17. Illusionen

Danny und Charity saßen am Küchentisch, aßen ihre gekochten Eier und ihren Toast, während ich gegen die Spüle gelehnt dastand und aus dem Fenster sah. Die Sonne schien durch die Tür ins Zimmer, der Wind war warm und roch nach Meer. Ich konnte fast nicht glauben, dass ich vor gerade einmal einer halben Stunde durch das eiskalte Meer im November 1886 gewatet war, um den zerfetzten Leichnam von Reverend Pickering den Wellen zu übergeben.

Etwas unter dem Poloshirt juckte mich, und ich begann zu kratzen. Ich hoffte, dass ich mir nicht von Brown Jenkin irgendwelches Ungeziefer eingefangen hatte.

»Danny«, sagte ich schließlich, »es tut mir Leid, aber wir müssen fort von hier.«

»Du sagst immer, dass wir fort müssen, aber dann bleiben wir doch.«

»Diesmal muss es wirklich sein.«

»Warum? Was ist. los?«

»Es ist dieses Haus. Es ist auf eine böse Art verzaubert, und ich bin besorgt, dass dir und Charity etwas zustoßen könnte.«

»Und Liz?«

»Ja, ja, um sie mache ich mir auch Sorgen.«

»Wann müssen wir los?«

Ich blickte auf meine Uhr. »Sobald ihr mit dem Frühstück fertig seid. Wir brauchen nur einen Koffer, den Rest holen wir später.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Charity.

»Oh, du kommst natürlich auch mit. Das heißt, falls du das möchtest.«

Charity nickte. Ich hatte sie inzwischen richtig gern. Vielleicht war es ihre formelle viktorianische Art oder wie sie sich anbot, bei absolut allem zu helfen. Heutzutage wünscht man sich Kinder wie Charity, wenn man gerade mal in der Lage ist, sie vom Fernseher an den Küchentisch zu locken, damit sie wenigstens etwas zu sich nehmen.

Ich ging nach oben ins Schlafzimmer, holte unseren alten Koffer unter dem Bett hervor und öffnete die rostigen Schlösser. Während ich Hemden und Hosen so ordentlich wie möglich faltete und in den Koffer legte, fiel mein Blick auf das grüne T-Shirt und die Nylonstrumpfhose, die Liz auf ihrer Seite des Bettes hatte liegen lassen. Ich wusste nicht, was ich mit Liz machen sollte. Die Erscheinung, die sich in ihren Körper geschleust hatte, konnte ich nicht leugnen, ich hatte sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Aber hatte Billings wirklich die Wahrheit gesagt? Konnte das wirklich eine vormenschliche Kreatur namens Sothoth gewesen sein? Oder hatte ich einfach nur eine optische Täuschung erlebt -eine Folge von zu viel Wein, zu wenig Geld und zu wenig ausgewogenem Essen?

Aber angenommen, er hatte die Wahrheit gesagt und Liz war jetzt von demselben Wesen besessen, das sich in Kezia Mason eingenistet hatte. Angenommen, sie trug zwei Lebensformen in sich, die ihren Körper zerreißen würden. Sollte ich ihr davon etwas sagen? Oder sollte ich den Mund halten, zumal Billings gesagt hatte, gegen die Kreaturen könne man nichts unternehmen? Sollte ich sie in ein Krankenhaus bringen? Oder sollte ich fortlaufen, sie vergessen und so tun, als sei ich ein anderer Mensch, der nie von Fortyfoot House auch nur gehört hatte?

Es gab einen Aspekt, der mich wirklich irritierte, nämlich der, dass sich Billings die Mühe gemacht hatte, mich zu warnen. Er hätte Brown Jenkin auf mich hetzen können, er hätte Kezia Mason auf mich loslassen können. Aber ich hatte das Gefühl, dass er mich aus irgendeinem unerklärlichen Grund brauchte, dass er mich ohne mein Wissen in irgendeine Verschwörung einbezogen hatte.

Er hatte den größten Verrat aller Zeiten erwähnt: die dreißig Silberlinge. Vielleicht war diese Bemerkung wichtiger, als ich zunächst geglaubt hatte.

Aber ich konnte mir darüber jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Ich musste an Danny und an Charity denken. Mit jeder Minute wuchs die Gefahr, dass Brown Jenkin herkam. Ich machte mir keinen Illusionen darüber, was er mit den Kindern machen würde, wenn er sie erst einmal entführt hatte.

Bauz! Da geht die Türe auf, Und herein in schnellem Lauf Springt der Schneider in die Stub.

Ich packte Dannys Pyjama ein und ging dann ins Badezimmer, um die Zahnbürsten einzusammeln. Ich betrachtete im Medizinschrank mein Spiegelbild. Ausgemergelt war nicht das richtige Wort, abstoßend traf es eher. Ich hatte das Blut von meinem Kinn gewischt, aber der Riss in meiner Lippe hatte sich noch nicht geschlossen, und rings um Mund und Nase fanden sich kleine Kratzer und Druckstellen.


Als ich nach unten kam, traf ich zu meiner Überraschung auf Liz, die schon von der Arbeit zurückgekommen war und in der Küche saß, wo sie eine frische Tasse löslichen Kaffees trank. Die Kinder waren draußen auf der Veranda und traten einen luftarmen Wasserball hin und her. Liz lächelte mich merkwürdig an, während ich den Koffer an der offenen Tür abstellte.

»Du hast gepackt«, sagte sie, klang aber nicht überrascht.

»Ich ... ja, ich habe gepackt. Ich habe beschlossen abzureisen. Ich glaube, dass ich genug habe.«

»Oh«, machte sie. »Und mir wolltest du davon nichts sagen?«

»Natürlich. Ich wollte zum Vogelpark kommen und es dir sagen.«

»Aber du wolltest mich nicht fragen, ob ich dich vielleicht begleiten will?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste ja nicht mal, ob ich noch mit Liz sprach oder mit irgendeinem kalten und formlosen Wesen, das einfach nur wie Liz aussah. »Mir ist nicht der Gedanke gekommen, dass du mitkommen wolltest«, log ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mit einem älteren Mann zusammen sein möchtest, der kein Geld, keine Zukunft, kein Auto, aber zwei Kinder hat.«

»Darf ich das vielleicht selbst entscheiden?«

Ich sah hinaus zu den Kindern, die sich im Sonnenschein amüsierten, und musste an die Kinder denken, die vor so vielen Jahren in Fortyfoot House in der Falle gesessen hatten, ohne Hoffnung, ausgemergelt, ohne eine Chance, dem Tod zu entgehen.

»Wieso bist du so früh zu Hause?«, fragte ich Liz. »Es ist doch erst elf.«

Sie ließ den Löffel wieder und wieder in der Kaffeetasse anschlagen. »Mir war nicht gut. Ich habe merkwürdige Magenschmerzen.«

Ich nickte. »Aha.«

»Einer der Kassierer hat mich hergebracht. Er ist nett. Er heißt Brian.«

»Dein Alter?«

» Eifersüchtig? «

Für einen Moment glaubte ich, wieder dieses rötliche Funkeln in ihren Augen zu entdecken. Mir war, als würde mich jemand durch Liz' Augen hindurch ansehen, so wie bei einem Porträt, bei dem die Augen ausgeschnitten worden waren. »Weißt du, was es ist?«, fragte ich sie.

Liz sah mich fragend an.

»Deine Magenschmerzen, meine ich. Irgendeine Ahnung, woher sie kommen?«

Ich wartete darauf, einen Hinweis in ihrem Gesicht zu entdecken, dass sie nicht sie selbst war.

Aber sie zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Vielleicht sind meine Tage zu früh dran. Vielleicht habe ich auch nicht richtig gegessen. Davon bekomme ich immer Magenschmerzen.«

»Kann ich dir etwas holen?«

Sie grinste verführerisch. »Ein wenig von Dr. Williams' Spezialmedizin wäre vielleicht nicht schlecht.«

»Ich ... wir reisen ab«, sagte ich knapp. Ich kam mir vor wie eine Figur in einem Stück von Noël Coward. »Ich bringe die Kinder nach Brighton, danach müssen wir einfach weitersehen.«

»Kann ich nicht mitkommen?«

Ich setzte mich neben sie an den Küchentisch. »Ich bin gerade eben durch die Klapptür zurückgekommen.«

Es folgte eine sehr lange Pause, dann sagte Liz: »Du bist noch mal hingegangen?«

»Ich musste. Die Polizei kam her, um nach Pickering zu suchen. Nachdem Brown Jenkin ihn umgebracht hat, wurde er unter dem Fußboden beerdigt. Ich hatte den Boden aufgemacht, und er war noch immer da. Darum bin ich heute Morgen zurückgekehrt. Ich bin ins Jahr 1886 zurückgekehrt und habe ihn beerdigt. Na ja, es war mehr eine Art Seebestattung.«

»Was willst du mir damit erzählen, David? Stimmt irgendetwas nicht, ist es das?«

»Ich weiß nicht, ich bin mir nicht sicher. Ich bin dem jungen Mr. Billings begegnet. Er hat mir alles über seinen Vater, über Kezia Mason und über Fortyfoot House erzählt.« Wie sollte ich ihr bloß sagen, dass sie mit zwei parasitären Kreaturen schwanger war? Ich konnte es nicht. Aber was, wenn ich es nicht machte und sie getötet wurde, ohne zu wissen, was mit ihr geschah?

»Der junge Mr. Billings hat dir das alles erzählt?«

»Ja, ich habe ihn getroffen, unten am Gartentor. Ich bin auch Kezia Mason und Brown Jenkin begegnet.«

Sie legte ihre Hand auf meine. »David, hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, dass du nicht gerade normal klingst?«

»Was soll das heißen? Ich war dort. Ich habe mit ihm gesprochen. Ich war im November 1886. Der junge Mr. Billings erklärte mir, dass Kezia Mason gar keine Waise war, sondern besessen von einem urzeitlichen Wesen, das nicht menschlich war. Er sagte, Hexen seien ganz normale Frauen, die von vormenschlichen Kreaturen besessen sind.«

Ich hielt inne, als ich Liz' Gesichtsausdruck bemerkte. Voller Erstaunen und Zuneigung und noch immer mit diesem roten Glimmen in ihren Augen, das möglicherweise natürlichen Ursprungs war.

»Erzähl weiter«, forderte sie mich auf. »Was hat er sonst noch gesagt?«

Nach und nach erzählte ich von den sumerischen Zikkurats, von Mazurewicz, Brown Jenkin und Dr. Barnardo. Und

schließlich berichtete ich ihr auch von den Alten und von den drei Söhnen in ihr, die die Unselige Dreifaltigkeit bilden und die Welt beherrschen würden.

Als ich geendet hatte, sah sie mich eine Weile stumm an, dann strich sie mir über die Wange. »Verstehst du, was mit dir geschehen ist?«, fragte sie sanft.

»Ich verstehe, was mit dir geschehen wird. Und mit diesen Kindern.«

»David, seit dem ersten Tag hast du dir immer sonderbarere Dinge eingebildet. Du stehst unter Stress, deine Ehe ist gescheitert, du hast jeglichen Halt verloren. Du bist nicht wirklich in der Zeit zurückgereist, niemand kann das.«

Ich war sprachlos. »Was willst du damit sagen? Dass ich mir das alles einbilde? Dass ich alles nur geträumt habe? Komm schon, Liz. Du hast Mr. Billings selbst gesehen, und Sweet Emmeline und Brown Jenkin! Himmel, ich habe mir das nicht eingebildet!«

Sie strich mit der gleichen Hartnäckigkeit über meine Hand, mit der sie zuvor ihren Kaffee eingerührt halte. »David, dieses Haus ist voller Geräusche und elektrischer Defekte und allem Möglichen anderen. Es hat eine gewisse Atmosphäre, das gebe ich ja zu. Aber es ist nicht verflucht. Jedenfalls nicht wirklich. Und all die Dinge, die du mir über den jungen Mr. Billings und über Brown Jenkin erzählt hast ... du lässt dich von diesen Dingen mitreißen.«

»Großer Gott, Liz! Sieh dir meine Schuhe und meine Hose an! Ich bin durch das verdammte Wasser gewatet!«

»Und? Was soll das beweisen? Ich kann auf der Stelle genau das Gleiche machen.«

»Also gut«, sagte ich wütend. »Wenn sich das alles hier nur in meinem Kopf abspielt, wer ist sie dann?«

Ich stand auf, ging zur Küchentür und deutete nach draußen, wo Danny ganz alleine mit dem Wasserball spielte.

Ich sah nach links und nach rechts. Ich spähte über den Rasen, konnte aber nur ein Eichhörnchen ausmachen, das durch das Gras eilte.

»Danny, wo ist Charity?«

Danny tat so, als sei er Paul Gascoigne, der gerade ein Tor gegen die Italiener erzielt hatte. »Wer?«, fragte er.

»Charity, das kleine Mädchen.«

Er hörte auf zu spielen und sah mich ratlos an. »Welches kleine Mädchen?«

»Das kleine Mädchen, mit dem du Fußball gespielt hast. Das kleine Mädchen, mit dem du gefrühstückt hast. Das kleine Mädchen, das heute Nacht hier geschlafen hat. Das kleine Mädchen, mit dem du die ganze Nacht Witze getauscht hast. Das kleine Mädchen meine ich.«

Danny sah mich so verständnislos an, dass mir klar wurde, dass er tatsächlich nicht wusste, was ich meinte. Das konnte nur bedeuten, dass entweder ich den Verstand zu verlieren begann oder Liz - oder besser gesagt: die Hexe, von der sie besessen war - eine unglaublich überzeugende visuelle und geistige Täuschung erschaffen hatte. Ich wusste, welche der beiden Möglichkeiten eher der Wahrheit entsprach. Ich kam in die Küche zurück und sagte: »Okay, ich werde es beweisen. Jeder von beiden hatte zwei Eier, hier sind die Eierschalen ...«

Ich öffnete den Treteimer und sah zwei Eierschalen.

Ich sah in die Spüle: zwei Eierbecher, ein Teller, ein Löffel. Im Schrank standen die beiden Eierbecher, die ich Charity gegeben hatte. Sie waren sauber und unbenutzt. Liz saß da und musterte mich, die Hände in den Schoß gelegt. Ich sah sie wütend an, doch nichts an ihr verriet, dass sie diejenige war, die mich täuschte. Sie sah mich ruhig und geduldig an. Ich schloss den Schrank.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte ich.

»David, das ist nicht wahr. Das glaubst du alles nur.«

»Das kann nicht sein. Ich war dort ... ich war im Jahr 1886, heute Morgen erst. Ich sprach mit dem jungen Mr. Billings. Bestimmt zehn Minuten lang. Er war so zum Greifen nah wie du jetzt. Und sieh dir an, was Kezia Mason mit: meinem Gesicht veranstaltet hat.«

»Du hast dich gekratzt, sonst nichts.«

»Dann werde ich wohl verrückt.«

»David, du wirst nicht verrückt. Du stehst unter Stress, sonst nichts. Du hast so viel über Brown Jenkin und den jungen Mr. Billings gehört, dass du an nichts anderes mehr denken kannst. Das ist eine Realitätsflucht, ein ganz normales Symptom bei Stress.«

In dem Moment klingelte es an der Tür. »Das wird Sergeant Miller sein. Mal sehen, was er sagt.«

Als ich die Tür öffnete, stand aber nicht Miller vor mir, sondern ... Dennis Pickering. Er lebte, er war unversehrt, und er war so real wie ich. Die Sonne ließ die Haare in seinen Ohren erstrahlen. Aufseiner Weste waren Reste von Porridge zu sehen.

»Oh, guten Morgen, David«, sagte er gut gelaunt. »Ich wollte mich nur für gestern Abend entschuldigen.«

Ich öffnete den Mund und schloss ihn im nächsten Augenblick wieder. Ich hatte das Gefühl, Fieber zu haben.

»Wissen Sie, meine Damen haben wegen der Kirchendekoration ein solches Theater gemacht, dass ich nicht dort wegkam. Als ich dann mit dem Abendessen fertig war, fühlte ich mich zu müde, um noch auf Geisterjagd zu gehen. Aber ich könnte heute Abend vorbeikommen, wenn es Ihnen recht ist.«

Ich erwartete fast, dass er sich jeden Augenblick vor meinen Augen in Luft auflöste, aber nichts geschah. Er redete und lächelte und war völlig real. Ich hatte gesehen, wie ihm die Augen aus dem Kopf gerissen und die Eingeweide aus dem Leib gezerrt worden waren. Ich hatte es genau gesehen. Ich war hinaus ins Meer gewatet und hatte gehört, wie sich seine aufgeschlitzte Bauchhöhle gurgelnd mit Seewasser gefüllt hatte. Und hier stand er vor mir und lächelte mich an.

»Ich glaube, dass sich alles als natürliches Phänomen entpuppen wird, was Sie hier erlebt haben«, sagte er. »Die Menschen können ja so abergläubisch sein, nicht wahr? Wir glauben lieber an eine übernatürliche Erklärung als an eine wissenschaftliche. Dabei sind wissenschaftliche Erklärungen auf ihre Weise ebenso wundervoll. Sie sind schließlich Gottes Werk.«

»Ja«, sagte ich. »Das nehme ich an.«

»Tja«, erklärte er strahlend und rieb sich die Hände. »Ich will Sie nicht länger aufhalten, Sie haben bestimmt entsetzlich viel zu tun. Streichen, tapezieren. Aber Fortyfoot House kann das auch gut gebrauchen.«

Er ging zu seinem Renault und stieg ein. Ich beobachtete, wie er sich zur Seite lehnte und in seinen Hosentaschen nach dem Wagenschlüssel suchte. Schließlich stieg er wieder aus.

»Stimmt was nicht?«, fragte ich.

»Ja, ich ... ich glaube, ich habe meinen Schlüssel verloren.«

Ich sah mich in der Einfahrt um. »Ich kann sie nirgends sehen, aber weit weg können sie nicht sein. Vielleicht sind sie Ihnen im Wagen runtergefallen.«

Er warf einen Blick in den Wagen. »Nein ... sieht nicht so aus. Am besten gehe ich zurück zum Vikariat und hole den Ersatzsch 1 üssel.«

Ich ging zu ihm. »Sie könnten unter den Sitz gerutscht sein«, überlegte ich. Ich öffnete die Fahrertür und sah unter die Vordersitze, konnte aber nirgends die Schlüssel entdecken.

»Na, das ist nicht so schlimm«, sagte er dann. »Der Weg zurück ist ja nicht so weit.«

»Ich würde Sie ja fahren, aber ...« Ich deutete auf meinen zertrümmerten Audi, dann sah ich ihm nach, wie er in Richtung Straße ging, wo er sich noch einmal umdrehte und mir zuwinkte.

Es konnte ein optische Täuschung sein, doch für den Bruchteil einer Sekunde kam es mir so vor, als sei Pickering jemand anderes - jemand, der kleiner, dunkler, gebeugter war. Doch er war schon aus meinem Blickfeld, bevor ich sicher sein konnte.

Ich lief bis zur Straße und sah ihm nach. Er sah immer noch aus wie Dennis Pickering, aber er schien in den wenigen Sekunden ein außergewöhnlich großes Stück Weg zurückgelegt zu haben. Er befand sich fast auf der Höhe des Ladens.

Etwas stimmte nicht, es passte nicht zusammen. Ich konnte nicht derart unter Stress gestanden haben, dass ich mir den Ausflug vom gestrigen Abend nur eingebildet hatte. Jemand täuschte mich, ob es nun Liz war oder das Ding, das in Liz lebte, oder der junge Mr. Billings oder Kezia oder Dennis Pickering oder Brown Jenkin. Oder sie alle gemeinsam.

Ich ging zurück zu Pickerings Wagen und suchte noch einmal nach den Schlüsseln. Wenn er heute Morgen hierher gefahren war und den Wagen vor dem Haus geparkt hatte, wie sollte er auf den wenigen Metern bis zur Tür den Schlüssel verlieren? Ich stützte meine Hand auf die Motorhaube, um Halt zu haben, während ich unter den Wagen sah. Das Blech war zwar von der Sonne aufgeheizt, aber es roch nicht nach einem heißen Motor. Ich öffnete die Haube und berührte vorsichtig den Zylinderkopf. Er war völlig kalt. Der Wagen war heute Morgen keinen Meter gefahren worden, vielmehr hatte er hier gestanden, seil Pickering am Abend zuvor angekommen war.

In dem Moment rief Liz mir zu: »Telefon.«

Ich nahm im Wohnzimmer den Hörer ab. Draußen spielte Danny noch immer mit dem Wasserball.

»Hier ist Detective Sergeant Miller«, hörte ich Miller sagen. »Ich habe gerade einen Anruf von Mrs. Pickering erhalten, der Frau des guten Vikars.«

»Sagen Sie nichts. Er ist wieder aufgetaucht.«

»Stimmt, aber woher wissen Sie das?«

»Er ist auch hier gewesen. Zumindest jemand, der so aussah wie er.«

Es folgte ein kurze Pause. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen wirklich folgen kann.«

»Machen Sie sich keine Gedanken. Hier herrscht die Meinung vor, dass ich den Verstand verliere.«

»Oh, ich verstehe.«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe Pickering vor einigen

Minuten gesehen, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass er es auch ist.«

»Warum sollte er nicht Pickering sein?«

»Weil Pickering vermisst wird.«

»Nein, seine Frau hat ja gerade angerufen und gesagt, dass er zu Hause ist.«

»Ist sie sicher, dass er es ist?«

»Also, wenn seine eigene Frau ihn nicht identifizieren kann, dann wüsste ich nicht, wer es sonst könnte.«

»Ich mache mir Sorgen um seine Frau«, sagte ich.

»Warum das?«, fragte Miller.

»Wenn er nicht Dennis Pickering ist - wovon ich überzeugt bin dann ist er etwas anderes.«

Wieder folgte eine kurze Pause. »Ich würde sagen, dass dahinter eine gewisse Logik steckt, wenn auch eine sehr verdrehte Logik. Aber wenn er etwas anderes ist, was ist er dann?«

»Er könnte Brown Jenkin sein.«

»Brown Jenkin?«, wiederholte Miller tonlos. »Sie meinen, er ist in Wahrheit eine riesige Ratte, die sich als er verkleidet hat?«

»Sie glauben mir nicht.«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich überlege nur, wie Mrs. Pickering ihren Mann mit einer Ratte verwechseln kann. Ich meine, es gibt eine Menge Frauen, bei denen ich mir das gut vorstellen kann, aber nicht Mrs. Pickering.«

»Sie haben doch heute Morgen seinen Wagen vor dem Haus stehen sehen.«

»Ja.«

»Also musste er doch gestern Abend hergekommen sein, oder?«

»Das sollte man daraus schließen, ja. Es sei denn, jemand hätte den Wagen ohne sein Wissen dort abgestellt.«

»Dazu hat er sich aber nicht geäußert. Er hat nicht gesagt: >Oh, sehen Sie doch, hier ist ja mein Wagen. Ich habe ihn schon überall gesucht.< Stattdessen hat er gesagt, dass er gestern Abend nicht hier war.«

»Warum sollte er das sagen?«

»Um mich glauben zu lassen, dass ich unter Halluzinationen leide. Aber das ist nicht der Fall, der Motor seines Wagens war kalt. Der Wagen ist seit gestern Abend nicht bewegt worden, also muss er gestern Abend hier gewesen sein. Außerdem hatte er den Wagenschlüssel nicht bei sich. Er hat so getan, als habe er den Schlüssel verloren. Aber wie kann er auf einer Strecke von fünf oder sechs Metern einen Schlüssel verlieren und nicht wiederfinden?«

»Das ist alles sehr interessant, Mr. Williams. Aber das sind keine handfesten Beweise dafür, dass Reverend Pickering in Wahrheit eine riesige Ratte ist. Außerdem: Warum sollte er Sie glauben machen, dass Sie unter Halluzinationen leiden?«

»Das macht nicht er.«

»Wer dann?«

In dem Moment wurde mir bewusst, wie lächerlich ich mich anhören musste. Ich hätte mir gewünscht, dass Miller mir glaubte. Aber sein Tonfall ließ mich erkennen, dass ich seine Bereitschaft, an das Übersinnliche zu glauben, viel zu sehr strapazierte. Er begann offensichtlich zu denken, dass ich tatsächlich unter Wahnvorstellungen litt:. Das Schlimmste daran war, dass ich langsam bereit war, selbst daran zu glauben.

Alles, was ich seit dem ersten Tag in Fortyfoot House erlebt hatte, schien so real zu sein wie ein Horrorfilm. Miller sagte: »Also gut. Reverend Pickering ist wieder da, zumindest jemand, der so aussieht. Das heißt, wir müssen Ihnen nun doch nicht den Fußboden im Wohnzimmer aufreißen. Das wär's dann für heute.«

»Tut mir Leid«, sagte ich. Während ich den Hörer auflegte, wunderte ich mich, was genau mir eigentlich Leid tat. Mein Blick fiel auf die Buntstiftzeichnung, die Danny an die Wand gehängt hatte. Sweet Emmeline mit roten Würmern in den Haaren. Und der Mann mit dem Schornsteinhut. Ich hatte das Gefühl, dem Wahnsinn ganz nahe zu sein.

Ich ging in die Küche, wo Liz Zwiebeln schälte und heulte. Ich blieb im Durchgang stehen und fragte sie: »Was machst du da?«

Sie wischte mit dem Handrücken die Tränen fort und verschmierte ihren Lidschatten. »Ich mache eine Hühnchenkasserolle. Wieso?«

»Das ist unsinnig. Es sei denn, du willst sie ganz alleine essen. Wir gehen. Jedenfalls Danny und ich.«

»David«, sagte sie. »Jetzt wegzulaufen, wäre der größte Fehler, den du machen könntest. Wenn du wegläufst, dann wirst du dich nie den Dingen stellen können, die dir diesen Stress bereiten. Du brauchst Ruhe, und du musst darüber reden. Du musst darüber nachdenken.«

»Große Worte einer Amateurpsychiaterin.«

Sie legte das Messer zur Seite. »David, bitte. Du hast Fortyfoot House zu einer Allegorie für deine Beziehung zu Janie werden lassen. Kannst du das nicht verstehen? Als du dann Harry Martin hast sterben sehen und als du Doris Kembles Leiche gefunden hast, hast du das als Beweise dafür angesehen, dass all deine Albträume von Fortyfoot House real sind. David, ich habe dich beobachtet. Du benimmst dich merkwürdig und du sagst sonderbare Dinge. Ich nahm an, du hättest es überwunden, aber es scheint nur noch schlimmer zu werden. Wenn dn gehst, dann wirst du umso mehr glauben, dass deine Albträume die Realität darstellen.«

»11mm«, sagte ich, während ich um den Küchentisch ging. »Gute Theorie, guter Versuch. Aber angenommen, ich gehe nach oben und werfe einen Blick auf den Speicher. Was wäre dann?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Du redest die ganze Zeit über vom Speicher.«

Ich sah auf meine Uhr. »Im Jahr 1886 müsste jetzt bald die Sonne aufgehen.«

»David«, flehte mich Liz an. »Hörst du dir eigentlich selbst zu? Das klingt völlig verrückt. Als Nächstes erzählst clu mir noch, dass du Napoleon bist.«

»Ich brauche nur einen Beweis«, sagte ich. Gott, ich hoffte, dass ich nicht zu zittern begann. Dannys Ball schlug immer wieder gegen die Küchenwand, während eine Möwe, die in der warmen Morgenluft ihre Bahnen zog, eine Reihe von Schreien ausstieß, die sich wie Babyschreie anhörten.

»Wie wär's mit einer Tasse Kaffee?«, fragte sie mich besorgt. Würde ein seelenloses Wesen vom Anfang aller Zeiten mich fragen, ob ich eine Tasse Kaffee wollte? Vielleicht ja. Vielleicht war es zu einer so subtilen und detaillierten Täuschung in der Lage. Bei Pickerings Wagen hatte es zum Beispiel einen Fehler gemacht. Das Wesen mochte Liz' Bild von Dennis Pickering genommen haben, um eine Illusion von Pickering zu erschaffen. Aber ein Mädchen wie Liz, das kein Auto und keinen Führerschein besaß, machte sich keine Gedanken darüber, dass der Motor seines Wagens heiß sein müsste. Also hatte das in der Illusion gefehlt.

Und was war mit dem Schlüssel? Den hatte sie auch vergessen. Wenn Pickering aber wirklich eine Illusion war, dann hätte sie vielleicht doch daran gedacht, ihm einen Schlüssel zu geben. Vielleicht konnten Illusionen aber auch kein Auto fahren. Konnte ein seelenloses Wesen vom Anfang aller Zeit wissen, wie man ein Auto fährt?

Ich sah Liz an. Sie sah so hübsch, unschuldig und besorgt aus, dass ich noch wütender wurde. Ich hatte das Gefühl, dass jemand mein Gehirn wie ein Marmeladenglas zerschmettert hatte.

»Nein, danke, ich möchte keinen K-k-k-...«, stammelte ich.

Sie legte ihre Hand auf meine Schulter und küsste mich auf die Stirn. »David, du siehst einfach schrecklich aus. Leg dich doch ein wenig hin.«

Ich atmete tief durch. Ruhig, David, ganz ruhig. Du bist nicht verrückt, das weißt du genau. Aber wo ist Charity ? Und warum kann sich Danny nicht an sie erinnern ?

»Ich möchte mich erst noch mal auf dem Dachboden umsehen«, sagte ich.

»Hältst du das für eine gute Idee?« »Ich weiß nicht. Es könnte sogar eine sehr schlechte Idee sein, es könnte extrem gefährlich sein. Aber ich schätze, dass du dich an den Grund nicht erinnern kannst. Ich nehme nicht an, dass du noch weißt, wie du Charity nach oben gezogen hast, damit sie nicht von Brown Jenkin in Stücke gerissen wird.«

Liz sagte nichts, sondern drückte mich an sich, sodass ich ihren Atem auf meinem Gesicht spüren konnte.

»Ich muss das einfach machen, das ist alles«, sagte ich.

»Soll ich mitkommen?«, fragte sie.

»Nein, nein, koch du nur weiter. Wer weiß, vielleicht ist da oben ja gar nichts und wir können zum Abendessen bleiben.«


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