6. Kopfjäger

An der Küchentür war ein forsches Klopfen wie von einem Postboten zu hören. Ich blickte vom Daily Telegraph auf, während Danny seine Augen von seiner Schale Honey Nut Loops abwandte. Der Löffel warf einen geschwungenen Lichtreflex auf seine Wange.

Es war Harry Martin, der Rattenfänger. Sein Gesicht war hochrot, er war außer Atem. In seiner Hand hielt er einen Schlapphut. Er trug einen dicken Tweedanzug mit Fischgrätenmuster und hatte einen großen Lederranzen über die Schulter geworfen, in den die Initialen HJM eingebrannt waren.

»Mr. Martin, kommen Sie doch herein.« Er war mir nicht nur willkommen, nach der vergangenen Nacht war ich sogar ausgesprochen froh, ihn zu sehen. »Der Tee ist noch heiß. Oder möchten Sie eine Limonade? Ihr Anzug sieht ja ziemlich dick aus. Ist Ihnen nicht zu warm?«

Er legte seinen Ranzen ab, zog sich einen Küchenstuhl heran und nahm Platz. »Das ist meine Rattenfängerkleidung«, verkündete er. Er zupfte mit Zeigefinger und Daumen am Ärmel. »Gesehen? Es gibt nicht viele Ratten, die sich da durchbeißen können. Das ist nicht so wie diese modernen Nylonoveralls. Hier, fühl mal.« Danny strich widerstrebend über den Stoff. »Und? Was sagst du dazu?«

»Er ist haarig«, sagte Danny.

»Richtig. Er ist haarig. Wie eine Ratte. Ein Rattenanzug, um eine Ratte zu fangen.«

Ich goss ihm eine Tasse Kaffee ein. »Zucker?«, fragte ich.

»Drei Stückchen.«

Er rührte so lange um, bis das Klimpern des Löffels mir so auf die Nerven ging, dass ich ihn fast bitten wollte, endlich damit aufzuhören.

Plötzlich legte er den Löffel fort und sah mich durchdringend an. Ein Auge hatte er zugekniffen, das andere war weit aufgerissen. »Sie hatten letzte Nacht Probleme?«

Ich nickte.

»Ich habe am Himmel das Licht gesehen. Hören konnte ich nichts, weil der Wind in die falsche Richtung wehte. Aber ich dachte mir, dass Sie Probleme haben.«

»Es waren ein paar Geräusche zu hören«, sagte ich und warf Danny einen Blick zu. »Geräusche und auch Licht ... Danny, bist du lieb und frühstückst im Wohnzimmer weiter?«

»Ich sehe gerade Play School.«

Ich schaltete den Fernseher aus. »Du hast Play School gesehen. Jetzt nicht mehr. Und jetzt geh bitte mit deinem Frühstück ins Wohnzimmer, ja?«

»Aber, aber, keinen Streit«, sagte Harry Martin. »Wir können unseren Tee auch im Garten trinken, wir müssen dem jungen Mann doch nicht das Fernsehen vermiesen.«

»Wenn er noch länger fernsieht, bekommt er irgendwann eckige Augen«, entgegnete ich. Trotzdem folgte ich Harry aus der Küche auf die Veranda. Wir setzten uns auf die Mauer, von der aus wir auf den abfallenden Garten und die Sonnenuhr blicken konnten. Die frühe Morgensonne schiert rötlich durch Harrys haarige Ohren. Die See klang sonderbar beruhigend.

»Was für Geräusche?«, fragte Harry.

»Lärmen, Gepolter und Schreie. Schreie von Kindern. Und ein sehr tiefes Geräusch, dass sich anhörte, als rede jemand sehr langsam. Sie wissen schon, wie bei einem Tonband, das zu langsam läuft. Außerdem habe ich ein kleines Mädchen in einem langen Nachthemd gesehen, jedenfalls habe ich das geglaubt. Aber ich schätze, es war wohl nur eine optische Täuschung.«

Ich zögerte. »Zumindest hoffe ich, dass es eine optische Täuschung war.«

Harry holte seine Tabakdose hervor und rollte sich eine Zigarette. »Haben Sie heute Morgen Radio gehört?«

»Nein.«

»Ich höre morgens immer Radio. Leistet mir Gesellschaft, wenn Vera noch schläft.«

»Und?«

»Es kam eine Meldung, dass ein neun Jahre altes Mädchen aus Ryde in der vergangenen Nacht verschwunden ist. Das war mit ein Grund, warum ich zu Ihnen gekommen bin.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«

Harry zündete die Zigarette an und zog die Nase hoch. »Im Radio haben sie gesagt, dass das Mädchen in sein Zimmer eingeschlossen wurde, weil es zu lange draußen geblieben war. Das Fenster war ebenfalls verriegelt, aber irgendwie ist es ausgebüxt. Im Bett, in dem es geschlafen hatte, war eine Vertiefung, mehr nicht. Und es hatte in der Nacht nur sein Schlafhemd an.«

»Ich kann noch immer nicht folgen.«

»Das ist früher auch schon passiert«, erklärte Harry geduldig. »Wenn im Fortyfoot House Licht zu sehen ist und Geräusche zu hören sind, dann verschwindet jedes Mal ein Kind.«

»Sie sehen da doch keine Verbindung, oder? Ich meine, es verschwinden immer wieder Kinder.«

»Aber nicht so wie diese Kinder verschwinden. Sie sind einfach weg, niemand sieht oder hört je wieder etwas von ihnen. Und eine Leiche wird auch nie gefunden.«

Er sah mich gelassen an. »Glauben Sie mir. Jedes Mal, wenn es im Fortyfoot House Licht und Geräusche gibt, höre ich Radio und lese die Zeitung. Und jedes Mal verschwinden Kinder. Ein Kind, manchmal auch zwei. Und sie verschwinden für immer ... als hätten sie nie existiert.«

»Haben Sie das der Polizei erzählt?«

»Der Polizei? Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich das der Polizei erzählt habe. Aber ich werde nur ausgelacht. Man hält mich nur für einen verrückten alten Rattenfänger. Fünfunddreißig Jahre Kriegführung gegen die Ratten haben meine grauen Zellen angegriffen, das sagen sie. Jedes Mal rufe ich sie an und sage es ihnen, und jedes Mal werde ich ausgelacht. Dumm wie Schifferscheiße, diese modernen Bullen.«

Ich drehte mich um und blickte hinauf zum Dach. »Und wer holt sich diese Kinder? Etwa Brown Johnson?«

»Brown Jenkin«, korrigierte er mich. »So heißt es. Brown Jenkin. Ja, es holt sie sich. Diese Geschichte wird seit Jahren in Bonchurch erzählt, um den Kinder Angst einzujagen. Iss deine Möhren auf, sonst kommt Brown Jenkin und holt dich. Sie haben gehört, was meine Doris gesagt hat.«

»Ja. Irgendetwas darüber, irgendwohin gebracht zu werden, wo einen nicht einmal die Zeit finden kann.«

»Genau«, sagte Harry. »In die Zukunft. Oder in die Vergangenheit. Wer weiß das schon? Es heißt, dass es Orte gibt, an denen ist alles so wie hier, nur anders. Als wäre die Queen eine Schwarze und niemand hätte jemals das Fliegen entdeckt.«

»Alternative Wirklichkeiten«, sagte ich. »Darüber habe ich einen langen Artikel im Telegraph gelesen.«

»Halte ich alles für Unsinn«, erwiderte Harry. »Aber diese Kinder verschwinden, und niemand findet jemals etwas von ihnen wieder. Keinen Schuh, keinen Fußabdruck, keinen Fingernagel.«

Liz betrat die Veranda. Sie trug khakifarbene Shorts und ein weißes T-Shirt, durch das ihre Brustwarzen schimmerten. »Noch etwas Tee?«, fragte sie und schirmte mit der Hand ihre Augen gegen die Sonne ab.

Harry schüttelte den Kopf. Liz kam herüber und setzte sich zu uns auf die Mauer. »Sie sind doch nicht gekommen, um unsere Ratte zu fangen, oder?«, fragte sie. Sie hatte ihre Haare gewaschen und roch nach Laura-Ashley-Parfum.

»Ich weiß nicht, ob ich sie heute schon fangen werde, aber ich will mal einen Blick riskieren«, erklärte Harry. »Ich habe schon immer das Verlangen gehabt, Brown Jenkin zu fangen. So wie Captain Ahab das Verlangen verspürte, diesen Moby Dick zu fangen.«

»Ich habe Ihrer Frau versprechen müssen, dass ich Sie das nicht machen lasse«, sagte ich ihm.

»Natürlich. Aber Sie wissen, wie Frauen sind. Sie wissen nicht, was Pflichtgefühl heißt.«

»Was für ein Pflichtgefühl?«, fragte Liz.

»Er ist ein Rattenfänger«, ließ ich sie wissen. »Wenn er Brown Jenkin fängt, dann ist das der krönende Abschluss seiner Karriere. Man wird sich immer an ihn erinnern. Jedenfalls in Bonchurch.«

»Darum geht's nicht«, widersprach Harry. »Ich will keinen Ruhm.«

»Oh«, sagte ich perplex.

Harry zündete die Zigarette wieder an. »Die Art Pflichtgefühl, die ich meine, ist eine Verpflichtung gegenüber der Familie, gegenüber meinem Bruder.«

Wir warteten, während sich Harry räusperte. »Mein jüngerer Bruder William verschwand, als er acht Jahre alt war. Wir haben im selben Zimmer geschlafen, William und ich. Er ist nur für ein Glas Wasser in die Küche gegangen. Das war eine von diesen Nächten, in denen im Fortyfoot House Lichter und Geräusche waren. Ich habe das Licht gesehen, wie es die Wolken beschien. Und ich konnte die Geräusche hören, wie ein unterirdisches Grollen. William war aufgestanden, weil er Durst hatte. Das letzte Mal, dass ich ihn sah, war, als er die Schlafzimmertür öffnete. Ich sehe ihn noch ganz deutlich vor mir, in seinem Schlafanzug, sein rotbraunes Haar, sein dünner Hals. Aber ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern.«

»Und Sie haben ihn nie wieder gesehen?«, fragte ich.

»Nie. Aber die Küchentür war von innen verschlossen, ebenso die Haustür. Nur das Oberlicht in der Vorratskammer war offen, doch da hätte sich nicht einmal eine Katze durchzwängen können.«

»Wie lange ist das her?«

Es folgte eine lange Pause, dann schluckte Harry und antwortete: »Bald sind es sechsundfünfzig Jahre.«

»Und Sie glauben, dass er von Brown Jenkin geholt wurde?«

»Ich habe gehört, wie meine Mutter das dem Vikar sagte. Sie war sich dessen sicher. Sie wollte das Fortyfoot House Stein für Stein abtragen, um unseren William wiederzufinden. Aber mein Vater sagte, sie sei verrückt. Brown Jenkin sei nicht mehr als eine Ratte. Oder vielleicht nicht mal mehr als eine Geschichte über eine Ratte. Der Herr gibt, der Herr nimmt, Ratten nicht. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte.«

»Und woher?«, fragte Liz mitfühlend. Es war nicht zu übersehen, dass das Verschwinden seines Bruders Harry Martin noch immer aufregte, auch wenn es über ein halbes Jahrhundert zurücklag.

»Am nächsten Tag entdeckte ich zwei Fußabdrücke im Blumenbeet, direkt auf der anderen Seite der Mauer zur Küche. Abdrücke wie von Rattenpfoten, nur größer, drei-oder viermal größer. Einer von ihnen befand sich mitten in den Stiefmütterchen, der andere war nur ein halber Abdruck, direkt an der Mauer, so als käme er direkt aus der Küchenwand. So, als wäre ein Tier durch die Mauer marschiert, ohne sich überhaupt an ihr zu stören.«

»Haben Sie Ihrem Vater die Abdrücke gezeigt?«

»Das wollte ich, aber er war den ganzen Tag über mit der Polizei unterwegs, um bei den Klippen nach William zu suchen. In der Nacht regnete es dann, und am nächsten Morgen waren die Abdrücke nicht mehr zu sehen. Ich hatte keinen Beweis in der Hand, und darum sagte ich mir, dass ich vergessen musste, was geschehen war. Ich musste Brown Jenkin vergessen, wenn ich nicht verrückt werden wollte, so wie es beinahe meiner Mutter ergangen wäre.«

Ich trank meinen Tee aus. »Sind Sie hergekommen, um nach ihm zu suchen?«

»Falls Sie nichts dagegen haben.«

»Natürlich nicht.« Ich wusste nicht, ob ich glauben sollte, dass Brown Jenkin in der Nacht Kinder raubt. Aber ich glaubte, dass da oben im Speicher des Fortyfoot House irgendetwas sehr Unangenehmes und Beunruhigendes war. Je eher wir es loswurden, desto besser.

»Also gut«, sagte Harry und stand auf. »Dann werde ich mich mal vorstellen.«

»Das Licht auf dem Dachboden ist leider kaputt, und ich habe keine Taschenlampe. Ich wollte gestern eine kaufen, hab's dann aber vergessen.«

»Kein Problem. Ich habe eine in meiner Tasche, zusammen mit dem übrigen Handwerkszeug.«

Er ging zurück ins Haus, nahm seine Ledertasche und öffnete die Verschlüsse. »Ich habe alles Notwendige dabei«, sagte er. »Fallen, Draht, vergiftete Köder. Sogar einen verdammt großen Hammer. Die beste Methode, um eine Ratte zu töten.«

Mit Unbehagen sagte ich: »Ihre Frau hat gesagt, ich solle Sie nicht bitten, nach Brown Jenkin zu suchen. Ich glaube, ich sollte Ihnen das auch nicht gestatten.«

Harry zog eine lange verchromte Taschenlampe hervor. »Sie haben mich nicht gebeten, mein Freund. Und was das Gestatten angeht... Sie sind nicht der Hausherr, Sie sind der Handwerker, mehr nicht. Und was ich tun will, das tue ich auch. Damit sind Sie aus dem Schneider.«

Ich warf Liz einen Blick zu, doch sie reagierte nur mit einem Achselzucken.

»Sie müssen das wirklich nicht machen«, sagte ich. »Im Lauf des Tages kommt jemand von Rentokil.«

Harry legte eine Hand fest auf meine Schulter und sah mich lange an. »Rentokil, mein Freund, ist was für Ameisen und Küchenschaben und Trockenfäule. Das hier ist Arbeit für einen Rattenfänger.« Er tippte sich an seine Stirn. »Gegen eine Kreatur wie Brown Jenkin muss man Psychologie einsetzen. Man muss ihr immer einen Schritt voraus sein.«

»Wenn Sie das sagen.«

In diesem Moment kam Danny mit seiner leeren Schüssel herein. »Was machen Sie mit der Ratte, wenn Sie sie gefangen haben?«, fragte er Harry. »Stecken Sie sie in einen Käfig und halten Sie sie dann als Haustier?«

»Diese Ratte nicht«, sagte Harry.

»Ich wollte mit meiner Wasserpistole auf sie schießen, aber Daddy hat vergessen, eine Taschenlampe zu kaufen.«

Harry bedachte mich mit einem Lächeln. Danny begab sich nach draußen, um zu spielen, während ich Harry voraus nach oben ging. Als seine ledernen alten Hände nach dem Geländer griffen, sah ich, dass an der rechten Hand die Spitzen von Zeige-und Mittelfinger fehlten. Dafür hatte eine Ratte sicherlich einen Schlag mit dem Hammer bekommen.

»Warum sind Sie hergekommen?«

»Ihr Junge«, knurrte er.

»Danny?«

»Genau. Nachdem Sie gestern bei mir gewesen sind, bin ich nach Bonchurch spaziert, um mir das Haus noch einmal anzusehen. Um meine Erinnerung aufzufrischen. Seit zwei oder drei Jahren war ich nicht mehr hier. Vielleicht sogar noch länger. Ich bin am Gartentor stehen geblieben und habe Ihren Sohn am Teich spielen sehen. Er hatte mir den Rücken zugewandt, und für eine Sekunde ...« Er machte eine Pause und schluckte heftig, während sein Adamsapfel auf und ab tanzte. »Für eine Sekunde glaubte ich, er sei mein Bruder William.«

Er musste weiter nichts erklären. Ich öffnete die Tür zum Dachboden, er schaltete seine Taschenlampe ein. »Nach Ihnen«, sagte ich. »Aber passen Sie bloß auf.«

Harry bemerkte den Luftzug, der uns aus der Dunkelheit entgegenschlug. »Ich kann keine Ratte riechen«, sagte er.

»Wie riechen denn Ratten üblicherweise?«

»Oh, das lernt man mit der Zeit. Sie riechen nach Pisse und Sägemehl und irgendetwas anderem, irgendetwas für Ratten Typischem, wie eine Mischung aus Tod und Babys.«

»Benutzen Sie nicht Ihren Hammer?«, fragte ich.

»Nicht jetzt. Jetzt will ich mich nur umsehen. Ich möchte abschätzen, worauf ich mich einstellen muss.«

»Eine verdammt große Ratte, so groß wie ein Cockerspaniel, glauben Sie mir«, warnte ich ihn.

Schwerfällig stieg er die Stufen hinauf und erkundete mit dem Strahl seiner Taschenlampe die Dunkelheit. Ich folgte dicht hinter ihm, auch wenn ich alles darum gegeben hätte, wieder nach unten und raus in den Sonnenschein gehen zu können. Was, wenn das Mädchen noch hier oben war? Wenn es real gewesen war, wenn man es entführt, missbraucht und ermordet hatte? Wie sollte ich das irgendjemandem erklären?

Was, wenn die Geschichten stimmten? Wenn Brown Jenkin eine Bestie war und Kinder verschleppen konnte? Mein einziger Schutz war ein schnaufender 67-jähriger Rattenfänger mit einer Taschenlampe.

Feigling, schimpfte ich mich tonlos aus. Aber dann dachte ich, dass es stimmte. Ich schämte mich nicht dafür, Angst zu haben.

Harry hatte die oberste Stufe erreicht und lehnte sich gegen das Geländer, um sich umzusehen, während der Strahl seiner Taschenlampe jeden Winkel erhellte. Ich entdeckte ein ungesund aussehendes Schaukelpferd, dessen gelbes Glasauge leuchtete, die Mähne war im Lauf der Zeit vom beständigen Zerren durch Kinderhände ausgedünnt worden. Ich sah kleine Tische, auf denen sich alte Bücher stapelten. Von weit weg hörte ich Danny im Garten lachen, während Liz hinter ihm herjagte.

»Letzte Nacht war hier oben die Hölle los«, sagte ich zu Harry. »Lichtblitze, Geräusche ... und das kleine Mädchen. Oder was ich für ein kleines Mädchen gehalten habe.«

Harry griff hinter sich und umfasste meine Hand. »Sie müssen sich nicht entschuldigen, mein Freund. Sie wissen, was real ist und was nicht. So wie ich weiß, was meinen Bruder verschleppt hat. Einige Dinge weiß man einfach, ganz egal, was andere sagen. Vielleicht kann ich keine Ratten riechen, aber ich kann Brown Jenkin riechen.«

»Was wollen Sie unternehmen?«, fragte ich ihn.

»Ich werde mich gründlich umsehen«, antwortete er. »Selbst die klügste Ratte hinterlässt Spuren.«

»Passen Sie bloß auf sich auf, ja?«

Ich wartete auf der Treppe, während Harry über den Dachboden schlurfte, Laken anhob und Möbelstücke zur Seite schob. »Kein Rattendreck«, sagte er nach einer Weile. »Normalerweise findet man ihre Hinterlassenschaften.«

»Vielleicht ist es ja gar keine Ratte«, gab ich zu bedenken.

»Alle Schädlinge hinterlassen ihren Dreck«, erwiderte Harry. »So wie die Menschen immer Müll hinterlassen.«

Mit einem Mal dachte ich an die Verpackung des Schokoriegels, die ich gestern während der Fahrt aus dem Fenster geworfen hatte, und fühlte mich schuldig.

Harry stöberte weiter umher. Sehen konnte ich ihn nicht, er befand sich in der entferntesten Ecke des Dachbodens, über meinem Schlafzimmer. Hin und wieder sah ich den Lichtkegel seiner Taschenlampe, mehr aber auch nicht.

»Augenblick mal«, sagte Harry. »Hier ist ein Dachfenster, aber ich sehe keinen Himmel.«

Ich ging bis zur obersten Stufe, um ihn sehen zu können. Er stand an der Stelle, unter der mein Schlafzimmer lag, und hatte seine Lampe auf ein kleines zweigeteiltes Dachfenster in der abfallenden Decke gerichtet.

»Keine Ahnung, was das ist«, sagte ich. »Wenn man das Haus von außen betrachtet, dann sieht es so aus, als wäre ein Teil des Dachbodens abgetrennt worden.«

Harry dachte über meine Worte nach. »Das heißt, dahinter befindet sich etwas?«

»Offensichtlich ja. Zwischen dem alten und dem neuen Dach.«

»Groß genug, dass sich etwas darin verstecken könnte?«

»Ja, aber keine Ratte. Wie sollte ein Ratte ein Dachfenster öffnen und schließen?«

Harry richtete die Taschenlampe auf sein Gesicht. Es sah gespenstisch aus, wie eine Totenmaske, die mitten in der Dunkelheit schwebte. »Das ist die Frage. Und ich habe noch eine Frage: Wie konnte sich eine Ratte mit meinem Bruder aus dem Staub machen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte, dass er Brown Jenkin so

schnell wie möglich fand. Obwohl ein ständiger Luftzug herrschte, hatte der Speicher etwas unglaublich Erdrückendes an sich. Es war eher so, als würde man sich drei Etagen unter der Erde befinden, nicht über ihr.

Harry stocherte umher und bewegte weitere Möbelstücke. »Sieht so aus, als müssten wir noch mal von vorne anfangen«, sagte er zu mir. »Keine Ratte zu sehen, auch kein Eichhörnchen. Nichts.«

»Ich weiß, dass ich etwas gesehen habe«, beteuerte ich. »Es war struppig und dunkel und ist an mir vorübergehuscht.«

Es folgte eine lange Pause, dann sagte Harry: »Ich glaube Ihnen. Ich kenne einige Leute, die Ihnen nicht glauben würden.«

Über eine Minute lang stand er einfach da und starrte in die Dunkelheit, dann richtete er seine Taschenlampe wieder auf das Dachfenster. »Ich schätze, ich muss da mal einen Blick hineinwerfen. Vielleicht bringt uns das weiter.«

»Ich bezweifle, dass es aufgeht«, sagte ich. Trotzdem zog er eine der Holzkisten zu sich, auf die er klettern konnte, um den altmodischen Riegel am Dachfenster zu erreichen. Zweioder dreimal musste er mit dem Handballen gegen das Dachfenster schlagen, dann sprang es tatsächlich auf. Er öffnete es, so weit es ging, und befestigte es dann an einer rostigen Stange.

»Hier riecht es anders«, meinte er, während er seinen Kopf durch das Dachfenster steckte und mit der Taschenlampe den Raum dahinter beleuchtete. Auch wenn Harry mir die meiste Sicht nahm, konnte ich genug erkennen, um den Eindruck zu gewinnen, dass jemand ohne große Erfahrung im Mauern in aller Eile das Dach zugemauert hatte.

»Die alten Dachziegel sind noch hier«, rief Harry mir zu. »Mir fällt ums Verrecken keine Erklärung ein, warum jemand dieses Stück abgetrennt hat. Scheint einfach keinen Sinn zu ergeben.«

»Ein Schlafzimmerfenster ist ebenfalls zugemauert worden.«

»Ach, verdammt«, sagte Harry. »Ich schätze, wir müssen noch mal ganz von vorne anfangen.«

Er wollte gerade von der Kiste heruntersteigen, als er plötzlich seine Taschenlampe fallen ließ. Sie schlug auf dem Boden auf, ging aber nicht aus. Stattdessen traf ihr Strahl auf die verstaubte Oberfläche eines Spiegels, der das Licht reflektierte und eine Ecke des Dachbodens unheimlich erhellte.

Ich wollte gerade zu ihm gehen und die Taschenlampe aufheben, als er ein ungewöhnliches Geräusch machte, als zerreiße man ein Stück Stoff. Ich sah nach oben und entdeckte zu meinem Entsetzen, dass sich seine Haare verfangen hatten und er erfolglos versuchte, sich zu befreien. Er drehte sich und trat mit einem Bein um sich, woraufhin die Kiste, auf der er stand, ins Wanken geriet und geräuschvoll umkippte.

»Harry!«, schrie ich und versuchte, seine Beine zu fassen und ihn zu stützen.

Mit aufgerissenem Mund starrte er mich an, aber es schien, als könne er nichts sagen.

»Harry? Was ist los?«, fragte ich ihn. Ich bekam sein linkes Bein zu fassen, während er wie verrückt mit dem rechten zappelte. »Versuchen Sie, sich nicht zu bewegen!«

Harrys Kopf wurde hin-und hergerissen, seine Stirn schlug mit großer Wucht gegen den Rahmen. Ich sah Platzwunden und Blut. Dann hörte ich wieder das Geräusch von reißendem Stoff, und im gleichen Moment spannte sich Harrys Gesicht an, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, seine Nasenlöcher weiteten sich, seine Oberlippe klappte auf groteske Weise nach oben.

»Harry!«, schrie ich außer mir.

Seine Gesichtshaut wurde immer weiter nach oben gezogen, bis er mich schließlich mit einem verzerrten Ausdruck und einem monströsen hämischen Grinsen anstarrte.

Wieder war das durchdringende Krachen und Reißen zu hören, und plötzlich verstand ich, woher es kam. Harrys Haut

wurde nach und nach von seinem Schädel gerissen. Das Krachen stammte vom Fettgewebe und von Knorpeln, die von den Knochen gezerrt wurden. Und das Reißen stammte von den Haarwurzeln.

Ich bekam sein anderes Bein zu fassen und konnte ihn stabilisieren. Langsam zog ich ihn nach unten, um ihn von dem zu befreien, was ihn im Griff hatte. Er schrie aber so gellend, dass ich nicht anders konnte, als ihn loszulassen. Die Haut wurde ihm vom Kopf gerissen, so wie von einem rohen Hühnchen, und ich konnte nichts dagegen machen.

»Liz!«, schrie ich. »Liz!«, Aber sie war draußen im Garten und konnte mich unmöglich hören. In Panik stellte ich die Kiste wieder auf, auf der Harry gestanden hatte, und nahm sein ganzes Gewicht in meine Arme. Er zappelte so heftig, dass ich nicht sehen konnte, was hinter dem Dachfenster vor sich ging. Ich konnte nicht erkennen, was ihn festhielt und wie seine Haut von seinem Schädel gerissen wurde. Dann aber machte er eine heftige Bewegung nach vorne. Klebriges und heißes Blut regnete auf mich herab, doch in dem roten Dickicht seiner Haare sah ich drei geschwungene schwarze Krallen, die wie Klingen glänzten. Sie hatten sich durch seine Kopfhaut gebohrt und dann seinen Skalp immer und immer wieder gedreht, sodass seine Haut von seinem Gesicht gezogen wurde.

»Harry, halten Sie durch«, flehte ich ihn an.

Er starrte mich mit blutunterlaufenen Augen an. Seine Haut war am Kinn aufgerissen, und plötzlich rutschte seine Zunge hinter der losgelösten Haut nach unten und glitt durch die blutige Öffnung unter seine Unterlippe. Es sah so aus, als hätte er auf einmal zwei Münder. Dann schob sich sein ganzes Gesicht mit einem zähen Geräusch nach oben, so wie ein blutiger Handschuh, der abgestreift wird. Ich blickte auf einen haut-und fleischlosen Schädel, Augen ohne Lider, Zähne, die aus dem blutig rohen Kiefer herausragten, um ein letztes Lächeln zu zeigen. Der lebende Tod mit dem gespenstischen Lächeln unerträglicher Qualen, einem wissenden Lächeln, dass der Kampf bald vorüber sein würde.

Ich schwankte, verlor auf der Kiste meinen Halt und musste nach unten springen. Harry hing noch immer an dem Dachfenster, er ruderte mit Armen und Beinen, doch auf eine nachlässige, ergebene Weise. Wie ein Schwimmer, der zu müde ist, um sich über Wasser zu halten. Ich hatte das Gefühl, dass er einfach nur versuchte, das Blut aus seinem verwüsteten Kopf zu pumpen, um endlich zu verbluten, ohne zu viel Schmerzen zu erleiden.

»Liz«, flüsterte ich.

Dann wirbelte Harry herum und sackte zu Boden. Zitternd lag er in seinem Rattenfängeranzug auf der Seite, während ich einen Blick nach oben zum Dachfenster warf. Das Glas war blutüberströmt, und überall an der Decke waren dunkle Blutspritzer zu sehen.

»Harry«, sagte ich und berührte seine blutgetränkte Schulter. »Harry, ich rufe einen Krankenwagen. Bleiben Sie ganz ruhig liegen, Harry. Bewegen Sie sich nicht.«

Er starrte mich mit seinen blutigen Augen an.

»Ich... ich...« Er atmete schwer, während sich seine fleischlosen Lippen schwach bewegten.

»Schon gut, Harry«, versicherte ich ihm. »Alles ist in Ordnung. Aber bleiben Sie bitte ruhig liegen. Ich bin in ein paar Minuten zurück.«

»Ich...«, wiederholte er. Seine Augen waren wie erstarrt, weil er keine Lider mehr hatte, die er über sie hätte gleiten lassen können.

Ich eilte die Speicherstufen nach unten und stürmte in die Küche.

Liz stand in der offenen Tür. »David? Was ist los?«, fragte sie.

»Harry ... der Rattenfänger. Er hatte einen Unfall.« Ich riss den Hörer hoch und tippte den Notruf ein.

»Was kann ich für Sie tun?«, ertönte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Einen Krankenwagen, schnell! Fortyfoot House in Bonchurch.«

Liz bewegte sich auf die Treppe zu. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Soll ich ...« »Nein!«, schrie ich sie an.

Sie blieb stehen, ihre Augen weiteten sich, und dann verstand sie, was geschehen war.

»Sir, geben Sie mir bitte Ihre Nummer?«, forderte die Stimme mich auf. »Sir?«


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