8

Nachdem ich die Küche besucht und dort eine opulente Mahlzeit zusammengestellt und verzehrt hatte, ging ich in die Ställe, wo ich einen hübschen jungen Fuchs ausfindig machte, der früher einmal Eric gehört hatte. Das war aber kein Hindernis für unsere Freundschaft, und kurze Zeit später näherten wir uns dem Pfad am Kolvirhang, der uns zum Lager meiner Streitkräfte aus den Schatten führen mußte. Während ich dahinritt, versuchte ich mir über die Ereignisse und Enthüllungen jener Zeit klar zu werden, die für mich in wenigen Stunden verstrichen war. Wenn Amber in der Tat als Folge von Dworkins Rebellion in den Höfen des Chaos erstanden war, folgte daraus, daß wir alle mit den Kräften verwandt waren, die uns bedrohten. Natürlich wußte man nie genau, inwieweit Dworkins Äußerungen zuverlässig waren. Doch immerhin führte die schwarze Straße zu den Höfen des Chaos, offenbar als direktes Ergebnis von Brands Ritual, etwas, das er auf Prinzipien abgestellt hatte, die ihm von Dworkin beigebracht worden waren. Zum Glück hatten jene Teile von Dworkins Bericht, die am wenigsten glaubhaft waren, keine so große Bedeutung, soweit es die augenblickliche Lage anging. Dennoch erfüllte mich der Gedanke, von einem Einhorn abzustammen, mit gemischten Gefühlen . . .

»Corwin!«

Ich zügelte das Pferd. Ich öffnete den ankommenden Impulsen meinen Geist, und Ganelons Bild erschien.

»Hier bin ich«, sagte ich. »Wie bist du an einen Satz Karten gekommen? Und wo hast du gelernt, sie zu gebrauchen?«

»Ich habe mir vor einiger Zeit einen Packen aus der Vitrine in der Bibliothek genommen. Hielt es für ganz gut, mich im Notfall schnell bei dir melden zu können. Und was die Anwendung angeht – ich habe einfach getan, was du und die anderen machen – auf den Trumpf blicken, daran denken, sich auf den Gedanken konzentrieren, mit der Person in Verbindung zu treten.«

»Ich hätte dir längst ein Spiel geben sollen«, sagte ich. »Das war eine Gedankenlosigkeit von mir. Ich bin froh, daß du selbst dafür gesorgt hast. Probierst du die Karten nur aus, oder hat sich etwas ergeben?«

»Das letztere«, sagte er. »Wo bist du?«

»Zufällig bin ich auf dem Weg zu dir.«

»Alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Schön. Dann komm. Ich möchte dich lieber nicht durch dieses Ding zu mir holen, wie ihr es immer macht. So dringend ist die Sache nicht. Ich sehe dich dann.«

»Ja.«

Er unterbrach den Kontakt, und ich schüttelte die Zügel und setzte meinen Ritt fort. Eine Sekunde lang hatte es mich geärgert, daß er mich nicht einfach um einen Satz Karten gebeten hatte. Aber dann fiel mir ein, daß ich ja nach amberianischer Zeit eine gute Woche fort gewesen war. Wahrscheinlich hatte er sich Sorgen gemacht und den anderen nicht zugetraut, daß sie ihm die Karten überlassen würden. Damit hatte er vielleicht sogar recht.

Der Abstieg ging schnell vonstatten, und ich erreichte nach kurzer Zeit das Lager. Das Pferd – das übrigens Drum hieß – schien froh zu sein, endlich einmal wieder geritten zu werden, und hatte die Neigung, bei der erstbesten Gelegenheit das Tempo zu erhöhen. Zwischendurch gab ich ihm einmal die Zügel frei, um es ein wenig zu ermüden, und dann dauerte es nicht mehr lange, bis ich das Lager sichtete. Etwa um diese Zeit wurde mir klar, daß ich Star vermißte.

Im Lager wurde ich begrüßt und angestarrt. Eine seltsame Stille folgte mir; das Leben im Lager schien zu erstarren. Ich überlegte, ob man etwa annahm, daß ich den Kampfbefehl brachte.

Ganelon kam aus einem Zelt, ehe ich abgestiegen war.

»Schnell bist du«, stellte er fest und ergriff meine Hand. »Ein herrliches Pferd.«

»Ja«, sagte ich und gab seiner Ordonnanz die Zügel. »Was hast du für Neuigkeiten?«

»Nun . . .«, sagte er. »Ich habe mit Benedict gesprochen . . .«

»Rührt sich etwas auf der schwarzen Straße?«

»Nein, nein. Darum geht es nicht. Nachdem er seine Freunde – die Tecys – besucht hatte, suchte er mich auf, um mir mitzuteilen, daß es Random gutgehe und daß er einer Spur folge, die ihn vielleicht zu Martin führt. Dann kamen wir auf andere Themen zu sprechen, und er bat mich, ihm zu erzählen, was ich über Dara wisse. Random hatte ihm gesagt, sie habe das Muster beschritten, und er war zu dem Schluß gekommen, daß außer dir inzwischen zu viele Leute von ihrer Existenz wüßten.«

»Und was hast du ihm gesagt?«

»Alles.«

»Einschließlich der Spekulationen – nach Tir-na Nog´th?«

»Ja.«

»Ich verstehe. Und wie hat er darauf reagiert?«

»Es schien ihn aufzuregen und irgendwie sogar glücklich zu machen. Komm, du kannst selbst mit ihm sprechen.«

Ich nickte, und er wandte sich zum Zelt. Er schob die Plane zur Seite und ließ mir den Vortritt. Ich ging hinein.

Benedict saß auf einem niedrigen Stuhl neben einer Truhe, auf der eine Landkarte ausgebreitet war. Auf dieser Karte suchte er etwas mit dem langen Metallfinger der schimmernden Skeletthand, die an dem mit Silberkabeln versehenen mechanischen Arm hing, den ich ihm aus der Stadt am Himmel mitgebracht hatte; das Gerät war nun am Stumpf seines rechten Arms befestigt, ein kleines Stück unter dem abgeschnittenen Ärmel seines braunen Hemdes – eine Verwandlung, die mich mit Schaudern erfüllte, so sehr ähnelte er nun dem Gespenst, mit dem ich zu tun gehabt hatte. Sein Blick hob sich, fiel auf mich, und er hob grüßend die Hand, eine elegant ausgeführte, lässige Geste, und setzte das breiteste Lächeln auf, das ich je auf seinem Gesicht gesehen hatte.

»Corwin!« sagte er, stand auf und hielt mir die Hand hin.

Ich mußte mich dazu zwingen, das Gebilde zu ergreifen, das mich fast getötet hätte. Benedict selbst schien mir jedoch gewogener zu sein als je zuvor. Ich schüttelte die neue Hand, die mir in absolut natürlichem Druck begegnete. Ich versuchte die Kälte und Eckigkeit des Gebildes zu übersehen und hatte beinahe Erfolg damit, so sehr verblüffte mich die Perfektion der Kontrolle, die er in dieser kurzen Zeit erlangt hatte.

»Ich muß mich bei dir entschuldigen«, sagte er. »Ich habe mich in dir getäuscht. Es tut mir wirklich leid.«

»Schon gut«, sagte ich. »Ich verstehe dich schon.«

Er umarmte mich einen Augenblick lang, und auf meine Überzeugung, daß zwischen uns alles in Ordnung war, fiel lediglich der Schatten des Griffes jener kalten und tödlichen Finger an meiner Schultern.

Ganelon lachte und zog sich einen Stuhl herbei, den er auf der anderen Seite der Truhe aufstellte. Mein Zorn, daß er ein Thema angeschnitten hatte, das ich unter keinen Umständen hatte besprechen wollen, verrauchte beim Betrachten der Auswirkungen; ich konnte mich nicht erinnern, Benedict je bei besserer Laune gesehen zu haben. Ganelon freute sich offenbar, unsere Differenzen beigelegt zu haben.

Ich lächelte meinerseits und nahm Platz, wobei ich den Schwertgürtel öffnete und Grayswandir am Zeltmast aufhängte. Ganelon holte drei Gläser und eine Flasche Wein. Während er die Gläser vollschenkte, bemerkte er: »Um die Gastfreundschaft deines Zeltes zu erwidern, damals spätnachts in Avalon.«

Benedict nahm sein Glas zur Hand; es war kaum ein Klicken zu hören.

»Aber die Stimmung in diesem Zelt ist entspannter«, sagte er. »Nicht wahr, Corwin?«

Ich nickte und hob meinen Wein.

»Auf diese Entspannung. Möge sie ewig anhalten.«

»Zum erstenmal seit langer Zeit habe ich ausführlich mit Random sprechen können«, sagte Benedict. »Er hat sich ziemlich verändert.«

»Ja«, sagte ich.

»Ich bin jetzt eher geneigt, ihm zu trauen. Wir hatten Zeit für unser Gespräch, nachdem wir die Tecys verlassen hatten.«

»Wohin wart ihr unterwegs?«

»Martin hatte gegenüber seinen Gastgebern einige Bemerkungen fallen lassen, die darauf hindeuteten, daß er zu einem Ort tiefer in den Schatten unterwegs war, den ich kannte – die Blockstadt Heerat. Wir reisten dorthin und stießen in der Tat auf seine Spur.«

»Ich kenne Heerat nicht«, warf ich ein.

»Eine Stadt aus Adobe und Stein – ein Zentrum an der Kreuzung mehrerer Handelsstraßen. Random erhielt dort Nachrichten, die ihn nach Osten und vermutlich noch tiefer in die Schatten geführt haben. Wir trennten uns in Heerat, denn ich wollte nicht zu lange von Amber fort sein. Außerdem gab es da eine persönliche Angelegenheit, die ich weiterverfolgen mußte. Er hatte mir erzählt, er habe gesehen, wie Dara am Tag des großen Kampfes das Muster beschritt.«

»Das ist richtig«, sagte ich. »Sie hat es getan. Ich war auch dabei.«

Er nickte.

»Wie ich schon sagte, Random hatte mich beeindruckt. Ich war geneigt zu glauben, er habe die Wahrheit gesagt. Wenn das so war, bestand die Möglichkeit, daß du ebenfalls nicht gelogen hattest. Hiervon ausgehend, mußte ich den Behauptungen des Mädchens nachgehen. Da du nicht hier warst, habe ich Ganelon aufgesucht – vor mehreren Tagen schon – und mir von ihm alles erzählen lassen, was er über Dara weiß.«

Ich blickte Ganelon an, der leicht den Kopf neigte.

»Jetzt glaubst du also eine neue Verwandte entdeckt zu haben«, sagte ich. »Eine Lügnerin, gewiß, und möglicherweise ein Gegner – aber trotzdem eine Verwandte. Was hast du als nächstes vor?«

Er trank einen Schluck Wein.

»Ich würde ja gern glauben, daß sie mit mir verwandt ist«, sagte er. »Der Gedanke gefällt mir irgendwie. Mir geht es also darum, diesen Tatbestand zu bestätigen oder eben den Beweis für das Gegenteil zu finden. Wenn es sich erweist, daß wir wirklich verwandt sind, möchte ich gern die Motive ihres Tuns kennenlernen. Und ich möchte erfahren, warum sie sich mir nie direkt offenbart hat.« Er setzte das Glas ab, hob die künstliche Hand und bewegte die Finger. »Zunächst möchte ich aber von deinen Erlebnissen in Tirna Nog´th hören, soweit sie mich und Dara betreffen. Außerdem erfüllt mich brennende Neugier wegen dieser Hand, die mir das Gefühl verleiht, als sei sie für mich gemacht. Es ist meines Wissens zum erstenmal geschehen, daß jemand aus der Stadt am Himmel ein greifbares Objekt mitgebracht hat.« Er ballte die Faust, öffnete sie wieder, drehte das Handgelenk, streckte den Arm aus, hob ihn, legte ihn sanft auf das Knie. »Random hat mir das Ding gut anoperiert, meinst du nicht auch?« schloß er.

»O ja«, sagte ich.

»Erzählst du mir deine Geschichte?«

Ich nickte und trank aus meinem Weinglas.

»Es geschah im Palast des Himmels«, sagte ich. »Der Ort war voller tintenschwarzer, zuckender Schatten. Ich verspürte den Drang, den Thronsaal aufzusuchen. Das tat ich auch, und als die Schatten zur Seite wichen, sah ich dich rechts vom Thron stehen und diesen Arm tragen. Als sich das Bild weiter aufhellte, erblickte ich Dara auf dem Thron. Ich trat vor und berührte sie mit Grayswandir, was mich für sie sichtbar machte. Sie erklärte, ich sei doch schon seit Jahrhunderten tot, und forderte mich auf, in mein Grab zurückzukehren. Als ich nach ihrer Herkunft fragte, erwiderte sie, sie stamme von dir und dem Höllenmädchen Lintra ab.«

Benedict atmete tief, sagte aber nichts. Ich sprach weiter.

»Die Zeit, sagte sie, bewegte sich an ihrem Geburtsort dermaßen schnell, daß dort inzwischen mehrere Generationen vergangen wären. Sie sei die erste gewesen, die dort wie ein Mensch ausgesehen hätte. Wieder forderte sie mich auf, zu gehen. Während dieses Gesprächs hattest du dir Grayswandir angesehen. Du gingst auf mich los, um die Gefahr von ihr abzuwenden, und wir kämpften miteinander. Meine Klinge konnte dich berühren und deine Hand mich. Das war alles. Ansonsten handelte es sich um eine Auseinandersetzung zwischen Gespenstern. Als der Himmel zu verblassen und die Sonne aufzugehen begann, hattest du mich mit der Hand da gepackt. Ich schlug mit Grayswandir den Arm los und floh. Das Ding kehrte mit mir zurück, weil es sich noch in meine Schulter verkrampft hatte.«

»Seltsam«, sagte Benedict. »Bisher wußte ich nur, daß der Ort da oben falsche Prophezeiungen liefert – eher ein Bild der Ängste und verborgenen Sehnsüchte des Besuchers als eine klare Darstellung der Dinge, die da kommen werden. Doch zugleich macht Tir-na Nog´th oft unbekannte Wahrheiten sichtbar. Und wie bei den meisten Dingen ist es schwierig, das Wahre vom Überflüssigen zu trennen. Wie hast du die Ereignisse gedeutet?«

»Benedict«, sagte ich, »ich neige dazu, Dara die Geschichte ihrer Herkunft abzunehmen. Im Gegensatz zu mir hast du sie nie gesehen. Sie ähnelt dir irgendwie. Was das übrige angeht . . . so ist es zweifellos so, wie du sagst: Man muß es mit Vorsicht genießen.«

Er nickte langsam, und ich erkannte, daß er nicht überzeugt war, daß er mich aber nicht weiter bedrängen wollte. Er wußte so gut wie ich, was der Rest bedeutete. Wenn er seinen Anspruch auf den Thron weiter verfolgte und vielleicht sogar durchsetzte, mochte es sein, daß er eines Tages zu Gunsten seines einzigen Nachkommen abdankte.

»Was willst du tun?«

»Tun?« fragte er. »Was tut Random auf seiner Suche nach Martin? Ich werde sie suchen, sie finden, mir die Geschichte aus ihrem Munde anhören und dann eine eigene Entscheidung fällen. Aber das alles kommt erst, wenn die Sache mit der schwarzen Straße geklärt ist. Das ist ein anderes Thema, das ich mit dir besprechen möchte.«

»Ja?«

»Wenn die Zeit sich in der gegnerischen Festung so völlig anders verhält, hat man dort ausreichend Zeit gehabt, einen neuen Angriff vorzubereiten. Ich möchte nicht warten und mich dem Feind in Schlachten entgegenstellen, die letztlich zu nichts führen. Ich spiele mit dem Gedanken, der schwarzen Straße an ihren Ausgangspunkt zu folgen und unsere Gegner auf eigenem Gebiet anzugreifen. Das täte ich gern mit deinem Einverständnis.«

»Benedict«, sagte ich, »hast du die Höfe des Chaos gesehen?«

Er hob den Kopf und starrte an das Zeltdach.

»Vor langer, langer Zeit, als ich jung war«, sagte er, »unternahm ich einen Höllenritt so weit es ging, bis zum Ende des Seins. Dort, unter einem geteilten Himmel, starrte ich in einen furchterregenden Abgrund. Ich weiß nicht, ob der gesuchte Ort dort liegt oder die Straße überhaupt so weit geht, doch wenn das so ist, bin ich bereit, diesen Weg erneut zu beschreiten.«

»Es ist so«, sagte ich.

»Woher weißt du das?«

»Ich bin gerade zurückgekehrt aus diesem Land. Eine finstere Zitadelle schwebt darin. Die Straße führt dorthin.«

»Wie schwer ist dir die Annäherung gefallen?«

»Hier«, sagte ich, nahm den Trumpf zur Hand und reichte ihn ihm. »Der hat Dworkin gehört. Ich fand ihn unter seinen Sachen. Erst jetzt habe ich ihn ausprobiert. Er versetzte mich dorthin. An jenem Ort verläuft die Zeit bereits ziemlich schnell. Ich wurde von einem Reiter auf einer dahin treibenden Straße angegriffen, wie sie auf der Karte nicht zu sehen ist. Kontakte über den Trumpf sind dort draußen sehr schwierig, vielleicht wegen der Zeitunterschiede. Gérard hat mich zurückgeholt.«

Er betrachtete die Karte.

»Sieht aus wie der Ort, den ich damals besucht habe«, sagte er schließlich. »Mit dieser Karte sind unsere logistischen Probleme gelöst. Mit uns als Endpunkten einer Trumpfverbindung können wir die Truppen geradewegs hindurchtransportieren, wie wir es damals zwischen Kolvir und Garnath gemacht haben.« – Ich nickte.

»Das ist einer der Gründe, warum ich dir den Trumpf gezeigt habe; ich wollte dir meinen guten Willen beweisen. Vielleicht gibt es aber eine andere Methode, die weniger riskant ist, als unsere Truppen ins Unbekannte zu schicken. Ich möchte, daß du dein Unternehmen zurückstellst, bis ich diese Methode näher erkundet habe.«

»Ich muß mich ohnehin zurückhalten, um zunächst Informationen über jenen Ort zu erlangen. Wir wissen ja nicht einmal, ob deine automatischen Waffen dort funktionieren, oder?«

»Nein – ich hatte keine zum Ausprobieren dabei.«

Er schürzte die Lippen.

»Du hättest daran denken sollen.«

»Die Umstände meiner Abreise haben das unmöglich gemacht.«

»Umstände?«

»Ein andermal. Das ist im Augenblick nicht wichtig. Du hast gesagt, du wolltest der schwarzen Straße bis zu ihrem Ausgangspunkt folgen . . .«

»Ja?«

»Dort liegt aber nicht ihr wahrer Ausgangspunkt. Der eigentliche Ausgangspunkt, die Ursache, liegt im echten Amber, im Schaden am Ur-Muster.«

»Ja, das ist mir schon klar. Random und Ganelon haben mir eure Reise zum Ur-Muster beschrieben und den Schaden, den ihr dort entdeckt habt. Ich sehe die Analogie, die mögliche Verbindung . . .«

»Erinnerst du dich an meine Flucht aus Avalon und deine Verfolgung?«

Anstelle einer Antwort lächelte er.

»An einem Punkt haben wir die schwarze Straße überquert«, fuhr ich fort. »Erinnerst du dich?«

Er kniff die Augen zusammen.

»Ja«, sagte er. »Du schnittest einen Weg hindurch. An dieser Stelle war die Welt in ihren Normalzustand zurückgekehrt. Das hatte ich vergessen.«

»Bewirkt durch das Muster«, erklärte ich, »ein Einfluß, den man meiner Überzeugung nach in viel größerem Umfang ausüben kann.«

»Wieviel größer?«

»Na, um die ganze Erscheinung auszulöschen.«

Er lehnte sich zurück und erforschte mein Gesicht.

»Warum bist du dann nicht schon am Werk?«

»Ich muß zunächst ein paar Vorarbeiten erledigen.«

»Wieviel Zeit werden die kosten?«

»Nicht allzuviel. Wahrscheinlich nicht mehr als ein paar Tage. Vielleicht ein paar Wochen.«

»Warum hast du nicht eher davon gesprochen?«

»Ich habe erst vor kurzem davon erfahren, wie man so etwas anpackt.«

»Wie packst du so etwas an?«

»Letztlich läuft es auf eine Reparatur des Musters hinaus.«

»Also schön«, sagte er. »Nehmen wir einmal an, du hast Erfolg. Dann treibt sich der Feind doch noch immer da draußen herum.« Er deutete auf Garnath und die schwarze Straße. »Irgend jemand hat diese Wesen einmal durchgelassen.«

»Der Feind war immer da draußen«, sagte ich. »Und es liegt an uns, dafür zu sorgen, daß ihm keine Pforte mehr geöffnet wird – indem wir ein für allemal mit jenen abrechnen, die das Tor überhaupt aufgestoßen haben.«

»In diesem Punkt bin ich völlig deiner Meinung«, sagte er, »aber das meinte ich im Augenblick nicht. Auch die Mächte da draußen haben eine Lektion verdient, Corwin. Ich möchte ihnen Respekt vor Amber einbläuen, einen solchen Respekt, daß sie bis in alle Ewigkeit von Angst erfüllt sind, daß sie, wenn die Chance noch einmal kommen sollte, sich nicht mehr trauen, gegen uns vorzurücken. Das habe ich eben gemeint. Anders geht es nicht.«

»Du weißt nicht, wie schwer es ist, an jenem Ort zu kämpfen, Benedict. Es ist wahrhaft unbeschreiblich!«

Er lächelte und stand auf.

»Dann muß ich mir das wohl selbst mal ansehen«, sagte er. »Ich behalte die Karte zunächst, wenn du nichts dagegen hast.«

»Ich habe nichts dagegen.«

»Gut. Dann kümmere dich inzwischen weiter um das Muster, Corwin, während ich diese Sache erledige. Ein bißchen Zeit wird es kosten. Ich muß meine Kommandeure für die Zeit meiner Abwesenheit mit Befehlen versorgen. Wir wollen vereinbaren, daß keiner von uns entscheidende Schritte einleitet, ohne sich zunächst mit dem anderen abzustimmen.«

»Einverstanden«, sagte ich.

Wir leerten unsere Gläser.

»Ich werde auch bald wieder aufbrechen«, sagte ich. »Also viel Glück.«

»Dir auch.« Wieder lächelte er. »Die Dinge stehen besser«, sagte er und ergriff auf dem Weg zum Eingang meine Schulter.

Wir folgten ihm ins Freie.

»Bring Benedicts Pferd«, wandte sich Ganelon an die Ordonnanz, die in der Nähe unter einem Baum wartete; dann drehte er sich um und reichte Benedict die Hand. »Ich möchte dir ebenfalls Glück wünschen«, sagte er.

Benedict nickte und ergriff die Hand.

»Vielen Dank, Ganelon. Für vieles.«

Benedict zog seine Trümpfe.

»Bis mein Pferd eintrifft, kann ich noch schnell Gérard informieren«, sagte er.

Er blätterte die Trümpfe durch, zog einen heraus, betrachtete ihn.

»Wie willst du es anstellen, das Muster zu reparieren?« fragte mich Ganelon.

»Dazu muß ich das Juwel des Geschicks wieder an mich bringen«, sagte ich. »Mit diesem guten Stück kann ich den beschädigten Teil nachzeichnen.«

»Ist das gefährlich?«

»Ja.«

»Wo ist das Juwel?«

»Auf der Schatten-Erde. Dort habe ich es zurückgelassen.«

»Warum denn das?«

»Ich hatte Angst, daß es mich umbrächte.«

Daraufhin verzog sich sein Gesicht zu einer fast unmöglichen Grimasse.

»Das gefällt mir alles nicht, Corwin. Es muß eine andere Möglichkeit geben.«

»Wenn ich eine wüßte, würde ich sie wahrnehmen.«

»Einmal angenommen, du folgst Benedicts Plan und kämpfst gegen alle. Du hast selbst gesagt, ihm stünden in den Schatten unzählige Legionen zur Verfügung. Und du hast gesagt, er wäre der beste Kämpfer überhaupt.«

»Trotzdem bliebe aber der Schaden am Muster bestehen, und eines Tages würde etwas anderes kommen und ihn zu Hilfe nehmen. Der Feind des Augenblicks ist nicht so wichtig wie unsere innere Schwäche. Wenn die nicht behoben wird, sind wir bereits geschlagen, auch wenn kein fremder Eroberer in unseren Mauern weilt.«

Er wandte sich ab.

»Ich kann mich nicht mit dir streiten. Du kennst dein Land am besten«, sagte er. »Trotzdem meine ich, daß du vielleicht einen großen Fehler machst, wenn du dich – womöglich überflüssigerweise – in Gefahr begibst, wo du hier sehr gebraucht wirst.«

Ich lachte leise, war es doch Vialles Wort, das ich nicht hatte gelten lassen wollen, als sie es aussprach.

»Es ist meine Pflicht«, sagte ich.

Er antwortete nicht.

Benedict, der ein Dutzend Schritte entfernt stand, hatte Gérard offenbar erreicht, denn er murmelte etwas vor sich hin, hielt inne und lauschte. Wir standen in einiger Entfernung und warteten darauf, daß er sein Gespräch beendete und wir ihn verabschieden konnten.

». . . Ja, er ist hier«, hörte ich ihn sagen. »Nein, das möchte ich doch sehr bezweifeln. Aber . . .«

Benedict sah mich mehrmals an und schüttelte den Kopf.

»Nein, ich glaube es nicht«, sagte er. Dann: »Na schön, komm durch.«

Er streckte seine neue Hand aus, und Gérard trat ins Bild, sich an der Hand festhaltend. Gérard wandte den Kopf, erblickte mich und näherte sich sofort. Er musterte mich eingehend von Kopf bis Fuß, als suche er nach etwas.

»Was ist denn los?« fragte ich.

»Brand«, erwiderte er. »Er befindet sich nicht mehr in seinen Räumen. Jedenfalls zum größten Teil nicht mehr – er hat etwas Blut zurückgelassen. Das Mobiliar ist außerdem so sehr mitgenommen, daß ein Kampf stattgefunden haben muß.«

Ich blickte an meiner Hemdbrust und meinen Hosen hinab.

»Und jetzt suchst du nach Blutflecken? Wie du selbst siehst, sind das dieselben Sachen, die ich vorhin getragen habe. Schmutzig und zerknittert, gewiß – aber mehr nicht.«

»Damit ist noch nichts bewiesen«, sagte er.

»Es war dein Einfall, zu schauen, nicht meiner. Wie kommst du auf den Gedanken, ich . . .«

»Du warst der letzte, der mit ihm gesprochen hat«, stellte er fest.

»Mit Ausnahme der Person, mit der er gekämpft hat – wenn so etwas stattgefunden hat.«

»Was soll denn das heißen?«

»Du kennst doch seine Anfälle, seine Stimmungen. Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung, gewiß. Vielleicht hat er sich nach meinem Verschwinden daran gemacht, die Einrichtung zu zertrümmern, vielleicht hat er sich dabei geschnitten und ist angewidert durch seinen Trumpf verschwunden, um einmal etwas anderes zu sehen . . . Moment! Sein Teppich! War Blut auf dem hübschen kleinen Teppich vor seiner Tür?«

»Ich weiß nicht genau – nein, ich glaube nicht. Warum?«

»Ein Indizienbeweis, daß er die Szene selbst arrangiert hat. Der Teppich liegt ihm nämlich sehr am Herzen. Er hat es vermieden, ihn zu beflecken.«

»Das kaufe ich dir nicht ab«, sagte Gérard. »Außerdem kommt mir Caines Tod noch immer seltsam vor – dazu Benedicts Dienstboten, die vielleicht herausgefunden haben, daß du Schießpulver holen wolltest. Brand aber . . .«

»Das Ganze mag ein neuer Versuch sein, mich als Schuldigen zu brandmarken«, sagte ich. »Benedict und ich sind uns inzwischen einigermaßen nähergekommen.«

Er wandte sich zu Benedict um, der ein Dutzend Schritte entfernt stehengeblieben war und ausdruckslos lauschend zu uns herüberblickte.

»Hat er die Todesfälle erklären können?« fragte Gérard.

»Nicht direkt«, erwiderte Benedict, »aber der Rest seiner Geschichte sieht jetzt zum großen Teil besser aus. Und zwar so sehr, daß ich geneigt bin, ihm alles zu glauben.«

Gérard schüttelte den Kopf und starrte mich finster an.

»Da ist noch einiges ungeklärt«, sagte er. »Worüber hast du dich mit Brand gestritten?«

»Gérard«, sagte ich, »das ist unsere Sache, bis Brand und ich beschließen, es weiterzuerzählen.«

»Ich habe ihn ins Leben zurückgeholt und bewacht, Corwin. Das ist nicht geschehen, damit er später bei einem Streit getötet wird.«

»Gebrauche deinen Verstand«, forderte ich ihn auf. »Wer hat denn den Einfall gehabt, überhaupt auf diese Weise nach ihm zu suchen? Ihn zurückzuholen?«

»Du wolltest etwas von ihm«, sagte er. »Und jetzt hast du es bekommen. Danach stand er dir nur noch im Wege.«

»Nein. Aber selbst wenn es so wäre, glaubst du ernsthaft, ich würde meine Spuren so wenig verwischen? Wenn er umgebracht worden ist, liegt der Fall auf derselben Ebene wie Caines Tod – ein Versuch, mich zu belasten.«

»Das Argument mit der Offensichtlichkeit hast du schon bei Caine benutzt. Vielleicht ist das gerade dein besonderer Trick – etwas, auf das du dich verstehst.«

»Das haben wir doch alles schon durchgekaut, Gérard . . .«

». . . Und du weißt, was ich dir damals gesagt habe.«

»Es wäre schwierig, deine Worte zu vergessen.«

Er hob die Hand und packte meine rechte Schulter. Ich konterte, stieß ihm die linke Faust in den Magen und riß mich los. Dabei zuckte mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich ihm vielleicht hätte berichten sollen, worüber ich mit Brand gesprochen hatte. Aber ich mochte die Art und Weise nicht, wie er mich gefragt hatte.

Er griff erneut an. Ich trat zur Seite und erwischte ihn mit einer leichten Linken in der Nähe des rechten Auges. Mit kurzen Haken hielt ich ihn dann auf Abstand. Ich war eigentlich noch gar nicht wieder in Form, und Grayswandir hing hinter mir im Zelt. Eine andere Waffe hatte ich nicht bei mir.

Ich umkreiste ihn. Meine Flanke schmerzte, wenn ich mit dem linken Bein auftrat. Einmal erwischte ich ihn am Schenkel mit dem rechten Fuß, doch ich war zu langsam und stand nicht richtig und hatte nichts nachzusetzen. So verließ ich mich weiter auf die kurzen Haken.

Schließlich blockierte er meine Linke und vermochte die Hand auf meinen Bizeps zu legen. Daraufhin hätte ich mich sofort von ihm lösen müssen, doch er bot mir eine Chance. Ich ging mit einer kräftigen Rechten auf seinen Magen los und legte meine volle Kraft in den Schlag. Keuchend klappte er nach vorn, dabei festigte sich jedoch sein Griff um meinen Arm. Er wehrte meinen Uppercut mit der Linken ab, riß mich aber weiter nach vorn, bis sein Handrücken mir gegen die Brust knallte; gleichzeitig zerrte er meinen linken Arm mit solcher Kraft nach hinten und zur Seite, daß ich zu Boden gerissen wurde. Wenn er sich jetzt auf mich stürzte, war es aus mit mir.

Er ließ sich auf ein Knie nieder und griff nach meinem Hals.

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