9

Ich machte Anstalten, seine Hand zu stoppen, doch sie erstarrte auf halbem Wege. Als ich den Kopf wendete, sah ich, daß eine andere Hand sich um Gérards Arm geschlossen hatte und ihn zurückhielt.

Ich ließ mich zur Seite rollen, blickte auf und sah, daß Ganelon meinen Bruder festhielt. Gérard riß seinen Arm nach vorn, kam aber nicht los.

»Haltet Euch hier heraus, Ganelon«, sagte er.

»Verschwinde, Corwin!« rief Ganelon. »Hol das Juwel.«

Gérard richtete sich auf. Ganelon ließ die Linke herumzucken und landete einen Kinnhaken. Gérard sackte vor ihm zu Boden. Ganelon griff an und zielte einen Tritt auf die Nieren, doch Gérard packte seinen Fuß und hebelte ihn rücklings zu Boden. Ich rappelte mich in eine geduckte Stellung hoch und stützte mich mit einer Hand ab.

Gérard hüpfte vom Boden hoch und bestürmte Ganelon, der eben das Gleichgewicht zurückgewonnen hatte. Als er ihn fast erreicht hatte, zielt Ganelon einen Schlag auf Gérards Genitalien, der ihn abrupt stoppte. Ganelons Fäuste hämmerten wie Kolben gegen Gérards Unterleib. Mehrere Sekunden lang schien Gérard zu betäubt zu sein, um sich zu schützen, und als er sich schließlich vorbeugte und die Arme abwehrend senkte, erwischte ihn Ganelon mit einer Rechten gegen das Kinn, die ihn zurücktaumeln ließ. Ganelon setzte nach, warf die Arme um Gérard, hakte das rechte Bein in Gérards Kniekehle. Gérard kippte um, und Ganelon stürzte auf ihn. Er setzte sich auf Gérard und versetzte ihm einen kräftigen Kinnhaken. Als Gérards Kopf zur Seite rollte, hielt Ganelon mit einem linken Schwinger dagegen.

Plötzlich trat Benedict vor, als wolle er eingreifen, doch Ganelon war bereits aufgestanden. Gérard lag bewußtlos am Boden; er blutete aus Mund und Nase.

Unsicher stand ich auf und klopfte mich ab.

Ganelon grinste mich an.

»Du solltest lieber nicht in der Nähe bleiben«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie ich bei einer Revanche abschneiden würde. Geh das Schmuckstück suchen.«

Ich blickte zu Benedict hinüber, der mir zunickte. Daraufhin ging ich ins Zelt, um Grayswandir zu holen. Als ich wieder ins Freie trat, hatte sich Gérard noch nicht gerührt; dafür stand Benedict vor mir.

»Denk daran«, sagte er. »Du hast meinen Trumpf, und ich habe deinen. Keine entscheidenden Schritte ohne vorherige Absprache.«

Ich nickte. Schon wollte ich ihn fragen, warum er Gérard und nicht mir hatte helfen wollen. Doch dann überlegte ich es mir anders; unsere frisch geschmiedeten Bande der Einigkeit wollte ich nicht so schnell aufs Spiel setzen.

»Gut.«

Ich ging zu den Pferden. Im Vorbeigehen schlug mir Ganelon auf die Schulter.

»Viel Glück«, sagte er. »Ich würde dich ja begleiten, aber ich werde hier gebraucht, zumal Benedict das Chaos aufsuchen will.«

»Gut gemacht«, sagte ich. »Ich dürfte eigentlich keine Schwierigkeiten haben. Mach dir keine Sorgen.«

Ich ging zur Einfriedung, in der die Pferde standen. Kurze Zeit später ritt ich los. Ganelon grüßte mich mit einer Handbewegung, die ich erwiderte. Benedict kniete neben Gérard.

Ich ritt zum nächsten Weg, der nach Arden führte. Das Meer lag hinter mir. Garnath und die schwarze Straße links, Kolvir rechts. Ich mußte ein gutes Stück zurücklegen, ehe ich mit dem Stoff der Schatten arbeiten konnte. Der Tag erstreckte sich hell und klar vor mir, sobald ich nach mehreren Erhebungen und Senken Garnath nicht mehr sehen konnte. Ich erreichte den Weg und folgte seiner weiten Biegung in den Wald, wo feuchte Schatten und leiser Vogelgesang mich an die langen Zeiten des Friedens erinnerten, die wir einst hier erlebt hatten, und an die seidigschimmernde Gegenwart des mütterlichen Einhorns. Wie lange war das her.

Der pulsierende Schmerz ging im Rhythmus des Rittes unter, und ich beschäftigte mich noch einmal mit der Auseinandersetzung. Gérard zu verstehen war nicht schwierig, hatte er mir seinen Verdacht doch offen dargelegt und mir eine Warnung zukommen lassen. Doch störte mich sein Eingreifen in einem dermaßen ungünstigen Augenblick nach Brands Verschwinden, daß ich hierin nur einen weiteren Versuch sehen konnte, mich entweder aufzuhalten oder völlig aus dem Verkehr zu ziehen. Mein Glück, daß Ganelon zur Stelle, bei Kräften und in der Lage gewesen war, seine Fäuste im richtigen Augenblick an die richtige Stelle zu setzen. Ich fragte mich, wie sich Benedict verhalten hätte, wenn wir nur zu dritt gewesen wären. Ich ahnte, daß er gewartet und vielleicht erst im letzten Augenblick eingegriffen hätte, um zu verhindern, daß Gérard mich umbrachte. Unser Verhältnis stimmte mich noch nicht glücklich, wenn es auch gegenüber dem früheren Zustand eine klare Verbesserung darstellte.

Meine Gedanken führten mich schließlich zu der Frage, was aus Brand geworden war. Waren Fiona oder Bleys endlich zu ihm vorgestoßen? Hatte er die vorgeschlagenen Morde allein durchführen wollen und war auf Gegenwehr gestoßen, war er womöglich durch den Trumpf eines seiner Opfer gezogen worden? Hatten sich seine alten Verbündeten aus den Höfen des Chaos irgendwie zu ihm durchgekämpft? Oder war schließlich einer seiner hornhändigen Turmwächter zu ihm vorgedrungen? Oder war es so gewesen, wie ich Gérard hatte einreden wollen – eine versehentliche Selbstverletzung während eines Wutanfalls, gefolgt von einer Flucht im Zorn, in der Absicht, seinen finsteren Gedanken und Plänen an einem anderen Ort nachzuhängen?

Wenn ein einzelnes Ereignis so viele Fragen auslöst, läßt es sich selten mit reiner Logik klären. Trotzdem mußte ich mir alle Möglichkeiten vor Augen halten, damit ich etwas Konkretes hatte, sobald weitere Tatsachen hervortraten. Zunächst überdachte ich noch einmal gründlich die Dinge, die er mir gesagt hatte, und prüfte seine Behauptungen im Licht jener Informationen, die ich inzwischen erlangt hatte. Mit einer Ausnahme zweifelte ich die Tatsachen im wesentlichen nicht an. Er hatte ein zu raffiniertes Bauwerk errichtet, als daß man es nun einfach umstürzen konnte – immerhin hatte er viel Zeit gehabt, sich all diese Dinge zu überlegen. Nein, es war die Art seiner Darstellung der Ereignisse, die etwas verbarg. Sein neuester Vorschlag gab mir praktisch die Gewähr dafür.

Der alte Weg wand sich, wurde breiter, dann wieder schmaler, schwang sich nach Nordwesten und bergab in den dichter werdenden Wald hinein. Der Wald selbst hatte sich kaum verändert. Es schien sich um denselben Pfad zu handeln, auf dem ein junger Mann vor Jahrhunderten geritten war, nur so zum Spaß, fasziniert das gewaltige grüne Reich erkundend, das sich über den größten Teil des Kontinents erstreckte. Es wäre schön, mal wieder einen solchen Ritt zu unternehmen, aus keinem anderen Grund, als sich zu vergnügen.

Nach etwa einer Stunde hatte ich mich ziemlich weit in den Wald vorgearbeitet. Die Bäume waren riesige schwarze Türme; das bißchen Sonnenlicht, das noch zu sehen war, verfing sich wie Phoenixnester in den höheren Ästen, eine ewig feuchte, dämmrige Weichheit ließ die Umrisse von Stämmen, Stümpfen, Ästen und moosbewachsenen Felsen verschwimmen. Ein Hirsch verließ sich nicht auf die Deckung des Dickichts zu meiner Rechten und sprang vor mir über den Weg. Vogelstimmen erschallten ringsum, doch niemals in der Nähe. Von Zeit zu Zeit kreuzte ich die Spuren anderer Reiter. Einige waren noch ziemlich frisch, doch sie blieben nicht lange auf dem Weg. Kolvir war seit längerer Zeit außer Sicht.

Der Weg stieg wieder an, und ich wußte, daß ich in Kürze eine kleine Erhebung erreichen und zwischen einigen Felsen hindurchkommen würde, woraufhin es dann wieder bergab ging. Der Baumbestand wurde zum Kamm hin dünner, bis ich schließlich sogar den Himmel zu Gesicht bekam. Die Himmelsfläche nahm weiter zu, und als ich die Anhöhe erreichte, hörte ich den fernen Ruf eines Raubvogels.

Ich hob den Kopf und erblickte einen großen dunklen Umriß, der sich in weiten Kreisen am Himmel bewegte. Ich erreichte die Felsbrocken und trieb Drum zu schnellerer Gangart an, als der Weg klar vor mir lag. Wir stürmten den Hang hinab, bestrebt, in die Deckung der großen Bäume zurückzukehren.

Wieder schrie der Vogel, doch wir erreichten unbehindert den Schatten, die Dämmerung. Ich ließ das Pferd allmählich wieder langsamer gehen und hielt die Ohren offen, doch es waren keine beunruhigenden Laute zu hören. Die Umgebung hatte große Ähnlichkeit mit dem Wald auf der anderen Seite der Erhebung, bis auf einen kleinen Wasserlauf, dem wir eine Zeitlang folgten, ehe wir ihn an einer flachen Furt überquerten. Dahinter erweiterte sich der Weg, und ein wenig mehr Licht drang durch das Blätterdach und umschwebte uns etwa eine halbe Meile weit. Unsere Entfernung von Amber reichte fast aus, daß ich mit jenen kleinen Manipulationen der Schatten beginnen konnte, die mich auf den Weg zu meinem früheren Exil führen konnten, der Schatten-Erde. Allerdings war so etwas hier noch ziemlich schwierig, weiter entfernt würde es mir leichter fallen. Ich beschloß, mir und meinem Tier die Mühe zu ersparen, indem ich einen besseren Ausgangspunkt suchte. Bisher war im Grunde noch nichts Bedrohliches passiert. Der Vogel mochte ein Raubtier sein, weiter nichts.

Nur ein Gedanke machte mir zu schaffen.

Julian . . .

Arden war Julians Reich, von seinen Reitern bewacht, Heimat mehrerer seiner Truppenabteilungen – Ambers innere Grenzwache, sowohl gegen natürliche Feinde als auch gegen jene Dinge, die an den Grenzen zu den Schatten auftauchen mochten.

Wohin war Julian verschwunden, als er in der Nacht des Überfalls auf Brand den Palast so plötzlich verließ? Wenn er sich nur verstecken wollte, hätte er nicht weiter zu fliehen brauchen als bis hierher. Hier war er stark, unterstützt von seinen Männern, in einem Bezirk, den er besser kannte als wir alle zusammen. Durchaus möglich, daß er sich im Augenblick gar nicht weit entfernt aufhielt. Außerdem liebte er die Jagd. Er hatte seine Höllenhunde, seine Vögel . . .

Eine halbe Meile, eine Meile . . .

Und plötzlich hörte ich den Laut, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte. Der weittragende Ton eines Jagdhorns durchstieß das Grün und das Schattendunkel. Noch weit entfernt . . . meinem Gefühl nach links hinter mir.

Ich trieb mein Pferd in den Galopp, und die Bäume links und rechts wurden zu verwischten Streifen. Der Weg lag gerade und eben vor mir, das machten wir uns zunutze.

Plötzlich hörte ich ein Brüllen – eine Art dröhnenden, widerhallenden, knurrenden Laut, der aus einer resonanzstarken Brust zu kommen schien. Ich wußte nicht, wer einen solchen Ton ausstoßen konnte, jedenfalls handelte es sich nicht um einen Hund. Nicht einmal ein Höllenhund vermochte so zu bellen. Ich warf einen Blick über die Schulter, doch Verfolger waren nicht in Sicht. Ich beugte mich vor und redete Drum gut zu.

Nach einer Weile hörte ich ein Krachen im Wald zu meiner Rechten, doch das Brüllen wiederholte sich nicht. Mehrmals sah ich mich um, doch ich vermochte nicht zu erkennen, was den Lärm erzeugte. Gleich darauf hörte ich wieder das Horn, schon viel näher, und diesmal wurde es von dem Bellen und Knurren beantwortet, das ich nur zu gut kannte. Die Höllenhunde kamen – schnelle, kampfstarke, bösartige Monstren, die Julian in irgendeinem Schatten gefunden und zur Jagd abgerichtet hatte.

Es war Zeit, mit der Verschiebung zu beginnen. Noch umgab mich Amber mit seiner Kraft, doch ich hakte mich in den Schatten fest, so gut es ging, und leitete die Bewegung ein.

Der Weg begann sich nach links zu krümmen, und als wir darüber galoppierten, büßten die Bäume zu beiden Seiten ihre Größe ein und blieben zurück. Eine neue Kurve, und der Weg führte uns über eine Lichtung, die etwa zweihundert Meter groß war. Ich blickte auf und sah, daß der verdammte Vogel noch immer über mir kreiste, inzwischen aber viel näher, nahe genug, um mit mir durch die Schatten gezogen zu werden.

Die Sache war komplizierter, als mir recht sein konnte. Ich brauchte eine offene Fläche, auf der ich mein Pferd herumziehen und notfalls das Schwert frei bewegen konnte. Eine solche Stelle aber zeigte dem Vogel, der sich offenbar nicht so leicht abschütteln ließ, wo ich zu finden war.

Na schön. Wir erreichten eine leichte Anhöhe, überquerten sie, ritten auf der anderen Seite hinab und kamen dabei an einem einsamen, vom Blitz zerstörten Baum vorbei. Auf dem ersten Ast saß ein grausilbern und schwarz gefiederter Falke. Im Vorbeireiten pfiff ich ihm zu, und er sprang in die Luft und stieß dabei einen lauten Kampfschrei aus.

Im Weitergaloppieren hörte ich das Gekläff der Hunde und das Donnern der Pferdehufe hinter mir. In diese Laute mischte sich aber noch etwas anderes, mehr eine Vibration, ein Erbeben des Bodens.

Wieder blickte ich zurück, doch noch war keiner meiner Verfolger über den Hügel. Von neuem richtete ich meine Geisteskräfte auf den Weg, woraufhin Wolken die Sonne verfinsterten. Seltsame Blumen erschienen am Pfad – grün, gelb und purpurn –, und in der Ferne grollte Donner. Die Lichtung erweiterte sich, wurde länger, der Boden verflachte.

Und wieder ertönte das Horn. Ich drehte mich im Sattel um.

Da kam es in Sicht, und ich erkannte, daß ich gar nicht das Ziel der Jagd war, daß die Reiter, die Hunde, der Vogel einzig und allein das Wesen verfolgten, das hinter mir lief. Natürlich war dies ein sehr theoretischer Unterschied, galoppierte ich doch vor der ganzen Korona dahin und wurde mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit von dem Geschöpf gejagt. Ich beugte mich über Drums Hals, schrie dem Pferd etwas zu und preßte die Knie zusammen, wobei ich durchaus wußte, daß das Scheusal schneller war als wir. Es war eine reine Panikreaktion.

Ich wurde von einem Manticora verfolgt!

Zum letztenmal hatte ich ein solches Tier am Tag vor der Schlacht gesehen, bei der Eric sein Leben verlor. Als ich meine Soldaten die hinteren Hänge des Kolvir hinaufführte, hatte so ein Wesen einen Mann namens Rail in Stücke gerissen. Wir hatten es mit automatischen Waffen erledigt. Das Geschöpf war zwölf Fuß lang gewesen und hatte wie dieses Monstrum ein Menschengesicht auf Kopf und Schultern eines Löwen getragen; zugleich besaß es ein Paar adlergleiche Schwingen und den langen spitzen Schwanz eines Skorpions, der sich hoch in den Himmel krümmte. Einige dieser Wesen waren irgendwie aus den Schatten zu uns vorgedrungen und hatten uns auf dem Weg in die Schlacht behindert. Es gab keinen Grund zu der Annahme, daß sie alle vernichtet worden waren, außer der Tatsache, daß seit damals kein Manticora gesehen worden und kein Hinweis auf ihren weiteren Aufenthalt in der Nähe Ambers ans Tageslicht gekommen war. Anscheinend hatte sich dieses Exemplar nach Arden gerettet und seither hier in den Wäldern gelebt.

Ein letzter Blick zeigte mir, daß ich jeden Augenblick aus dem Sattel gezerrt werden konnte, wenn ich nicht etwas unternahm. Gleichzeitig erblickte ich eine dunkle Lawine von Hunden, die sich den Hang hinab ergoß.

Intelligenz und Psychologie des Manticora waren mir nicht bekannt. Die meisten flüchtigen Geschöpfe nehmen sich nicht die Zeit, etwas anzugreifen, das sie nicht ihrerseits attackiert. Der Selbsterhaltungstrieb steht im allgemeinen an erster Stelle. Andererseits war ich nicht sicher, ob der Manticora überhaupt wußte, daß er verfolgt wurde. Vielleicht war er meiner Spur gefolgt und hatte dabei seine Verfolger aufmerksam gemacht. Vielleicht war das Wesen voll auf mich fixiert. Dies war kaum der richtige Augenblick, innezuhalten und alle Möglichkeiten zu überdenken.

Ich zog Grayswandir und lenkte das Pferd nach links, wobei ich die Zügel anzog.

Drum wieherte und stieg auf die Hinterhand. Ich glitt nach hinten und sprang zu Boden.

Doch ich hatte das Tempo der Sturmhunde vergessen; sie hatten vor langer Zeit Random und mich, als wir in Floras Mercedes fuhren, mühelos überholt; und ich hatte vergessen, daß sie im Gegensatz zu normalen Hunden, die hinter Wagen herjagen, damit begonnen hatten, das Fahrzeug auseinanderzureißen.

Plötzlich war der Manticora von Hunden bedeckt; ein Dutzend oder mehr sprang an ihm empor, biß sich an ihm fest. Das Ungeheuer warf den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus. Es peitschte mit dem gefährlichen Schwanz auf die Horde ein, wirbelte ein Tier durch die Luft, lähmte oder tötete zwei weitere. Dann erhob es sich auf die Hinterpfoten, machte kehrt und schlug mit den Vorderbeinen um sich.

Doch schon verbiß sich ein Hund in das rechte Vorderbein, zwei weitere machten sich an seinen Keulen zu schaffen, und einer hatte sich gar auf den Rücken vorgekämpft und schlug seine Zähne in Schultern und Hals. Die anderen umkreisten das gefährliche Wesen. Sobald es sich auf einen Angreifer stürzte, würden die anderen vorspringen und zubeißen.

Schließlich erwischte der Manticora den Hund auf seinem Rücken mit dem Skorpionstachel und schlitzte einen anderen auf, der sich an seinem Bein zu schaffen machte. Doch längst blutete der Manticora aus zwei Dutzend Wunden oder mehr, und es wurde deutlich, daß das Bein verletzt war – es konnte nicht mehr richtig ausschlagen und trug auch das Gewicht des Körpers nicht mehr. Schon hatte ein anderer Hund seinen Rücken erklommen und bohrte ihm die Zähne in den Hals. Diesen Angreifer schien der Manticora nicht mehr so leicht abschütteln zu können. Ein Hund sprang von rechts hoch und zerfetzte ihm das Ohr. Zwei weitere griffen von hinten an, und als er sich aufrichtete, stürmte einer vor und schnappte nach seinem Geschlecht. Das Bellen und Knurren schien den Manticora immer mehr zu verwirren; er begann blindlings nach den stets in Bewegung befindlichen grauen Gestalten zu schlagen.

Ich hatte Drums Zügel gepackt und versuchte ihn soweit zu beruhigen, daß ich wieder in den Sattel steigen und mich schleunigst absetzen konnte. Doch er wich immer wieder zurück und stieg auf die Hinterhand, und ich mußte mich anstrengen, ihn überhaupt festzuhalten.

Der Manticora stieß einen lauten Klageschrei aus. Er hatte nach dem Hund auf seinem Rücken geschlagen und sich dabei den Stachel in die eigene Schulter getrieben. Die Hunde nutzten die Ablenkung und griffen geifernd und zuschnappend an.

Ich bin sicher, daß die Hunde den Manticora erledigt hätten, doch in diesem Augenblick kamen die Reiter über den Hügel und galoppierten den Hang herab. Es waren fünf, angeführt von Julian. Er trug seine schuppige weiße Rüstung, und das Jagdhorn hing ihm um den Hals. Er ritt sein Riesenpferd Morgenstern, ein Ungeheuer, das mich seit jeher haßt. Er hob die lange Lanze, die er bei sich hatte, und grüßte damit in meine Richtung. Dann senkte er die Spitze und rief den Hunden einen Befehl zu. Widerstrebend ließen sie von ihrer Beute ab. Sogar der Hund auf dem Rücken des Manticoras ließ los und sprang zu Boden. Sie alle wichen zurück, als Julian Morgenstern die Sporen gab.

Das Ungeheuer wandte sich in seine Richtung, stieß einen letzten trotzigen Schrei aus und sprang mit hochgezogenen Lefzen los. Die beiden stießen zusammen, und einen Augenblick lang versperrte mir Morgensterns Schulter die Sicht. Doch schon ließ mich das Verhalten des Pferdes erkennen, daß der Stich gesessen hatte.

Eine Wende, und ich sah das Ungeheuer am Boden liegen; auf seiner Brust und am dunklen Stiel der Lanze war viel Blut zu sehen.

Julian stieg ab. Er sagte etwas zu den anderen Reitern; ich verstand die Worte nicht. Sie blieben in den Sätteln sitzen. Er betrachtete den noch zuckenden Manticora, blickte schließlich mich an und lächelte. Er näherte sich dem Ungeheuer, stellte ihm den Fuß in die Flanke, packte die Lanze mit einer Hand und riß sie aus dem Leib. Blut schoß aus der Wunde. Dann stieß er die Lanze in den Boden und band Morgenstern am Schaft fest. Er hob die Hand und tätschelte dem Pferd die Flanke, blickte wieder zu mir, machte kehrt und kam herüber.

Als er vor mir stand, sagte er: »Ich wünschte, du hättest Bela nicht umgebracht.«

»Bela?« fragte ich.

Er blickte zum Himmel. Ich folgte seinem Blick. Keiner der Vögel war zu sehen.

»Er war einer meiner Lieblinge.«

»Das tut mir leid«, sagte ich. »Ich wußte nicht, was hier los war.«

Er nickte.

»Na schön. Ich habe etwas für dich getan. Dafür kannst du mir erzählen, was passiert ist, seit ich den Palast verließ. Hat Brand es geschafft?«

»Ja«, erwiderte ich. »Doch in dieser Angelegenheit bist du aus dem Schneider. Er behauptet, der Messerstich wäre von Fiona gekommen. Und sie steht ebenfalls nicht für ein Verhör zur Verfügung. Wie du verschwand sie während der Nacht. Ein Wunder, daß ihr euch nicht über den Weg gelaufen seid.«

Er lächelte. »Etwas Ähnliches habe ich mir gedacht«, sagte er.

»Warum bist du unter so verdächtigen Umständen geflohen?« wollte ich wissen. »Das hat dich in einem wirklich schlechten Licht dastehen lassen.«

Er zuckte die Achseln.

»Wäre nicht das erstemal gewesen, daß man mich zu unrecht verdächtigt. Genau genommen bin ich so schuldig wie unsere kleine Schwester, wenn man die Absicht mitzählt. Ich hätt´s selbst getan, wenn ich rangekommen wäre. Ich hatte sogar das Messer parat an jenem Abend. Nur wurde ich zur Seite gedrängt, als er durchkam.«

»Aber warum?« fragte ich.

Er lachte.

»Warum? Ich habe Angst vor dem Schweinehund, das ist der Grund! Lange Zeit hatte ich angenommen, er wäre tot – jedenfalls hatte ich gehofft, daß er endlich von den finsteren Kräften verschlungen worden wäre, mit denen er sich einließ. Wieviel weißt du eigentlich über ihn, Corwin?«

»Wir haben uns lange unterhalten.«

»Und . . .?«

»Er gab zu, daß er und Bleys und Fiona Absichten auf den Thron hatten. Sie wollten Bleys krönen lassen, doch die eigentliche Macht sollte von den beiden ausgehen. Die drei spannten die Kräfte ein, die du eben erwähntest, um für Vaters Verschwinden zu sorgen. Brand sagte, er habe versucht, Caine für die Gruppe zu gewinnen, doch Caine habe sich für dich und Eric entschieden. Ihr drei hättet dann eine ähnliche Gruppe geformt mit dem Ziel, Eric auf den Thron zu bringen, ehe ihr soweit wart.«

Er nickte.

»Die Ereignisse stimmen, aber die Gründe nicht. Wir wollten den Thron gar nicht, zumindest nicht so plötzlich, jedenfalls damals nicht. Unsere Gruppe formierte sich als Gegenstück zur ihren; sie mußte sich konstituieren, um den Thron zu schützen. Zuerst konnten wir Eric nur dazu bringen, eine Art Protektorat zu übernehmen. Er hatte Angst, daß er nicht mehr lange zu leben hätte, wenn er in der damaligen Situation sich zum Herrscher krönen ließ. Plötzlich tauchtest du wieder auf, mit deinem durchaus rechtmäßigen Anspruch. Wir konnten es uns damals nicht leisten, dich im Nacken zu haben, denn Brands Truppe drohte gerade mit einem umfassenden Krieg. Wir waren der Meinung, daß die Gegenseite vielleicht weniger Lust zu diesem Schritt hätte, wenn der Thron bereits besetzt war. Dich hätten wir nicht krönen können, denn du hättest dich geweigert, die Marionette zu spielen, eine Rolle, die du hättest übernehmen müssen, da das Stück bereits im Gange war und du in zu vielen Punkten keine Ahnung hattest. Wir überredeten also Eric, das Risiko einzugehen und sich krönen zu lassen. Und so geschah es dann auch.«

»Und als ich auftauchte, ließ er mich blenden und warf mich rein zum Spaß ins Verlies?«

Julian wandte sich ab und blickte auf den toten Manticora.

»Du bist ein Dummkopf«, sagte er schließlich. »Du warst von Anfang an ein Werkzeug. Sie benutzten dich, um uns zum Handeln zu zwingen – und wie immer wir uns entschieden hätten, du standest in jedem Fall auf der Verliererseite. Wenn Bleys´ verrückter Angriff auf Amber Erfolg gehabt hätte, wärst du nicht lange am Leben geblieben. Und als der Angriff tatsächlich schiefging, verschwand Bleys und ließ dich allein zurück, als Verantwortlichen für den Umsturzversuch. Du hattest deinen Zweck erfüllt und mußtest sterben. In diesem Punkt ließ man uns keine große Wahl. Vom Gesetz her hätten wir dich töten müssen – und das weißt du auch.«

Ich biß mir auf die Unterlippe, hätte ich doch in diesem Augenblick so manches sagen können. Doch wenn seine Worte nur ungefähr der Wahrheit entsprachen, gab es eigentlich kein Gegenargument. Zunächst wollte ich mehr hören.

»Eric«, fuhr er fort, »rechnete sich aus, daß du nach einer gewissen Zeit dein Augenlicht wiedererlangen würdest, kannte er doch die regenerativen Kräfte unserer Familie. Er war in einer schwierigen Lage. Sollte Vater eines Tages zurückkehren, konnte Eric den Thron räumen und all seine Handlungen zur allgemeinen Zufriedenheit belegen – nur deinen Tod hätte er nicht rechtfertigen können. Das wäre ein zu klarer Schritt gewesen zur Absicherung seiner Position über die derzeitigen Unruhen hinaus. Und ich sage dir ganz offen, daß er dich eigentlich nur einschließen und vergessen wollte.«

»Von wem kam dann der Einfall mit der Blendung?«

Er schwieg lange. Dann sprach er leise weiter; seine Stimme war fast ein Flüstern. »Hör mich bitte bis zu Ende an. Ich hatte den Einfall, und vielleicht verdankst du dieser Idee dein Leben. Unser Vorgehen gegen dich mußte dem Tod gleichzusetzen sein, sonst hätte der Gegner bestimmt nachgehakt. Du konntest den dreien nicht mehr nützen, doch wärst du frei und am Leben gewesen, hätte die Möglichkeit bestanden, daß du später wieder zur Gefahr wurdest. Sie hätten deinen Trumpf verwenden können, um sich mit dir in Verbindung zu setzen und dich zu töten; sie hätten die Karte auch einsetzen können, um dich zu befreien und dich in einem neuen Schachzug gegen Eric zu opfern. Da du nun aber blind warst, bestand keine Veranlassung, dich zu töten. Die Blendung war also deine Rettung, weil du dadurch lange Zeit aus dem Verkehr gezogen wurdest; sie ersparte uns außerdem eine durchgreifendere Maßnahme, die man uns eines Tages vorwerfen konnte. So wie wir die Dinge sahen, hatten wir keine Wahl: Wir mußten es tun. Auch konnten wir dich nicht offiziell begnadigen, um uns nicht dem Verdacht auszusetzen, wir hätten etwas mit dir vor. Sobald es so ausgesehen hätte, wärst du ein toter Mann gewesen. Wir konnten höchstens beide Augen schließen, sobald Lord Rein deine Lage zu verbessern versuchte. Das war alles.«

»Ich sehe nun klarer«, sagte ich.

»Ja«, stimmte er mir zu, »du hast viel zu früh wieder sehen können. Niemand ahnte, daß deine Augen so schnell gesunden würden und du fliehen könntest. Wie hast du das nur gemacht?«

»Das werde ich dir nicht auf die Nase binden. Was weißt du über Brands Gefangenschaft?«

Er sah mich offen an.

»Mir ist nur bekannt, daß es in der Gruppe Streit gab. Die Einzelheiten kenne ich natürlich nicht. Aus irgendeinem Grunde hatten Bleys und Fiona Angst, ihn zu töten; andererseits wollten sie ihn nicht frei herumlaufen lassen. Als wir ihn aus dem Kompromiß – seiner Gefangenschaft – befreiten, hatte Fiona anscheinend mehr Angst davor, ihn in Freiheit zu wissen.«

»Und du hattest genug Angst vor ihm, um Anstalten zu machen, ihn umzubringen. Warum das, nach all der Zeit, wo doch die Ereignisse längst Geschichte sind und die Machtverhältnisse sich erneut verändert haben? Er war schwach und geradezu hilflos. Welchen Schaden kann er heute noch anrichten?«

Er seufzte.

»Ich verstehe die Kräfte nicht, die er besitzt«, sagte er, »aber sie sind beträchtlich. So weiß ich, daß er mit dem Verstand durch die Schatten wandern kann; daß er ein Objekt in den Schatten ausfindig machen und es dann durch reine Willenskraft zu sich holen kann, ohne sich aus seinem Stuhl zu erheben; außerdem vermag er sich auf ähnliche Weise physisch durch die Schatten zu bewegen. Er richtet seinen Geist auf den Ort, den er besuchen möchte, bildet eine Art gedankliche Tür und tritt einfach hindurch. Analog dazu nehme ich an, daß er manchmal deuten kann, was ein anderer denkt. Es ist fast, als wäre er selbst eine Art lebendiger Trumpf. Ich weiß von diesen Dingen, weil ich selbst beobachtet habe, wie er so etwas tut. Während wir ihn im Palast unter Beobachtung hielten, entwischte er uns auf diese Weise – etwa zu der Zeit, da er auf die Schatten-Erde reiste und dich in ein Institut einliefern ließ. Als wir ihn wieder eingefangen hatten, blieb einer von uns stets bei ihm. Damals wußten wir allerdings noch nicht, daß er Wesen durch die Schatten holen konnte. Als er erfuhr, daß du entkommen warst, beschwor er ein entsetzliches Ungeheuer herauf, das Caine angriff, der gerade sein Leibwächter war. Dann setzte er sich wieder auf deine Fährte. Offenbar haben ihn Bleys und Fiona kurz darauf in ihre Gewalt gebracht, ehe wir an ihn herankamen; ich bekam ihn erst wieder an jenem Abend in der Bibliothek zu Gesicht, als wir ihn zurückholten. Ich habe Angst vor ihm, da er über gefährliche Kräfte verfügt, die ich nicht begreife.«

»Wenn das so ist, würde ich gern wissen, wie ihn die beiden überhaupt festsetzen konnten.«

»Fiona besitzt ähnliche Fähigkeiten, was ich auch von Bleys annehme. Gemeinsam vermochten die beiden Brands Attacken offenbar abzublocken, während sie einen Ort schufen, an dem er machtlos war.«

»Aber nicht völlig«, wandte ich ein. »Er vermochte eine Nachricht an Random abzusetzen. Einmal hat er sogar mich erreicht, wenn auch nur schwach.«

»Also nicht völlig machtlos«, sagte er. »Aber ausreichend. Bis wir alle Barrieren niederrissen.«

»Was weißt du von den Aktionen der anderen Gruppe gegen mich – das Einsperren, der Mordversuch, dann meine Rettung?«

»Das verstehe ich nun wieder nicht«, sagte er. »Es muß mit einem Machtkampf innerhalb der Gruppe zusammenhängen. Offenbar hat man sich gestritten: Die eine oder andere Seite hielt dich wohl für ganz nützlich. Folglich versuchte die eine Gruppe dich zu beseitigen, während die andere sich für deine Rettung einsetzte. In letzter Konsequenz holte natürlich Bleys das meiste aus dir heraus – bei dem Angriff, den er gegen Amber einleitete.«

»Aber er war es doch, der mich auf der Schatten-Erde umzubringen versuchte«, sagte ich. »Er hat mir in die Reifen geschossen.«

»Ach?«

»Nun, jedenfalls hat Brand mir das erzählt, doch es paßt zu allen möglichen anderen Details.«

Er zuckte die Achseln.

»In diesem Punkt kann ich dir nicht weiterhelfen«, sagte er. »Ich weiß eben nicht im einzelnen, was sich damals in der Gruppe abspielte.«

»Dennoch umschwärmst du Fiona«, sagte ich. »Genau genommen bist du mehr als freundlich zu ihr, wenn sie in deiner Nähe ist.«

»Natürlich«, sagte er lächelnd. »Ich habe Fiona immer sehr gemocht. Sie ist jedenfalls die Hübscheste und Zivilisierteste von uns allen. Schade, daß Vater immer so sehr gegen Ehen zwischen Geschwistern war. Es machte mir ehrlich zu schaffen, daß wir so lange Gegner sein mußten. Nach Bleys´ Tod, nach deiner Gefangenschaft und Erics Krönung normalisierten sich die Dinge aber wieder einigermaßen. Sie nahm ihre Niederlage gelassen hin, und das war´s dann. Offensichtlich hatte sie vor Brands Rückkehr ebenso große Angst wie ich.«

»Brand hat das alles aber ganz anders dargestellt«, erwiderte ich, »was natürlich kein Wunder ist. Zum einen behauptet er, Bleys lebe noch, er hätte ihn mit seinem Trumpf aufgespürt und wisse, daß er sich in den Schatten aufhalte und eine neue Streitmacht für den nächsten Angriff auf Amber zusammenstelle.«

»Das mag durchaus richtig sein«, erwiderte Julian. »Aber wir sind doch mehr als ausreichend gerüstet, oder nicht?«

»Er behauptet weiterhin, dieser Angriff werde eine Finte sein«, fuhr ich fort. »Der wirkliche Angriff soll angeblich direkt aus den Höfen des Chaos erfolgen, über die schwarze Straße. Er sagt, Fiona sei gerade damit beschäftigt, diese Aktion vorzubereiten.«

Er runzelte die Stirn.

»Ich hoffe, daß das alles erlogen ist«, sagte er. »Es würde mir ganz und gar nicht gefallen, wenn sich die andere Gruppe neu formiert und uns wieder an den Kragen will, diesmal mit Hilfe aus dem finsteren Lager. Und es würde mich schmerzen, wenn Fiona darin verwickelt wäre.«

»Brand sagt, er selbst habe nichts mehr damit zu tun, er habe eingesehen, wie falsch er gehandelt hatte – und dergleichen reuige Töne mehr.«

»Ja! Ich würde eher dem Monstrum trauen, das ich da eben getötet habe, als mich auf Brands Wort zu verlassen. Ich hoffe, du warst so vernünftig, ihn gut bewacht zurückzulassen, obwohl das nicht viel nützen dürfte, wenn er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist.«

»Aber welches Spielchen mag er jetzt im Sinn haben?«

»Entweder hat er das alte Triumvirat wieder zusammengekittet, ein Gedanke, der mir gar nicht behagt, oder er hat einen neuen Plan. Irgend etwas führt er auf jeden Fall im Schilde, das ist klar. Mit einer reinen Zuschauerrolle war er nie zufrieden. Er muß immer irgendwelche Ziele verfolgen. Ich würde schwören, daß er sogar im Schlafe Verschwörungen anzettelt.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte ich. »Es hat da nämlich eine neue Entwicklung gegeben, ob zum Guten oder Schlechten, weiß ich noch nicht. Ich habe mich eben mit Gérard geschlagen. Er meint, ich hätte Brand etwas angetan. Das stimmt natürlich nicht, aber ich war nicht in der Lage, meine Unschuld zu beweisen. Ich war heute die letzte Person, die Brand gesehen hat. Gérard hat vor kurzem seine Räume aufgesucht. Er behauptet, man hätte dort eingebrochen, Blutspuren befänden sich im Raum, und Brand sei verschwunden. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Ich auch nicht. Aber ich hoffe, es bedeutet, daß irgend jemand diesmal richtig zugeschlagen hat.«

»Himmel!« sagte ich. »Wie verworren das alles ist! Ich wünschte, ich hätte früher davon gewußt.«

»Bis jetzt ergab sich einfach keine Gelegenheit, dir davon zu erzählen«, sagte er. »Unmöglich war es, als du noch Gefangenen warst und noch über Trumpf angesprochen werden konntest, und hinterher warst du lange Zeit fort. Als du mit deinen Truppen und den neuen Waffen zurückkehrtest, wußte ich zuerst nicht recht, was du eigentlich wolltest. Dann überstürzten sich die Ereignisse, und plötzlich war Brand wieder im Lande. Da war es zu spät. Ich mußte verschwinden, um meine Haut zu retten. Hier in Arden bin ich stark. Hier vermag ich alles abzuwehren, was er gegen mich aufbietet. Ich habe die Patrouillen in voller Kampfstärke reiten lassen und auf eine Nachricht über Brands Tod gewartet. Ich wollte einen von euch fragen, ob er noch in Amber sei. Aber ich konnte mich nicht entschließen, wen ich fragen sollte, wähnte ich mich doch unter Verdacht, sollte er tatsächlich gestorben sein . . . War er allerdings noch am Leben, so wollte ich, sobald ich davon hörte, selbst einen Anschlag auf ihn verüben. Nun diese Lage . . . Was hast du jetzt vor, Corwin?«

»Ich bin auf dem Wege, das Juwel des Geschicks von einem Ort in den Schatten zu holen, an dem ich es versteckt habe. Es gibt eine Möglichkeit, mit dem Juwel die schwarze Straße zu vernichten. Ich will den Versuch wagen.«

»Wie willst du das schaffen?«

»Das ist eine zu lange Geschichte – denn eben ist mir ein schrecklicher Gedanke gekommen.«

»Ja?«

»Brand hat es auf das Juwel abgesehen. Er hat sich danach erkundigt, und jetzt . . . Seine Fähigkeit, Objekte in den Schatten zu finden und zurückzuholen, wie weit ist die ausgeprägt?«

Julian sah mich nachdenklich an.

»Er ist jedenfalls nicht allmächtig, wenn du das meinst. Man kann in den Schatten alles finden, auf dem üblichen Wege – indem man sich dorthin begibt. Nach Fionas Worten verzichtet er lediglich auf die physische Komponente. Deshalb kann er im Grunde nur irgendein Objekt zu sich holen und keinen bestimmten Gegenstand. Außerdem ist das Juwel nach allem, was Eric mir darüber erzählt hat, ein sehr seltsames Gebilde. Ich glaube, Brand müßte sich persönlich darum kümmern, sobald er festgestellt hat, wo es sich befindet.«

»Dann muß ich meinen Höllenritt fortsetzen. Irgendwie muß ich ihm zuvorkommen.«

»Ich sehe, daß du Drum reitest«, stellte Julian fest. »Ein gutes Tier, ein leistungsfähiger Bursche. Hat so manchen Höllenritt mitgemacht.«

»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Was hast du jetzt vor?«

»Ich werde mich mit jemandem in Amber in Verbindung setzen und mich über die Dinge aufklären lassen, die wir hier nicht besprechen konnten – wahrscheinlich Benedict.«

»Sinnlos«, sagte ich. »Du wirst ihn nicht erreichen. Er ist zu den Höfen des Chaos aufgebrochen. Versuch es mit Gérard. Sag ihm, daß ich es ehrlich meine.«

»Die Rotschöpfe sind die einzigen Zauberer in unserer Familie – trotzdem will ich es versuchen . . . Hast du Höfe des Chaos gesagt?«

»Ja – aber ich habe jetzt keine Zeit mehr.«

»Natürlich. Zieh los. Wir haben später noch Zeit – hoffe ich wenigstens.«

Er hob die Hand und umfaßte meinen Arm. Ich blickte auf den Manticora, auf die Hunde, die ringsum Platz genommen hatten.

»Vielen Dank, Julian. Ich – du bist manchmal so schwer zu begreifen.«

»O nein. Ich glaube, der Corwin, den ich gehaßt habe, ist vor Jahrhunderten schon gestorben. Nun reite schon los. Wenn Brand sich hier sehen läßt, nagele ich sein Fell an einen Baum!«

Als ich aufstieg, rief er seinen Hunden einen Befehl zu, woraufhin sie sich über den toten Manticora hermachten und ihn knurrend zu zerfleischen begannen. Ich ritt an dem seltsamen breiten, menschenähnlichen Gesicht vorbei und sah, daß die Augen offenstanden, Augen, die inzwischen jedoch glasig geworden waren. Sie schimmerten blau, und der Tod hatte ihnen eine gewisse übernatürliche Unschuld nicht nehmen können. Entweder das oder der Blick war das letzte Geschenk des Todes; wenn es so war, eine sinnlose Ironie.

Ich lenkte Drum auf den Weg zurück und begann meinen Höllenritt.

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