschrank.«

»Im Wandschrank?«, fragte ich.

Meine Gedanken kehrten wieder zu Danny zurück, doch ich wusste, dass das hier wichtig war. Ich wusste, dass Charity mir helfen konnte, ihn zu retten. >Geduld<, sagte ich mir.

Sie nickte. »Wir hatten einen Wandschrank, und jedes Mal, wenn ich ihn öffnete, sah ich blaues Licht und ein solches Gesicht.« Sie riss die Augen auf und zog mit den Fingern ihre Unterlippe herunter. »Das war meine Mutter, das war das Hexen-Ding. Und eines Tages kam Dr. Barnardo in unser Haus, um Kinder mitzunehmen. Eines der Kinder, die er sich bereits genommen hatte, war Kezia Mason. Während sich Dr. Barnardo mit dem alten Mr. Billings unterhielt, zeigte ich Kezia das Regal. Die Tür öffnete sich und das Hexen-Ding kam heraus, umarmte Kezia und übernahm sie.«

»Dann ist das Hexen-Wesen in Liz dasselbe, das auch in Kezia Mason und in deiner Mutter war?«

Sie nickte.

»Aber wenn Kezia doch im Grunde mit dir verwandt war, wie konnte sie dann zulassen, dass Brown Jenkin dich mitnahm?«

»Das Hexen-Wesen kennt keine menschlichen Gefühle, es hat kein Herz, es ist einfach nur eine Kreatur.«

»Warum hast du nicht Kezia so bekämpft, wie du es mit Liz gemacht hast?«

»Ich konnte nicht. Sie war viel zu stark. Aber Liz ist noch schwach, sie ist größtenteils noch menschlich. Es dauert lange, ehe ein Hexen-Wesen Körper und Seele einer Frau durchdringt und sie ganz dominiert. Aber Kezia war kaum noch menschlich, als Sie sie zum letzten Mal gesehen haben.«

»Hast du je deine Brüder gesehen?«, wollte ich wissen. »Weißt du, wie sie aussahen?«

»Nein«, sagte Charity ein wenig traurig. »Ich war noch sehr klein, und das Zimmer meiner Mutter war immer verschlossen. Ich habe sie vor der Geburt wochenlang nicht gesehen. Dann hörte ich entsetzliche Schreie und sah grelles Licht. Durch einen Spalt in der Tür habe ich nur Blut sehen können.«

»Gibt es wirklich keine Hoffnung, wenn ein Hexen-Wesen erst einmal eine Frau übernommen hat?«

Auch wenn ich es mir nicht wirklich eingestehen wollte, glaube ich, dass ich Charitys Zustimmung haben wollte, Liz zu töten.

»Keine Hoffnung«, antwortete Charity. Sie machte mit ihren Fingern eine sonderbare Bewegung, als vertreibe sie einen lästigen Geist. »Nur die, die Zeit zu verändern. Aber wenn Sie die Zeit verändern, können Sie nie sicher sein, ob Sie nicht alles nur noch verschlimmert haben.«

»Kannst du die Zeit verändern?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere auch. Ich bin nicht von den Alten besessen. Ich bin nicht mal eine richtige Hexe. Ich bin das Kind menschlicher Eltern. Das Einzige, was mich von anderen unterscheidet, ist die Tatsache, dass meine Mutter bei meiner Zeugung von einem der Alten besessen war. Ich habe einige dieser Kräfte geerbt. Ich bin eine weiße Hexe mit fremdartigen Gedanken und Träumen. Aber ich bin menschlich. Überrascht es Sie, dass ich so spreche, wo ich doch so jung bin?«

»Hör zu«, sagte ich. »Brown Jenkin wollte dich zu einem seiner Picknicks mitnehmen, und Reverend Pickering ist bei dem Versuch gestorben, dich zu retten.«

»Ja! Das war ihre Lüge«, entgegnete Charity. »Sie hatten gesagt, sie würden nur zwölf Kinder brauchen, um die Hexe während des letzten Aktes der Erneuerung zu ernähren. Aber in Wahrheit benötigten sie Hunderte von Kindern. Zum Schluss gab Kezia auch mich her, weil sie nicht mehr Kezia war. Sie war eine von ihnen ... von den Alten. Sie war meine Mutter, aber sie war auch nicht meine Mutter.«

»Und was ist mit Danny?«, wollte ich wissen, da die Ungeduld allmählich die Oberhand gewann. Brown Jenkin hatte ihn hinüber zur Kapelle geschleppt, und ich musste ihm dorthin folgen, ganz gleich, welche entsetzliche Monstrosität auf mich wartete.

»Sie können ihn retten, David, ja«, sagte sie. »Aber nicht jetzt.«

»Was heißt >nicht jetztjung fühlte.

»Sie werden ihn an das Hexen-Ding verfüttern«, sagte sie. »Sie können sie nicht aufhalten, nicht hier und nicht jetzt. Sie haben weder die Zeit noch die Mittel dafür. Aber Sie könnten in der Zeit zurückkehren und das Hexen-Ding vernichten, bevor es überhaupt existieren kann. Dann wird Danny nicht aufgefressen werden, weil es nichts gibt, das ihn essen könnte.«

»Was? Wie meinst du das?«

Charity bedeutete mir, zu schweigen. Sie war so blass. »Jetzt ist die Zeit der großen Erneuerung, David. Dies ist für dich die Zukunft, das Jahr 2049. Die Erde ist so vergiftet, dass die Alten endlich atmen und aus ihrem Versteck kommen können. Aber wenn Sie zurückreisen ... in die Zeit, in der Liz ihre drei Söhne zur Welt bringt - ihre Unselige Dreifaltigkeit - die nicht überleben wird, weil es noch zu viel Sauerstoff gibt, zu viele Pflanzen, zu viele Tiere und zu viele Fische ... wenn Sie sich zu dem Augenblick begeben, in dem Liz ihre Kinder zur Welt bringt ... dann können Sie das Hexen-Ding fangen und töten, bevor es auf einen neuen menschlichen Wirt überwechseln kann.«

Sie sah mich ernst an: »Glauben Sie mir. Vertrauen Sie mir.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Sie haben gesehen, wie ich schwebe und wie ich fliege.«

»Ja, aber ...«

Sie kicherte. Sie hatte wie eine Erwachsene gesprochen, aber sie war vor allem ein Kind. »Hexen können fliegen. Das wissen Sie aus den Märchen. Aber sie brauchen dazu keinen Besen.«

»Du bist also eine Hexe«, sagte ich und konnte fast nicht glauben, dass ich das sagte. Ich konnte ja kaum glauben, dass ich es glaubte. Aber manchmal hat man keine Wahl. Manchmal muss man die Dinge so akzeptieren, wie sie sich einem darbieten. Dinge, die auf eine unglaubliche Weise unvermeidbar sind, so wie Verkehrsunfälle. Man denkt >es passiert schon nichts!<, aber dann kommt es doch zur Kollision. Das empfand ich auch bei Charity. Ich konnte ihr nicht glauben, aber ich musste es einfach tun, weil sie real war.

Während Charity mit mir gesprochen hatte, hatte Liz sich in dem Rauch bewegt, der sie umgab. Jetzt kam sie auf uns zu, beide Hände erhoben. Die Augen waren völlig rot, als seien die Pupillen mit Blut gefüllt.

Charity drehte sich langsam und würdevoll um, zog ein rosafarbenes Gänseblümchen aus ihrem Haar und hielt es ihr entgegen. »Du besitzt nicht genug Kraft, um mir etwas anzuhaben, Hexe. Weiche zurück!«, sagte sie zu Liz. Diese zuckte vor Verärgerung, aber es war nicht zu übersehen, dass sie nicht näher kommen konnte. Sie fletschte ihre Zähne und wirbelte den Kopf umher, doch Charity blieb vollkommen gelassen und hielt ihr weiter die Blume entgegen.

»Jetzt wissen Sie, warum Kinder Gänseblümchen so mögen«, sagte sie. »Das vertreibt Hexen. Kinder sind den Naturgewalten viel näher als Erwachsene. Sie hören und verstehen Dinge.«

»Ich muss los und Danny holen. Er darf nicht verletzt werden; auch wenn ich später in der Zeit zurückreisen und es verhindern kann. Ich kann es trotzdem nicht zulassen. Selbst nicht dieses eine Mal.«

»Es wäre besser, wenn ich hier bliebe«, sagte Charity düster, »und auf Liz aufpasse. Gegen das Hexen-Wesen, das die Alten zur Welt bringt ... gegen Vanessa Charles kann ich nichts unternehmen. Sie ist so mächtig wie seinerzeit Kezia. Sie wird mich mit einem einzigen Blick töten.«

»Dann muss ich alleine gehen.«

Charity zog an meinem Ärmel. »Sie werden den Alten gegenübertreten, David. Die haben kein Gewissen, keine Bedenken. Sie haben den Verstand von Krokodilen.«

Ich wollte gerade wieder durch das Dachfenster klettern, da drehte ich mich noch einmal um und betrachtete Charity eindringlich. Ihr Gesicht erinnerte mich an jemanden. Sie musste meine Gedanken erraten haben, denn sie begann langsam zu lächeln, um dann mit einer sanften, viel älter klingenden Stimme zu sagen: »Wenn ich ein grelles Licht sähe, dann würde ich an Ihrer Stelle um mein Leben rennen.«

Ich konnte es nicht fassen. »Doris Kemble«, flüsterte ich. »Du bist Doris Kemble.«

»Ich werde eines Tages Doris Kemble sein.«

»Dann war Doris Kemble auch eine weiße Hexe.«

Charity nickte. »Doris Kemble wird meine Enkelin sein. Sie wird nicht annähernd so viel Macht haben wie ich. Lind sie wird sich nicht an mich erinnern. Aber der junge Mr. Billings wird sie beobachten, wie sie mit Ihnen spricht, und er wird sie für eine Bedrohung halten. Er wird Brown Jenkin schicken, damit er sich ihrer annimmt.«

»Also wurde sie von Brown Jenkin getötet?«

»Ja«, sagte Charity. »Und Harry Martin ebenfalls.«

Draußen im Garten hörte ich ein Kind schreien. »Ich muss los.«

»Ich wünsche Ihnen jeden Segen«, erwiderte sie und schwebte ein Stück nach oben, um mich auf die Stirn zu küssen. Dann sank sie weder zu Boden. Ich war so perplex, dass ich fast vergaß, durch das Dachfenster zu klettern.

Ich zog mich hoch und stieg durch das Fenster. Die Dachziegel waren mit einem grauen Schleim überzogen, der aussah wie eine Mischung aus verschiedenen Schwermetallen und verfaulendem Moos. Ich spürte ein Prickeln auf meinem Gesicht und ein Stechen auf meinen Handrücken. Saurer Regen ... fast so intensiv wie Batteriesäure.

Ich balancierte auf der rostigen Dachrinne entlang, immer bemüht, nicht nach unten zu sehen auf die nasse, schmierige Veranda gut zwanzig Meter unter mir. Schließlich hatte ich die Feuerleiter erreicht und umschloss den verrosteten Handlauf. An einigen Stellen war sie völlig zerfressen, und im unteren Drittel fehlten sechs oder sieben Sprossen. Aber wenn Danny und Brown Jenkin den Weg nach unten geschafft hatten, dann würde es auch mir gelingen.

In der Ruine, die einmal die Kapelle gewesen war, zuckten unirdische Lichter, und ich konnte den tiefen monotonen Gesang der Alten hören. Noch ein weiterer Gesang war zu vernehmen, der sich am anderen Ende des Klangspektrums bewegte: ein hoher, fast schon nicht mehr hörbarer Ton.

Ich sah, wie Brown Jenkin Danny über den Friedhof hinter sich herzog, auf dem das Unkraut abgestorben war, und dann zerrte er ihn durch die halb in sich zusammengefallenen Türflügel. Danny versuchte, sich loszureißen.

»O Gott im Himmel, pass auf mich auf«, sagte ich, obwohl ich nicht sicher war, dass es 2049 noch einen Gott gab - wenn es ihn überhaupt jemals gegeben hatte.

Vorsichtig wandte ich mich ab und begann, nach unten zu klettern. Ein oder zwei Mal sah ich hinunter, um festzustellen, ob die Sprossen mein Gewicht hielten. Jedes Mal war der Garten Schwindel erregend weit entfernt. Ich hatte fast die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte.

»David! David! Warten Sie auf mich!«

Ich sah nach oben und musste wegen des Regens blinzeln. Detective Sergeant Miller hatte sich über die Brüstung gebeugt und winkte mir zu; seine blonden Haare waren so nass, dass sie am Kopf klebten, seine Brillengläser beschlagen, sein Gesicht noch rötlicher als üblich. Sein Gesicht war das einzig Lebendige in dieser gelblich grauen Landschaft.

»Sie haben Danny zur Kapelle gebracht«, rief ich ihm zu.

Er begann, mir nachzuklettern. »Ich habe den Garten nach ihm abgesucht«, keuchte er. »Natürlich haben wir nichts gefunden. In dem Moment wurde mir klar, was es mit

Fortyfoot House auf sich hat. Verschiedene Zeiten! Verschiedene Gärten! Natürlich konnte ich den Holzköpfen nicht sagen, wohin ich gehen wollte. Sie hätten mir kein Wort geglaubt.«

»Machen Sie langsam«, rief ich. Er stieg mit solchem Eifer die Leiter hinunter, dass sie zu wackeln begann und einige Verankerungen in der Hauswand bedenklich knirschten. Wir wollten nicht nur sicher nach unten kommen, wir wollten auch wieder nach oben klettern können.

Schließlich hatte ich die unterste Sprosse erreicht und sprang das letzte Stück auf die Veranda hinab. Miller folgte mir fast auf dem Fuß, musste aber die Hände zu Hilfe nehmen, um sich abzustützen. Er wischte den grauen Schleim von seinen Fingern und schnupperte misstrauisch. »Was ist denn das?«, wunderte er sich. »Alles ist davon überzogen, sieht aus wie eine Mischung aus Quallen und Leichen.«

»Wahrscheinlich ist es das auch«, erwiderte ich.

Wir eilten durch den Garten in Richtung Bach. Von der Sonnenuhr war nur noch ein Stumpf übrig, der an einen verfaulten, zerfallenen Zahn erinnerte. Auf der rutschigen toten Vegetation glitten wir immer wieder aus, während die schwefelhaltige Luft unsere Lungen so sehr reizte, dass wir fast unaufhörlich husten mussten.

Es floss noch immer ein Bach durch den Garten, aber es war eine dickliche braune Flüssigkeit, die nach Abwasser stank. Wir versuchten, den Bach mit einem Sprung zu überwinden, doch Miller rutschte am gegenüberliegenden Ufer aus und trat mit einem Fuß bis zur Oberkante seiner Socke in die Flüssigkeit.

»Oh Scheiße«, fluchte er, während er den Fuß schüttelte.

»Damit könnten Sie Recht haben«, bemerkte ich.

Wir erklommen den Hügel, der zur Friedhofsmauer führte. Die Erde unter unseren Füßen zitterte, als fahre eine unendlich lange U-Bahn unter uns hindurch. Hinter der Kapellenwand zuckten grelle Lichtblitze auf. Ich hörte panische Schreie und ein schreckliches Stöhnen ... und noch etwas anderes: Die unverkennbare Stimme des jungen Mr. Billings, der in einer Sprache eine haarsträubende Beschwörung rezitierte, von der ich nicht einmal hoffte, sie aussprechen zu können. Davon, sie zu verstehen, völlig abgesehen. Es klang nach keiner menschlichen Sprache, die ich jemals gehört hatte. Es war mehr wie das Zwitschern riesiger Insekten, vermischt mit den Unterwasserlauten von Delphinen. Tekeli-li! Tekeli-li!

Miller und ich eilten gebückt zwischen dem Unkraut des Friedhofs hindurch, dessen Grabsteine inzwischen fast alle umgestürzt, zerbrochen und zerfressen waren, nachdem sie jahrelang in saurem Regen gestanden hatten. Ein aus Stein gehauener Engel wies statt prachtvoller Flügel nur noch missgestaltete Stümpfe auf, und sein Gesicht hatte sich so weit aufgelöst, dass es eher einem Affen mit flacher Stirn glich.

Wir erreichten die Tür der Kapelle. Diesmal würde es viel einfacher als noch 1992 sein, in das zerfallene Gebäude zu gelangen, da ein Großteil der Holzbohlen längst verrottet war.

»Wie sieht Ihr Plan aus?«, fragte Miller.

»Was?«

»Ich meine, was wollen Sie machen, wenn Sie hineingegangen sind?«

»Wie soll ich das wissen? Ich werde mir Danny schnappen und loslaufen. Was soll ich sonst machen?«

»Sie brauchen irgendeine Ablenkung. Sonst werden Sie nicht mal fünf Meter zurücklegen können.«

Ich überlegte. »Ich schätze, Sie haben Recht. Was schlagen Sie vor?«

»Zunächst mal sollten wir herausfinden, ob sich da drin drei oder dreihundert Leute aufhalten.«

Er sah zu dem Fenster, durch das ich zum ersten Mal den jungen Mr. Billings über den Rasen hatte eilen sehen. »Kommen Sie«, sagte Miller und ging zwischen den Grabsteinen vor mir her, bis wir das Fenster erreicht hatten.

Im Inneren der Kapelle zuckten so grelle Blitze, dass ich eine Hand vor meine Augen legen musste, um nicht geblendet zu werden. Der Gesang des jungen Mr. Billings war heftiger und komplizierter geworden, bis er schließlich nahezu schrie. Ich richtete mich so weit auf, dass ich gerade über die mürbe Steinfensterbank spähen konnte. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass Miller das Gleiche machte.

Keiner von uns sagte etwas, als wir ins Innere der Kapelle blickten. Miller verstand zwar nicht die Bedeutung dessen, was sich uns präsentierte, dennoch hatte er den Mund geöffnet und wirkte so, als weigere sich sein Verstand, das als wahr anzuerkennen, was seine Augen sahen.

An der linken Wand der Kapelle hatte man sämtliches Efeu entfernt, wodurch nicht nur das Wandgemälde von Kezia Mason, sondern auch die Bildnisse zahlloser weiterer junger Frauen freigelegt worden waren. Nach der Mode der Kleidung auf den Malereien zu urteilen, stellten sie vermutlich sämtliche Frauen dar, die über Generationen hinweg als Wirt für das Hexen-Wesen gedient hatten. Alle hatten den gleichen Gesichtsausdruck und die gleiche Körperhaltung wie Kezia Mason, das gleiche Spöttische, Triumphierende. Und jede von ihnen hatte einen eigenen Brown Jenkin, mal auf der Schulter liegend, mal im Arm gehalten. Manche von ihnen sahen aus wie Katzen oder Echsen, andere wie eine Kreuzung aus Hund und Kröte.

Dort, wo sich früher das Mittelschiff der Kapelle befunden hatte, waren jetzt drei riesige Pfannen. Sie sahen aus, als habe man sie aus alten Chemiefässern gefertigt, grobschlächtig mit Löchern versehen und mit Kohle und trockenem Holz gefüllt. Metallgitter waren über diese Pfannen gelegt worden, auf denen gut zehn große Fleischstücke geröstet wurden. Ich hielt sie zunächst für Spanferkel, doch als sich der Rauch für einen Moment verzog, konnte ich ein Gesicht ausmachen.

Das waren keine Spanferkel, das waren Kinder! Die abgeschlachteten Waisen des Fortyfoot House. Einigen waren Arme und Beine abgehackt worden, andere hatte man enthauptet. Einige waren mit Draht an den Gittern befestigt worden; vermuüich hatten sie noch gelebt, als man begonnen hatte, sie zu rösten.

Von den Pfannen bis zum Altar waren die zerbrochenen Ziegel mit den Knochen von Kindern übersät. Der Altar selbst verschwand förmlich unter Tausenden von Knochen, die zum Teil noch frisch waren. Einige waren aber auch schon so alt, dass sie teilweise zu Staub zerfallen waren. Es fanden sich Brustkörbe, Beckenknochen, Schenkelknochen, Schulterblätter - und mehr kleine Schädel, als ich zählen konnte.

Auf diesem Berg lag die groteskeste Kreatur, die ich jemals gesehen hatte. Allein ihr Anblick machte mich schon fast wahnsinnig. Sag, dass das nicht wahr ist, forderte mein Verstand.

Aber es war nur allzu wahr. Es war eine Frau, eine unglaublich aufgeblähte Frau, die nackt auf einem Stapel aus Decken und blutverschmierten Matratzen lag. Ihr Bauch war eine gewaltige Kugel, und was den Anblick noch schlimmer machte, waren die unablässigen Bewegungen, als sei eine Kreatur in ihrem Bauch gefangen, die unbedingt in die Freiheit gelangen wollte. Auch ihre Brüste waren massiv angeschwollen, während ihr Hals so aufgedunsen war, dass ihr Gesicht einer winzigen Puppenmaske glich.

Neben ihr kniete eine in schmutzige Lumpen gehüllte Gestalt, von der Kezia Mason angeblich Brown Jenkin bekommen hatte - der König der Docklands-Unterwelt: Mazurewicz. Seine schmierigen bloßen Hände fütterten sie mit Fleisch und Knorpel und lauwarmem Fettgewebe. Sie ließ sich alles in ihren winzigen Mund stopfen und schluckte das meiste unzerkaut, was ihren Bauch nur noch heftiger zucken ließ.

Der junge Mr. Billings stand nicht weit davon entfernt, trug aber nicht Schwarz, wie sonst üblich, sondern hatte sich ein schlichtes weißes Laken übergeworfen, das ihn wie Marcus Antonius aus Julius Cäsar wirken ließ. Er hielt seine Augen geschlossen und seine Arme erhoben und schrie noch immer diese Gesänge in den Himmel, wieder und wieder.

»Tekeli-li! Tekeli-li!«

»Scheiß Hölle«, sagte Miller.

»Wo ist Danny?«, fragte ich. »Können Sie ihn sehen?«

Er schob seinen Kopf etwas höher über die Fensterbank.

»Dort«, sagte er. »In der Ecke, in der Nähe der Wand. Brown Jenkin hat ihn in seiner Gewalt, aber er scheint unverletzt zu sein.«

»Vielleicht warten sie, bis alle diese armen Kinder gar sind«, erwiderte ich.

Ich war so verstört von dem, was ich gesehen hatte, dass ich zu Boden blicken und eine Hand gegen meine Stirn pressen musste. Ich wusste nicht, ob ich Angst oder Verbitterung oder Hoffnung oder vielleicht nichts dergleichen spürte.

Miller senkte den Kopf und kam zu mir herüber. »Hören Sie«, sagte er. »Je schneller wir handeln, umso besser. So wie bei Drogenrazzien. Wir platzen beide herein und schreien wie die Verrückten. Das hilft, um sie zu verwirren. Ich renne nach rechts, als würde ich versuchen, den Kerl in dem weißen Nachthemd auszuschalten, während Sie nach links rennen und sich Danny schnappen. Dann gehen Sie durch die Tür wieder raus, während ich aus dem Fenster springe. Und dann rennen Sie so, als hätte Ihnen jemand Feuer unter dem Hintern gemacht.«

»Und Brown Jenkin?«, fragte ich.

»Verpassen Sie ihm einen Tritt in die Eier, sofern er welche hat. Zögern Sie nie, und schreien Sie weiter. Und warten Sie nicht auf mich, denn ich werde nicht auf Sie warten.«

»Also gut.« Ich schluckte. Wieder zuckten Lichter nach draußen, der Boden zitterte heftig. Ich hörte das entsetzliche Geräusch der Schädel, die ihren Halt verloren und aus dem Knochenberg rutschten.

Schulter an Schulter standen wir vor dem Vordereingang der Kapelle. Ich hatte solche Angst, dass ich kaum atmen konnte, was mir bei der brennenden Luft ohnehin schwer fiel. Ich musste mich alle Augenblicke räuspern, um den hartnäckigen Hustenreiz zu bekämpfen.

»Bereit?«, fragte Miller.

Ich sah ihn an. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wer er eigentlich war. Und doch befand er sich jetzt an meiner Seite, in einem unvorstellbaren Abenteuer, riskierte sein Leben, um gegen das obszönste Geschöpf zu kämpfen, das ich jemals gesehen hatte.

»Bereit«, sagte ich. »Und ... danke.«

»Unfug. Das ist mein Job.«

Gemeinsam stürmten wir in die Kapelle und schrien aus Leibeskräften. Im gleichen Moment erschütterte ein ohrenbetäubender Donner die Ruine. Der kurz danach in den Boden der Kapelle einschlagende Blitz blendete uns, während Knochen und Dachziegel wie Schrapnellgeschosse in alle Richtungen flogen.

Ich zögerte eine Sekunde lang, war verwirrt, lief dann aber brüllend weiter, sprang über die Dachziegel und eilte auf Danny und Brown Jenkin zu. Der hatte Danny bereits das T-Shirt ausgezogen, während er mit einem langen Eisenstück das Feuer in der nächstbesten Pfanne weiter schürte. Ich sah, dass Tränen über Dannys Wangen liefen.

»Pretty fire, oui? You like the pretty fire?«

Ich glaube nicht, dass Brown Jenkin mich kommen sah, ganz im Gegensatz zu Danny. Der machte abrupt einen Satz nach hinten. Während Brown Jenkin nach ihm greifen wollte, rannte Danny auf mich zu, als könne er ein Sportabzeichen gewinnen, wenn er schnell genug bei mir war.

»Ahhhhhhhh!«, kreischte Brown Jenkin und eilte ihm mit wehendem schwarzen Umhang hinterher.

Danny kam buchstäblich in meine Arme geflogen, ich fing ihn auf und rannte los, um die Pfannen, zwischen dem widerwärtigen Rauch verschmorter Kinder hindurch, während meine Schuhe Knochen und Dachziegel zertraten. Ich vergaß, weiter zu schreien, doch da ich jetzt Danny im Arm hielt, hätte ich ohnehin nicht genug Atem dazu.

»Bastardbastard, I cut out your lunchpipes!«, jaulte Brown Jenkin, der hinter mir herhüpfte.

Ich blieb stehen und setzte kurz Danny ab, um gegen die letzte der Pfannen zu treten und Brown Jenkin mit glühender Kohle und brennendem Holz und den gerösteten Körpern seiner unschuldigen Opfer zu überschütten.

Sein Umhang fing Feuer, woraufhin er ihn wie wild auf den Boden schlug, während er fluchte und spuckte.

Ich war weit genug entfernt. Ich hatte die halbe Strecke zur Tür zurückgelegt und niemand konnte mich einholen.

Ich drückte Danny fest an mich, doch als ich die Tür erreicht hatte und mich noch einmal umsah, erkannte ich, dass Miller nicht so viel Glück gehabt hatte.

Mazurewicz war von dem Berg aus Knochen herabgestiegen und hatte ihn zu fassen bekommen. Jetzt hielt er Millers Haare fest und drückte ein langes geschwungenes Messer an dessen Kehle.

»Gehen Sie!«, schrie Miller. »Um Himmels willen, David, gehen

Sie!«

Ich setzte Danny ab und sagte ihm: »Hör gut zu. Du musst zum Haus zurücklaufen. Bleib auf keinen Fall stehen. Kletter über die Feuerleiter nach oben und steig durch das Dachfenster ins Haus. Dann gehst du sofort nach unten und suchst nach Charity. Du bleibst bei Charity. Ganz egal, was passiert, sprich nicht mit Liz. Liz ist böse. Es ist nicht ihr Fehler, aber sie ist böse. Also bleib bei Charity.«

»David, hören Sie nicht? Sie sollen gehen«, wiederholte Miller.

»Du bleibst aber nicht hier, oder?«, fragte Danny verängstigt.

»Nein, nur noch ein paar Minuten. Und jetzt lauf!«

Danny gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann rannte er in aller Eile über den Friedhof und durch den schwefligen Lichtschein. In dem Moment stürmte Brown Jenkin auf mich zu. Sein Umhang qualmte noch immer, während er mit seinen Klauen die Luft zerschnitt und hysterisch schrie.

»Merde-fucker, I rip you to pieces!«

Ich duckte mich und trat ihn so hart ich konnte. Er kreischte auf, und aus seinem Fell regnete es Läuse. Ich trat erneut zu, auch wenn es mir so vorkam, als würde ich ein totes Huhn treten, das in ein Handtuch gewickelt worden war. Brown Jenkin kreischte abermals, doch diesmal trafen seine Klauen mein Bein. Er zerfetzte mein Hosenbein und fügte mir einen gut zehn Zentimeter langen, tiefen Schnitt in meinem Wadenmuskel zu.

In dem Moment verlor ich das Gleichgewicht und sprang nach hinten, während ich fest davon überzeugt war, dass er mich töten würde. Mit einem Mal musste ich an Dennis Pickering denken und verlor jeglichen Mut. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte, mein gesamtes Nervensystem schien wie gelähmt.

»Bueno, bueno, now 1 cut out your chitterlings, ja?«, kicherte Brown Jenkin und kam langsam näher. Seine gelben Augen verengten sich und seine Klauen schlugen aneinander wie todbringende Kastagnetten.


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