12

Spätnachmittag auf einem Berg: Die im Westen stehende Sonne schien grell auf die Felsen zu meiner Linken, schnitt lange Schatten in die Felsbrocken rechts von mir; ihr Licht sickerte durch das Laub rings um mein Grabmal und wirkte in gewissem Maße gegen die kalten Winde des Kolvir. Ich ließ Randoms Hand los und wandte mich zu dem Mann um, der auf der Bank vor dem Mausoleum saß.

Es war das Gesicht des Jünglings auf dem durchstochenen Trumpf. Linien zogen sich um seinen Mund, die Stirn wirkte betonter, und in der Bewegung der Augen, in der ganzen Gesichtshaltung lag eine Wachsamkeit, die auf der Karte nicht erkennbar gewesen war.

Ich wußte Bescheid, noch ehe Random sagte: »Dies ist mein Sohn Martin.«

Martin stand auf, als ich näherkam, ergriff meine Hand und sagte: »Onkel Corwin.« Dabei veränderte sich sein Gesichtsausdruck kaum. Er musterte mich aufmerksam.

Er war mehrere Zoll größer als Random, hatte aber dieselbe schlanke Statur. Kinn und Wangenknochen waren gleich geschnitten, das Haar ähnlich beschaffen.

Ich lächelte.

»Du bist lange fort gewesen«, sagte ich. »Dasselbe gilt für mich.«

Er nickte.

»Aber ich bin nie im eigentlichen Amber gewesen«, sagte er. »Aufgewachsen bin ich in Rebma – und an anderen Orten.«

»Dann möchte ich dich willkommen heißen, Neffe. Du stößt in einem interessanten Augenblick zu uns. Random hat dir sicher davon erzählt.«

»Ja«, sagte er. »Deshalb habe ich darum gebeten, dich hier zu sprechen – und nicht etwa in der Stadt.«

Ich blickte zu Random.

»Der letzte Onkel, den er kennenlernte, war Brand«, erklärte dieser. »Die Begegnung verlief sehr unangenehm. Nimmst du ihm das übel?«

»Aber nein. Ich bin ihm vorhin selbst über den Weg gelaufen. Ich kann nicht gerade behaupten, daß es die angenehmste Begegnung gewesen ist.«

»Über den Weg gelaufen?« fragte Random. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

»Er hat Amber verlassen und verfügt über das Juwel des Geschicks . Hätte ich früher gewußt, was ich jetzt weiß, säße er nach wie vor in seinem Turm. Er ist der Gesuchte, und er ist sehr gefährlich.«

Random nickte.

»Ich weiß«, sagte er. »Martin hat alle unsere Vermutungen hinsichtlich des Überfalls bestätigt – es war Brand, der den Dolch führte. Aber was war das eben mit dem Juwel?«

»Er war als erster an dem Ort auf der Schatten-Erde, wo ich das Juwel zurückgelassen hatte. Nun muß er allerdings damit das Muster beschreiten und sich durch den Stein projizieren, um es auf sich einzustimmen und es einsetzen zu können. Er hat es auf dem Ur-Muster des echten Ambers versucht – ich konnte das verhindern. Dabei ist er mir allerdings entkommen. Ich komme gerade von Gérard; wir haben eine Abteilung Wächter dorthin geschickt, zu Fiona, damit er nicht zurückkehrt und es noch einmal versucht. Unser eigenes Muster und das in Rebma werden ebenfalls bewacht.«

»Warum ist er denn so scharf darauf, sich auf das Juwel einzustimmen? Damit er ein paar Unwetter heraufbeschwören kann? Himmel, dazu braucht er doch nur durch die Schatten zu wandern; dort kann er das Wetter bestimmen, wie es ihm gefällt.«

»Eine Person, die auf das Juwel eingestimmt ist, könnte es benutzen, um das Muster auszulöschen.«

»Oh? Und was passiert dann?«

»Die Welt, die wir kennen, geht unter.«

»Oh«, wiederholte Random und fuhr fort: »Woher weißt du das, zum Teufel?«

»Es ist eine lange Geschichte, und ich habe keine Zeit, sie dir zu erzählen. Jedenfalls stammt sie von Dworkin, und ich glaube das meiste, was er mir erzählt hat.«

»Den gibt es noch?«

»Ja«, sagte ich. »Aber davon später.«

»Na schön. Aber Brand muß verrückt sein, wenn er so etwas vorhat.«

Ich nickte.

»Ich glaube, er nimmt an, er könnte anschließend ein neues Muster schaffen und ein neues Universum, in dem er der führende Mann ist.«

»Wäre das denn möglich?«

»Theoretisch vielleicht. Aber selbst Dworkin hat gewisse Zweifel, daß sich diese Tat jemals wirksam wiederholen ließe. Die Kombination der Faktoren war irgendwie einzigartig . . . Ja, ich glaube wirklich, daß Brand geistesgestört ist. Wenn ich so in die Vergangenheit schaue, wenn ich an die Schwankungen in seiner Stimmung denke, an seine immer wiederkehrenden Depressionen, so scheint mir hier doch eine Art schizoides Verhalten vorzuliegen. Ich weiß nicht, ob ihn das Bündnis mit dem Feind jenseits der Grenze wirklich hat durchdrehen lassen oder nicht. Das ist im Grunde auch egal. Ich wünschte nur, er säße wieder in seinem Turm. Ich wünschte, Gérard wäre kein so guter Arzt.«

»Weißt du, wer mit dem Messer auf ihn losgegangen ist?«

»Fiona. Du kannst dir die Geschichte von ihr erzählen lassen.«

Er lehnte sich an meinen Grabspruch und schüttelte den Kopf. »Brand«, sagte er. »Verdammt! Jeder von uns hätte mehrfach nicht übel Lust gehabt, ihn umzubringen – in der alten Zeit. Doch sobald er uns genug gepiesackt hatte, änderte er sich. Nach einer Weile sagte man sich dann, daß er ja gar kein so übler Bursche war. Nur schade, daß er nicht einen von uns im falschen Augenblick ein wenig zu sehr gereizt hat . . .«

»Dann darf ich doch annehmen, daß jetzt keine Rücksicht mehr genommen wird«, sagte Martin.

Ich blickte ihn an. Die Muskeln um seinen Mund waren angespannt, seine Augen waren zusammengekniffen. Eine Sekunde lang huschten all unsere Gesichter über seine Züge, als würde ein Spiel unserer Familienkarten aufgeblättert. All unser Egoismus, Haß, Neid und Stolz schienen in jenem Augenblick vorüberzuströmen – dabei war er noch nicht einmal in Amber gewesen. Irgend etwas zerriß in mir, und ich packte ihn an den Schultern.

»Du hast guten Grund, ihn zu hassen«, sagte ich, »und die Antwort auf deine Frage lautet ›ja‹. Die Jagdsaison ist eröffnet. Die einzige Möglichkeit, mit ihm fertigzuwerden, scheint mir die totale Vernichtung zu sein. Ich habe ihn selbst gehaßt, solange er nur eine Abstraktion war. Doch jetzt ist das etwas anderes. Ja, wir müssen ihn töten. Aber dieser Haß soll nicht bestimmend sein für deine Aufnahme in unsere Gruppe. Es hat schon zuviel Haß zwischen uns gegeben. Ich sehe dein Gesicht – ich weiß nicht . . . Es tut mir leid, Martin. Im Augenblick passiert einfach zuviel. Du bist jung. Ich habe schon mehr gesehen. Einiges macht mir eben . . . anders zu schaffen. Das ist alles.«

Ich ließ ihn los und trat zurück.

»Erzähl mir von dir«, forderte ich ihn auf.

»Lange Zeit hatte ich Angst vor Amber«, begann er, »und ich würde sagen, daß das noch immer so ist. Seit Brands Angriff auf mich habe ich in der Furcht gelebt, daß er mich noch irgendwo erwischen würde. Seit Jahren fühle ich mich verfolgt, habe ich wohl Angst vor euch allen. Die meisten von euch kannte ich nur als Bilder auf Karten – Bilder mit einem schlechten Ruf. Ich sagte Random -Vater –, daß ich euch nicht alle auf einmal kennenlernen wollte, und er schlug vor, zuerst mit dir zu sprechen. Keiner von uns wußte zu der Zeit, daß du dich besonders für gewisse Dinge interessieren würdest, die ich weiß. Nachdem ich dann davon gesprochen hatte, sagte Vater, ich müßte dich so schnell wie möglich sprechen. Er hat mir die Dinge geschildert, die hier im Gange sind und – ja, ich weiß etwas darüber.«

»Das ahnte ich schon – als nämlich vor nicht allzu langer Zeit ein bestimmter Name erwähnt wurde.«

»Die Tecys?« warf Random ein.

»Richtig.«

»Es ist schwierig, einen Anfang zu finden . . .«, sagte Martin.

»Ich weiß, daß du in Rebma aufgewachsen bist, das Muster beschritten hast und deine Macht über die Schatten benutzt hast, um Benedict in Avalon zu besuchen«, sagte ich. »Benedict erzählte dir mehr über Amber und die Schatten, lehrte dich den Gebrauch der Trümpfe, bildete dich an den Waffen aus. Später bist du aufgebrochen, um allein durch die Schatten zu ziehen. Und ich weiß, was Brand dir angetan hat. Das wär´ auch schon alles.«

Er nickte und starrte nach Westen.

»Nachdem ich Benedict verlassen hatte, bin ich jahrelang durch die Schatten gereist«, sagte er. »Es waren die glücklichsten Jahre, an die ich mich erinnern kann. Abenteuer, Spannung, neue Erkenntnisse, neue Bekanntschaften. In einem Winkel meines Gehirns nistete immer der Gedanke, daß ich eines Tages, wenn ich schlauer und härter – und erfahrener – sein würde, nach Amber reisen und meine anderen Verwandten kennenlernen wollte. Dann erwischte mich Brand. Ich lagerte an einem kleinen Hang, ruhte mich aus von einem langen Ritt und aß etwas zu Mittag. Ich war unterwegs zu den Tecys, die meine Freunde sind. Brand setzte sich mit mir in Verbindung. Ich hatte Benedict über seinen Trumpf erreicht, als er mich mit den Karten bekanntmachte. Er hatte mich sogar manchmal hindurchgeholt, so daß ich wußte, worum es sich handelte. Dieser Kontakt nun fühlte sich genauso an, und im ersten Augenblick dachte ich, es müsse Benedict sein. Aber nein. Brand rief mich an – ich erkannte ihn von seiner Karte. Er stand in der Mitte eines Gebildes, bei dem es sich offenbar um das Muster handelte. Ich war neugierig. Ich wußte nicht, wie er mich erreicht hatte, denn meines Wissens gab es für mich keinen Trumpf. Er redete eine Minute lang – ich habe seine Worte vergessen –, und als alles fest und klar war, da . . . stach er nach mir. Ich stieß ihn fort und riß mich los. Doch irgendwie hielt er den Kontakt. Ich hatte große Mühe, die Verbindung zu unterbrechen, und als es mir gelungen war, versuchte er mich wiederzufinden. Doch ich vermochte ihn abzublocken; Benedict hatte mir das beigebracht. Er versuchte es noch mehrmals, doch ich sperrte mich. Schließlich gab er es auf. Ich befand mich in der Nähe der Tecys. Irgendwie kam ich auf mein Pferd und schaffte es zu ihnen. Ich glaubte schon, ich müsse sterben, war ich doch noch nie so schwer verletzt gewesen. Nach einer gewissen Zeit aber begann ich mich zu erholen. Dann wuchs die Angst, Angst, daß Brand mich finden und – vollenden würde, was er begonnen hatte.«

»Warum hast du dich nicht bei Benedict gemeldet«, fragte ich, »und ihm alles berichtet – die Ereignisse und deine Befürchtungen?«

»Ich habe mich mit dem Gedanken beschäftigt«, sagte er, »und auch mit der Möglichkeit, daß Brand annahm, er habe Erfolg gehabt, und ich sei wirklich tot. Ich wußte zwar nicht, was für ein Machtkampf in Amber im Gange war, doch ich kam zu dem Schluß, daß der Mordversuch irgendwie damit zu tun hatte. Benedict hatte mir soviel von der Familie erzählt, daß ich als erstes auf diese Möglichkeit stieß. Und da überlegte ich mir, daß es vielleicht besser wäre, tot zu bleiben. Ich verließ die Tecys, ehe ich ganz wiederhergestellt war, und verlor mich in den Schatten.

Dabei stieß ich auf eine seltsame Erscheinung«, fuhr er fort, »etwas, das völlig neu für mich war, das aber praktisch allgegenwärtig zu sein schien: In fast allen Schatten, durch die ich kam, befand sich eine seltsame schwarze Straße. Ich begriff dieses Phänomen nicht, da es sich aber um das einzige mir bekannte Ding handelte, das die Schatten selbst zu durchqueren schien, war meine Neugier geweckt. Ich beschloß ihr zu folgen und mehr darüber zu erfahren. Die Straße war gefährlich. Ich lernte bald, daß ich sie nicht betreten durfte. Seltsame Gestalten schienen sich des Nachts darauf zu bewegen. Normale Lebewesen, die sich darauf verirrten, wurden krank und verendeten. Ich war also vorsichtig und ging nicht näher heran, als erforderlich war, um sie im Auge zubehalten. So folgte ich ihr durch viele Welten. Dabei wurde mir bald bewußt, daß sie überall Tod, Elend oder Unruhe verbreitete. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte.

Ich war noch immer geschwächt von meiner Wunde«, setzte er seinen Bericht fort, »und beging den Fehler, mich zu übernehmen: Es kam der Tag, da ich zu weit und zu schnell ritt. An jenem Abend erkrankte ich und lag zitternd in meiner Decke – während der Nacht und fast den ganzen nächsten Tag. In dieser Zeit rutschte ich immer wieder ins Delirium und weiß daher nicht genau, wann sie auftauchte. Sie schien mir damals irgendwie zu meinem Traum zu gehören. Ein junges Mädchen. Hübsch. Sie kümmerte sich um mich, während ich langsam wieder zu Kräften kam. Sie hieß Dara. Wir unterhielten uns lange. Es war alles sehr angenehm. Jemanden zu haben, mit dem man so sprechen konnte . . . Ich muß ihr meine ganze Lebensgeschichte erzählt haben. Anschließend berichtete sie mir von sich. Sie stammte nicht aus der Gegend, in der ich krank geworden war. Sie sagte, sie sei durch die Schatten angereist. Sie vermochte sie noch nicht zu durchschreiten, wie wir es tun, wenn sie auch der Meinung war, sie könne es eines Tages lernen, denn sie behauptete, sie sei durch Benedict mit dem Haus von Amber verwandt. Sie war besonders interessiert, das Schattenwandern zu lernen. Damals reiste sie über die schwarze Straße durch die Schatten. Ihren üblen Einflüssen gegenüber sei sie immun, sagte sie, denn sie sei zugleich mit den Bewohnern am anderen Ende verwandt, mit den Wesen der Höfe des Chaos. Sie wollte jedoch unsere Methoden kennenlernen, und ich gab mir große Mühe, sie so weit zu unterrichten, wie ich selbst Bescheid wußte. Ich erzählte ihr vom Muster und zeichnete es ihr sogar auf. Ich zeigte ihr meine Trümpfe – Benedict hatte mir ein Spiel gegeben –, damit sie wußte, wie ihre anderen Verwandten aussahen. Dabei interessierte sie sich besonders für dein Bild.«

»Ich beginne langsam zu verstehen«, sagte ich. »Sprich weiter.«

»Sie erzählte mir, Amber habe durch das Ausmaß seiner Korruption und durch seine Anmaßung das metaphysische Gleichgewicht zwischen sich selbst und den Höfen des Chaos gestört. Ihre Leute hätten nun die Aufgabe, dies zu korrigieren, indem sie Amber vernichteten. Ihre Heimat ist kein Schatten Ambers, sondern eine eigenständige solide Welt. Unterdessen haben all die dazwischenliegenden Schatten infolge der schwarzen Straße einiges zu erleiden. Da meine Kenntnisse über Amber denkbar beschränkt waren, konnte ich ihr nur zuhören. Zuerst akzeptierte ich alles, was sie sagte. Brand jedenfalls schien mir ihrer Beschreibung böser Mächte in Amber durchaus zu entsprechen. Aber als ich ihn erwähnte, widersprach sie mir. In ihrer Heimat war er offenbar eine Art Held. Sie kannte die Einzelheiten nicht, machte sich aber auch keine großen Sorgen darum. Erst jetzt ging mir auf, wie selbstbewußt sie in jeder Hinsicht war – wenn sie sprach, hatte ihre Stimme einen geradezu fanatischen Klang. Fast gegen meinen Willen versuchte ich Amber zu verteidigen. Ich dachte an Llewella und Benedict – und an Gérard, den ich einige Male gesehen hatte. Dabei stellte ich fest, daß sie sich sehr für Benedict interessierte – er war gewissermaßen ihre schwache Stelle. Über ihn hatte ich nun einige Kenntnisse zu vermitteln, und in seinem Falle war sie bereit, die guten Dinge zu glauben, die ich äußerte. Ich weiß natürlich nicht, was all das Gerede letztlich bewirkt hat, außer daß sie zum Schluß nicht mehr ganz so selbstsicher zu sein schien . . .«

»Zum Schluß?« fragte ich. »Was soll das heißen? Wie lange war sie denn bei dir?«

»Fast eine Woche«, antwortete er. »Sie sagte, sie wolle sich um mich kümmern, bis ich wieder gesund sei – und das tat sie auch. Sie blieb sogar einige Tage länger. Sie sagte, sie wolle nur ganz sicher gehen, doch in Wirklichkeit wollte sie wohl unser Gespräch fortsetzen. Dann verkündete sie aber doch, sie müsse weiter. Ich bat sie, bei mir zu bleiben, doch sie lehnte ab. Ich bot ihr an, sie zu begleiten, aber auch das war ihr nicht recht. Dann muß sie erkannt haben, daß ich ihr folgen wollte, denn sie schlich sich während der Nacht davon. Ich konnte nicht auf der schwarzen Straße reiten und hatte keine Ahnung, welchen Schatten sie auf ihrem Wege nach Amber als nächsten aufsuchen würde. Als ich am nächsten Morgen erwachte und erkannte, daß sie fort war, spielte ich eine Zeitlang mit dem Gedanken, selbst nach Amber zu gehen. Aber ich hatte noch immer Angst. Möglicherweise hatten einige der Dinge, die sie mir erzählt hatte, meine Befürchtungen wieder aufleben lassen. Wie dem auch sein mag – jedenfalls beschloß ich, in den Schatten zu bleiben. Ich ritt weiter, sah mich um, versuchte zu lernen – bis Random mich fand und mir sagte, ich solle nach Hause kommen. Doch zuerst brachte er mich hierher, damit ich dich kennenlernte; er wollte, daß du vor allen anderen meine Geschichte hörtest. Ich hoffe, ich habe dir helfen können.«

»Ja«, sagte ich. »Vielen Dank.«

»Wie ich gehört habe, hat sie das Muster dann doch beschritten.«

»Ja, das hat sie geschafft.«

»Und hinterher hat sie sich als Feindin Ambers zu erkennen gegeben.«

»Auch das.«

»Ich hoffe«, sagte er, »daß sie das alles ohne Schaden übersteht. Sie war nett zu mir.«

»Sie scheint durchaus in der Lage zu sein, auf sich aufzupassen«, sagte ich. »Aber . . . ja, sie ist ein liebenswertes Mädchen. Ich kann dir keine Versprechungen hinsichtlich ihrer Sicherheit machen, da ich im Grunde noch zu wenig über sie weiß, auch über ihre Rolle bei den Ereignissen. Dein Bericht hat mir jedenfalls geholfen . . . Er läßt sie als ein Mensch erscheinen, dem ich noch immer so weit wie möglich entgegenkommen würde.«

Er lächelte.

»Das freut mich zu hören.«

Ich zuckte die Achseln.

»Was hast du jetzt vor?« fragte ich.

»Ich bringe ihn zu Vialle«, sagte Random. »Später will ich ihn den anderen vorstellen, je nach Zeit und Gelegenheit. Es sei denn, es hat sich etwas ergeben und du brauchst mich sofort.«

»Es hat sich in der Tat etwas ergeben«, sagte ich, »aber ich brauche dich trotzdem nicht. Allerdings sollte ich dich informieren. Ich habe noch ein bißchen Zeit.«

Während ich Random die Ereignisse seit seiner Abreise schilderte, dachte ich über Martin nach. Soweit es mich betraf, war er noch immer eine unbekannte Größe. Seine Geschichte mochte stimmen – ich hatte sogar das Gefühl, daß sie der Wahrheit entsprach. Andererseits ahnte ich, daß sie nicht vollständig war, daß er absichtlich etwas ausgelassen hatte. Vielleicht etwas Harmloses. Vielleicht aber auch nicht. Eigentlich hatte er keinen Grund, uns zu lieben. Ganz im Gegenteil. Mit ihm mochte Random ein Trojanisches Pferd nach Amber bringen. Wahrscheinlich sah ich nur Gespenster. Es ist nur leider so, daß ich niemandem traue, solange es noch eine Alternative gibt.

Jedenfalls konnte nichts von den Dingen, die ich Random erzählte, gegen uns verwendet werden, und ich bezweifelte doch sehr, daß Martin uns großen Schaden zufügen konnte, wenn er es darauf anlegte. Nein, wahrscheinlich war er nur ebenso vorsichtig wie wir alle, und aus etwa denselben Gründen: Angst und .Selbsterhaltungstrieb bestimmten sein Handeln. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte ich ihn: »Bist du hinterher noch einmal mit Dara zusammengekommen?«

Er errötete. »Nein«, sagte er etwas zu hastig. »Nur das einemal.«

»Ich verstehe«, erwiderte ich. Random war ein zu guter Pokerspieler, um dieses Signal zu übersehen; so hatte ich uns eine schnelle Bestätigung verschafft um den geringen Preis, daß ein Vater gegenüber seinem lang verlorenen Sohn mißtrauisch wurde.

Ich brachte die Sprache wieder auf Brand. Als wir gerade dabei waren, unsere psychopathologischen Beobachtungen zu vergleichen, spürte ich plötzlich das leise Kribbeln und das Gefühl der Anwesenheit, die einen Trumpfkontakt ankündigten. Ich hob die Hand und wandte mich zur Seite.

Gleich darauf bestand der Kontakt, und Ganelon und ich sahen uns an.

»Corwin«, sagte er. »Ich hielt die Zeit für gekommen, mich nach dir zu erkundigen. Hast du das Juwel, oder hat Brand das Juwel, oder sucht ihr beide danach? Wie lautet die Antwort?«

»Brand hat das Juwel«, sagte ich.

»Um so schlimmer«, sagte er. »Erzähl mir davon.«

Das tat ich.

»Dann hat Gérard also alles richtig mitbekommen«, sagte er.

»Er hat dir das alles schon mitgeteilt?«

»Nicht so detailliert«, erwiderte Ganelon, »außerdem wollte ich mich vergewissern, daß ich alles richtig verstanden hatte. Ich habe bis eben mit ihm gesprochen.« Er blickte nach oben. »Ich würde sagen, daß ihr euch langsam in Bewegung setzen solltet, wenn mich meine Erinnerungen an den Zeitpunkt des Mondaufgangs nicht täuschen.«

Ich nickte. »Ja, ich breche bald zur Treppe auf. Sie ist nicht allzuweit entfernt.«

»Gut. Du mußt dich auf folgendes vorbereiten . . .«

»Ich weiß, was ich tun muß«, sagte ich. »Ich muß vor Brand nach Tir-na Nog´th hinaufsteigen und ihm den Weg zum Muster verstellen. Wenn mir das nicht gelingt, muß ich ihn noch einmal durch das Muster verfolgen.«

»Das ist nicht die richtige Methode«, sagte er.

»Hast du einen besseren Plan?«

»Ja. Du hast deine Trümpfe bei dir?«

»Ja.«

»Erstens bist du auf keinen Fall in der Lage, schnell genug dort hinaufzusteigen, um ihm den Weg zum Muster zu verstellen . . .«

»Warum nicht?«

»Du mußt den Aufstieg machen, dann zum Palast marschieren und dort zum Muster vordringen. Das kostet Zeit, sogar in Tir-na Nog´th – und besonders in Tir-na Nog´th, wo die Zeit ohnehin ihre Tücken hat. Vielleicht steckt in dir ja ein unbewußter Zerstörungsdrang, der dich langsamer gehen läßt. Wie auch immer, wenn du eintriffst, ist er bestimmt schon auf dem Muster. Durchaus möglich, daß er diesmal schon zu weit vorgestoßen wäre und du ihn nicht mehr einholen könntest.«

»Er wird müde sein. Das macht ihn bestimmt langsamer.«

»Nein. Versetz dich mal an seine Stelle. Wenn du Brand wärst, würdest du dich nicht in einen Schatten zurückziehen, in dem die Zeit anders läuft? Anstelle eines Nachmittags kann er sich durchaus mehrere Tage Ruhe verschafft haben, um für die Anstrengungen dieses Abends gerüstet zu sein. Sicherheitshalber solltest du annehmen, daß er gut bei Kräften ist.«

»Du hast recht«, entgegnete ich. »Darauf verlassen darf ich mich nicht. Also gut. Eine andere Möglichkeit, die ich mir überlegt hatte, die ich aber nur im äußersten Notfall in Betracht ziehen wollte, liefe darauf hinaus, ihn aus der Ferne zu töten. Ich nehme eine Armbrust oder eines unserer Gewehre mit und erschieße ihn einfach mitten auf dem Muster. Problematisch ist dabei die Wirkung unseres Blutes auf das Muster. Kann sein, daß nur das Ur-Muster darunter leidet, aber ich weiß es nicht.«

»Richtig. Du weißt es nicht«, sagte er. »Außerdem würde ich nicht empfehlen, daß du dich dort oben auf normale Waffen verläßt. Die Stadt am Himmel ist ein seltsamer Ort. Du hast selbst gesagt, sie wäre wie ein seltsames Stück Schatten, das am Himmel dahintreibt. Du weißt zwar, wie man in Amber ein Gewehr zum Funktionieren bringt – aber vielleicht gelten diese Regeln da oben nicht mehr.«

»Ein Risiko ist es«, gab ich zu.

»Und die Armbrust – was ist, wenn ein plötzlicher Windstoß den Pfeil ablenkt, so oft du auf Brand schießt?«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das Juwel. Er ist damit durch einen Teil des Ur-Musters gegangen und hat seither ein bißchen Zeit gehabt, damit herumzuexperimentieren. Hältst du es für möglich, daß er schon etwas darauf eingestimmt ist?«

»Keine Ahnung. Soviel weiß ich gar nicht über seine Funktion.«

»Ich wollte dich nur darauf hinweisen, daß er das Juwel, wenn es wirklich so arbeitet, vielleicht zu seiner Verteidigung einsetzen kann. Der Stein mag sogar noch andere Eigenschaften besitzen, von denen du noch keine Ahnung hast. Damit will ich sagen, du solltest dich nicht zu sehr darauf verlassen, daß du in der Lage bist, ihn auf Distanz zu töten. Und bau bitte auch nicht darauf, noch einmal mit demselben Trick durchzukommen – nicht wenn er sich inzwischen eine gewisse Kontrolle über das Juwel angeeignet hat.«

»Du stellst die Verhältnisse ein wenig problematischer dar, als ich sie mir zurechtgelegt hatte.«

»Wahrscheinlich aber auch realistischer«, sagte er.

»Zugegeben. Sprich weiter. Du hast etwas von einem Plan gesagt.«

»Richtig. Ich meine, wir dürfen es überhaupt nicht zulassen, daß Brand das Muster erreicht; meines Erachtens erhöht sich die Gefahr einer Katastrophe beträchtlich, wenn er auch nur einen Fuß darauf stellt.«

»Und du glaubst nicht, daß ich rechtzeitig zur Stelle sein könnte?«

»Nicht, wenn er fast ohne Zeitverlust herumspringen kann, während du erst lange zu Fuß unterwegs sein mußt. Ich würde sagen, er wartet nur auf den Mondaufgang, und sobald die Stadt Gestalt annimmt, wird er direkt am Muster auftauchen.«

»Ich verstehe deine Einwände, weiß aber keine Antwort darauf.«

»Die Antwort ist, daß du Tir-na Nog´th heute nacht gar nicht betreten wirst.«

»Moment mal!«

»Luft anhalten! Du hast einen Meisterstrategen ins Spiel geholt, da solltest du dir anhören, was er zu sagen hat.«

»Na schön, ich höre.«

»Du hast mir zugestimmt, daß du wahrscheinlich nicht rechtzeitig an das Muster herankommst. Aber jemand anders könnte das schaffen.«

»Wer und wie?«

»Hör zu. Ich habe mit Benedict gesprochen. Er ist zurück. Im Augenblick befindet er sich in Amber unten im Saal mit dem Muster. Er dürfte das Muster inzwischen beschriften haben und in der Mitte warten. Du begibst dich unten an die Treppe zur Himmelsstadt. Dort erwartest du das Aufgehen des Mondes. Sobald Tir-na Nog´th Gestalt annimmt, setzt du dich über Trumpf mit Benedict in Verbindung. Du sagst ihm, daß alles bereit ist, dann nutzt er die Macht des Musters von Amber, um sich zum Muster von Tir-na Nog´th versetzen zu lassen. Wie schnell Brand auch reist – dem kann er nicht zuvorkommen.«

»Ich sehe den Vorteil«, sagte ich. »Das ist die schnellste Methode, einen Mann dort hinaufzuschaffen – und Benedict ist zweifellos ein guter Kämpfer. Er dürfte mit Brand keine Schwierigkeiten haben.«

»Glaubst du wirklich, Brand trifft keine anderen Vorbereitungen?« fragte Ganelon. »Nach allem, was ich über ihn gehört habe, ist er trotz seiner Verbohrtheit sehr schlau. Vielleicht hat er sich auf etwas Ähnliches vorbereitet.«

»Möglich. Hast du eine Ahnung, was er tun wird?«

Ganelon holte aus und klatschte sich mit der Hand gegen den Hals.

»Eine Wanze«, sagte er lächelnd. »Verzeih mir. Lästiges kleines Ding.«

»Du glaubst immer noch . . .«

»Ich glaube, du solltest den Kontakt mit Benedict aufrechterhalten, solange er dort oben ist, jawohl. Wenn Brand die Oberhand gewinnt, mußt du Benedict vielleicht herausholen, um sein Leben zu retten.«

»Selbstverständlich. Aber dann . . .«

»Damit hätten wir eine Schlacht verloren. Zugegeben. Aber nicht den Kampf um Amber. Selbst wenn er das Juwel voll auf sich eingestimmt hätte, müßte er an das Ur-Muster heran, um wirklichen Schaden anzurichten – und das wird streng bewacht.«

»Ja«, sagte ich. »Du scheinst dir alles genau überlegt zu haben. Und so schnell. Ich bin überrascht.«

»Ich habe letzthin viel Zeit gehabt – keine gute Sache, es sei denn, man nutzt sie zum Nachdenken. Und das habe ich getan. Und jetzt meine ich, daß du dich in Marsch setzen solltest. Der Tag geht zu Ende.«

»Einverstanden«, sagte ich. »Vielen Dank für die gute Beratung.«

»Spar dir deinen Dank, bis wir wissen, was dabei herauskommt«, sagte er und unterbrach die Verbindung.

»Das hörte sich nach einem wichtigen Gespräch an«, bemerkte Random. »Was ist los?«

»Eine berechtigte Frage«, erwiderte ich, »aber ich habe absolut keine Zeit mehr. Du wirst auf die Einzelheiten bis morgen warten müssen.«

»Kann ich irgendwie helfen?«

»Ja«, sagte ich. »Würdet ihr bitte auf einem Pferd nach Amber reiten oder euch mit dem Trumpf dorthin begeben? Ich brauche Star.«

»Selbstverständlich«, sagte Random. »Kein Problem, Sonst noch etwas?«

»Nein. Aber Eile tut not.«

Wir gingen zu den Pferden. Ich tätschelte Star und stieg auf.

»Wir sehen dich in Amber«, sagte Random. »Viel Glück.«

»In Amber«, sagte ich. »Vielen Dank.«

Ich machte kehrt und begann meinen Ritt zum Ausgangspunkt der Treppe; dazu folgte ich den sich dehnenden Schatten meines Grabmals nach Osten.

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