5

Ich hielt das Licht möglichst weit von meinem Gesicht ab und sprach sehr leise.

»Noch nicht ganz«, sagte ich. »Noch nicht ganz.«

Er seufzte.

»Du bist noch immer nicht überzeugt.«

Er legte den Kopf auf die Seite und blickte auf mich herab.

»Warum mußt du immer alles verderben?« wollte er wissen.

»Ich habe nichts verdorben.«

Er senkte die Lampe. Ich drehte wieder den Kopf, doch er konnte schließlich mein Gesicht deutlich erkennen. Er lachte.

»Lustig, lustig, lustig, lustig«, sagte er. »Du kommst als der junge Lord Corwin und glaubst mich mit Familiengefühlen rühren zu können. Warum hast du nicht Brand oder Bleys genommen? Clarissas Kinder haben uns am besten gedient.«

Ich zuckte die Achseln und stand auf.

»Ja und nein«, sagte ich, entschlossen, ihn solange mit doppeldeutigen Antworten zu versorgen, wie er sie glaubte und darauf reagierte. Vielleicht ergab sich dabei etwas Interessantes – außerdem schien es mir die einfachste Methode zu sein, ihn bei Laune zu halten. »Und du?« fuhr ich fort. »Welches Aussehen würdest du den Dingen geben?«

»Nun, um dich mir gewogen zu machen, werde ich mithalten«, sagte er und begann zu lachen.

Er warf den Kopf zurück, und während sein Gelächter erklang, überkam ihn die Veränderung. Sein Körper schien länger zu werden, sein Gesicht flatterte wie ein Segel, das zu dicht vor den Wind geholt wurde. Der Höcker auf seinem Rücken nahm ab, er richtete sich auf, gewann an Größe. Seine Züge formten sich um, der Bart wurde dunkler. Nun gab es keinen Zweifel mehr daran, daß er die Masse seines Körpers irgendwie neu verteilte, denn das Nachthemd, das eben noch seine Knöchel bedeckt hatte, reichte plötzlich nur noch bis zur Mitte der Schienbeine. Er atmete tief, und seine Schultern wölbten sich. Die Arme wurden länger, der massige Unterleib schmaler, enger. Er wuchs mir bis zur Schulter, dann weiter. Er sah mich offen an. Seine Kleidung reichte nur noch bis zu den Knien. Der Buckel war völlig verschwunden. Über das Gesicht lief ein letztes Zucken, seine Züge beruhigten sich, erhielten ein neues Aussehen. Sein Lachen wurde zu einem leisen Kichern und verhallte.

Ich betrachtete eine etwas schlankere Version meiner selbst.

»Na, reicht das?« fragte er.

»Gar nicht übel«, sagte ich. »Warte, bis ich ein paar Scheite ins Feuer geworfen habe.«

»Ich helfe dir.«

»Schon gut.«

Ich nahm Holz von einem Gestell zur Rechten. Jede weitere Verzögerung war mir nützlich, brachte mir Erkenntnisse für meine Rolle. Während ich an der Arbeit war, näherte er sich einem Stuhl und setzte sich. Ich bemerkte, daß er mich nicht ansah, sondern in die Schatten starrte. Ich zog das Feuermachen in die Länge, in der Hoffnung, er würde etwas sagen, irgend etwas. Schließlich tat er mir den Gefallen.

»Was ist nur aus dem großen Plan geworden?« wollte er wissen.

Ich wußte nicht, ob er das Muster oder einen alles umfassenden Plan meines Vaters meinte, an dem er beteiligt gewesen war. »Sag du´s mir«, forderte ich ihn auf.

Wieder lachte er.

»Warum nicht? Du hast es dir anders überlegt, das ist daraus geworden!«

»Und wie stellt er sich jetzt für dich dar?«

»Mach dich nicht über mich lustig! Selbst du hast nicht das Recht, dich über mich lustig zu machen. Ja, du am allerwenigsten.«

Ich stand auf.

»Ich habe mich nicht über dich lustig gemacht«, sagte ich.

Ich ging quer durch das Zimmer zu einem anderen Stuhl, brachte ihn in die Nähe des Feuers, stellte ihn gegenüber Dworkin hin. Dann nahm ich Platz.

»Wie hast du mich erkannt?« fragte ich.

»Mein Aufenthaltsort dürfte nicht überall bekannt sein.«

»Das stimmt.«

»Halten viele in Amber mich für tot?«

»Ja, und andere vermuten, daß du in den Schatten unterwegs bist.«

»Ich verstehe.«

»Wie – fühlst du dich so?«

»Du meinst, ob ich noch immer wahnsinnig bin?«

»So krass wollte ich es nicht ausdrücken.«

»Es verblaßt und verstärkt sich wieder«, sagte er. »Es überkommt mich und verfliegt wieder. Im Augenblick bin ich fast der alte – fast, sage ich. Vielleicht liegt es am Erschrecken über deinen Besuch . . . In meinem Gehirn ist irgend etwas zerbrochen. Das weißt du. Anders kann es nicht sein. Auch das ist dir bekannt.«

»Mag schon sein«, erwiderte ich. »Warum erzählst du mir nicht noch einmal alles im Zusammenhang? Vielleicht führt das bloße Reden dazu, daß du dich besser fühlst, und gib mir die Chance, etwas auszumachen, was ich bisher übersehen habe. Erzähl mir eine Geschichte.«

Wieder lachte er.

»Wie du willst. Irgendwelche Wünsche – was möchtest du hören? Meine Flucht aus dem Chaos auf diese kleine seltsame Insel im Meer der Nacht? Meine Meditationen über den Abgrund? Die Enthüllung des Musters in einem Juwel, das um den Hals eines Einhorns hing? Meine Übertragung dieses Musters durch Blitz, Blut und Lyra, während unsere Väter verwirrt tobten, zu spät, um mich zurückzurufen, während das Gedicht des Feuers jene erste Route in meinem Gehirn durchlief und mich mit seinem Formwillen ansteckte. Zu spät! Zu spät . . . Besessen von den Scheußlichkeiten, die sich aus der Krankheit ergaben, außerhalb ihrer Hilfsmöglichkeiten und ihrer Macht plante und baute ich, Gefangener meines neuen Ich. Ist das die Geschichte, die du noch einmal hören möchtest? Oder soll ich dir lieber von ihrer Ausheilung erzählen?«

Meine Gedanken wirbelten um all die Brocken, die er mir eben mit vollen Händen hingestreut hatte. Ich vermochte nicht zu erkennen, ob ich ihn wörtlich nehmen mußte oder ob er sich im übertragenen Sinne äußerte oder womöglich nur paranoide Wahnvorstellungen mitteilte; jedenfalls interessierte ich mich für Dinge, die der Gegenwart näher waren. Ich blickte also auf das umschattete Abbild meiner selbst, von dem die alte Stimme ausging, und sagte: »Berichte mir von deiner Heilung.«

Daraufhin legte er die Fingerspitzen zusammen und sprach darunter hindurch.

»In einem sehr realen Sinne bin ich das Muster«, sagte er. »Als es durch meinen Geist wanderte, um die Form anzunehmen, die es jetzt aufweist, das Fundament Ambers, zeichnete es mich so gewiß, wie ich Einfluß darauf hatte. Ich erkannte eines Tages, daß ich sowohl das Muster als auch ich selbst bin und daß das Muster im Zuge seiner Entstehung gezwungen war, zugleich Dworkin zu werden. Bei Geburt dieses Ortes und dieser Zeit gab es gegenseitige Anpassungen, und hierin lag unsere Schwäche wie auch unsere Stärke. Mir ging nämlich auf, daß ein Defekt am Muster automatisch auch mir schaden würde, während sich eine Beeinträchtigung meiner selbst umgekehrt dem Muster mitteilen würde. Dennoch konnte mir nichts Ernsthaftes zustoßen, denn das Muster schützt mich, und wer außer mir könnte dem Muster schaden? Ein wunderhübsches, in sich geschlossenes System, so sah es aus, die Schwächen von den Stärken völlig abgeschirmt.«

Er schwieg. Ich lauschte dem Knacken des Feuers. Was seine Ohren zu hören versuchten, weiß ich nicht.

»Ich irrte mich«, fuhr er fort. »Es war nur eine Kleinigkeit . . . Mein Blut, mit dem ich das Muster zeichnete, konnte es auch wieder auslöschen. Aber es dauerte Ewigkeiten, bis ich erkannte, daß das Blut meines Blutes dieselbe Eigenschaft hatte. Man konnte es benutzen, konnte es auch verändern – ja, bis in die dritte Generation.«

Es überraschte mich nicht, zu erfahren, daß er der Ur-Vater von uns allen war. Irgendwie hatte ich das Gefühl, von Anfang an darüber Bescheid gewußt zu haben, ohne es mir jemals deutlich zu machen. Und doch . . . womöglich ergaben sich aus dieser Entdeckung mehr Fragen, als beantwortet wurden. Nimm eine Generation deiner Vorfahren. Rücke auf das Feld der Verwirrung vor. Ich wußte nun weniger denn je, was Dworkin eigentlich war. Und zu allem anderen die Tatsache, die er selbst anerkannte: Es war die Geschichte eines Wahnsinnigen.

»Aber um es zu reparieren . . .?« begann ich.

Er lächelte; mein eigenes Gesicht verzog sich vor mir.

»Hast du die Lust daran verloren, ein Herr der lebendigen Leere zu sein, ein König des Chaos?« fragte er.

»Mag sein«, erwiderte ich.

»Beim Einhorn, deiner Mutter – wußte ich doch, daß es so weit kommen würde! Das Muster ist so stark in dir ausgeprägt wie das Reich. Was ersehnst du dir dann?«

»Ich möchte das Land erhalten.«

Er schüttelte den Kopf. »Es wäre einfacher, alles zu vernichten und einen Neuanfang zu versuchen – das habe ich dir schon so oft gepredigt.«

»Ich bin stur. Predige es mir noch einmal«, sagte ich und versuchte Vaters barschen Ton nachzuahmen.

Er zuckte die Achseln.

»Wird das Muster vernichtet, geht Amber unter – und alle Schatten, die sich in polarem Arrangement darum erstrecken. Gestatte mir, mich selbst in der Mitte des Musters zu vernichten; damit würden wir es auslöschen. Eröffne mir diesen Weg, indem du mir versprichst, daß du dann das Juwel nimmst, welches die Essenz der Ordnung in sich birgt, um ein neues Muster zu schaffen, hell und rein und unbefleckt, mit einer Kraft, die du aus dem Stoff deines eigenen Seins schöpfst, während die Legionen des Chaos dich von allen Seiten bestürmen. Versprich mir das und laß mich Schluß machen, denn so heruntergekommen wie ich bin, möchte ich lieber für die Ordnung sterben als dafür leben. Was sagst du jetzt?«

»Wäre es nicht besser, zu versuchen, das vorhandene Muster zu reparieren, anstatt die Arbeit von Äonen zunichtezumachen?«

»Feigling!« rief er und sprang auf. »Wußte ich doch, daß du wieder so reden würdest!«

»Nun, wäre es nicht so?«

Er begann hin und her zu wandern.

»Wie oft haben wir dieses Gespräch nun schon geführt?« fragte er. »Nichts hat sich verändert. Du hast Angst, es zu versuchen.«

»Kann sein«, sagte ich. »Aber spürst du nicht auch, daß etwas, für das man soviel gegeben hat, einige Mühe, einige zusätzliche Opfer wert ist, solange nur die Möglichkeit der Rettung besteht?«

»Du verstehst mich noch immer nicht«, behauptete er. »Ich kann nur immer daran denken, daß etwas Beschädigtes vernichtet – und voller Hoffnung erneuert werden sollte. Die Wunde in mir ist so beschaffen, daß ich mir eine Wiederherstellung einfach nicht vorstellen kann. Ich bin nun mal auf diese Art beschädigt worden. Meine Gefühle sind vorherbestimmt.«

»Wenn das Juwel ein neues Muster schaffen kann, warum gibt es sich dann nicht dazu her, das alte zu reparieren, unseren Ärger zu beenden, unsere Moral zu heben?«

Er kam näher und baute sich vor mir auf.

»Wo sind deine Erinnerungen?« fragte er. »Du weißt genau, daß es ungeheuer viel schwieriger sein würde, den Schaden auszumerzen, als ganz von vorn zu beginnen. Selbst das Juwel könnte das Muster eher vernichten als reparieren. Hast du vergessen, wie es da draußen aussieht?« Er deutete auf die Wand hinter sich. »Möchtest du´s dir noch einmal anschauen?«

»Ja«, sagte ich. »Ja, gern. Gehen wir.«

Ich stand auf und blickte auf ihn hinab. Als er sich aufzuregen begann, hatte er etwas die Kontrolle über sein Äußeres verloren. Schon hatte er drei oder vier Zoll an Größe verloren, sein/mein Gesicht zerschmolz zu den eigenen zwergenhaften Zügen, und der Buckel begann zwischen seinen Schulterblättern sichtbar zu werden, war bereits erkennbar gewesen, als er seine große Armbewegung machte.

Er riß die Augen auf, als er in mein Gesicht blickte.

»Du meinst es ja ernst!« sagte er nach kurzem Schweigen. »Na schön! Gehen wir.«

Er machte kehrt und näherte sich der großen Metalltür. Ich folgte ihm. Mit beiden Händen drehte er den Schlüssel. Dann warf er sich mit voller Kraft dagegen. Ich machte Anstalten, ihm zu helfen, doch er schob mich mit außerordentlicher Kraft zur Seite, ehe er der Tür den letzten Stoß gab. Ein knirschendes Geräusch ertönte, dann schwang die Tür nach außen und war schließlich völlig offen. Sofort fiel mir ein seltsamer, irgendwie vertrauter Geruch auf.

Dworkin trat über die Schwelle und hielt inne. Er nahm einen Gegenstand an sich, der zu seiner Rechten an der Wand lehnte – einen langen Stab. Mehrmals schlug er damit auf den Boden, woraufhin das obere Ende zu glühen begann. Das Licht erhellte die Umgebung und offenbarte uns einen schmalen Tunnel, in den er hineinging. Ich folgte ihm. Die Passage erweiterte sich nach kurzer Zeit, so daß ich schließlich neben ihm gehen konnte. Der Geruch wurde stärker, und ich wußte beinahe, worum es sich handelte. Erst vor kurzem hatte ich so etwas gerochen . . .

Nach knapp achtzig Schritten führte der Weg nach links und dann nach oben. Dabei kamen wir durch eine kleine Erweiterung der Höhle. Hier lagen Knochen herum, und ein paar Fuß über dem Boden war ein Metallring in das Gestein eingelassen. Eine schimmernde Kette nahm hier ihren Anfang; sie lag am Boden und zog sich vor uns her wie eine Reihe zerschmolzener Tropfen, die im Dämmerlicht abkühlten.

Nun wurde der Tunnel wieder enger, und Dworkin übernahm wie zuvor die Führung. Gleich darauf erreichte er überraschend eine Ecke, und ich hörte ihn etwas murmeln. Als ich an die Biegung kam, wäre ich ihm fast auf die Hacken getreten. Er hatte sich geduckt und tastete mit der linken Hand in einer dunklen Felsspalte herum. Als ich das leise Krächzen hörte und erkannte, daß die Kette in der Öffnung verschwand, wußte ich, worum es sich handelte und wo wir waren.

»Braver Bursche«, hörte ich ihn sagen. »Ich gehe ja nicht weit. Schon gut, mein Alter! Hier hast du etwas zu knabbern.«

Woher er das Ding hatte, das er dem Ungeheuer zuwarf, weiß ich nicht. Jedenfalls fing der purpurne Greif, den ich jetzt auf seiner Schlafstätte erblickte, den fliegenden Brocken mit einer ruckhaften Kopfbewegung auf und verzehrte ihn mit mahlenden Kiefern.

Dworkin grinste zu mir empor.

»Überrascht?« fragte er.

»Worüber?«

»Du dachtest, ich hätte Angst vor ihm. Du dachtest, ich würde mich nie mit ihm anfreunden. Du hast ihn hier draußen postiert, um mich einzusperren – damit ich nicht an das Muster herankomme.«

»Habe ich das jemals behauptet?«

»Das brauchtest du gar nicht. Ich bin kein Dummkopf.«

»Wie du willst.«

Er lachte leise, stand auf und setzte seinen Weg durch den Tunnel fort.

Ich folgte ihm; der Weg wurde nun wieder eben. Die Decke wich zurück, der Gang verbreiterte sich. Endlich erreichten wir die Höhlenöffnung. Dworkin stand einen Augenblick lang als Silhouette vor mir; er hatte den Stab angehoben. Draußen herrschte tiefe Nacht, eine saubere salzige Brise vertrieb den muffigen Höhlengeruch aus meiner Nase.

Nach kurzem Zögern ging er weiter; er trat in eine Welt aus Himmelskerzen und blauem Velours hinaus. Ich folgte ihm. Mir stockte der Atem bei der erstaunlichen Szene. Meine Reaktion galt nicht nur den Sternen, die in übernatürlichem Glanz schimmerten, und auch nicht der Tatsache, daß die Grenze zwischen Himmel und Meer wieder einmal völlig ausgelöscht war. Vielmehr glühte das Muster mit der azetylen-blauen Helligkeit eines Schweißbogens vor dem Himmel-Meer, und all die Sterne über, neben und unter uns waren mit geometrischer Präzision arrangiert und bildeten ein fantastisches undurchdringliches Gerüst, das vor allem den Eindruck erzeugte, als hingen wir in einem kosmischen Netz, dessen eigentliche Mitte das Muster war – der Rest des strahlenden Gewirrs, eine genaue Konsequenz seiner Existenz, Konfiguration und Position.

Dworkin wanderte zum Rand des Musters hinab, wo die abgedunkelte Stelle begann. Er schwenkte den Stab darüber und wandte sich zu mir um.

»Dort hast du es«, verkündete er, »das Loch in meinem Geist. Durch diese Lücke kann ich nicht mehr denken, ich muß mich irgendwie herumpirschen. Ich weiß nicht mehr, was zu geschehen hat, um etwas zu reparieren, das mir längst abgeht. Wenn du meinst, daß du es schaffst, mußt du auf die sofortige Vernichtung gefaßt sein, sobald du das Muster verläßt, um diese Bruchstelle zu beschreiten. Die Vernichtung würde nicht von der dunklen Stelle ausgehen, sondern vom Muster selbst, sobald du die Verbindung unterbrichst. Dabei mag dir das Juwel helfen – vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht. Jedenfalls wird der Gang durch das Muster nicht leichter, sondern mit jeder Wende schwieriger, und deine Kräfte werden ständig nachlassen. Als wir das letztemal darüber sprachen, hattest du Angst. Willst du etwa behaupten, du hättest seither einen Born der Kühnheit gefunden?«

»Mag sein«, sagte ich. »Eine andere Möglichkeit siehst du nicht?«

»Ich weiß, daß es zu schaffen ist, indem man ganz von vorn anfängt; so habe ich es nämlich gemacht. Abgesehen davon sehe ich keine Alternative. Je länger du wartest, desto schlimmer wird die Situation. Warum holst du nicht das Juwel und leihst mir deine Klinge, Sohn? Ich wüßte keinen anderen Weg.«

»Nein«, antwortete ich. »Ich muß mehr wissen. Erzähl mir noch einmal, wie der Schaden entstanden ist.«

»Bis heute weiß ich nicht, welches deiner Kinder unser Blut an dieser Stelle vergossen hat – wenn du das meinst. Jedenfalls ist es geschehen. Laß es dabei bewenden. In den Kindern ist die dunkle Seite unserer Natur längst ausgeprägt. Wahrscheinlich leben sie zu nahe an jedem Chaos, aus dem wir hervorgegangen sind; sie sind aufgewachsen ohne die Willenanstrengungen, die von uns gefordert wurden, damit wir es abstreifen konnten. Ich hatte angenommen, daß das Ritual des Muster-Durchschreitens für sie genügen müßte. Etwas Schwierigeres ist mir nicht eingefallen. Aber es hat nicht genügt. Und jetzt schlagen sie wild um sich. Sie sind bestrebt, das Muster selbst zu vernichten.«

»Wenn es uns gelingt, einen Neuanfang zu machen – könnten sich all diese Ereignisse nicht einfach wiederholen?«

»Keine Ahnung. Aber welche andere Möglichkeit gibt es als den Fehlschlag und die Rückkehr ins Chaos?«

»Was wird aus ihnen, wenn wir einen Neuanfang versuchen?«

Er schwieg eine lange Zeit. Dann zuckte er die Achseln.

»Ich vermag es nicht zu sagen.«

»Wie hätte eine andere Generation ausgesehen?«

Er lachte leise.

»Was soll man auf eine solche Frage antworten? Ich habe keine Ahnung.«

Ich nahm den beschädigten Trumpf heraus und reichte ihm die Karte. Er betrachtete sie im Licht seines Stabes.

»Ich glaube, es ist das Blut von Randoms Sohn Martin, das hier vergossen wurde«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Was meinst du, welche Rolle mag er gespielt haben?«

Er blickte auf das Muster hinaus.

»Dies ist also das Objekt, das dort draußen lag«, sagte er. »Wie hast du es geholt?«

»Es wurde geholt«, erwiderte ich. »Die Karte ist doch nicht etwa deine Arbeit, oder?«

»Natürlich nicht. Ich habe den Jungen noch nie gesehen. Aber dies beantwortet doch deine Frage, oder? Gibt es eine andere Generation, werden deine Kinder sie vernichten.«

»So wie wir sie vernichten wollen?«

Er starrte mir konzentriert in die Augen.

»Solltest du dich plötzlich zum fürsorglichen Vater wandeln?« fragte er.

»Wenn du den Trumpf nicht gezeichnet hast, wer dann?«

Er senkte den Blick und schnipste mit dem Fingernagel auf das Bild.

»Mein bester Schüler. Dein Sohn Brand. Das ist sein Stil. Begreifst du, was sie tun, sobald sie ein wenig Macht erringen? Würde einer von ihnen sein Leben riskieren, um das Reich zu erhalten, um das Muster wiederherzustellen?«

»Wahrscheinlich doch«, sagte ich. »Benedict, Gérard, Random, Corwin . . .«

»Benedict läuft mit dem Zeichen des Untergangs durch das Leben, Gérard hat den Willen, aber nicht den Verstand, Random fehlt es an Mut und Entschlossenheit. Corwin . . . steht er nicht in Ungnade und ist ohnehin verschwunden?«

Meine Gedanken kehrten zu unserem letzten Zusammentreffen zurück, in dessen Verlauf er mir geholfen hatte, aus meiner Zelle nach Cabra zu fliehen. Vielleicht hatte er sich deswegen inzwischen Gedanken gemacht, wußte er doch nicht, welche Umstände mich dorthin geführt hatten.

»Ist das der Grund, warum du seine Gestalt angenommen hast?« fuhr er fort. »Soll das eine Art Tadel sein? Stellst du mich wieder einmal auf die Probe?«

»Er steht weder in Ungnade, noch ist er verschwunden«, sagte ich, »obwohl er in und außerhalb der Familie Feinde hat. Er würde alles tun, um das Reich zu retten. Wie beurteilst du seine Chancen?«

»Ist er nicht lange Zeit fort gewesen?«

»Ja.«

»Dann hat er sich vielleicht verändert. Ich weiß es nicht.«

»Ich glaube, er ist anders geworden. Ich weiß genau, daß er gewillt ist, es zu versuchen.«

Wieder starrte er mich an, er wandte den Blick nicht mehr von meinem Gesicht.

»Du bist nicht Oberon«, stellte er schließlich fest.

»Nein.«

»Du bist der, den ich vor mir sehe.«

»Nicht mehr und nicht weniger.«

»Ich verstehe . . . Ich hatte keine Ahnung, daß du von diesem Ort wußtest.«

»Ich wußte auch nichts davon – bis neulich. Beim erstenmal wurde ich vom Einhorn hierhergeführt.«

Er riß die Augen auf.

»Das ist – sehr – interessant . . . sehr . . . interessant«, sagte er. »Es ist lange her . . .«

»Was ist mit meiner Frage?«

»Wie? Frage? Welche Frage?«

»Meine Chancen. Glaubt Ihr . . . glaubst du, ich könnte das Muster wieder instandsetzen?«

Er näherte sich langsam, hob den Arm und legte mir die rechte Hand auf die Schulter. Gleichzeitig wurde der Stab in seiner anderen Hand zur Seite geneigt, so daß das blaue Gesicht einen Fuß vor meinem Gesicht schimmerte; trotzdem spürte ich keine Hitze. Er starrte mir in die Augen.

»Du hast dich verändert«, sagte er schließlich.

»Ausreichend, um es zu tun?«

Er wandte den Blick ab.

»Vielleicht genug, um den Versuch zu rechtfertigen«, sagte er, »selbst wenn uns der Fehlschlag vorbestimmt ist.«

»Hilfst du mir?«

»Ich weiß nicht, ob ich das vermag«, antwortete er. »Das Problem mit meinen Stimmungen, meinen Gedanken – es kommt und geht. In diesem Augenblick spüre ich, daß mir die Beherrschung irgendwie entgleitet. Vielleicht die Aufregung . . . Wir wollen lieber wieder hineingehen.«

Ich hörte ein Klirren hinter mir. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich den Greif, dessen Kopf mit hervorzuckender Zunge langsam von links nach rechts schwang, während der Schwanz entgegengesetzt pendelte. Das Wesen begann uns zu umkreisen und blieb stehen, als es sich zwischen Dworkin und dem Muster befand.

»Er weiß Bescheid«, sagte Dworkin. »Er spürt es, wenn ich mich zu verändern beginne. Dann läßt er mich nicht mehr in die Nähe des Musters. Braver Kerl. Wir gehen wieder hinein. Es ist alles in Ordnung. Komm, Corwin.«

Wir näherten uns der Höhlenöffnung, und der Greif folgte uns – ein Klirren bei jedem Schritt.

»Das Juwel«, sagte ich, »das Juwel des Geschicks . . . du meinst, wir brauchen es für die Wiederherstellung des Musters?«

»Ja«, sagte er. »Es muß den ganzen Weg durch das Muster getragen werden und muß an den Stellen, wo sie unterbrochen sind, die ursprünglichen Linien nachzeichnen. Das läßt sich nur durch jemanden bewerkstelligen, der auf das Juwel eingestimmt ist.«

»Ich bin auf das Juwel eingestimmt«, sagte ich.

»Wie?« wollte er wissen und blieb stehen.

Hinter uns stieß der Greif ein Krächzen aus, und wir gingen weiter.

»Ich bin deinen schriftlichen Anweisungen gefolgt – und Erics mündlichen Hinweisen«, erwiderte ich. »Ich nahm das Juwel mit in die Mitte des Musters und projizierte mich hindurch.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Wie bist du an das Juwel gekommen?«

»Eric hat es mir auf seinem Sterbebett überlassen.«

Wir betraten die Höhle. »Du hast es noch?«

»Ich war gezwungen, es an einem Ort in den Schatten zu verstecken.«

»Ich würde vorschlagen, daß du es schleunigst holst und hierherbringst oder in den Palast schaffst. Es sollte in der Nähe des Zentrums aller Dinge aufbewahrt werden.«

»Warum das?«

»Es neigt dazu, einen verzerrenden Einfluß auf Schatten auszuüben, wenn es sich zu lange dort befindet.«

»Verzerrend? In welcher Hinsicht?«

»Das kann man vorher nie sagen. Hängt völlig von der Umgebung ab.«

Wir kamen um eine Ecke und setzten unseren Weg durch die Dunkelheit fort.

»Was hat das zu besagen«, fuhr ich fort, »wenn man das Juwel trägt und sich ringsum alles zu verlangsamen beginnt? Fiona sagte mir, dies sei gefährlich, aber sie wußte nicht genau, wieso.«

»Die Erscheinung bedeutet, daß du die Grenzen deiner Existenz erreicht hast, daß deine Energien in Kürze erschöpft sein werden, daß du stirbst, wenn du nicht schleunigst etwas unternimmst.«

»Und das wäre?«

»Gewinne Energie aus dem Muster selbst – aus dem Ur-Muster im Innern des Juwels.«

»Wie macht man das?«

»Du mußt dich ihm ergeben, dich entspannen, deine Identität auslöschen, die Fesseln lösen, die dich von allem anderen trennen.«

»Hört sich an, als wäre so etwas leichter gesagt als getan.«

»Aber man kann es schaffen – und es ist der einzige Ausweg.«

Ich schüttelte den Kopf. Wir gingen weiter und erreichten endlich die große Tür. Dworkin löschte den Stab und lehnte ihn an die Wand. Wir traten ein, und er verschloß den Durchgang hinter uns. Der Greif hatte sich unmittelbar davor aufgebaut.

»Du mußt jetzt gehen«, sagte Dworkin.

»Aber ich habe noch viele Fragen, ich möchte dir noch so viel erzählen!«

»Meine Gedanken verlieren ihre Bedeutung, deine Worte wären nur verschwendet. Morgen abend oder der Tag danach oder der nächste. Beeil dich jetzt! Geh!«

»Warum die plötzliche Hast?«

»Vielleicht tue ich dir etwas an, wenn mich der Wechsel überkommt. Ich stemme mich im Augenblick mit voller Willenskraft dagegen. Geh!«

»Ich weiß nicht, wie. Ich weiß, wie ich hierherkomme, aber . . .«

»Im Tisch nebenan liegen alle möglichen besonderen Trümpfe. Nimm das Licht mit! Versetz dich irgendwohin! Verschwinde rasch von hier!«

Ich wollte schon einwenden, daß ich mich nicht vor Gewalttätigkeiten seinerseits fürchtete, als seine Züge wie Wachs zu zerfließen begannen und er plötzlich viel größer und schmalgliedriger wirkte. Ich packte die Lampe und floh aus dem Zimmer, von einem Gefühl der Kälte verfolgt.

. . . Zum Tisch. Ich zerrte die Schublade auf und nahm einige Trümpfe heraus, die in wirrem Durcheinander darin lagen. Nun hörte ich Schritte. Etwas betrat das Zimmer hinter mir, aus dem Raum kommend, den ich eben verlassen hatte. Die Schritte hörten sich nicht an, als würden sie von einem Menschen verursacht. Ich sah mich nicht um. Statt dessen hob ich die Karten vor meine Augen und betrachtete das Bild des obersten Trumpfes. Es war eine unbekannte Szene, doch ich öffnete sofort meine Gedanken in diese Richtung und griff danach. Eine Bergspitze, etwas Unbestimmtes dahinter, ein seltsam gefleckter Himmel, ein offener Sternhaufen links . . . Die Karte fühlte sich in meiner Hand abwechselnd heiß und kalt an, und ein heftiger Wind schien mir aus dem Bild entgegenzuwehen, als ich mich darauf konzentrierte und den Ausblick irgendwie umarrangierte.

Dicht hinter mir ertönte plötzlich die unheimlich veränderte, doch immer noch erkennbare Stimme Dworkins. »Dummkopf! Du hast dir das Land deines Verderbens ausgesucht!«

Eine riesige klauenähnliche Hand – schwarz, ledrig, verknöchert – griff mir über die Schulter, als wollte sie mir die Karte entreißen. Aber die Vision schien komplett zu sein, und ich stürzte mich hinein, drehte die Karte von mir fort, als ich erkannte, daß die Flucht gelungen war. Dann blieb ich stocksteif stehen, damit sich meine Sinne an die neue Umgebung gewöhnen konnten.

Und dann wußte ich Bescheid. Bruchstücke von Legenden, Teile des Familienklatsches kamen mir in den Sinn, außerdem wies mir mein Gefühl den Weg: Ich wußte, welchen Ort ich hier aufgesucht hatte. Gewißheit über meinen Aufenthaltsort erfüllte mich, als ich den Blick hob und auf die Höfe des Chaos blickte.

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