12. Der Teufelsdaumen

Niemals werde ich den albtraumhaften Anblick, der sich uns bot, als wir in das Zimmer stürzten, vergessen - vieles erinnert mich daran: meine Träume, Schatten, Spiegelbilder, die man nur flüchtig sieht, ein kaum hörbares Flüstern. Es genügt der Blick auf einen viktorianischen Stuhl mit hoher Rückenlehne bei einem Antiquitätenhändler, ein bestimmter grau getönter Herbsthimmel, ein brauner Teppich, der Geruch von Staub und Möbelpolitur aus Bienenwachs. In dem Moment, in dem Dennis Pickering und ich das Wohnzimmer betraten, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass wir in eine Zeit zurückgereist waren, in die wir nicht gehörten. Und ich erkannte, dass das Grauen, dem wir gegenüberstanden, keine Geister oder sich bewegende Fotos waren oder Produkte unserer überanstrengten Fantasie, sondern reale Personen, die lebten und atmeten und die vom Geruch der Hölle umgeben waren.

Der junge Mr. Billings stand am weitesten von uns entfernt, seinen Arm hatte er halb erhoben. Er war viel größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und sein schwarzer Hut und sein schwarzer Frack waren viel besser gearbeitet. Doch seine Wangen waren faltig, seine Augen waren blutunterlaufen, und er sah aus wie ein Mann, dessen innerer Zusammenbruch sich unerbittlich auf seinem Gesicht manifestiert hatte.

Kezia Masons Bild an der Wand der Fortyfoot-Kapelle wurde ihr nicht gerecht. Sie war zierlich und zart, fast schon hübsch. Vielleicht sogar mehr als hübsch, auch wenn sich in ihren Augen eine sonderbare, deplatziert wirkende Wildheit zeigte, die sogar den forschesten Mann erschreckt hätte. Auf jeden Fall erschreckte sie mich. Ihre Haare waren unglaublich. Sie waren von einem leuchtenden Rot, und sie standen so ab, als wären sie elektrisch geladen. Um ihre Schultern hatte sie ein locker gewebtes Tuch aus ungebleichter Wolle gelegt, und sie trug ein weites Kleid aus sehr feinem weißen Schleier, der hier und da mit Augen, Händen und Sternen bestickt war. Das Kleid war so durchsichtig, dass ich ihren dünnen, fast schon magersüchtigen Körper sehen konnte, der stramm in Schnüre und Bandagen gewickelt war. Ihre Füße waren nackt und schmutzig, blaue Adern hoben sich deutlich von der fahlen Haut ab.

Sie zischte, als sie uns sah.

Was mich aber regelrecht erstarren ließ, war mein erster ungehinderter Blick auf Brown Jenkin. Er war das Rattending von unbekannter Herkunft, das in den Straßen der Londoner Docklands zur Welt gekommen sein konnte. Oder das ein verheerender genetischer Unfall von Billings und Kezia Mason war. Oder einfach nur aus einer Ratte entstanden, und das jetzt als Monstrosität vor mir stand, bucklig, eine Parodie auf einen menschlichen Knaben, auf ein Tier, das ein wenig süßlich, aber nach Verwesung roch.

Brown Jenkin maß kaum 1,20 Meter, sein Kopf war schmal und lief spitz zu, so wie bei einem Nagetier, glich aber mehr einem grotesk in die Länge gezogenen menschlichen Gesicht als dem einer Ratte. Die Augen waren weiß, sogar die Iris war weiß. Die Nase war gespalten wie bei einer Ratte, doch ihre großen Nasenlöcher, die die Schleimhäute freilegten, machten sie einem Menschen ähnlicher als einem Tier. Sein Mund war geschlossen, die Lippen hatten eine gräulichschwarze Färbung, und ich konnte zwei scharfe Zahnspitzen erkennen, die unter der Oberlippe hervorlugten.

Er trug ein schmutziges weißes Halsband, sein Hals war mit ebenso verdreckten Bandagen umwickelt. Sein missgestalteter Körper war in einen langen Mantel oder eine Jacke aus abgewetztem braunen Samt gekleidet, dessen Vorderseite mit Suppe und Ei und unzähligen anderen Essensresten übersät war. Aus den viel zu langen Ärmeln ragten weiße Hände mit langen Fingern heraus, die zwar menschlich aussahen, deren Nägel aber schwarz und gekrümmt waren, so wie die Klauen einer Ratte. Unter dem Saum des Mantels, der auf dem

Teppich hing, konnte ich ein Paar schmale Füße erkennen, die wie der Hals der Kreatur mit schmutzigen weißen Bandagen umwickelt waren.

Brown Jenkin hatte seine Klauen durch den Latz des kleinen Mädchens gebohrt und hielt es an seinem ausgestreckten Arm so in die Höhe, dass ihre Füße in der Luft baumelten. Das Mädchen selbst war starr vor Schreck, ihre Fäuste zusammengeballt, der Kopf eingezogen und das Gesicht bleich. Ihr kupferbraunes Haar war ordentlich geflochten worden, aber mittlerweile war einer der Zöpfe aufgegangen und bedeckte halb ihr Gesicht, was sie noch verrückter und verzweifelter aussehen ließ.

Einen Augenblick lang erstarrte die Szenerie und wirkte wie ein Foto, auf dem wir alle dastanden und uns einfach nur überrascht anstarrten.

Kezia Mason wich einen Schritt nach hinten und zischte weiter. Der junge Mr. Billings brüllte: »Kezia! Wer sind diese Leute? Welches Spiel treibst du mit mir?« Er eilte quer durch das Zimmer und griff nach einem schwarzen Stock mit silbernem Griff, der an einen der Sessel gelehnt war. Im gleichen Augenblick hob Pickering seine Hände und schrie: »Im Namen des Herrn!«

»Ein Priester!«, zischte Kezia Mason, als könne sie riechen, dass er ein Priester war.

»Im Namen des Herrn, lassen Sie das junge Mädchen in Ruhe!«, herrschte Pickering sie an. Er ging mit erhobenen Händen einen Schritt nach vorn.

Der junge Mr. Billings ließ seinen Stock irritiert sinken, und sogar Kezia Mason schien zurückzuweichen.

»Derjenige, der diesem jungen Menschen auch nur ein Haar krümmt, wird sich vor mir rechtfertigen müssen, sagt der Herr!«, rief Dennis so voller Eifer, dass er ein paar Speicheltropfen spuckte.

Ich war fest davon überzeugt, dass wir sie durch die schiere Autorität eingeschüchtert hatten, als Kezia Mason vortrat, den durchscheinenden Stoff ihres Kleids anhob und Dennis

Pickering einen herausfordernden, stechenden Blick zuwarf.

»Vor dem Herrn rechtfertigen, was, Trottel?«, äffte sie ihn nach. »Also, an deiner Stelle würde ich daran denken, dass mein Alter Freund Gevatter Tod das nicht so einfach hinnimmt. An deiner Stelle würde ich zum Haus des Heiligen Geistes zurückkehren!«

»Ich befehle es!«, sagte der Reverend bebend. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!«

Ich versuchte, hinter Pickering in die Nähe des Mädchens zu kommen, um es Brown Jenkin zu entreißen. Doch als der das bemerkte, zog er das Kind hinter sich her in den Schutz des Sofas. Das Kind schrie nicht mehr, aber es war noch immer wie erstarrt und gab hin und wieder ein leises Wimmern von sich. Es schien nicht zu erkennen, dass Pickering und ich versuchten, es zu retten. Es ließ nicht mal erkennen, dass es uns überhaupt wahrgenommen hatte.

Der junge Mr. Billings hob seinen Stock, als wolle er Pickering damit auf den Kopf schlagen, doch Kezia Mason hielt ihn zurück und sagte: »Nein!« Dann legte sie eine Hand vor ihre Augen und sang mit schriller Stimme: »Du wirst sehen, was ich sehe! Alles, was ich sehe, sei deins! Sieh, was ich sehe!«

Dann richtete sie den rechten Zeigefinger auf Dennis Pickerings Gesicht und schrie: »Sadapan, Quincan, Dapanaq, Can! Panaqan, Naqacan, Quacanac, Can!«

In dem Moment begann auch Dennis zu schreien, allerdings nicht triumphierend. Seine Augen traten einen Moment lang aus ihren Höhlen hervor, und im Bruchteil einer Sekunde wurden sie ihm förmlich aus dem Kopf gerissen und flogen in hohem Bogen durch das Zimmer, während sich überall Blutspritzer verteilten. Ein Auge fiel in die Asche des Kamins, das andere kollidierte mit einem Stuhl und rutschte langsam an dessen Bein nach unten, so wie eine Schnecke, während es eine blutige Spur hinter sich herzog.

Ich war so sehr von Panik erfüllt, dass ich nicht wusste, was ich machen sollte.

Brown Jenkin kicherte und sang: »Eyes, pies! Yeux, peur! Augen, Angst!«

In dem Moment dachte ich: David, wir stecken verdammt tief in der Scheiße. Ich wollte Pickerings Hand ergreifen, um ihn aus dem Zimmer zu bringen, doch Kezia Mason teilte die Finger, die ihre Augen bedeckten, und zischte mich an: »Nein, Kumpel, du fasst ihn nicht an. Nicht jetzt.«

Ich machte einen weiteren vorsichtigen Schritt auf Pickering zu, der immer noch mit erhobenen Händen dastand und schwieg. Blind und stumm, schockiert über die Gewalt, die so plötzlich über ihn hereingebrochen war. Sein ganzes Leben lang wusste er von der Hölle, sprach über sie, kannte ihre Geschichte. Aber er hatte nicht wirklich gewusst, ob es die Hölle gab. Und jetzt war die Hölle auf ihn eingestürzt und hatte ihm die Augen herausgerissen.

Diesmal bleckte Kezia Mason ihre Zähne und warnte mich: »Noch ein Schritt, Mr. Tunichtgut, und deine Augen gehen auch auf Wanderschaft.«

Ich trat zurück und schluckte. Mein Versuch, mich aus dem Zimmer zu retten, wurde von Kezia Mason zu schnell erkannt, woraufhin sie schrie: »So auch nicht! Klappe zu!« Sie fuchtelte mit ihrer Hand, und gleichzeitig fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Ich versuchte, die Klinke herunterzudrücken, doch Kezia Mason schrie: »Davonstehlen willst du dich, stimmt's?« Aus dem Griff wurde eine Hand, die meine eigene Hand so kraftvoll umschloss und drückte, dass ich Schwierigkeiten hatten, mich zu befreien.

Ich wandte mich ihr wieder zu, während ich nach Luft schnappte und meine Hand massierte.

»Ich weiß, wer Sie sind«, warnte ich sie.

»Na, das ist ja eine Ehre, Trottel«, erwiderte sie, nickte mir zu und lächelte mich gefährlich an. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Pickerings Augapfel inzwischen an dem Stuhlbein bis auf den Teppich gerutscht war, doch ich konnte mich nicht überwinden, direkt dorthin zu sehen.

»Keiner von Ihnen kommt hier so ohne weiteres raus«, sagte ich mit hoher Stimme. »Oben warten Leute auf uns, und wenn wir nicht in ein paar Minuten zurück sind ...«

»Sie brauchen uns nicht zu drohen, mein Freund«, sagte der junge Mr. Billings. Er klang traurig und müde, als habe er früher einmal so gekämpft, wie ich es jetzt tat, das aber vor langer Zeit resigniert aufgegeben. »Meine Gefährten können von niemandem aufgehalten oder verhaftet werden. Wenn Sie sich mit dieser Tatsache erst einmal abgefunden haben, werden Sie merken, dass Sie mit ihnen viel besser zurechtkommen.«

»Gut gesprochen«, sagte Kezia Mason und schenkte mir ein Lächeln, das auf eine ironische Weise betörend sein sollte.

Das Mädchen begann wieder zu wimmern, dann stieß es kurzatmige leise Schreie aus.

»Was haben Sie mit ihr vor?«, fragte ich.

»Glauben Sie, dass Sie das irgendetwas angeht?«, erwiderte der junge Mr. Billings.

»Ich lebe hier, ich soll auf dieses Haus aufpassen.«

»Aber dieses ... dieses Kind ... hat mit Ihnen überhaupt nichts zu tun.«

Plötzlich stöhnte Pickering: »Hilf mir, Gott! Oh Gott! Hilf mir!« Dann sank er auf die Knie. Kezia Mason warf ihm einen desinteressierten Blick zu und wandte sich wieder mir zu.

»Nichts als Gossenschlampen hier, weißt du das nicht, Trottel? Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen musst.«

»Was haben Sie mit ihr vor?«, wiederholte ich meine Frage, hörte aber, wie sehr meine Stimme zitterte.

»Sie geht zu einem Picknick«, sagte Kezia Mason. »Das ist alles. Nichts, worüber du dich aufregen musst. Ein Picknick. Das ist die ganze Wahrheit.«

»Mr. Billings?«, fragte ich.

Der junge Mr. Billings senkte den Kopf und vermied es, mir in die Augen zu sehen. »Ja, das ist korrekt. Sie geht zu einem ... Picknick.« Das letzte Wort spie er aus, als klebe es wie dreckiger Schlamm in seinem Mund. Er machte sich keine

Mühe, sein Unbehagen zu verbergen, dass er an einer offen-sichtlichen Lüge beteiligt war.

Ich deutete wütend auf Brown Jenkin. »Und das da? Geht das da mit zum Picknick?«

Augenblicklich zuckte Brown Jenkins Nase, und er gab ein schreckliches Kreischen von sich. Er bohrte seine Klauen in die Rückenlehne eines Stuhls und riss den Stoff auf, sodass die Füllung herauskam. Einen entsetzlichen Moment lang dachte ich, er würde das Mädchen fallen lassen und sich auf mich stürzen.

»Das da?«, fauchte er. »Was denkst du, Dummkopf? Bastardbastard parle comme ca!«

Ich trat etwas zurück und sah, dass sich auch der junge Mr. Billings mit erhobenem Stock zurückzog. Doch Brown Jenkins Kreischen holte das Mädchen aus der Erstarrung, das mich ansah und mit einem Mal verstand. Es schrie los und streckte mir die Arme entgegen. Brown Jenkin, der bereits vor Wut kochte, schüttelte das Kind mit roher Gewalt und kreischte es an: »Silenzio! Double-whore! Tais-toi! Ich reiße dir die Speiseröhre raus!«

Ich kann nicht sagen, dass ich daran dachte, irgendetwas Mutiges zu tun. Ich dachte nicht mal: Was soll's? Ich stieß einfach nur Kezia Mason mit meiner Schulter aus dem Weg, sprang auf das Sofa und versetzte Brown Jenkin einen Tritt in die Gegend seines Schlüsselbeins.

Brown Jenkin ließ das Kind fallen und kreischte noch entsetzlicher, während er mich mit seinen völlig weißen Augen anstarrte. Seine Nasenlöcher blähten sich auf, er fletschte die Zähne. Ich sprang wieder auf den Fußboden und lief schwer atmend um das Sofa. Ich wusste nicht, was ich als Nächstes machen sollte, aber ich ging davon aus, dass Brown Jenkin eine sehr konkrete Vorstellung davon hatte, was er mit mir anstellen wollte. Er fletschte seine Zahnreihen, die lückenhaft und verfärbt, aber offensichtlich scharf genug waren, um sich durch Fleisch und Knochen zu beißen. Ich sprang von einem Fuß auf den anderen, während ich versuchte, das Sofa zwischen ihm und mir zu haben, was nicht so einfach war. Brown Jenkin bewegte sich so rasch von einer Seite des Sofas zur anderen, dass ich das Gefühl hatte, zu halluzinieren. Oder zu träumen.

»Bastardbastard, rantipole-rider, oui ? Paviansäugling! Ich reiße dir deine Speiseröhre raus, ja? Ja? I slice you, yes? Zerschneiden, ja?«

Dieses kaum verständliche, aber hasserfüllte Kauderwelsch wurde von einem plötzlichen Vorstürmen dieses entsetzlichen Brown Jenkin begleitet, das mich dazu veranlasste, drei Schritte nach hinten zu machen. Dabei trat ich mit dem Absatz so gegen den Rand des Kamins, dass die Schüreisen mit einem verheerenden Lärm durch die Luft wirbelten.

»Zurück!«, befahl Kezia Mason Brown Jenkin. »Er gehört mir, er gefällt mir.«

Doch Brown Jenkin schnaubte und kicherte und schlug nach mir. Seine Klauen bohrten sich durch meinen Pullover und rieben wie Stacheldraht über meine Haut. Der Schmerz war so durchdringend, dass ich dachte, er habe mir den Arm abgerissen. Als ich meine Hand hob und vor lauter Schmerzen nach Luft rang, erkannte ich, dass er aber gerade mal meine Haut angeritzt hatte.

»David?«, stöhnte Reverend Pickering, der mit leeren Augenhöhlen noch immer auf dem Teppich kniete. »David, sind Sic verletzt?«

»Mir geht's gut, Dennis. Ich komme Ihnen gleich zu Hilfe.«

»Was passiert hier, David? Sie müssen uns hier rausbringen, hören Sie mich? Wir müssen hier weg! Das hier ist Teufelswerk! «

»Ach, halt deine verdammte Klappe, du alter Klepper«, herrschte Kezia Mason ihn an. »Wie würde es dir gefallen, wenn dir dein Hirn aus den Ohren geschossen kommt?«

Trotz Kezias Warnung folgte Brown Jenkin mir kichernd und immer wieder nach mir schlagend. In meiner Panik griff ich hinter mich und bekam einen der schweren Schürhaken zu fassen, zog ihn aus dem Feuer und verbreitete einen Ascheregen auf dem Boden - und traf Brown Jenkin an der Schulter. Es gab einen dumpfen Aufprall, so als würde man ein dickes Samtkissen treffen, und ohne Vorwarnung rieselte ein Schauer aus gelblich weißen Läusen aus seinem Mantel auf den Teppich.

»Aggh, fucker-fucker!«, schrie Brown Jenkin, während er aufstampfte und umherwirbelte. »Tu as my Schulterblatt gebroch'!«

Ich holte noch einmal mit dem Schürhaken aus, doch in dem Moment, in dem sich das schwere Eisen über meinem Kopf befand, hob Kezia Mason eine Hand. Der Haken wurde mir aus den Fingern gerissen und quer durch das Zimmer geschleudert. Er bohrte sich tief in die Tür, wo er vibrierend stecken blieb.

»Du bist jetzt ruhig, Brown Jenkin«, warnte Kezia Mason ihn. »Sonst lasse ich meinem Arm freien Lauf, Versager. Dieser Gentleman gehört mir.«

Brown Jenkin reagierte mit einem abscheulichen Durcheinander aus Kichern, Schnaufen und Spucken, dann schleppte er sich widerwillig fort von mir, während er sich mit seinen entsetzlichen klauenartigen Fingern hinter dem Ohr kratzte. »Ich habe sore now, bellissima. Je suis malade. Show me pity, yes? Hall, hah, hah!«

»Verzieh dich, du und deine kleinen Begleiter!«, zischte Kezia Mason ihm zu. Sie zischte wie der Kessel einer Dampflok, und zum ersten Mal bemerkte ich, dass sich Brown Jenkin vor ihr fürchtete.

In genau diesem Augenblick machte ich etwas, was ich noch im gleichen Moment fast bedauerte. Ich warf mich mit aller Kraft gegen Brown Jenkin. Allmächtiger, zwanzig Jahre war es her, dass ich zum letzten Mal Rugby gespielt hatte, aber ich hatte es nicht verlernt. Mit einem unglaublich harten Rugbystoß brachte ich Brown Jenkin zu Fall und trat ihm in sein spitzes Gesicht, bis ich den Halt verlor, weitersprang und das Mädchen zu fassen bekam.

Es war wesentlich schwerer, als ich erwartet hatte. Ich verlor das Gleichgewicht und stolperte gegen die Vorhänge, dann fiel ich zu Boden. Dieser Sturz rettete mir wahrscheinlich das Leben, denn der junge Mr. Billings holte mit seinem Stock aus, schlug nach mir und traf die Wand nur wenige Zentimeter über meinem Kopf.

»Bleib, wo du bist!«, gellte Kezia Masons Stimme durch das Zimmer. Während sie auf mich zukam, wehte ihr weißes Kleid im Luftzug. Dennis Pickering schlug sich mit seinen Fäusten gegen die Brust und schrie: »Gott, warum hast du mich verlassen? Warum nur?«

Kezia Mason zögerte, und im gleichen Moment bekam Pickering ihr Kleid zu fassen, während er blindlings mit den Armen ruderte.

»Lass los, du Tölpel!«, brüllte Kezia Mason ihn an. »Was willst du, das ich mit dir mache? Soll ich deine Pumpe zermatschen?«

»Du gottlose Kreatur!« Pickering holte nach ihr aus. Sein Gesicht sah schrecklich aus, grau, ausgezehrt, leere dunkelrote Augenhöhlen und blutverschmierte Wangen. Aber er zerrte weiter an ihrem Kleid und robbte ihr auf den Knien nach, während sie versuchte, sich von ihm loszureißen.

»David!«, rief er. »David, bringen Sie sich in Sicherheit! Und retten Sie das kleine Mädchen!«

»Gott steh mir bei, bist du nicht der heilige Märtyrer?«, zog Kezia Mason ihn auf. »Jetzt lass mich los, Priester, bevor ich deine Eier losschicke, damit sie nach deinen Augen Ausschau halten!«

»Oh Herr«, schrie Pickering. »Oh Herr, lass das einen Albtraum sein!«

Mit diesen Worten erhob er sich und fiel gegen Kezia Mason, sodass beide den Halt verloren und zu Boden stürzten. Kezias Kleid riss vom Hals bis zum Saum auf, und als sie versuchte, wieder aufzustehen, und dabei Pickering ins Gesicht und gegen die Schultern trat, riss es immer weiter auf. In einem Wutanfall griff sie sich an den Kragen und riss das letzte Stück Stoff durch, um sich von Pickering zu befreien und aufzuspringen. Der Reverend blieb auf dem Fußboden liegen, umgeben von der wallenden durchsichtigen Baumwolle, während er auf den Teppich schlug, um festzustellen, wohin sich Kezia zurückgezogen hatte. Verzweifelt schüttelte er seinen augenlosen, blutüberströmten Kopf.

Kezia Mason strich sich ihr feuriges Haar aus dem Gesicht. Sie trug jetzt nichts weiter als eine außergewöhnliche Anordnung aus Bandagen, Knoten und bestickten Schals, die kreuz und quer über ihre Brüste gebunden waren und so stramm ins Fleisch drückten, dass es völlig blutleer schien. Die Bandagen waren so fest um ihren erschreckend dünnen Körper gebunden, dass ihre Rippen hervortraten, während die Binden um ihren Bauch mit Metallstücken und dunklen Haarbüscheln und mit Dingen gespickt waren, die wie getrocknete Pilze aussahen, die aber genauso gut menschliche Ohren hätten sein können. Zwischen ihren dünnen weißen Schenkeln trug sie nur einen gedrehten Schal, der tief ihre flachen Pobacken und ihr Schamhaar in zwei rote Flammenzungen zerteilte.

Sie versetzte Pickering einen weiteren Tritt, dann wandte sie sich wieder mir zu, während ich versuchte, mich mit dem kleinen Mädchen in Richtung Tür zu bewegen. Sie war vom Zorn entstellt. Ihre Augen starrten mich wie wahnsinnig an, ihre Mundwinkel waren vor Hass tief nach unten gezogen.

»Du hast keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast, Trottel«, sagte sie verächtlich. »Du spielst mit den Zeiten, mit der Angst und mit deinem eigenen Leben.«

Das kleine Mädchen in meinen Armen begann zu zappeln und zu wimmern. Offensichtlich verstand es nicht, dass ich es retten wollte. Für das Kind war ich nur ein weiterer brüllender, lärmender Erwachsener, und einen Moment lang dachte ich, es könnte sich aus meinem Griff winden. »Nicht!«, rief ich.

In diesem Augenblick stürzte sich ein hasserfüllter Dennis Pickering auf Kezia Mason. »Hexe!«, brüllte er sie an. »Ich weiß, was du bist! Eine Hexe! Die Braut des Satans!«

»Narr!«, schrie Kezia zurück. »Glaubst du, deinesgleichen könnte meinesgleichen einfach so beschimpfen? Du bekommst den Teufelsdaumen, du fetter Priester!«

Mit einer rasend schnellen Bewegung sprang Brown Jenkin über das Sofa und bewegte sich dann über den Teppich bis zu Pickering. Er packte ihn an seinem Hemd und riss den Stoff auf, um die haarlose Brust und den rundlichen weißen Bauch des Reverend freizulegen.

»Oh Gott, beschütze mich!«, schrie Pickering auf.

»Dieu-dieu sauve-moü«, äffte Brown Jenkin ihn nach.

»Lass ihn in Ruhe!«, rief ich mit hoher Stimme.

Doch Brown Jenkin öffnete lüstern und begeistert den Gürtel von Pickerings Hose. Dann holte er ohne Zögern mit seinem rechten Arm aus und bohrte alle fünf Klauen so tief in das weiche Fleisch des Unterbauchs, dass Pickering laut schrie: »Nein! Oh Gott, nein!« Er versuchte, Brown Jenkins Hand abzuschütteln, doch der holte erneut aus und schnitt ihm in Wange und Brust, wobei er eine Arterie zerfetzte. Das Blut spritzte durch das ganze Zimmer, ein regelrechter Wolkenbruch aus Blut, der sich über den Teppich und das Sofa ergoss und gegen die Fenster prasselte. Ich bekam einige Spritzer ins Gesicht, die mich unter anderen Umständen an einen warmen Sommerregen erinnert hätten.

»Blut und Tränen!«, rief Brown Jenkin. »Je sais qui my Redeemer liveth!«

»Der Teufelsdaumen!«, sagte Kezia Mason triumphierend. »Es wird blutig werden!«

Brown Jenkin erhob sich in eine halb stehende, halb kauernde Haltung. Er legte eine Klauenhand auf Pickerings Schulter, um Halt zu finden, dann zog er die andere Hand nach oben und öffnete den Bauch des Vikars mit fünf parallelen Schnitten. Pickering schrie weiter, während er den Kopf in unerträglichem Schmerz schüttelte. Brown Jenkin zischte ihn an: »Was ist los, Pfarrer? Pourquoi-pourquoi crie-toi?«

Mit Genuss drehte er seine blutige Klaue und zog die Innereien hervor, die zuvor von der Bauchdecke an ihrem Platz gehalten worden waren. Die Organe glitten mit einem plötzlichen Ruck aus der Bauchhöhle. Heiße, blutige, gelbliche Innereien, ein blutroter Magen, der sich weiter zusammenzog, eine dunkellila Leber und ein ganzer Berg von dampfenden schwammigen Dingen, die ich nicht erkennen konnte. Das Schlimmste war der intensive Geruch von Blut und menschlichen Innereien. Meine Kehle zog sich zusammen, während sich das Mädchen plötzlich an mich klammerte.

Mit einem Mal hörte Pickering auf zu schreien. Er griff nach unten und tastete seinen Bauch ab, unfähig zu verstehen, was mit ihm geschehen war. Seine Finger umschlossen seine eigenen Eingeweide. Einen schrecklichen Augenblick lang musste ich an diese afrikanischen Medizinmänner denken, die aus den Eingeweiden menschlicher Opfer die Zukunft voraussagten. Dennis Pickering musste in dem gleichen Augenblick seine Zukunft erkannt haben. Eigentlich war er schon tot. Er warf den Kopf nach hinten und stieß einen Schrei der Verzweiflung und Furcht aus, den ich so noch nie in meinem Leben gehört hatte.

»Halt die Klappe, Pfaffe!«, brüllte Kezia Mason.

Brown Jenkins schmaler Kopf schoss nach vorne und biss Pickering in den Mund, um den Schrei auf der Stelle zu ersticken. Eine Sekunde lang sah es so aus, als tauschten Dennis und Brown Jenkin einen abscheulichen Kuss aus. Dann aber schüttelte Brown Jenkin seinen Kopf wie wild und riss dem Reverend Lippen, Wangen und einen Großteil seiner Zähne und des Zahnfleischs fort. Ich konnte seinen blutverschmierten Kiefer sehen, aus dem noch Zähne herausragten.

Brown Jenkin wollte ihn erneut beißen, als der junge Mr. Billings rief: »Genug! Um Gottes willen, töte ihn, dann ist es endlich vorüber!«

Kezia Mason drehte sich um und sah ihn feindselig an. »Was hast du gegen ein wenig Blut, Mr. Langweiler?«

Dennis Pickering stürzte zur Seite und lag zuckend auf dem Teppich, während sein Kopf zur Hälfte von einem der Sessel verdeckt wurde.

»Töte ihn doch, um Gottes willen«, wiederholte der junge Mr. Billings und trat vor. Aber Brown Jenkin wischte sich sein blutverschmiertes Gesicht mit einem verschmutzten Taschentuch ab, ohne etwas zu unternehmen.

In diesem Augenblick beschloss ich, die Flucht zu ergreifen.

Ich wusste, dass sich Kezia in den nächsten Sekunden wieder mir zuwenden würde. Und wenn das der Fall war, war ein Entkommen für mich völlig unmöglich.

Ich legte das Mädchen so über meine Schulter, wie Feuerwehrleute das machen, und rannte zur Tür, um nach dem Griff zu fassen, bevor Kezia ihn wieder mit einem Fluch belegen konnte.

»Komm her!«, kreischte sie. Die Tür schlug zu, aber diesmal einen Moment zu spät. Sie traf mich an der Schulter und brachte mich aus dem Gleichgewicht, doch ich konnte mich wieder fangen. Hinter mir hörte ich Kezia so schreien, dass meine Ohren schmerzten, während plötzlich das Mädchen zu heulen begann.

»Es regne Glas, es regne Scherben!«, schrie Kezia Mason, und augenblicklich wurden alle Drucke und Gemälde von der Wand gerissen, um in einem Sperrfeuer aus scharfkantigen Rahmen und Glassplittern auf meinen Kopf, mein Gesicht und meine Schultern niederzuprasseln. Irgendwie gelang es mir, nur ein paar Schnitte abzubekommen, dann hatte ich das Ende des Flurs erreicht und stürmte mit einer Energie die Treppe hinauf, die mich selbst in Erstaunen versetzte.

Ich erreichte den Treppenabsatz und die Tür zum Dachboden. Einen Moment lang war ich versucht, gleich nach oben auf den Speicher zu rennen. Doch ich nahm an, dass ich damit immer noch in der Zeit von Brown Jenkin sein würde. Um in meine eigene Zeit zurückkehren zu können, musste ich die Klapptür benutzen, durch die ich auch hergekommen war.

Ich hörte Brown Jenkin durch den Flur rennen, ich hörte Kezia Mason schreien. »Hol ihn zurück, Jenkin, du verdammter Tölpel, sonst hole ich mir dein Gekröse!«

Ich erreichte mein Schlafzimmer, schlug die Tür hinter mir zu und drehte den Schlüssel um. Das würde mir die ein oder zwei Minuten geben, die ich brauchte. Ich schnappte nach Luft und setzte das Mädchen ab, das mich mit aufgerissenen Augen zitternd ansah.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Du bist, gleich in Sicherheit.«

Ich zog den Stuhl heran und stieg auf ihn, um dann das Mädchen hochzuheben. »Hier, versuch mal, die Klapptür zu fassen ... genau so ... halt dich fest.«

Das Mädchen wimmerte, während es versuchte, durch die Klapptür zu klettern. »Komm schon«, drängte ich. »Du musst dich nur hochziehen.«

Das Kind bemühte sich noch immer, als ich im Korridor das laute Scharren von Klauen hörte, gefolgt von einem gewaltigen Knall, als sic h Brown Jenkin mit aller Kraft gegen die Tür warf. Der Türrahmen bebte, und der Schlüssel fiel aus dem Schloss.

»Ouvrez! Ouvrez!«, kreischte Brown Jenkin. »Mach die Tür auf, fucker-fucker!«

Das Mädchen verkrampfte sich und verlor den Halt, rutschte zu einer Seite weg und hätte mich fast vom Stuhl geworfen.

»Open up bastard merde!«, tobte Brown Jenkin, während er brutal am Türgriff riss und gegen das Holz trat. Als eine der unteren Vertäfelungen zersplitterte und nachgab, trat Brown Jenkin noch einmal dagegen.

»Beeil dich!«, trieb ich das Mädchen an und hob es wieder hoch. Das Kind war vielleicht zehn oder elf Jahre alt und ziemlich unterernährt, trotzdem war es schwer genug, um mich außer Atem zu bringen.

»Ich reiße deine Speiserühre raus, Bastard!« Brown Jenkin bearbeitete mit brutaler Gewalt die Tür, bis auch eine der oberen

Vertäfelungen zu splittern begann. In dem Augenblick dankte ich Gott dafür, dass er viktorianische Türen so stabil hatte konstruieren lassen.

Das Mädchen versuchte nochmals, sich durch die Klapptür nach oben zu ziehen. Ich hob es so hoch, wie ich konnte, während sein Unterrock mich fast erstickte, der süßlich sauer nach Lavendel und angespitzten Bleistiften roch.

»Mach schon«, flehte ich das Kind an. »Du kannst es, wenn du dir wirklich Mühe gibst!«

Es schien aber völlig kraftlos und willenlos zu sein. Als Brown Jenkin dann die nächste Vertäfelung zerschmetterte, ließ das Mädchen die Arme schlaff herabhängen und senkte den Kopf, als habe es sich bereits damit abgefunden, in Stücke gerissen zu werden.

»Versuch es, um Gottes willen«, brüllte ich es an. »Sonst fängt er uns!«

Bauz! Da geht die Türe auf, Und herein in schnellem Lauf, Springt der Schneider in die Stub'.

Ich sah, dass Brown Jenkins Krallen sich durch das splitternde, berstende Holz bohrten. Er ging fast selbstmörderisch daran, uns einzuholen. Ich wusste, dass er uns noch schlimmer behandeln würde als Reverend Pickering. Er würde uns gnadenlos in Stücke reißen.

»Versuch es doch bitte!«, sagte ich zu dem kleinen Mädchen, aber es reagierte nicht. Viel länger würde ich es nicht mehr halten können. Ich dachte an Danny, Janie und auch an Liz. Der unwürdige und feige Gedanke kam mir in den Sinn, dass ich das Kind würde zurücklassen müssen, um wenigstens mein eigenes Leben zu retten.

Immerhin: Was hatte Dennis Pickering noch gleich gesagt? >Wenn wir es mit ins Jahr 1992 nehmen, wäre es dort über hundert Jahre alt. Vielleicht bringen wir es im Grunde ebenso um, wie Kezia Mason es macht! Vielleicht sogar auf noch grausamere Weise !<

Ein Teil der Tür wurde herausgeschlagen, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie Brown Jenkin aus der Dunkelheit des

Korridors zu mir herüberblickte. Die Augen wie Pfeilspitzen, die Zähne wie zerbrochene Milchflaschen. Seine Klaue schob sich durch das Loch in der Tür und begann, nach dem Griff zu suchen. »Mach schon«, schrie ich das kleine Mädchen an. »Um Himmels willen, mach endlich!«

In dem Augenblick geschah ein Wunder. In der Klapptür über mir tauchte Liz' Gesicht auf. »David?«, fragte sie. »Was ist los? Ich habe dich schreien gehört.«

»Hilf ihr rauf«, sagte ich, während Brown Jenkin wie wild an dem Türgriff riss.

»Was?«

»Sie kann nicht raufklettern, sie hat die Nerven verloren! Bitte, zieh sie rauf!«

Liz schob sich vor und bekam die Handgelenke des Mädchens zu fassen. »Na komm«, sagte sie aufmunternd. »Du kannst das.«

»Liz!«, brüllte ich sie an. »Beeil dich doch!«

»Ich tue, was ich kann«, schrie sie zurück. »Ich bin nicht Arnold Schwarzenegger!«

Wie ein Sack Reis ließ sich das Mädchen von Liz hochziehen, während ich Liz die Arbeit ein wenig erleichterte, indem ich das Kind nach oben hob, um sein Gewicht zu verringern. Einen Moment lang befürchtete ich, Liz könnte es nicht schaffen, immerhin war sie selbst nicht viel größer und schwerer als das Kind. Aber dann ließ sie sich nach hinten fallen und zog das Mädchen nach oben, das sich zwar an der Klapptür die Knöchel abschürfte, aber in Sicherheit und am Leben war.

»Bastard - cunt - ich - töte — dead - you - now!«, kreischte Brown Jenkin.

Ich sprang hoch und bekam den Rahmen zu fassen. Einige Sekunden lang schaukelte ich hin und her und fühlte mich zu alt und zu ungeübt, um mich nach oben zu ziehen. Als ich gerade meine Ellbogen auf dem Rahmen aufstützen konnte, gab die Tür mit einem grässlichen Geräusch nach. Brown Jenkin stürmte in das Zimmer und schlug mit seinen Klauen nach mir. Ich hatte nichts gemerkt, aber als ich nach unten sah, bemerkte ich, dass seine Klauen sich seitlich durch meinen braunen Doc-Marten's-Stiefel gebohrt hatten und mein Blut auf den Stuhl und auf Brown Jenkin tropfte.

Ich trat um mich, während Brown Jenkin auf den Stuhl sprang und versuchte, meine Beine aufzureißen. Wieder trat ich um mich, und diesmal verlor er das Gleichgewicht, um mit einem lauten Knall auf den Speicherboden zu stürzen.

»Je tué you bastard, have no Zweifel!«

In der Zwischenzeit schaffte ich es, ein Knie auf den Speicherboden zu bekommen, und hatte endlich genug Halt, um mich seitlich wegrollen zu lassen. Sofort sprang ich auf und ließ die Klapptür zufallen, verriegelte sie, ohne noch einen Blick in das Zimmer darunter zu werfen.

Im gleichen Moment war der Speicher in Finsternis getaucht. Ich kniete noch immer neben der Klapptür, hatte aber bereits wahrgenommen, dass der Dachboden wieder mit allem Gerümpel voll gestellt war, das ich zuvor schon gesehen hatte. Vielleicht wurde die Tür ins Jahr 1886 nur geöffnet, wenn die Riegel der Klapptür zurückgezogen wurden, vielleicht auch erst, wenn man die Klapptür anhob. Was immer es auslösen mochte ... ich wollte es gar nicht wissen. Ein Besuch in der Welt von Brown Jenkin und Kezia Mason und Mr. Billings war mehr als genug gewesen.

Erschöpft stand ich auf, atmete einmal tief durch und schleppte mich dann zur Treppe. Zum Glück war es nicht völlig dunkel. Liz hatte die Tür zum Speicher aufgesperrt, doch nach dem hellen Tageslicht des Jahres 1886 fiel es mir schwer, mich an das schwache Licht zu gewöhnen. Ich trat hinaus auf den Treppenabsatz und schloss die Speichertür hinter mir. Liz stand dort und wartete auf mich. Sie hielt die Hand des kleinen Mädchens, während Danny ein Stück entfernt stand.

»Und?«, sagte Liz zitternd.

»Und was?«

»Geht es dir gut? Bist du verletzt?« »Nein, ich hin in Ordnung. Ach so, mein Fuß hat etwas abbekommen, aber das ist alles. Gut, dass ich Doc Marten's trage.«

»Wo ist der Vikar?«

»Bitte?«

»Der Vikar, Mr. Twittering oder wie er heißt.«

»Oh ... Pickering. Dennis Pickering.«

»Na gut, dann eben Dennis Pickering. Wo ist er? Und was war das für ein Ding da unten? Dieses schreckliche kreischende Ding? War das Brown Jenkin?«

»Ja, das war Brown Jenkin. Er hat sich über mich geärgert, weiter nichts.«

»Jesus, wenn er da nur verärgert war, dann möchte ich ihn aber nicht erleben, wenn er wirklich sauer ist.«

»Es ist schon okay, ehrlich. Er ist wie ein Wachhund, ein wenig wild.«

»Du zitterst.«

»Nein, nein, es geht mir gut.«

»Also, wo ist Reverend Pickering?«

»Ihm geht's gut. Er...«, begann ich, bemerkte dann aber, wie durchdringend Danny mich ansah und wie aufmerksam er zuhörte. Wenn ich ihm erzählt hätte, was wirklich geschehen war, dann wäre er für den Rest seines Lebens wahrscheinlich von Albträumen verfolgt worden. So wie ich auch. Wie könnte ich jemals diesen unfassbaren Anblick vergessen?

»... er wollte noch bleiben«, erklärte ich. »Er kann gut mit Kindern umgehen, weißt du?«

»Und wie lange wird er bleiben?«

»Ich ... ähm ... ich erzähle dir das gleich, wir sollten uns erst mal um die Kinder kümmern.«

»David«, fragte Liz. »War das wirklich Tageslicht?«

»Ja, das war Tageslicht. Und es war wirklich Herbst. Und soweit ich das sagen kann, war es wirklich das Jahr 1886. Es ist kein Trick, Liz. Man kann vielleicht unheimliche Geräusche verursachen, aber man kann weder die Tageszeit noch die Jahreszeit verändern.«

Sie sah nervös zur Speichertür. »Kann irgendwas von da nach hier kommen?«

»Ich weiß es nicht. Ich verstehe es ja nicht mal.«

Ich verschloss die Tür und schob den Riegel vor. Wahrscheinlich würde sich Brown Jenkin nicht davon aufhalten lassen, wenn er durch diese Tür wollte. Aber wenigstens würde uns der Lärm vorwarnen.

Ich kniete neben dem Mädchen nieder. Sein Gesicht war sehr bedrückt und seine Augen hatten die blasse Farbe von Achat. Dennis Pickering hatte sich geirrt. Die Reise vom Jahr 1886 ins Jahr 1992 hatte ihr nicht geschadet, jedenfalls konnte ich davon nichts feststellen. Aber es war schon ein außergewöhnliches Gefühl, mir vorzustellen, dass dieser Mensch eigentlich über achtzig Jahre älter war als ich. War das ein Werk Gottes oder des Teufels? Oder war es etwas völlig anderes?

»Wie heißt du?«, fragte ich, bekam aber keine Antwort.

»Du kannst mir doch bestimmt sagen, wie du heißt.«

Noch immer keine Reaktion. Danny kam näher und betrachtete den Besucher. »Woher kommt sie?«, fragte er. »Sie sieht eigenartig aus, so wie Sweet Emmeline.«

»Ich glaube, sie ist eine Freundin von Sweet Emmeline«, antwortete ich, dann fragte ich das Mädchen: »Kennst du Sweet Emmeline?«

Das Mädchen nickte. Na, wenigstens ein kleiner Fortschritt hatte sich eingestellt.

»Was ist mit Sweet Emmeline passiert?«, fragte ich.

»Brown Jenkin«, kam eine geflüsterte Antwort, gefolgt von etwas, das ich nicht verstehen konnte.

»Brown Jenkin? Brown Jenkin hat etwas gemacht? Was denn?«

»Brown Jenkin hat sie mitgenommen.«

»Oh mein Gott«, sagte Liz. »Ich glaube, wir sollten die Polizei anrufen.«

»Augenblick«, hielt ich sie zurück. »Wohin hat er sie denn mitgenommen?«

Das Mädchen bedeckte mit der linken Hand seine Augen, während es mit den Fingern der rechten Hand eine sonderbare Bewegung andeutete, so als würden die sich auf einer Treppe nach oben bewegen.

»Brown Jenkin hat sie mit nach oben genommen?« Das Mädchen nickte wieder, hielt sich aber immer noch die Augen zu.

»Also gut. Und was hat Brown Jenkin dann gemacht?«

»Sein Gebet gesprochen.«

»Ich verstehe.«

»Er hat sein Gebet gesprochen, dann ist er mit Sweet Emmeline nach oben gegangen, dann dort entlang, da durch und da runter.« Das Mädchen beschrieb etwas, das es vor seinem geistigen Auge sehen, das ich aber nicht nachvoll-ziehen konnte.

»Mit »nach oben<, meinst du da den Dachboden?«

Wieder nickte das Kind.

»Und wohin dann?«

Es atmete rasch durch. »Dort entlang, da durch und da runter.«

»Ich verstehe«, sagte ich, obwohl ich es nicht tat. >Dort entlang, da durch und da runter« konnte so ziemlich alles bedeuten, vor allem, da Brown Jenkin offenbar die Fähigkeit besaß, ohne Mühe von einem Jahr in ein anderes zu wechseln.

»Weißt du, warum er sie mitgenommen hat?«, wollte ich wissen.

»Er hat sie zum Picknick mitgenommen.«

»Er wollte dich auch zum Picknick mitnehmen, richtig?«

Das Mädchen nickte.

»Hast du ihm das nicht geglaubt?«

»Ich weiß nicht. Edmond hat gesagt, dass Brown Jenkin einen mitnimmt und da versteckt, wo einen die Zeit nicht linden kann.«

Emmeline ... hat seit über einer Woche niemand gesehen ...

»Und wo ist das?«

»Ich weiß es nicht.«

»Liebe Güte, David, wir sollten Sergeant Miller anrufen«, sagte Liz. »Ich weiß nicht, was diese Leute machen, aber wir können das nicht allein in die Hand nehmen.«

»Leute?«, fragte ich und drehte mich zu ihr um.

»Geister, Ratten, was immer sie sind.«

Mit einem Mal sah ich wieder vor mir, wie Brown Jenkin Pickerings Bauch aufschlitzte. Ich glaubte nicht, dass das Mädchen davon etwas mitbekommen hatte. Und wenn doch, dann hatte es vielleicht nicht wirklich verstanden, was geschehen war. Es war zu plötzlich geschehen; in einem Moment sah man Pickerings plumpen weißen Bauch, im nächsten war daraus eine herausquellende Masse seiner Eingeweide geworden.

Ich sagte mir, dass er tot war. Er musste tot sein. Aber wann? Wenn er noch im Jahr 1886 war, dann war er lange vor seiner Geburt gestorben, während dieses kleine Mädchen lebte, obwohl es schon längst hätte tot sein müssen. Als ich noch zur Schule ging, hatte ich in Science-Fiction-Geschichten davon gelesen, dass die Zeitreise voller Paradoxa steckte, wenn Menschen in die Vergangenheit reisten und ihr jüngeres Ich trafen. Oder wenn sie ihre eigenen Eltern umbrachten oder an ihrem eigenen Grab standen. Doch bis zu diesem Augenblick hatte ich nie begriffen, wie verwirrend diese Dinge in Wirklichkeit waren.

Vom Dachboden hörte ich ein leises Kratzen, gefolgt von einem leisen Schleifen, dann wieder ein Kratzen. »Wir sollten besser nach unten gehen«, sagte ich, da mich der Gedanke an einen über den Speicherboden schleichenden Brown Jenkin mit Angst erfüllte.

Auf dem Weg in die Küche warf ich einen kurzen Blick auf das Foto, das wieder so aussah wie zuvor. Vorausgesetzt, es hatte sich überhaupt verändert. Alkohol und Stress können die seltsamsten Dinge hervorrufen.

Ich öffnete den Kühlschrank, nahm die Weinflasche und zog den Korken heraus. Erst als ich ein Glas eingoss, bemerkte ich, wie sehr meine Hände zitterten.

»Und dem Vikar geht es gut, meinst du?«, fragte Liz.

»Ja, ja, natürlich.«

»Aber was macht er eigentlich genau dort? Ich meine, wie ist es dort überhaupt?«

Ich füllte ein Glas bis zur Hälfte und trank es aus, während meine Hände wie verrückt zitterten. »Eigentlich so wie hier. Nicht richtig anders. Andere Möbel, der Garten sieht gepfleg-ler aus. Die Wände sind getäfelt, aber das ist es auch schon.«

»Bist du irgendjemandem begegnet außer dem Mädchen? Und natürlich außer Brown Jenkin.«

»Dem jungen Mr. Billings.«

»Du hast ihn getroffen? Hast du dich mit ihm unterhalten?«

»Nur kurz. Er schien ... in Gedanken. Weißt du, nicht so ganz bei der Sache.«

»Aber du hast mit ihm gesprochen. Das ist unglaublich.«

»Ja, es ist unglaublich. Ich kann es selbst kaum glauben.«

Liz fragte das Mädchen, ob es Milch und ein paar Kekse haben wolle. Das Mädchen nickte, und Danny half ihm, am l isch Platz zu nehmen.

»Was hast du gemacht, um Brown Jenkin so zu verärgern?«, fragte Liz, während sie zwei Gläser Milch eingoss. Das Mädchen schien fasziniert von der Milch im Karton, und der Kühlschrank begeisterte es offenbar restlos. Mir wurde plötzlich klar, dass ich ein Kind aus einer Zeit mitgebracht hatte, in der Radio, Fernsehen, Autos, Flugzeuge, Plastik, umfassende elektrische Beleuchtung und all die anderen Dinge nicht existierten, die für uns selbstverständlich waren.

Ich saß am Küchentisch und sah dem Mädchen zu, wie es aß und trank. Der Schock über Pickerings Tod begann mir ein taubes, dumpfes Gefühl zu geben, als wäre ich überhaupt nicht hier. Liz hörte sich an, als spreche sie aus einem anderen Zimmer zu mir.

»Ich möchte im Augenblick wirklich nicht über Brown Jenkin reden«, sagte ich. »Er ist nicht gerade der Typ, der für schöne Träume sorgt.«

»Ist er eine Ratte?«, fragte Danny.

Ich schüttelte den Kopf und wünschte mir, mich nicht so taub zu fühlen. »Er sieht aus wie eine Ratte, aber er ist wie ein Junge angezogen. Er ist schmutzig, er stinkt, und er ist ziemlich abscheulich. Ich bin nicht sicher, was er ist. Aber er redet ein Mischmasch aus Englisch, Französisch und Deutsch. Also muss er ein Mensch sein.«

»Ich wollte nicht zum Picknick gehen«, sagte das Mädchen nachdrücklich.

»Warum nicht?«, fragte Danny. »Ich mag Picknicks.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Wenn du mit Brown Jenkin zum Picknick gehst, kommst du niemals zurück. Und dann schaufeln sie dir ein Grab aus.«

»Ich habe doch gesagt, dass wir mit dem Sergeant reden sollten«, sagte Liz. »Wenn sie Kinder entführen, dann müssen wir sie aufhalten.«

»Stimmt«, sagte ich. »Stimmt vollkommen. Aber wann entführen sie die Kinder? Heute? Gestern? Morgen? Vor hundert Jahren?«

»Was ist mit dem kleinen Mädchen, das in Ryde verschwunden ist? Was ist mit dem Bruder von Harry Martin?«

»Und was ist damit, Detective Sergeant Miller davon zu überzeugen, dass ich nicht völlig übergeschnappt bin? Es gibt keinen Beweis, oder? Und solange wir keinen Beweis haben, wird die Polizei als Erstes glauben, dass ich diese Kinder entführt habe. Ich habe hier ja schon ein unbekanntes Mädchen. Ich kann nicht erklären, woher es kommt und was es hier macht. Ich weiß ja nicht mal, wie es heißt.«

»Charity«, sagte das Mädchen laut und deutlich. »Charity Welbeck.«

»Na, das ist ja schon mal was«, sagte ich. »Hallo und willkommen, Charity Welbeck. Darf ich dich mit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bekannt machen?«

»Bleibt sie bei uns?«, fragte Danny.

»Ich weiß nicht. Ich glaube schon, ich wüsste nicht, wo sie hin sollte.«

»Ich kann ihr beibringen, wie man fischt. Wir könnten Taschenkrebsrennen veranstalten.«

»Warum denken wir darüber nicht morgen früh nach?«, schlug ich vor. »Es ist jetzt Zeit, ins Bett zu gehen.«

Liz stand auf. »Ich lasse ihnen ein Bad einlaufen. Charity kann eine von meinen Blusen als Nachthemd nehmen.«

Danny kam um den Küchentisch herum und gab mir einen Kuss. »Gute Nacht, Zacko McWhacko«, sagte ich zu ihm. Normalerweise hätte ich gelächelt, aber ich war nicht in der Stimmung dazu. Dennis Pickering war ermordet worden, und ich hatte Charity nur um Haaresbreite retten können. Und mir selbst hatte eine Kreatur im Nacken gesessen, die abscheulicher war als jeder Albtraum.

Ich saß mit verkrampften Muskeln am Küchentisch und wusste einfach nicht, was ich machen sollte.


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