11. Der Garten von gestern

Um kurz vor acht rief Reverend Pickering an, um zu sagen, dass er sich ein wenig verspäten würde. Zwischen seinen Damen, die für die diesjährige Erntedankfeier die Kirche dekorierten, hatte es einen Streit gegeben. »Ich fürchte, einige meiner Frauen sind sehr entschlossen. Fast wie Walküren.«

Ich stand im Flur und blickte währenddessen auf das Foto >Fortyfoot House, 1888<. Der junge Mr. Billings hatte mittlerweile die halbe Strecke über den Rasen zurückgelegt und näherte sich der Stelle, an der sein Schatten auf ihn wartete. Neben ihm befand sich eine dunkle kleine Gestalt, die schlichtweg alles hätte sein können. Ein Fleck auf dem Negativ, ein Tintenklecks, ein Schatten. Oder Brown Jenkin, das Rattenwesen, das durch Fortyfoot House rannte und suchte ... aber nach was? Auf dem Dachboden gab es nichts zu essen, und es gab keine Anzeichen dafür, dass Ratten an den Möbelstücken genagt oder nach einem Weg in die Vorratskammer gesucht oder sich Nester aus alten Zeitungen gebaut hatten.

Falls Brown Jenkin eine Ratte war, dann eine verdammt seltsame. Wir hatten über Nacht in der Küche Käse offen herumliegen lassen, der nicht angerührt worden war. Es hatte auch keine Versuche gegeben, die Vorratskammer zu plündern. Allerdings fanden sich darin in erster Linie Corned-Beef-Dosen und Spaghetti-Packungen. Entweder war Brown Jenkin gar keine Ratte, oder er bevorzugte anderes Essen.

Wir aßen Lasagne und Salat und tranken den Wein aus. Danny war schläfrig, sodass ich ihn gegen Viertel nach neun huckepack nahm und nach oben brachte. Nachdem ich ihn zugedeckt hatte, sagte er: »Diese Taschenkrebsc können doch nicht an Land kommen, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.«

»Kann ich das Licht anlassen?«

»Natürlich.«

»Die Taschenkrebse können nicht ins Haus kommen, oder?«

»Nein, das können sie nicht. Sie müssen im Wasser bleiben, sonst sterben sie. Hör mal, Danny, du hast heute etwas Schreckliches gesehen, aber die Taschenkrebse haben Mrs. Kemble nicht getötet. Sie hat sich das Genick gebrochen, vermutlich ist sie von den Felsen gestürzt. Die Taschenkrebse machen keinen Unterschied darin, welches Fleisch sie essen. Sie essen tote Vögel, Muscheln, eigentlich alles. Manchmal ist die Natur grausam.«

Ich strich sein Haar zurück und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut«, sagte ich. »Und dass du mir ausschließlich von einer großen Tüte Lakritz träumst.«

»Lakritz mag ich nicht mehr.«

»Na, dann träum von etwas, was du magst.«

»Ich mag Frauen.«

»Frauen ? Oh, du meinst sicher Mädchen?«

»Nein, Frauen. Ich hasse Mädchen.«

Oha, dachte ich, während ich die Tür leise zuzog. Wie der Vater, so der Sohn. Ich blieb einen Moment lang im Flur stehen und lauschte auf das verstohlene Scharren hinter den Fußleisten. Oder auf diese tiefen unverständlichen Gesänge. Doch heute Nacht schien Fortyfoot House besonders ruhig zu sein, als habe es sich heimlich in zwei Meter dicke Watte eingepackt.

Ich ging nach unten. Liz saß im Wohnzimmer im Schneidersitz auf dem Sofa und sah fern. »Haben wir noch Wein?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

»Und was sollen wir dann Reverend Pickering anbieten?«

»Tee, dachte ich. Vikare trinken doch immer Tee, oder?«

»Nicht die, die ich kenne.«

»Na gut«, erwiderte ich. »Dann gehe ich noch mal zum Laden. Ich glaube, ich habe noch genug Geld für eine Magnumflasche Plonko de France.«

Der Abend war warm, also verzichtete ich auf einen Mantel. Ich zog die Haustür leise ins Schloss, damit Danny nicht hörte, dass ich wegging.

Wenn man den Großteil seines Lebens in dem 24-stün-digen Verkehrslärm von London oder Brighton verbracht hat, dann können Städtchen wie Bonchurch in der Nacht beunruhigend still sein. Auf der anderen Seite kann man aber auch höchst unerwartete Geräusche wahrnehmen, die so klingen, als stürze eine tote Eule durch die Zweige eines Baums zu Boden und reiße dabei vertrocknetes Laub mit. Ein Krachen und Knacken, Büschel von Federn und Fell.

Ich lief dicht an der Mauer entlang, die zum Dorfladen führte. Ich drehte mich nur einmal nach Fortyfoot House um, konnte aber hinter den Tannen nur die buckligen, verwinkelten Umrisse des Dachs sehen, das von hier aus wiederum völlig anders wirkte, fast so, als habe es mir den Rücken zugewandt. Ich hatte noch niemals ein Haus gesehen, das eine so düstere und wechselhafte Persönlichkeit besaß. Es kam nie zur Ruhe. Es war immer in Bewegung und - soweit man das von einem Haus denn behaupten konnte - zu den hässlichsten Dingen fähig. Manche Häuser sind angenehm und bequem und tun ihren Bewohnern nichts. Aber im Fortyfoot House blieb ich ständig am Treppengeländer hängen, ich riss mir die Haut an überstehenden Nägeln auf, ich stieß mir den Kopf an Tür-und Fensterrahmen. Selbst wenn Harry Martin durch einen Unfall ums Leben gekommen sein sollte, war das nur ein Beispiel für die Aggressivität des Hauses.

Ich versuchte mir einzureden, dass uns keine Gefahr drohe und dass Geister nicht gefährlicher seien als Erinnerungen. Aber eine tief sitzende Furcht sagte mir, dass ich mir etwas vormachte - oder dass eine finstere und übellaunige Macht mir etwas vormachte.

Der Dorfladen war gerade im Begriff zu schließen, als ich ankam. Der Ladenbesitzer trug Kisten mit Gurken und neuen Kartoffeln in sein Geschäft und schien nicht besonders erfreut, mich zu sehen. Der Laden war nur schlecht beleuchtet und roch nach Waschpulver und Cheddarkäse. Ich ging zum Weinregal und entschied mich für eine große Flasche Piat D'Or.

»Es geht also mal wieder los«, bemerkte der Besitzer, während er meinen Wein einpackte. Im Licht der Neonröhren glänzte sein mit Pomade zurückgekämmtes graues Haar.

»Bitte?«

»Sie sind doch der junge Mann, der im Fortyfoot House arbeitet, oder?«, fragte er.

»Ja, das stimmt.«

»Das passiert immer, wenn die Leute versuchen, dem Haus beizukommen.«

» Was passiert immer?«

»Unfälle, Pechsträhnen. So wie beim armen alten Harry Martin.«

»Nun, ich muss zugeben, dass es eine gewisse ... Atmosphäre besitzt.«

»Atmosphäre?«, erwiderte er. »Keine zehn Pferde würden mich in das Haus kriegen. Das kann ich Ihnen sagen. Nicht mal hundert Pferde.«

Während er den Preis in die Kasse tippte, warf ich einen Blick auf die Straße. Es war schwierig, klar und deutlich zu sehen, weil mein Abbild und das des Ladens sich in der Schaufensterscheibe spiegelten, aber ich glaubte, eine Gestalt in braunem Umhang und mit brauner Kapuze in Richtung Fortyfoot House eilen zu sehen. Der Vikar konnte es nicht sein, dafür war die Gestalt zu klein, außerdem hatte sie sich mehr wie eine Frau bewegt. Irgendetwas an ihr erinnerte mich auf eine unbehagliche Weise an Liz.

»Warten Sie einen Moment«, sagte ich zu dem Händler und ging nach draußen. Die Gestalt hatte sich bereits etliche Meter auf der Straße weiterbewegt und wurde fast von der Dunkelheit verschluckt.

Doch als ich auf die Straße trat, drehte sie sich kurz um, und ich konnte ein blasses Gesicht sehen. Ich war nicht sicher, aber sie sah so sehr nach Liz aus, dass ich rief: »Liz! Liz?«

Doch die Gestalt drehte sich nicht noch einmal um, sondern lief weiter, bis sie mit der Dunkelheit eins wurde.

Ich ging zurück ins Geschäft, wo der Ladenbesitzer mit meinem Wechselgeld und völlig desinteressiertem Gesichtsausdruck auf mich wartete. »Kann ich jetzt schließen?«, fragte er.

»Tut mir Leid«, entschuldigte ich mich. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne.«

Er erwiderte nichts, folgte mir aber auf dem Fuß zur Tür und schloss sie ab, sobald ich das Geschäft verlassen hatte. Ich drehte mich im Weitergehen um und sah, wie er dastand und mich beobachtete. Sein Gesicht war zur Hälfte verdeckt von einem Schild mit der Aufschrift Sorry, wir haben geschlossen! Auch wenn Sie Brooke Bond Tea haben möchten! Seine Augen glänzten hinter seinen Brillengläsern wie gerade geöffnete Austern.

Ich ging durch die Dunkelheit zurück, während die Steinmauern, die zu beiden Straßenseiten standen, ein lautes Echo meiner Schritte warfen. Je länger ich darüber nachdachte, umso sicherer war ich, dass ich Liz an dem Geschäft hatte vorbeilaufen sehen. Oder jemanden, der ihre Zwillingsschwester hätte sein können. Aber was sollte Liz hier auf der Straße gemacht haben, noch dazu in einem langen braunen Umhang? Und wie sollte sie mich überholt haben, während ich von Fortyfoot House zum Geschäft gegangen war? Dass sie mich nicht überholt hatte, war sicher.

Als ich die letzte Biegung der Straße erreicht hatte, tauchte hinter den Bäumen Fortyfoot House auf. Eine Ansammlung von Dreiecken, Buckeln und Vielecken, aus dem Schornsteine sich wie schwere kopflastige Spitzen in den Himmel streckten. Während ich mich dem Haus näherte, stellte ich fest, dass ich immer intensiver auf das Muster starrte, zu dem sich das Dach formte. Allmählich erreichte es eine Form, die mir vertraut war. Und genauso allmählich wurde mir die Bedeutung dieses außergewöhnlichen und sonderbaren Designs bewusst. Ich blieb stehen und betrachtete das Dach, und mit einem Mal wusste ich, dass ich die Bedeutung von Fortyfoot House von Anfang an richtig eingeschätzt hatte, als sei ich auf meine Ankunft vorbereitet worden, lange bevor ich auch nur eine Ahnung hatte, dass ich herkommen würde.

Von hier aus bildete das Dach exakt die Form des sumerischen Tempels in der Ausgabe von National Geographie, jenes Tempels, den die Türken abgerissen halten. Die gleichen Kanten, die gleichen Spitzen, die gleichen unmöglichen Perspektiven.

Wenn Kezia Mason wirklich selbst dieses Dach entworfen hatte, dann hatte der alte Mr. Billings viel mehr als nur ein verzogenes Mädchen aus dem East End ins Fortyfoot House gebracht. Er hatte einer jahrhundertealten Intelligenz Zutritt verschafft, die wusste, wie man Bauwerke errichtet, die auf eine übernatürliche Weise von den normalen Grenzen von Raum und Zeit befreit sind.

Ich stand wie erstarrt da und sah das zusammengekauerte Profil des Hauses an, während ich das Gefühl hatte, entweder von einer genialen Erkenntnis oder vom Wahnsinn erfüllt zu sein. Saul auf dem Weg nach Tarsus. Es war ein gewaltiges Gefühl, ein Gefühl, das mir ein Rauschen in den Ohren bescherte, als würde ich ins Vakuum des Alls geschleudert und könnte plötzlich Gott verstehen.

Ich kehrte zum Haus zurück. Ein beiger Renault Kombi parkte gleich neben dem Wrack meines Audi. Reverend Pickering war also angekommen.

Liz öffnete die Haustür, während ich noch nach meinem Schlüssel suchte. »Der Vikar ist hier«, sagte sie. »Was ist?«, fragte sie dann, als sie bemerkte, dass ich sie offenbar etwas seltsam ansah.

»Bist du noch mal rausgegangen?«, fragte ich.

»Raus? Natürlich nicht. Ich habe darauf gewartet, dass du den Wein bringst. Wieso?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ist nicht so wichtig.«

Sie nahm mir die Weinflasche ab, während ich ins Wohnzimmer ging. Dennis Pickering hatte in einem der alten Sessel Platz genommen und unterhielt sich mit Danny, der wieder aufgestanden war. Als ich hereinkam, erhob sich Pickering und gab mir die Hand. Er sah ein wenig müde aus, und auf dem Revers seiner grünen Tweed-Sportjacke war ein Fleck Tomatensuppe zu sehen.

»Wie wäre es mit einem Glas Wein?«, fragte ich.

»Vielleicht später«, sagte er und sah sich um. »Ich muss gestehen, David, dass dieses Haus mich unruhig werden lässt. Reine Einbildung, aber in meiner Branche muss man sich schon eine Menge einbilden können. Vom Glauben mal ganz abgesehen.«

»Ich nehme an, Sie haben gehört, was Mrs. Kemble zugestoßen ist«, sagte ich.

Er nickte. »Bedauerlicherweise ja. Eine meiner Damen hat mich angerufen. Das ist schrecklich. Tragisch. Die Polizei scheint zu glauben, dass sie auf den Felsen spazieren gegangen und dann ausgerutscht ist. Sie hat sich wohl den Kopf gestoßen und ist dann ertrunken. Das ist nicht besonders schwierig, vor allem für eine Frau in ihrem Alter. Außerdem kann man ohne weiteres in nur wenige Zentimeter tiefem Wasser ertrinken. Ein kleiner Junge aus Shanklin ist letzten Sommer fast an derselben Stelle ertrunken.«

»Heute Abend haben wir noch keine Geräusche gehört«, sagte ich. »Außer, es sind welche zu hören gewesen, als ich den Wein gekauft habe.«

Danny schüttelte den Kopf. »Ich bin nur aufgewacht, weil ich dachte, ich hätte die Ratte gehört. Sonst war nichts.«

»Und wo hast du sie gehört?«

»Oben auf dem Dachboden.«

»Vielleicht sollten wir auf dem Dachboden anfangen«, schlug ich Pickering vor.

»Ja, warum nicht?«, sagte er und rieb sich die Hände. »Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt.«

»Ich wusste gar nicht, dass die anglikanische Kirche die Lehren des Vorsitzenden Mao verbreitet«, sagte ich lächelnd.

»Darf ich mitkommen?«, bettelte Danny.

»Nein, das geht nicht«, erwiderte ich. »Ich glaube zwar nicht, dass es gefährlich wird, aber es könnte zu unheimlich sein.«

»Das macht mir nichts aus.«

»Aber mir macht es was aus, und jetzt ist Schluss.«

»Ich kann die Taschenlampe halten«, sagte Danny.

»Ich habe >nein< gesagt. Du bleibst hier und kannst den Fernseher anmachen. Wir gehen nur nach oben auf den Speicher.«

»Vielleicht ein kurzes Gebet?«, fragte Pickering.

Ich warf Liz einen unbehaglichen Blick zu. »Wenn Sie glauben, dass das hilft«, erwiderte ich.

Er lächelte mich an. »Auf jeden Fall kann es nicht schaden.«

Er faltete die Hände und schloss die Augen. »O Herr, beschütze uns in dieser Zeit des Unglücks. Beschütze uns vor dem Bösen, bekannt oder unbekannt. Und bring uns sicher aus der Dunkelheit, aus Furcht und Ungewissheit ins unfehlbare Licht deiner heiligen Wahrheit.«

»Amen«, murmelten wir.

Zunächst zeigte ich Pickering das Bild im Flur. Noch bevor wir uns genähert hatten, konnte ich erkennen, dass der junge Mr. Billings an seine ursprüngliche Position zurückgekehrt war. Die schattenhafte haarige Kreatur, die ihn über den Rasen begleitet hatte, war verschwunden. Fast verschwunden, wie ich feststellen musste. Denn als wir näher kamen, bemerkte ich, dass die hintere Tür von Fortyfoot House ein wenig geöffnet war und dass der winzige Teil eines Schattens dort verschwand. Der Schwanz von Brown Jenkin?

Dennis Pickering beugte sich vor und betrachtete das Foto aufmerksam. »Ja«, sagte er, »das ist Billings der Jüngere. Ohne Zweifel.«

»Seit gestern hat er ständig seine Position gewechselt.«

Pickering sah mich fragend an. »Bitte? Sie meinen, das Foto hing woanders?«

»Nein, nein, der junge Mr. Billings hat seine Position verändert. Er bewegt sich in dem Foto hin und her. Gestern ging er da hinten über den Rasen und hielt die Hand oder Klaue von irgendetwas, das wie Brown Jenkin aussah.«

Pickering sah sich noch einmal das Foto an. »Sind Sie da ganz sicher?«

»Ganz sicher.«

»Und was ist mit Ihnen, Liz?«, wollte er wissen. »Haben Sie das auch gesehen?«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete sie.

Ich warf ihr einen ärgerlichen Blick zu: »Du bist nicht sicher ?«

Sie sah fort. »Mir fällt es sehr schwer, das alles zu verstehen. Ich weiß nicht, ob ich meinen Augen glauben kann oder nicht.«

»Aber er war doch fast völlig aus dem Bild verschwunden!«, protestierte ich.

»Ich weiß nicht, mir kommt das alles wie ein böser Traum vor«, sagte Liz.

»Schon gut, schon gut, wir brauchen nicht noch mehr Unruhe«, sagte Pickering beschwichtigend. »Ich schlage vor, dass wir nach oben gehen und uns umsehen.«

Ich versuchte, Liz' Hand zu nehmen, während wir durch den Flur zurückgingen, doch sie entzog sich meinem Griff.

»Stimmt was nicht?«, flüsterte ich.

»Nein«, beteuerte sie.

»Irgendetwas stimmt doch nicht.«

»Es ist nichts. Ich möchte bloß nichts mehr mit all diesen Dingen zu tun haben. Und ich weiß auch nicht, warum du dich damit beschäftigen sollst. Es ist nicht dein Haus und damit nicht dein Problem.«

Ich blieb stehen. »Bist du sicher, dass du heute Abend das Haus nicht verlassen hast?«

»Da bin ich verdammt sicher. Warum fängst du damit schon wieder an?«

»Können wir?«, fragte Pickering ein wenig ungeduldig.

Wir stiegen die Stufen bis zum Treppenabsatz hinauf, dann öffnete ich die Tür zum Speicher. Wieder schlug mir dieser hartnäckige abgestandene Luftzug entgegen. Ich schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete nach oben, als ich bemerkte, dass der Dachboden bereits in ein schwaches gräuliches Licht getaucht war. Ich sah zu Liz und sagte: »Sieh dir das an, da oben ist Licht. Vielleicht haben die elektrischen Leitungen beschlossen, sich selbst zu reparieren.«

Pickering ging vor mir die kurze Treppe hinauf, dann blieb er abrupt stehen, ohne etwas zu sagen und ohne sich zu bewegen. Schließlich sagte er: »Ich komme wieder nach unten.« Im nächsten Moment stand er neben mir auf dem Absatz und sah bleich aus.

»Was ist los? Was ...«

»Da oben ist ein Licht«, antwortete er, während sich seine Stimme fast überschlug.

»Und?« »Ich befürchte, es ist Tageslicht.«

»Wieso Tageslicht? Draußen ist es stockfinster.«

»Es ist Tageslicht, glauben Sie mir. Sie sollten besser diese Tür verschließen. Ich werde mich sofort mit Stiftsherr Earwaker in Verbindung setzen.«

»Sie müssen sich irren. Da oben kann kein Tageslicht sein. Es gibt keine Fenster da oben, von dem Dachfenster abgesehen. Und das ist zugeklebt.«

Ich nahm die erste Stufe der Treppe, aber Pickering packte mich am Ärmel und schrie mich fast an: »Nein! Das dürfen Sie nicht!«

»Mr. Pickering, um Himmels willen. Da oben kann es kein Tageslicht geben!«

»Es ist Tageslicht«, wiederholte er nahezu außer sich, während er noch stärker an meinem Ärmel zerrte. »Das ist Teufelswerk, glauben Sie mir doch. Gehen Sie um keinen Preis nach oben.«

»Tut mir Leid, aber das muss ich machen.«

»David!«, mischte sich Liz ein. »Geh nicht!«

Diesen Gesichtsausdruck hatte ich bei ihr noch nicht gesehen. Er war sehr merkwürdig, und auch ihr Tonfall war ungewöhnlich. Sie hatte sich angehört, als habe sie eine sehr gute Vorstellung von dem, was Pickering solche Angst eingejagt hatte. Als wisse sie, warum der Speicher so aussah, als sei er in Tageslicht getaucht.

Ich schob Dennis Pickering behutsam zurück. »Es tut mir Leid«, wiederholte ich, »aber ich muss da einfach raufgehen. Ich kann hier in Fortyfoot House nichts tun, wenn ich nicht ein für allemal diesen Lichtern und Geräuschen auf den Grund gehe.«

»Dann komme ich mit Ihnen«, beharrte Pickering, auch wenn er aufgeregt atmete und seine Hände zitterten.

»Sie müssen nicht, wenn es Ihnen Angst einjagt«, sagte ich.

»Es ist meine priesterliche Pflicht. Und es ist meine Pflicht als Mensch.«

»Glauben Sie wirklich, dass da oben der Teufel lauert?«

»Sie können es nennen, wie Sie wollen. Aber es ist dort. Und es ist so real wie Sie und ich. Können Sie nicht das Böse riechen? Es ist die Essenz des Bösen!«

Ich schnupperte.

»Ich kann einen schwefeligen Geruch feststellen, ein wenig verbrannt. Weiter nichts.«

»Die Essenz des Bösen«, sagte Pickering, während er mit dem Kopf nickte. »Der Gestank der Hölle.«

»Egal«, entschied ich. »Ich gehe jetzt trotzdem nach oben.«

Liz warf mir einen geringschätzigen Blick zu, obwohl sie der Hauptgrund dafür war, dass ich auf den Speicher steigen wollte. Wenn ich nicht klärte, was es mit den Geräuschen und Lichtern im Fortyfoot House auf sich hatte, konnte ich nicht von ihr erwarten, dass sie blieb. Und außerdem hatte ich bei unserem Gespräch am Nachmittag, bevor wir Doris Kemble gefunden hatten, gemerkt, wie sehr ich wollte, dass sie blieb, und wie sehr ich sie brauchte.

Obwohl die Treppe von dem Licht auf dem Dachboden erhellt wurde, nahm ich die Taschenlampe mit. Wenn die Lampen sich aus eigener Kraft reparieren konnten, dann konnten sie auch wieder ausfallen, und ich wollte nicht noch einmal in völliger Dunkelheit auf dem Dachboden stehen. Früher hatte ich in der Dunkelheit keine Angst gehabt, aber Fortyfoot House hatte das grundlegend geändert.

Ich erreichte die oberste Stufe und sah mich um. Langsam wurde mir klar, dass Dennis Pickering Recht hatte, so wenig ich das auch glauben wollte. Der Speicher war tatsächlich in Tageslicht getaucht. Kaltes, graues, herbstliches Licht, als hätten wir nicht Juli, sondern Mitte November. Aber nicht nur das - der Speicher war auch so gut wie leer. Kein Schaukelpferd, keine Möbel, keine zusammengerollten Teppiche, keine Bilder, über die man Tücher geworfen hatte. Nur ein paar staubige Bastkörbe und Hutschachteln, und eine altmodische Nähmaschine.

Das Dachfenster war nicht abgedeckt, zudem stand es offen. Daher kam also der modrige Luftzug, der sich auf dem Dachboden breitmachte - obwohl ich keine Ahnung hatte, wie der Zug hereinkommen sollte, wenn das Dachfenster doch eigentlich verschlossen und das Dach nach außen hin versiegelt worden war.

»Gleicher Ort, andere Zeit«, sagte ich. Es war Furcht erregend und verwirrend, aber der Gedanke, dass wir über die Treppe zum Speicher ins Fortyfoot House des Jahres 1880 gelangt waren, hatte auch etwas Aufregendes.

»Ich glaube nicht, dass wir noch weiter gehen sollten«, warnte Pickering mit düsterem Gesichtsausdruck, während er sich am Treppengeländer festhielt.

»Ich will nur aus dem Dachfenster sehen«, rief ich ihm zu. Ich bemerkte Wolken, die vorüberzogen, ich hörte die See und das leise Rascheln von trockenem Laub. Nicht nur das Jähr und die Tageszeit hatten sich geändert, es war auch eine andere Jahreszeit.

Pickering zitterte wie ein Mann, der eine schwere Grippe hatte, und obwohl er der anglikanischen Kirche angehörte, bekreuzigte er sich zweimal. »Das ist eindeutig Teufelswerk. Wenn Sie durch dieses Dachfenster blicken, David, dann werden Sie direkt in den Schlund der Hölle sehen.«

»Halten Sie bitte die Taschenlampe«, sagte ich und ging über den Speicherboden, bis ich unter dem Dachfenster stand. Der Himmel sah ganz normal aus. Es war ein windiger Tag an der Küste, ich sah ein paar Möwen vorüberziehen und einige braune Blätter, die vom Wind fortgetragen wurden. Was ich nicht entdecken konnte, waren die qualmenden Schlote der Hölle, Fledermäuse und Hexen auf ihren Besen.

»Ich flehe Sie an«, sagte Pickering.

»Nur ein Blick«, versicherte ich.

Er schüttelte ungläubig seinen Kopf.

So wie Harry Martin kurz vor seinem Tod zog ich eine schwarze hölzerne Kiste über den Boden, bis sie direkt unter dem Dachfenster stand. Dann stieg ich hinauf und sah vorsichtig aus dem offenen Fenster. Der Wind wehte mir kräftig ins Gesicht und ließ meine Augen tränen. Ich wandte mich ab und sah, dass Dennis Pickering sich mir angeschlossen hatte. Erstaunen und Neugier hatten über seine Angst gesiegt.

»Vielleicht ist es gar kein Teufelswerk«, sagte er. »Es ist so außergewöhnlich ... dann kann es eigentlich nur ein Werk des Herrn sein.«

»Vielleicht ist es auch das Werk von Menschen«, gab ich zu bedenken und sagte ihm, wie ähnlich das Dach den sumerischen Zikkurats war. »Vielleicht ist es das Werk von Kezia Mason.«

»Ich weiß nicht«, sagte Pickering. »Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich Angst. ... Nein, keine Angst, eher Unsicherheit. Ich verstehe das nicht. Es ist so ... fremd. Wissen Sie ... mit jeder Minute, die verstreicht... bin ich umso überzeugter, dass das hier etwas anderes ist. Kein Werk des Teufels oder des Herrn. Sondern etwas anderes. Etwas völlig anderes.«

Er dachte weiter laut nach, während ich noch einmal durch das Dachfenster sah. Ich konnte den Rosengarten an der Stelle stehen, an der er zur Sonnenuhr hin abfiel. Der Rasen war gründlich gemäht, die Rosen waren alle zurückgeschnitten worden. In der Ferne sah ich zwischen den Bäumen das Glitzern des Kanals im Sonnenschein.

»So wie die Zikkurats, sagten Sie?«, fragte Pickering. »Was können Sie sehen? Die gleiche Aussicht? Den Garten?«

»Es ist der Garten«, erwiderte ich. »Aber er sieht etwas anders aus. Viel gepflegter. Und die Bäume unten am Bach sind noch viel kleiner. Einige sind nicht viel mehr als Schösslinge.«

»Dann sind wir in der Vergangenheit?«, fragte Dennis Pickering.

Ich sah nach links zur Kapelle. Sie war in bester Verfassung, die Bleiglasfenster spiegelten das Licht, der Friedhof war gemäht. Ich konnte nur gut ein Dutzend Gräber erkennen, die erst vor kurzem ausgehoben worden waren und richtige Grabsteine aufwiesen, nicht nur einfache Holzkreuze.

»Ja«, sagte ich schließlich. »Ich glaube, wir sind in der Vergangenheit.«

»Glauben Sie, ich könnte es mir selbst ansehen?«, fragte Pickering nervös. »Nur ein Blick ... es ist so bemerkenswert.«

»Aber sicher«, antwortete ich. Gerade wollte ich jedoch von der Kiste heruntersteigen, als ich zwei Schatten bemerkte, die durch den Rosengarten huschten. Es war schwierig, sie zu erkennen, weil sie sich so schnell bewegten, dass es aussah, wie etwas, das man an sich vorbeihuschen sieht, wenn man aus dem Fenster eines fahrenden Zugs blickt. Dann kamen sie aber auf den kreisförmig gemähten Rasen rund um die Sonnenuhr. Eine der Gestalten erkannte ich sofort. Sie war groß, mit buschigem Backenbart, einem schwarzen Frack und einem Zylinder. Der junge Mr. Billings, mit blassem Gesicht und erregtem Ausdruck, zu seiner Linken begleitet von einer kleineren Gestalt in braunem Umhang mit Kapuze, einer Gestalt, die geduckt umhersprang, als vollführe sie irgendeinen außergewöhnlichen Tanz.

Ich musste mich daran erinnern, dass ich kein Foto sah, sondern einen realen Nachmittag beobachtete, auch wenn der vor über hundert Jahren stattgefunden hatte. Da war der junge Mr. Billings, lebendig und sehr verärgert. Und da war das kleine haarige schlurfende Ding, das Brown Jenkin sein musste.

Hier vom Dach aus konnte ich kaum dahinterkommen, was der junge Mr. Billings tat oder sagte. Er gestikulierte mit seinem rechten Arm, als sei er ein Metzger, der einen Ochsenschwanz zerlegt. Er schien sehr wütend zu sein, doch die kleine in braun gekleidete Gestalt schien nicht willens zu sein, ihm zuzuhören. Sie kreiste um ihn herum, eilte und rannte, sprang und duckte sich, womit sie es dem jungen Mr. Billings unmöglich machte, zu ihr aufzuschließen, außer er vollzog einen ähnlich wirren Tanz.

Zwischen dem Pfeifen des Windes und dem monotonen Kreischen der Möwen konnte ich nur Bruchstücke hören: »... egal, was sie will ... vereinbart ... du kannst nur so viele nehmen, wie du ...«

»Bitte«, sagte Pickering, doch ich blieb, wo ich war, um zu hören, was der junge Mr. Billings und die in braun gehüllte Gestalt sprachen. Der junge Mr. Billings klang, als belle er einen Hund an, während die kleine Gestalt weiter umhertänzelte, als würde es sie nicht interessieren. Ab und zu ließ sie ein schrilles, abgehacktes Lachen erschallen. Es war wie ein Traum oder ein Albtraum, diesen großen Mann zu beobachten, wie er etwas anschrie, das weniger wie ein Mensch wirkte, sondern eher wie ein buckliges und viel zu großes Nagetier.

»Wir haben eine Vereinbarung, schlicht und einfach!«, rief der Mann heiser.

In dem Moment tauchte direkt unter mir eine Frau auf. Sie musste aus der Küche oder um das Haus herumgekommen sein. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, weil sie mit dem Rücken zu mir stand, doch ich erkannte das wallende rote Haar wieder. Es war die Frau, deren Bild man an die Wand in der Kapelle gemalt hatte. Sie trug ein dünnes weißes Kleid, das im Wind flatterte. Obwohl es kalt war, stand sie barfuß im Garten.

An der Hand hielt sie ein Mädchen von vielleicht zehn oder elf Jahren, das ebenfalls ein dünnes weißes Kleid trug. Das Mädchen trug einen Kranz aus Palmen-und Lorbeerblättern im Haar.

Es wurde geschrien, während das Rattending hin und her sprang. Wieder und wieder sagte der Mann: »Wir haben eine Vereinbarung, schlicht und einfach!« Die in Weiß gekleidete Frau nahm ihn aber einfach nicht wahr.

Der Mann mit dem schwarzen Zylinder unternahm einen tolpatschigen Versuch, die Hand des Mädchens zu fassen zu bekommen, als versuche er, es der Frau zu entreißen. Das Rattending sprang ihn an, bleckte gleich mehrere Reihen geschwungener gelber Zähne und ließ seine lilafarbene Zunge hervorschießen.

Der Mann trat sofort einen Schritt zurück und hob seinen linken Arm, als wäre es ihm lieber, dass ihm seine Hand, nicht aber sein halbes Gesicht fortgerissen würde.

Sofort drehte sich die Frau um und ging zurück zum Haus. Der Mann zögerte, versuchte dann aber, ihr zu folgen. Der Wind trug die gellenden Schreie des Kindes zu mir herauf.

»Was ist los?«, wollte ein äußerst aufgeregter Reverend neben mir wissen.

»Sieht so aus, als hätte der junge Mr. Billings Streit mit Brown Jenkin«, antwortete ich und stieg von der Kiste herunter. Hastig nahm Pickering meinen Platz ein und sah hinaus in den Garten.

»Ja, Sie haben Recht! Mein Gott, das ist der junge Mr. Billings! Und das ist zweifellos Brown Jenkin! Und die Frau muss Kezia Mason sein!«

»Aber was machen sie?«, wollte ich von ihm wissen. Er streckte seine Hand aus und ich half ihm von der Kiste. »Kezia Mason nimmt das Mädchen mit. Gott weiß, warum sie das macht. Aber wenn dies das Jahr 1886 ist, in dem alle Kinder im Fortyfoot House starben oder verschwanden, dann können Sie sicher sein, dass diesem Mädchen etwas äußerst Unerfreuliches widerfahren wird.«

»Können wir es nicht retten?«, überlegte ich.

Pickering sah wieder zum Dachfenster und wirkte unentschlossen. »Ich nehme an, dass wir es versuchen könnten. Aber an Ihrer Stelle würde ich mich von Brown Jenkin fernhalten.«

Ich ging rasch zur Treppe und sah nach unten, wo Liz noch immer auf uns wartete. Sie stand in der Dunkelheit da, womit klar war, dass wir auf diesem Weg nicht den Garten des Jahres 1886 erreichen konnten.

»Wir könnten aus dem Dachfenster klettern«, schlug Pickering vor, ohne allzu begeistert zu klingen.

»Das nützt nichts«, sagte ich ihm. »Von diesem Teil des Dachs aus geht es nirgendwohin. Da geht es nur steil runter bis zur Veranda.«

»Warten Sie«, sagte er und berührte meinen Arm. »Ist das da im Boden nicht eine Klapptür?«

Ich drehte mich um und musste ihm Recht geben. Sie war fast völlig von einem staubigen Laken verdeckt, aber ich konnte ein Scharnier und eine Ecke des nicht richtig sitzenden Rahmens erkennen. Ich trat das Laken zur Seite und sah eine Klapptür, die groß genug für einen erwachsenen Menschen war. Es sah so aus, als habe man sie irgendwann nach der Fertigstellung des Hauses nachträglich in den Boden eingelassen. Handwerklich war es das Werk eines Amateurs, wenn man sie mit den anderen im Haus ausgeführten Arbeiten verglich. Die Nägel und Scharniere waren bereits verrostet.

Mir fiel auf, dass die Riegel, die die Klapptür geschlossen hielten, nicht zurückgezogen waren und sich auf dieser Seite befanden, anstatt auf der anderen, mir abgewandten Seite. Das konnte nur bedeuten, dass verhindert werden sollte, dass jemand heraufkommen konnte.

Jemand. Oder etwas.

Ich kniete nieder und presste mein Ohr gegen die Klapptür. Aus einem der unter mir liegenden Räume konnte ich das Mädchen schreien hören.

»Sind Sie bereit dafür?«, fragte ich den Reverend. Mein Herz raste wie wahnsinnig. »Es könnte sein, dass wir uns in etwas einmischen, obwohl wir das gar nicht sollten. Das ist Ihnen doch bewusst, oder?«

Dennis Pickering schluckte schwer. »Wenn die Unschuldigen um Hilfe rufen, müssen wir etwas unternehmen«, sagte er dann. »Da bedeutet es keinen Unterschied, ob es 1886 oder 1992 ist.«

»Amen«, sagte ich und öffnete die Klapptür.

Während ich in das winterliche Tageslicht spähte, wurde mir plötzlich klar, dass diese Klapptür in mein Schlafzimmer führte ... das jetzt ein Zimmer war, bei dem die Decke nicht abgetrennt worden war. Das war mein Schlafzimmer, bevor man nahezu ein Drittel des Raums abgeteilt hatte. Das

Zimmer war dementsprechend größer und luftiger, und es verfügte über ein zweites Fenster mit Blick auf die Erdbeerbeete. Direkt unter der Klapptür stand ein Stuhl, zu dem ich mich hinunterhangelte, um dann auf den nackten Fußboden hinabzusteigen. Ich rief leise nach Dennis Pickering, damit er mir folgte.

Es war faszinierend, wie mein Schlafzimmer ohne die schräg nach unten verlaufende Decke wirkte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie groß der Teil war, den man abgetrennt hatte. Am zweiten Fenster stand ein einfaches Metallbett, das olivgrün gestrichen war, sich aber in einem heruntergekommenen Zustand befand. Auf dem Metallgestell lagen eine unbequeme Rosshaarmatratze und ein gelbliches Bettlaken, weiter nichts. Ein Tablett aus verfärbtem Kupfer lag unter dem Bett, außerdem eine zusammengelegte Schürze, die mit rostigen Flecken übersät und mit ihren eigenen Schnüren fest zusammengebunden war.

»Sehen Sie doch«, sagte Pickering plötzlich und lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein Kruzifix, das an der Wand vor dem Bett hing. Es war ein großes Kruzifix, mit großem Geschick aus dunkel lackiertem Holz geschnitzt, mit einer Christus-Figur aus Elfenbein und mattiertem Silber. Christus sah mit Augen voller Selbstaufopferung und Schmerz ins Nichts. Was aber so unangenehm an dem Kreuz war, das war die Tatsache, dass es auf dem Kopf hing und an einer verdrehten Kordel aus zerfasertem Hanf und vertrockneten Kastanienblüten befestigt war.

»Was bedeutet das?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht, vielleicht Satansjünger. Oder Anhänger des Antichristen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es könnte sich um irgendeinen Kult handeln, von dem wir noch nie etwas gehört haben. Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es viele Randgruppen, die sich mit Schwarzer Magie und Teufelsanbetung beschäftigten-.«

»Hören Sie!«

Wieder waren die Schreie des kleinen Mädchens zu hören.

Es klang danach, als habe man das Kind in den Raum gebracht, der heute das Wohnzimmer war. Die Schreie hörten sich nicht mehr so hysterisch an, dafür elender, als hätte sich das Mädchen in sein Schicksal ergeben, sei aber dennoch todunglücklich.

»Möge Gott uns die Kraft geben, die wir brauchen«, hauchte Dennis Pickering und ging vor mir zur Treppe.

Das Haus hatte sich zwischen 1886 und 1992 kaum verändert. Entlang der Treppe und im Flur war allerdings alles mit dunklem Holz vertäfelt, außerdem waren die Wände oberhalb der Vertäfelung tapeziert. Ein durchdringender Geruch von feuchtem Verputz, gekochtem Fisch und Lavendelbohnerwachs hing im Haus.

Im Flur hingen viel mehr Fotos und Zeichnungen an den Wänden, aber natürlich fehlte »Fortyfoot House, 1888<. Während Pickering und ich uns vorsichtig auf die geöffnete Tür zum Wohnzimmer zubewegten, fiel mein Blick auf seltsame Stahlstiche von mysteriösen Gärten, die von Tieren bevölkert wurden, die die Größe von Wild mit Insektenbeinen und Panzern hatten.

Es gab minutiös gezeichnete Darstellungen von mutierten Tieren und medizinische Darstellungen von schwangeren Frauen, die aus achteckigen Glasbehältern Chloroform einatmeten. Andere Bilder zeigten beunruhigend detaillierte Zeichnungen von Frauen, deren Inneres mit Lampen erhellt und untersucht wurde.

Ich konnte mir nicht jedes Bild ansehen, aber ich hätte mir keine Sammlung vorstellen können, die noch ungeeigneter für ein Waisenhaus gewesen wäre als diese hier. Jedes einzelne von ihnen war bizarr oder Furcht erregend oder schonungslos gynäkologisch. Es gab den Furcht einflößenden Stich mit dem Titel >Soldatenfrau, die ihrem Ehemann in die Schlacht folgt, von einer Kanonenkugel in zwei Hälften gespalten wird und noch im gleichen Moment ein lebendes Kind zur Welt bringt<.

Der Reverend hob eine Hand, um mir zu bedeuten, dass ich stehen bleiben und mich ruhig verhalten solle. Wir waren noch etwa einen Meter von der Wohnzimmertür entfernt und konnten nun ganz genau das atemlose hohe Jammern des Mädchens und das verzerrte Kichern von Brown Jenkin und die monotone Stimme des jungen Mr. Billings hören. Das graue Herbstlicht fiel auf den rotbraun gemusterten Teppich, der von Tausenden von Tritten lederbesohlter Schuhe glänzend geworden war. Irgendwo hinter uns, vielleicht aus der Küche, hörte ich klappernde Geräusche. Jemand sang Two Litlle Girls In Blue.

»Was sollen wir jetzt am besten machen?«, zischte Pickering mir zu. Sein Atem roch nach zu vielen Tassen Tee. So viel zu Liz' Äußerung, Vikare würden üblicherweise Alkohol trinken.

»Ich weiß nicht. Was können wir machen?« In diesem Moment musste ich an das denken, was Liz gesagt hatte: >Du kannst dich nie entscheiden. Gehen - bleiben - gehen -bleiben. David, um Himmels willen, entscheide dich doch endlich einmal.«

Ich überlegte immer noch, wie wir vorgehen sollten, als ich eine schneidende überhebliche Stimme hörte, die mich innehalten ließ. Es war die Stimme einer Frau mit einem Cockney-Akzent, der mit dem heutigen genuschelten Cockney kaum etwas gemein hatte. Ohne jeden Zweifel musste das Kezia Mason sein - Schützling des alten Mr. Billings, Geliebte des jungen Mr. Billings.

»Na, komm schon, du kleines Luder. Der Alte Freund wartet auf dich.«

Wieder schrie das Kind auf, dann sagte der junge Mr. Billings: »Kezia, das war nicht vereinbart. Zwölf, hast du gesagt, mehr nicht. Zwölf würden genügen. Und bei Gott, zwölf waren schon schlimm genug. Aber nicht mehr als zwölf.«

»Wann habe ich etwas von zwölf gesagt, mein Liebster?«

»Du hast von zwölf gesprochen, als wir uns zuerst geeinigt hatten. Jenkin hat ebenfalls zwölf gesagt. Nicht mehr.«

»Ich sagte zwölf in den Tagen von Queen Dick.«

»Kezia, du kannst nicht noch mehr nehmen. Was wird Barnardo sagen?«

»Wir lassen Mazurewicz kommen. Er wird bestätigen, dass sie alle an der Reihe waren.«

»Verdammt, Kezia, du kannst sie nicht alle haben!«

»Der Alte Freund nimmt, was er braucht«, erwiderte Kezia. Das Kind schrie unterdessen, ohne Luft zu holen.

Ich flüsterte Pickering zu: »Klingt so, als ob sie auf uns zukommen. Ich schnappe mir das Kind, und Sie brüllen ihnen etwas entgegen, irgendwas, Gebete, Flüche, einfach gentig, um sie aus der Fassung zu bringen.«

Uberraschend griff der Reverend nach meiner Hand: »Wenn wir sie mit auf den Speicher nehmen ... in unsere Zeit ... glauben Sie, dass sie überleben wird?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wir befinden uns im Jahr 1886, das Kind ist jetzt und hier zehn oder elfjahre alt. Wenn wir es mit ins Jahr 1992 nehmen, wäre es dort über hundert Jahre alt. Vielleicht bringen wir es im Grunde ebenso um, wie Kezia Mason es macht! Vielleicht sogar auf noch grausamere Weise!«

Das Kind schrie inzwischen noch lauter, und ich wusste, dass wir irgendetwas unternehmen mussten. »Um Himmels willen, Dennis. Wir haben es hierher geschafft in eine Zeit, in der wir noch nicht auf der Welt sind! Dann wird das umgekehrt genauso funktionieren!«

Reverend Pickering legte kurz die Hände aneinander und sprach das schnellste Gebet in der Geschichte des Christentums. Dann öffnete er die Augen und sagte: »Also gut, David, wir werden es wenigstens versuchen. Möge Gott mit uns sein!«

Das Mädchen schrie und schrie. Ich gab Pickering mit der flachen Hand einen Stoß, und dann stürmten wir zusammen durch die Tür ins Wohnzimmer.

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