6

Wo? Die Sinne sind unzuverlässige Helfer, und die meinen waren jetzt über ihr Leistungsvermögen hinaus beansprucht. Der Felsen, auf dem ich stand . . . Wenn ich den Versuch machte, den Blick darauf zu richten, sah er plötzlich aus wie ein Straßenpflaster an einem heißen Nachmittag. Das Gestein schien hin und her zu rücken und zu flimmern, obwohl ich meine Füße auf völlig ruhigem Boden wähnte. Außerdem wußte es nicht recht, in welchem Teil des Spektrums es zu Hause war. Es pulsierte und blitzte wie die Haut eines Leguans. Den Kopf hebend, erblickte ich einen Himmel, wie ihn meine Augen noch nie geschaut hatten. Im Augenblick war er in der Mitte geteilt – eine Hälfte im tiefsten Nachtschwarz liegend, worin die Sterne tanzten. Wenn ich von tanzen spreche, meine ich nicht, daß sie funkelten; sie sprangen herum und veränderten ihre Position und ihre Größe; sie zuckten hierhin und dorthin und umkreisten einander; sie flammten zur Helligkeit einer Nova auf und verblaßten ins Nichts. Es war ein erschreckendes Schauspiel, und mein Magen verkrampfte sich, während ich eine intensive Höhenangst erlebte. Als ich jedoch den Blick abwandte, verbesserte sich meine Lage nicht. Die andere Hälfte des Himmels erinnerte an eine Flasche mit farbigem Sand, der beständig geschüttelt wurde; orangerote, gelbe, rote, blaue, braune und purpurne Streifen drehten und dehnten sich; grüne, malvenfarbene, graue und grellweiße Punkte entstanden und verschwanden wieder, erlangten vorübergehend ebenfalls Streifenform, ersetzten oder verlängerten die anderen sich windenden Gebilde. Und auch diese Phänomene schimmerten und schwankten und erweckten unmögliche Empfindungen von Ferne und Nähe. Zuweilen schienen alle oder einige im wahrsten Sinne des Wortes himmelhoch über mir zu stehen, aber dann rückten sie heran und füllten die Luft vor mir, gazehafte, transparente Nebelwolken, durchschimmernde Schwaden oder feste Tentakel aus Farbe. Erst später ging mir auf, daß die Linie, die das Schwarz von der Farbe trennte, langsam von rechts herüberrückte, während sie auf meiner linken Seite nach hinten zurückwich. Es war, als rotierte das ganze Himmels-Mandala um einen Punkt, der sich direkt über mir befand. Was die Lichtquelle der helleren Hälfte anging, so war sie einfach nicht zu bestimmen. Ich rührte mich nicht vom Fleck und starrte nun auf eine Szene hinab, die mir zuerst wie ein Tal vorgekommen war, das mit unzähligen Explosionen von Farbe angefüllt zu sein schien; als jedoch die vorrückende Dunkelheit diese Erscheinung hinwegrückte, tanzten die Sterne nicht nur über mir, sondern auch in der Tiefe dieses Tals und erzeugten in mir den Eindruck eines bodenlosen Abgrunds. Es war, als stünde ich am Ende der Welt, am Ende des Universums, am Ende aller Dinge. Doch weit, weit von meinem Standort entfernt lauerte etwas auf einem Gebilde aus tiefstem Schwarz – selbst eine Schwärze, doch mit kaum wahrnehmbaren Lichtflecken eingefaßt und abgemildert. Ich vermochte seine Größe nicht abzuschätzen, denn Entfernung, Tiefe, Perspektive gab es hier nicht. Ein einzelnes Gebäude? Eine Gruppe? Eine Stadt? Oder nur ein Ort? Jedesmal wenn der Umriß neu von meiner Netzhaut wahrgenommen wurde, hatte er sich verändert. Nun trieben auch vage Nebelschwaden dazwischen und wanden sich wie in erhitzter Luft. Das Mandala stellte seine Drehung ein, sobald es sich umgekehrt hatte. Die Farben waren jetzt hinter mir, nur noch sichtbar, wenn ich den Kopf drehte, eine Bewegung, die ich nicht wünschte. Es war angenehm, einfach reglos hier zu stehen und zu der Formlosigkeit hinüberzustarren, aus der alle Dinge letztlich hervorgingen . . . Dieses Ding existierte sogar vor dem Muster. Das war mir im Kern meines Denkens bewußt, vage, aber mit Gewißheit. Ich wußte es, denn ich war überzeugt, daß ich schon einmal hier gewesen war. Als Kind des Mannes, der ich geworden war, so wollte mir scheinen, war ich eines fernen Tages schon einmal hierhergebracht worden – ich erinnerte mich nicht, ob von Vater oder Dworkin – und hatte an diesem Ort oder einem sehr ähnlichen Ort gestanden oder war hier festgehalten worden und hatte mir dieselbe Szene angeschaut, sicher mit einem ähnlichen Mangel an Verständnis und einem ähnlichen Gefühl der Angst. Meine Freude wurde durch nervöse Erregung beeinträchtigt, durch ein Gefühl des Verbotenen, einen Hauch dubioser Erwartung. Seltsamerweise stieg jetzt zugleich eine Sehnsucht nach dem Juwel in mir auf, das ich auf der Schatten-Erde hatte zurücklassen müssen, das Ding, dem Dworkin soviel Macht zugesprochen hatte. War es möglich, daß ein Teil von mir eine Gegenwehr oder zumindest ein Symbol des Widerstandes gegen den unbekannten Einfluß suchte, der sich dort draußen befand? Möglich immerhin.

Während ich immer noch fasziniert über den Abgrund starrte, hatte ich plötzlich das Gefühl, daß sich meine Augen an etwas anpaßten oder das Bild sich erneut unmerklich veränderte. Denn jetzt machte ich winzige gespenstische Umrisse aus, die sich drüben an jenem Ort bewegten, wie Meteore, die im Zeitlupentempo über die Gazestreifen vorrückten. Ich wartete; dabei betrachtete ich die Erscheinung genau, spielte mit einem ersten Begreifen der Dinge, die dort geschahen. Schließlich wehte einer der Streifen ganz in meine Nähe. Kurz darauf hatte ich die Antwort.

Bewegung entstand. Eine der dahinhuschenden Gestalten wurde größer, und ich erkannte, daß sie dem gewundenen Weg folgte, der in meine Richtung führte. Nach wenigen Augenblicken hatte sie die Form eines Reiters angenommen. In der Annäherung gewann sie den Anschein von Festigkeit, ohne jedoch das Gespenstische zu verlieren, welches an allem zu haften schien, das sich vor mir befand. Eine Sekunde später sah ich einen nackten Reiter auf einem haarlosen Pferd heranstürmen, beide leichenhaft blaß. Der Reiter schwenkte eine knochenweiße Klinge; seine Augen und die Augen des Pferdes funkelten blutrot. Ich vermochte nicht zu sagen, ob er mich wahrnahm, ob wir überhaupt auf derselben Ebene der Realität existierten, so unnatürlich war sein Aussehen. Dennoch zog ich Grayswandir und trat einen Schritt zurück.

Sein langes weißes Haar versprühte winzige Funken, und als er den Kopf drehte, erkannte ich, daß er es auf mich abgesehen hatte, denn schon spürte ich seinen Blick wie einen kalten Druck vorn auf der Brust. Ich drehte mich zur Seite und hob die Klinge en garde.

Er ritt weiter, und ich erkannte, daß er und das Pferd sehr groß waren, größer, als ich zuerst angenommen hatte. Sie kamen immer näher. Als sie die Stelle erreicht hatten, die mir am nächsten war – etwa zehn Meter –, zog der Reiter die Zügel an, und das Pferd stieg auf die Hinterhand. Beide musterten mich, wobei sie schwankten und sich auf und nieder bewegten, als befänden sie sich auf einem Floß in einer sanft bewegten See.

»Dein Name!« forderte der Reiter. »Nenn mir deinen Namen, du, der du an diesen Ort kommst!«

Seine Stimme rief in meinen Ohren ein knisterndes Gefühl hervor. Sie schwang auf einer einzigen Klangebene, laut und ohne Modulation.

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich nenne meinen Namen, wenn ich es will, nicht wenn es mir befohlen wird«, antwortete ich. »Wer bist du?«

Er stieß drei kurze bellende Laute aus, die ein Lachen sein mochten.

»Ich zerre dich hinab an einen Ort, da du ihn bis in alle Ewigkeit hinausbrüllst.«

Ich richtete Grayswandir auf seine Augen.

»Reden kostet nichts«, sagte ich. »Für Whisky braucht man Geld.«

In diesem Augenblick empfand ich eine seltsame Kühle, als hantierte jemand mit meinem Trumpf und dächte an mich. Aber es war eine vage und schwache Wahrnehmung, auf die ich nicht weiter achten konnte, denn der Reiter hatte seinem Pferd irgendein Zeichen gegeben; wieder stieg es empor. Ich kam zu dem Schluß, daß die Entfernung zu groß war. Aber dieser Gedanke gehörte in einen anderen Schatten. Das Untier stürzte sich auf mich – dabei verließ es die vage sichtbare Straße, an die es sich bisher gehalten hatte.

Der Sprung führte es an eine Stelle dicht vor mir. Dabei stürzte es nicht in den Abgrund und verschwand nicht, wie ich gehofft hatte. Vielmehr vollführte es die Bewegungen des Galopps, und obwohl sein Vorankommen in keinem Verhältnis zur sichtbaren Anstrengung stand, rückte es doch langsam über dem Abgrund näher.

Während dies geschah, entdeckte ich in der Ferne, aus welcher der Reiter gekommen war, eine zweite Gestalt, die anscheinend ebenfalls zu mir wollte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als standhaft zu bleiben, zu kämpfen und zu hoffen, daß ich den ersten Angreifer ausschalten konnte, ehe der zweite heran war.

Während des Sprungs glitt der rote Blick des Reiters über mich hin, blieb jedoch an Grayswandir haften. Was immer die verrückte Lichterscheinung hinter mir sein mochte, sie hatte dazu geführt, daß das komplizierte Muster auf der Klinge wieder zum Leben erwachte; der Teil des Musters, der darauf eingeritzt war, funkelte und schimmerte auf ganzer Länge. Der Reiter war inzwischen ganz nahe heran, zog aber nun die Zügel an, und seine Augen richteten sich ruckhaft auf mein Gesicht. Das gespenstische Grinsen verschwand.

»Ich kenne dich!« sagte er. »Du wirst Corwin genannt!«

Aber wir hatten ihn, ich und mein Verbündeter, das Bewegungsmoment.

Die Vorderhufe des Pferdes berührten die Felskante, und ich stürmte vor. Die Reflexe des riesigen Tiers führten dazu, daß es trotz der angezogenen Zügel für seine Hinterhufe einen ähnlichen sicheren Halt suchte. Als ich angriff, ließ der Reiter seine Klinge in eine Gardeposition schwingen, doch ich trat zur Seite und griff von seiner Linken an. Als er die Klinge vor seinem Körper herumführte, stach ich bereits zu. Grayswandir bohrte sich in seine bleiche Haut, drang unter dem Brustbein ein.

Ich zog die Klinge zurück, und Ströme von Feuer ergossen sich wie Blut aus der Wunde. Der Schwertarm des Mannes sank herab. Als der lodernde Strom den Hals des Pferdes berührte, stieß es ein Wiehern aus, das einem schrillen Schrei glich. Ich tänzelte zurück, als der Reiter nach vorn kippte und das Tier, das inzwischen alle vier Hufe auf sicherem Grund hatte, weiter auf mich zustürmte. Wieder hieb ich zu, defensiv, im Reflex. Meine Klinge berührte das linke Vorderbein, das ebenfalls zu brennen begann.

Wieder wich ich zur Seite aus, als sich das Tier umdrehte und zum zweitenmal auf mich zukam. Im gleichen Augenblick verwandelte sich der Reiter in eine Lichtsäule. Das Tier stieg hoch, fuhr herum und galoppierte davon. Ohne innezuhalten, stürzte es sich über die Felskante, verschwand im Abgrund und hinterließ mir die Erinnerung an den glühenden Kopf einer Katze, die mich vor langer Zeit einmal angesprochen hatte, und den unangenehmen Schauder, von dem dieser Rückblick stets begleitet war.

Keuchend lehnte ich an einem Felsen. Die nebelhafte Straße war inzwischen noch näher herangetrieben und bewegte sich etwa zehn Fuß von meinem Felsvorsprung entfernt. In meiner linken Seite spürte ich einen Krampf. Der zweite Reiter kam schnell näher. Er war nicht bleich wie der erste. Sein Haar war dunkel, sein Gesicht war von natürlicher Farbe. Sein Tier war ein Fuchs mit einer richtigen Mähne. Er schwang eine gespannte Armbrust. Ich blickte hinter mich, doch es gab dort keinen Schutz, keine Öffnung, in der ich mich verstecken konnte.

Ich wischte mir die Hände an der Hose ab und packte Grayswandir am Steg. Dann wandte ich mich zur Seite, um ein möglichst schmales Ziel zu bieten. Ich hob die Klinge zwischen uns, in Kopfhöhe, mit der Spitze zum Boden – der einzige Schild, den ich besaß.

Der Reiter kam auf gleiche Höhe mit mir und zügelte sein Pferd auf dem Gazestreifen. Langsam hob er die Armbrust, in dem Bewußtsein, daß ich meine Klinge wie einen Speer schleudern konnte, wenn er mich nicht mit dem ersten Schuß traf.

Er war bartlos und hager. Möglicherweise helläugig; doch er hatte die Augen zusammengekniffen, um besser zielen zu können. Er beherrschte sein Tier vorzüglich und lenkte es mit dem Druck seiner Schenkel. Seine Hände waren groß und ruhig. Fähig. Ein seltsames Gefühl überkam mich, während ich ihn betrachtete.

Die Zeit dehnte sich über den Augenblick des Angriffs hinaus. Er ließ sich zurückfallen und senkte die Waffe ein Stück, obwohl sein Körper noch immer angespannt war.

»Du!« rief er. »Ist das die Klinge Grayswandir?«

»Ja«, gab ich zurück.

Er setzte seine Musterung fort, und irgend etwas in mir suchte nach Worten der Erklärung, fand aber nichts und rannte hilflos durch die Nacht davon.

»Was willst du hier?« fragte er.

»Zurück nach Hause.«

Ein leises Zischen ertönte, als sein Bolzen ein gutes Stück links von mir auf die Felsen traf.

»Dann geh«, sagte er. »Dies ist ein gefährlicher Ort für dich.«

Er wendete sein Pferd in die Richtung, aus der er gekommen war. – Ich senkte Grayswandir.

»Ich werde dich nicht vergessen«, sagte ich.

»Nein, vergiß mich nicht«, erwiderte er, ohne sich umzuwenden.

Dann galoppierte er davon, und Sekunden später trieb der vage Nebelstreifen ebenfalls weiter.

Ich stieß Grayswandir in die Scheide und trat einen Schritt vor. Die Welt begann sich wieder um mich zu drehen; von links rückte das Licht vor, rechts wich die Dunkelheit zurück. Ich suchte nach einer Möglichkeit, den Felshang hinter mir zu erklimmen. Er schien nur dreißig oder vierzig Fuß hoch zu sein, und ich hoffte, daß ich von weiter oben einen besseren Ausblick hätte. Der Felsvorsprung, auf dem ich stand, erstreckte sich nach rechts und links. Doch als ich mich ernsthaft damit befaßte, stellte ich fest, daß der Weg nach rechts schmaler wurde, ohne mir eine Aufstiegsmöglichkeit zu bieten. Ich drehte um und wanderte nach links.

Dort, hinter einem Felsvorsprung, wo der Weg ebenfalls ziemlich schmal wurde, erreichte ich einen zerklüfteten Teil der Wand. Ich suchte das Gestein mit den Blicken ab: Ein Aufstieg schien möglich. Ich warf einen vorsichtigen Blick nach hinten, um weitere Gefahren auszuspähen. Die gespenstische Straße war noch weiter fortgetrieben; da sich keine weiteren Reiter näherten, begann ich zu klettern.

Der Aufstieg war nicht schwierig, obwohl der Hang höher war, als er von unten ausgesehen hatte. Wahrscheinlich ein Symptom der räumlichen Verzerrungen, die meine Augen hier verschiedentlich wahrgenommen hatten. Nach einer gewissen Zeit richtete ich mich an einer Stelle auf, die mir einen besseren Blick über den Abgrund ermöglichte.

Wieder einmal nahm ich die chaotischen Farben wahr, die rechts von der Dunkelheit bedrängt wurden. Das Land, über dem sie tanzten, war mit Felsen übersät und voller Krater, keine Spur von Leben erkennbar. Mitten hindurch führte jedoch schwarz und gewunden ein Streifen, der sich vom fernen Horizont bis zu einem Punkt irgendwo rechts von mir erstreckte: Dies konnte nur die schwarze Straße sein.

Nach weiteren zehn Minuten Kletterei hatte ich eine Stelle gefunden, von der aus ich den Endpunkt der Straße sehen konnte. Sie führte durch einen breiten Paß in den Bergen geradewegs zum Rand des Abgrunds. Dort verschmolz ihre Schwärze mit der, die diesen Ort füllte, jetzt nur noch an der Tatsache erkennbar, daß keine Sterne hindurchschimmerten. Ich orientierte mich an dieser Verdeckung und gewann den Eindruck, daß sie sich bis zu dem schwarzen Gebilde fortsetzte, um das die Nebelstreifen wallten.

Ich legte mich flach hin, um auf den Konturen des niedrigen Hügels keinen Anhaltspunkt zu bieten für unsichtbare Augen, die diesen Teil der Berge beobachten mochten. In dieser Position dachte ich darüber nach, wie der schwarze Weg geöffnet worden war. Der Schaden, den das Muster erlitten hatte, war für diesen Einfluß zur Pforte nach Amber geworden, wofür – das nahm ich an – mein Fluch das auslösende Element gewesen war. Zwar spürte ich inzwischen, daß die Katastrophe wohl auch ohne mich geschehen wäre, doch ich war überzeugt, meinen Beitrag dazu geleistet zu haben. Die Schuld lastete noch immer auf mir, wenn auch nicht mehr mit ganzer Schwere, wie ich zunächst angenommen hatte. In diesem Augenblick mußte ich an Eric denken, der sterbend auf dem Kolvirberg gelegen hatte. Obwohl er mich haßte, hatte er gesagt, er wolle seinen Sterbefluch den Gegnern Ambers entgegenschleudern. Mit anderen Worten: diesem Einfluß, diesen Gestalten. Ironisch. Mein Tun galt heute im wesentlichen dem Bemühen, den Todeswunsch des von mir am wenigsten geliebten Bruders zu erfüllen. Sein Fluch sollte meinen Fluch aufheben, durch mein Einwirken. Irgendwie war das sogar richtig so.

Ich hielt Ausschau nach Reihen schimmernder Reiter, die sich auf der Straße bewegten oder sammelten – doch zu meiner Freude war nichts festzustellen. Wenn eine neue Armee der Angreifer nicht bereits unterwegs war, schwebte Amber nicht in unmittelbarer Gefahr. Trotzdem machte mir eine Reihe von Dingen zu schaffen. In erster Linie fragte ich mich, warum nicht tatsächlich längst ein neuer Angriff stattgefunden hatte, wenn sich die Zeit an diesem Ort wirklich so seltsam verhielt, wie es Daras mögliche Herkunft andeutete. Jedenfalls reichte die inzwischen verstrichene Zeit mehr als aus, um sich zu erholen und eine neue Attacke vorzubereiten. War kürzlich, nach amberianischer Zeit, etwas geschehen, das die gegnerische Strategie verändert hatte? Wenn ja, was? Meine Waffen? Brands Rückkehr? Oder etwas anderes? Ich fragte mich außerdem, wie weit Benedict seine Posten vorgeschoben hatte. Jedenfalls nicht bis hierher, sonst wäre ich informiert worden. War er überhaupt jemals hier gewesen? Hatte irgend einer der anderen in der jüngeren Vergangenheit hier gestanden, über den Höfen des Chaos, etwas wissend, das mir nicht bekannt war? Ich beschloß, Brand und Benedict danach zu fragen, sobald ich zurück war.

Dies alles brachte mich auf die Überlegung, wie sich wohl die Zeit in bezug auf mich verhalten würde, in diesem Augenblick. Am besten blieb ich nicht länger als unbedingt nötig an diesem Ort. Ich blätterte die anderen Trümpfe durch, die ich aus Dworkins Schublade mitgenommen hatte. Sie waren zwar alle interessant, zeigten aber keine bekannten Szenen. Daraufhin nahm ich mein eigenes Spiel zur Hand und zog Randoms Trumpf. Vielleicht war er derjenige, der mich vorhin hatte sprechen wollen. Ich hob seine Karte und betrachtete sie.

Nach kurzer Zeit begann sie vor meinen Augen zu verschwimmen, und ich blickte auf ein undeutliches Kaleidoskop von Bildern mit einem vagen Eindruck von Random in der Mitte. Bewegung, sich verzerrende Perspektiven . . .

»Random«, sagte ich. »Hier Corwin.«

Ich spürte seinen Verstand, doch er antwortete nicht. Mir ging auf, daß er mitten in einem Höllenritt steckte und sich voll darauf konzentrierte, den Stoff der Schatten ringsum zu beherrschen. Er konnte nicht antworten, ohne die Kontrolle zu verlieren. Ich bedeckte den Trumpf mit der Hand und brach auf diese Weise den Kontakt.

Darauf zog ich Gérards Karte heraus. Sekunden später hatte ich Verbindung. Ich richtete mich auf.

»Wo bist du, Corwin?« fragte er.

»Am Ende der Welt«, sagte ich. »Ich möchte nach Hause.«

»Komm.«

Er streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie und trat hindurch.

Wir befanden uns im Erdgeschoß des Palastes von Amber, in dem Wohnzimmer, in das wir uns am Abend von Brands Rückkehr zurückgezogen hatten. Es schien früh am Morgen zu sein. Im Kamin brannte ein Feuer. Wir waren allein.

»Ich habe dich vorhin zu erreichen versucht«, sagte er. »Dasselbe vermute ich von Brand, aber ich weiß es nicht genau.«

»Wie lange bin ich überhaupt fort gewesen?«

»Acht Tage.«

»Da bin ich nur froh, daß ich mich beeilt habe. Was gibt´s«

»Nichts Besonderes«, erwiderte er. »Ich weiß nicht, was Brand will. Er fragte immer wieder nach dir, und ich konnte dich nicht erreichen. Daraufhin habe ich ihm einen Satz Karten gegeben und ihm anheimgestellt, es selbst zu versuchen. Offenbar ist es ihm nicht besser gegangen.«

»Ich war abgelenkt«, sagte ich. »Außerdem war der Unterschied im Zeitfluß enorm.«

Er nickte.

»Seitdem er außer Gefahr ist, gehe ich ihm aus dem Weg. Er steckt mal wieder in einer seiner finsteren Stimmungen und ist überzeugt, daß er sich allein versorgen kann. Damit hat er natürlich recht; mir ist es ja auch egal.«

»Wo ist er jetzt?«

»In seinen Räumen, dort war er wenigstens vor einer Stunde – in finstere Gedanken versunken.«

»Ist er überhaupt mal draußen gewesen?«

»Ein paar kurze Spaziergänge. Aber das war schon vor Tagen.«

»Dann sollte ich ihn jetzt aufsuchen. Ist irgend etwas über Random bekannt?«

»Ja«, gab er zurück. »Benedict kehrte vor einigen Tagen zurück. Er sagte, sie hätten etliche Spuren gefunden, die auf Randoms Sohn hindeuteten. Ein paar hat er mit überprüft. Eine Spur jedoch führte weiter, doch Benedict war der Meinung, er sollte sich bei der unsicheren Lage nicht allzu lange von Amber entfernen. So ließ er Random die Suche allein fortsetzen. Die Sache hat ihm allerdings etwas eingebracht. Als er zurückkam, hatte er einen künstlichen Arm an der Schulter, ein schönes Stück. Er kann damit praktisch alles machen – fast wie früher.«

»Wirklich?« fragte ich. »Hört sich seltsam bekannt an.«

Er lächelte und nickte.

»Er sagte mir, du hättest ihm das Ding aus Tir-na Nog´th mitgebracht. Er möchte so bald wie möglich mit dir darüber sprechen.«

»Kann ich mir denken. Wo ist er jetzt?«

»Bei einem der Vorposten, die er an der schwarzen Straße stehen hat. Du müßtest dich über Trumpf mit ihm in Verbindung setzen.«

»Vielen Dank. Irgendwelche Neuigkeiten über Julian oder Fiona?«

Er schüttelte den Kopf.

»Na schön«, sagte ich und wandte mich zur Tür. »Dann will ich mal Brand besuchen.«

»Würde mich interessieren zu erfahren, was er im Schilde führt«, bemerkte Gérard.

»Ich werde dran denken.«

Ich verließ den Raum und ging zur Treppe.

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