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Neben dem defekten Muster stehend, ein Bild des Mannes betrachtend, der vielleicht Randoms Sohn war, der vielleicht an einer Messerwunde gestorben war, die er an einem Punkt innerhalb des Musters erhalten hatte, drehte ich mich um und machte einen gedanklichen Riesenschritt in die Vergangenheit.[1] Noch einmal überdachte ich die Ereignisse, die mich an diesen Ort unheimlicher Enthüllungen geführt hatten. Ich hatte in der letzten Zeit soviel Neues erfahren, daß es mir beinahe so vorkam, als ergäben die Vorgänge der letzten Jahre eine Geschichte, die anders war als jene im Augenblick des Erlebens. Die eben entdeckte, neue Möglichkeit und die sich daraus ergebenden Weiterungen hatten wieder einmal zu einer Verschiebung meiner Perspektiven geführt.

Ich hatte nicht einmal meinen Namen gekannt, als ich in Greenwood erwachte, einem Privatkrankenhaus im Norden des Staates New York, wo ich nach meinem Unfall zwei ereignislose Wochen ohne Erinnerungen verbracht hatte. Erst kürzlich hatte man mir erzählt, daß der Unfall von meinem Bruder Bleys arrangiert worden war, unmittelbar nach meiner Flucht aus dem Porter-Sanatorium in Albany. Diese Einzelheiten erfuhr ich von meinem Bruder Brand, der mich auf der Basis gefälschter psychiatrischer Unterlagen überhaupt erst in die Porter-Klinik eingeliefert hatte. Dort hatte man mich mehrere Tage lang einer Elektroschocktherapie unterworfen, die keine klaren Ergebnisse brachte, vermutlich aber ein paar Erinnerungen zurückholte. Offenbar hatte dies Bleys veranlaßt, nach meiner Flucht den überhasteten Mordversuch zu unternehmen; in einer Kurve über einem See hatte er mir zwei Reifen zerschossen. Der Unfall hätte mich zweifellos das Leben gekostet, wäre Brand nicht unmittelbar hinter Bleys aufgetaucht, bestrebt, seine Rückversicherung – mich – zu schützen. Er hatte mir erzählt, er habe die Polizei verständigt, mich aus dem See gezogen und mir Erste Hilfe geleistet, bis die Helfer eintrafen. Kurze Zeit später wurde er von seinen früheren Partnern – Bleys und unsere Schwester Fiona – gefangengenommen, die ihn an einem fernen Schatten-Ort in einen gut bewachten Turm verbannten.

Es hatte zwei Interessengruppen gegeben, die auf den Thron aus waren und die in erbittertem Wettbewerb miteinander standen, die sich bedrängt, bekämpft und sich gegenseitig behindert hatten, wo und wie es nach der jeweiligen Lage möglich war. Unser Bruder Eric, unterstützt durch Brüder Julian und Caine, hatte Anstalten gemacht, den Thron zu besteigen, der seit dem rätselhaften Verschwinden unseres Vaters Oberon lange Zeit verwaist gewesen war. Das Verschwinden Oberons war aber nur für Eric, Julian und Caine rätselhaft gewesen. Die andere Gruppe, die aus Bleys, Fiona und – im Anfang – Brand bestand, wußte durchaus über die Abwesenheit Bescheid, war sie doch dafür verantwortlich. Die drei hatten für diesen Stand der Dinge gesorgt, um Bleys den Weg zum Thron zu ebnen. Dabei hatte Brand aber einen taktischen Fehler begangen und versucht, Caines Unterstützung zu gewinnen; Caine aber überlegte, daß er sich besser stünde, wenn er für Eric eintrat. Dies führte dazu, daß Brand genau beobachtet wurde, der sich aber Mühe gab, die Identität seiner Partner geheimzuhalten. Etwa um diese Zeit beschlossen Bleys und Fiona, ihre geheimen Verbündeten gegen Eric einzusetzen. Brand war damit nicht einverstanden, denn er fürchtete die Macht dieser Wesen; in der Folge wurde er von Bleys und Fiona verstoßen. Nachdem auf diese Weise jedermann hinter ihm her war, hatte er das Gleichgewicht der Kräfte völlig durcheinanderzubringen versucht, indem er jene Schatten-Erde aufsuchte, auf der Eric mich vor einigen Jahrhunderten als Todkranken ausgesetzt hatte. Erst später hatte Eric erfahren, daß ich nicht gestorben war, sondern an einer totalen Amnesie litt, die für ihn ebenso vorteilhaft war. Er hatte Schwester Flora beauftragt, über mein Exil zu wachen, und gehofft, mich auf diese Weise endgültig los zu sein. Brand erzählte mir später, er habe mich in das Porter-Sanatorium eingeliefert in dem verzweifelten Versuch, mein Gedächtnis zurückzuholen, damit ich anschließend nach Amber zurückkehren konnte.

Während sich Fiona und Bleys mit Brand beschäftigten, hatte Eric mit Flora in Verbindung gestanden. Sie hatte dafür gesorgt, daß ich aus der Klinik, in die mich die Polizei gebracht hatte, nach Greenwood verlegt wurde, wo ich im Betäubungsschlaf gehalten werden sollte, während Eric in Amber seine Krönung vorzubereiten begann. Kurz darauf wurde das idyllische Leben unseres Bruders Random in Texorami gestört, als es Brand gelang, ihm eine Botschaft außerhalb der üblichen Familienkanäle – damit meine ich die Trümpfe – zuzuleiten und seine Befreiung zu erflehen. Während Random, der ansonsten an dem Machtkampf denkbar desinteressiert war, sich dieses Problems annahm, gelang mir die Flucht aus Greenwood; allerdings stand es mit meinen Erinnerungen noch immer nicht zum besten. Nachdem ich mir von dem erschrockenen Direktor der Klinik Floras Anschrift verschafft hatte, begab ich mich in ihr Haus in Westchester, tischte ihr eine komplizierte Geschichte auf. Sie ließ sich bluffen, und ich quartierte mich als Hausgast ein. Random hatte unterdessen mit seinem Rettungsversuch für Brand keinen Erfolg gehabt. Es war ihm zwar gelungen, den Schlangenwächter des Turms zu töten, anschließend mußte er jedoch vor den inneren Wächtern fliehen, wobei er sich einen der seltsamen kreisenden Felsen jener Gegend zunutze machte. Die Wächter, eine ausdauernde Truppe annähernd menschlicher Gestalten, hatten ihn jedoch durch die Schatten verfolgen können, eine Leistung, die Nicht-Amberianern normalerweise nicht möglich ist. Daraufhin war Random auf die Schatten-Erde geflohen, auf der ich damit beschäftigt war, Flora in ein Labyrinth der Mißverständnisse zu führen, während ich gleichzeitig den richtigen Weg zur Erkenntnis über mein wahres Ich suchte. Random glaubte meiner Zusicherung, daß ich ihn schützen würde, und überquerte den Kontinent in der irrigen Annahme, seine Verfolger wären meine Geschöpfe. Als ich dann bei ihrer Vernichtung mitwirkte, war er verwirrt, wollte die Angelegenheit aber nicht zur Sprache bringen, solange ich offenbar private Pläne in Sachen Thronanwartschaft verfolgte. In der Tat ließ er sich schnell dazu verleiten, mich durch die Schatten nach Amber zurückzuführen.

Dieses Unternehmen erwies sich in mancher Hinsicht als vorteilhaft, während es in anderer Beziehung weniger zufriedenstellend verlief. Als ich schließlich den wahren Zustand meines Gedächtnisses offenbarte, führten mich Random und unsere Schwester Deirdre, die wir unterwegs getroffen hatten, in Ambers Spiegelstadt unter dem Meer – Rebma. Dort hatte ich das Muster durchschritten und daraufhin den größten Teil meiner Erinnerungen zurückerhalten – womit ich zugleich die Frage klärte, ob ich nun der wirkliche Corwin war oder lediglich einer seiner Schatten. Aus Rebma war ich direkt nach Amber zurückgekehrt, wobei ich mir die Macht des Musters zunutze machte, eine sofortige Versetzung zu bewirken. Nach einem ergebnislosen Duell mit Eric war ich durch die Trümpfe zu meinem geliebten Bruder und Möchtegern-Mörder Bleys geflohen.

Ich half Bleys bei einem Angriff auf Amber, einer schlecht organisierten Angelegenheit, mit der wir einen Fehlschlag erlitten. Während der letzten Auseinandersetzung verschwand Bleys, unter Umständen, die seinen Tod vermuten ließen, die aber – je mehr ich später erfuhr und darüber nachdachte – vielleicht doch nicht dazu geführt hatten. Jedenfalls wurde ich nun Erics Gefangener und unfreiwilliger Zeuge seiner Krönung, wonach er mich blenden und einkerkern ließ. Nach einigen Jahren in den amberianischen Verliesen hatten sich meine Augen regeneriert, doch ich war hilflos dem seelischen Verfall ausgeliefert. Erst das zufällige Auftauchen von Dworkin, Vaters altem Berater, der geistig noch schlechter dran war als ich, bot mir eine Chance zur Flucht.

Dann erholte ich mich gründlich und nahm mir vor, das nächstemal umsichtiger gegen Eric vorzugehen. Ich reiste durch die Schatten einem alten Land entgegen, in dem ich einmal geherrscht hatte – Avalon – und wollte mich dort in den Besitz einer Substanz setzen, von deren Existenz ich als einziger Amberianer wußte – die einzige Chemikalie, die in Amber explosive Eigenschaften entwickelt. Unterwegs war ich durch das Land Lorraine gekommen und dort auf meinen alten exilierten avalonischen General Ganelon gestoßen – oder jemanden, der ihm sehr ähnlich war. Ich verweilte hier – wegen eines verwundeten Ritters, eines Mädchens und einer dort auftretenden Gefahr, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Phänomen aufwies, das sich auch in der Nähe Ambers bemerkbar machte – ein wachsender schwarzer Kreis, der irgendwie mit jener schwarzen Straße zu tun hatte, auf der sich unsere Feinde bewegten, eine Erscheinung, an der ich mir selbst einen Teil der Schuld gab, hatte ich doch nach meiner Blendung einen Fluch gegen Amber ausgesprochen. Ich siegte in der Schlacht, verlor das Mädchen und reiste in Begleitung Ganelons nach Avalon.

Das Avalon, das wir schließlich erreichten, so erfuhren wir bald, stand unter dem Schutz meines Bruders Benedict, der hier eigene Probleme mit Erscheinungen hatte, welche möglicherweise mit den Gefahren des schwarzen Kreises und der schwarzen Straße ursächlich zusammenhingen. Im Entscheidungskampf gegen die Höllenmädchen hatte Benedict den linken Arm verloren, die Schlacht aber gewonnen. Er forderte mich auf, im Hinblick auf Amber und Eric Zurückhaltung zu üben, und gewährte mir schließlich die Gastfreundschaft seines Hauses, während er noch einige Tage im Felde blieb. In seinem Hause lernte ich Dara kennen.

Dara erzählte mir, sie sei Benedicts Ur-Enkelin, deren Existenz vor Amber geheimgehalten worden sei. Sie war bemüht, mich über Amber, das Muster, die Trümpfe und unsere Fähigkeit des Schattenwanderns auszuhorchen. Sie war übrigens eine sehr geschickte Fechterin. Nachdem ich von einem Höllenritt an einen Ort zurückgekehrt war, der mir ausreichend Rohdiamanten geliefert hatte, um die Dinge zu bezahlen, die ich für meinen Angriff auf Amber brauchte, zeigte sich Dara nicht abgeneigt, und wir schliefen miteinander. Am folgenden Tag luden Ganelon und ich die erforderlichen Mengen der Chemikalie auf einen Wagen und fuhren zur Schatten-Erde ab, auf der ich mein Exil verbracht hatte. Hier wollten wir automatische Waffen und speziell nach meinen Wünschen gefertigte Munition abholen.

Unterwegs hatten wir Schwierigkeiten an der schwarzen Straße, die ihren Einfluß inzwischen offenbar auch auf die Schattenwelten ausgedehnt hatte. Mit dem Ärgernis der Straße wurden wir fertig, doch dann wäre ich bei einem Duell mit Benedict fast umgekommen, der uns erbittert und voll Haß verfolgt hatte. Zu aufgebracht, um mit mir zu diskutieren, hatte er mich mit dem Schwert durch ein kleines Wäldchen gejagt – ein besserer Kämpfer als ich, obwohl er die Klinge jetzt mit der Linken führen mußte. Besiegt hatte ich ihn schließlich mit einem Trick, der die besondere Eigenart der schwarzen Straße ausnutzte, die er nicht kannte. Ich war überzeugt, daß er wegen der Affäre mit Dara hinter mir her war. Aber das war ein Irrtum. In dem kurzen Gespräch, das wir führten, stritt er jedes Wissen um die Existenz einer solchen Person ab. Vielmehr habe er uns in der Überzeugung verfolgt, daß ich seine Dienstboten ermordet hätte. Ganelon hatte hinter dem Wald bei Benedicts Haus tatsächlich einige frische Leichen gefunden, aber wir waren übereingekommen, der Sache nicht nachzugehen, denn wir wußten nicht, wer die Ermordeten waren, und wollten unsere Mission nicht noch mehr verzögern.

Benedict in der Obhut meines Bruders Gérard zurücklassend, den ich durch seinen Trumpf aus Amber hatte kommen lassen, setzten Ganelon und ich die Reise zur Schatten-Erde fort. Hier bewaffneten wir uns, warben in den Schatten eine Armee an und kehrten zurück, um Amber anzugreifen. Bei unserer Ankunft stellten wir allerdings fest, daß Amber bereits von Wesen belagert wurde, die über die schwarze Straße gekommen waren. Meine neuen Waffen entschieden den Kampf sehr schnell zu Gunsten Ambers, doch mein Bruder Eric fiel in der Schlacht und hinterließ mir seine Probleme, seine Abneigung und das Juwel des Geschicks – eine Waffe zur Wetterbeeinflussung, die er gegen mich eingesetzt hatte, als Bleys und ich Amber angriffen.

Zu diesem Zeitpunkt tauchte plötzlich Dara auf, ritt im Galopp an uns vorbei nach Amber, stieß bis zum Muster vor und beschritt es – ein äußerer Beweis, daß sie tatsächlich irgendwie mit uns verwandt war. Während des anstrengenden Durchschreitens des Musters machte sie jedoch, so sah es jedenfalls aus, einige seltsame physische Veränderungen durch. Als sie das Muster hinter sich ließ, verkündete sie, Amber werde vernichtet werden. Dann verschwand sie.

Etwa eine Woche später wurde mein Bruder Caine ermordet. Die Tat war so arrangiert worden, daß ich als Täter dastehen mußte. Die Tatsache, daß ich seinen Mörder getötet hatte, brachte leider keinen Unschuldsbeweis für mich, denn der Kerl war leider nicht mehr in der Lage, eine Aussage zu machen. Allerdings erkannte ich, daß ich ein Wesen dieser Art schon einmal gesehen hatte – die Wesen, die Random bis in Floras Haus verfolgt hatten! Ich nahm mir endlich die Zeit, mich mit Random zusammenzusetzen und mir die Geschichte seines erfolglosen Versuchs anzuhören, Brand aus seinem Turm zu befreien.

Random war vor Jahren, als ich nach Amber weitersprang, um im Duell gegen Eric anzutreten, in Rebma zurückgeblieben und hatte dort auf Königin Moires Veranlassung eine Frau ihres Hofes heiraten müssen, Vialle, ein hübsches blindes Mädchen. Dieses Urteil war teils als Strafe gedacht, denn vor Jahren hatte Random Moires inzwischen verstorbene Tochter Morganthe in anderen Umständen verlassen: Martin, das mutmaßliche Objekt des beschädigten Trumpfes, den Random jetzt in der Hand hielt. Doch Random – und das war bei ihm verwunderlich – hatte sich offenbar in Vialle verliebt und lebte jetzt mit ihr in Amber.

Nachdem ich Random verlassen hatte, brachte ich das Juwel des Geschicks an mich und trug es in den Saal des Musters. Dort folgte ich den bruchstückhaften Anweisungen, die ich mitbekommen hatte und die dazu führen sollten, daß sich das Juwel auf mich einstimmte. Während dieses Vorgangs erlebte ich einige ungewöhnliche Empfindungen und bekam schließlich die offensichtlichste Funktion des Juwels in den Griff: die Fähigkeit, meteorologische Phänomene auszulösen. Anschließend befragte ich Fiona über mein Exil. Ihre Geschichte hörte sich logisch an und paßte zu den mir bekannten Tatsachen, wenn ich auch das Gefühl hatte, daß sie sich im Hinblick auf meinen Unfall nicht ganz offen aussprach. Sie gab mir allerdings das Versprechen, Caines Mörder als ein Wesen jener Art zu identifizieren, mit der Random und ich damals in ihrem Haus in Westchester gekämpft hatten; außerdem versicherte sie mich ihrer Unterstützung in allen Plänen, die ich im Augenblick haben mochte.

Als ich Randoms Bericht hörte, hatte ich noch keine Ahnung von den beiden konkurrierenden Gruppen und ihren Machenschaften. Ich kam zu dem Schluß, daß, wenn Brand noch lebte, seine Rettung von größter Wichtigkeit war, allein schon wegen der Tatsache, daß er offenbar Informationen besaß, die irgend jemand nicht weiter verbreitet wissen wollte. Ich entwickelte einen Plan, dieses Ziel zu erreichen, einen Plan, dessen Verwirklichung nur so lange zurückgestellt wurde, wie Gérard und ich brauchten, um Caines Leiche nach Amber zurückzubringen. Ein Teil dieser Zeit wurde von Gérard dazu benutzt, mich bewußtlos zu schlagen, für den Fall, daß ich seine Kräfte vergessen haben sollte; auf diese Weise wollte er seine Worte unterstreichen, wonach er mich persönlich zu töten gedachte, wenn es sich herausstellte, daß ich hinter Ambers augenblicklichen Schwierigkeiten steckte. Dieser Kampf war zugleich die exklusivste Fernsehübertragung, von der ich weiß: Durch Gérards Trumpf nahm die ganze Familie daran teil – zur Sicherheit, sollte ich tatsächlich der Übeltäter sein und mit dem Gedanken spielen, Gérards Namen wegen seiner Drohung von der Liste der Lebenden zu tilgen. Anschließend suchten wir das Einhornwäldchen auf und luden Caines Leiche aufs Pferd. Dabei erhaschten wir einen kurzen Blick auf das legendäre Einhorn von Amber.

Am Abend kamen wir in der Bibliothek des Palasts von Amber zusammen – Random, Gérard, Benedict, Julian, Deirdre, Fiona, Flora, Llewella und ich. In diesem Kreise probierte ich meinen Plan aus, der uns zu Brand führen sollte: Zu neunt wollten wir versuchen, ihn über seinen Trumpf zu erreichen. Das Experiment hatte Erfolg.

Wir setzten uns mit ihm in Verbindung und konnten ihn tatsächlich nach Amber zurückholen. Mitten im größten Gedränge, als Gérard ihn gerade durch den Trumpf zu uns brachte, stieß jemand Brand einen Dolch in die Seite. Gérard ernannte sich sofort zum verantwortlichen Arzt und räumte das Zimmer.

Wir übrigen zogen uns in ein Wohnzimmer im Erdgeschoß zurück, um dort die Ereignisse weiter durchzusprechen. Dabei teilte mir Fiona mit, daß das Juwel des Geschicks bei längerem Tragen eine Gefahr darstellen konnte; sie deutete sogar an, daß vielleicht weniger die Wunden für Erics Tod verantwortlich gewesen waren als das Juwel. Einer der ersten Vorboten der Gefahr war nach ihrer Auffassung eine Verzerrung des Zeitgefühls – eine scheinbare Verlangsamung des zeitlichen Ablaufs, welche in Wirklichkeit eine Beschleunigung der physiologischen Vorgänge des Trägers des Juwels darstellte. Ich faßte den Entschluß, mit dem Juwel künftig vorsichtiger umzugehen, da Fiona in solchen Dingen beschlagener war als wir übrigen, war sie doch einmal Dworkins gelehrigste Schülerin gewesen.

Vielleicht hatte sie sogar recht. Vielleicht stellte sich dieser Effekt tatsächlich kurze Zeit darauf ein, als ich in mein Quartier zurückkehrte. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, daß sich die Person, die mich umzubringen versuchte, ein wenig langsamer bewegte, als ich es in einer ähnlichen Lage getan hätte. Die Klinge traf mich an der Seite, und die Welt versank.

Schlimm blutend erwachte ich im Bett meines alten Hauses auf der Schatten-Erde, wo ich lange Zeit als Carl Corey gelebt hatte. Wie ich dorthin gekommen war, wußte ich nicht. Ich kroch ins Freie und geriet in einen Schneesturm. Ich klammerte mich verzweifelt an das Bewußtsein und versteckte das Juwel des Geschicks in meinem alten Komposthaufen, denn die Welt ringsum schien sich tatsächlich zu verlangsamen. Dann schaffte ich es bis zur Straße und versuchte einen vorbeifahrenden Autofahrer anzuhalten.

Schließlich wurde ich von meinem Freund und ehemaligen Nachbarn Bill Roth gefunden und in das nächste Krankenhaus gebracht. Dort behandelte mich derselbe Arzt, der unmittelbar nach dem Unfall vor vielen Jahren meine Wunden versorgt hatte. Er hielt mich für einen psychiatrischen Fall, da die alten Unterlagen noch immer den damals vorgetäuschten Stand der Dinge wiedergaben.

Doch später kam Bill und stellte alles richtig. Als Rechtsanwalt hatte er sich damals für mein seltsames Verschwinden interessiert und umfangreiche Nachforschungen angestellt. Dabei hatte er von dem falschen psychiatrischen Gutachten und meiner Flucht erfahren. Er besaß sogar Unterlagen über diese Dinge und den Unfall. Noch immer hatte er das Gefühl, daß irgend etwas nicht mit mir stimmte, daß ich irgendwie seltsam war, doch im Grunde störte ihn das nicht besonders.

Später setzte sich Random über meinen Trumpf mit mir in Verbindung und teilte mit, Brand sei zu Bewußtsein gekommen und wolle mich sprechen. Mit Randoms Hilfe kehrte ich nach Amber zurück. Ich suchte Brand auf. In diesem Gespräch erfuhr ich Details über den Machtkampf, der rings um mich getobt hatte, und über die Identität der Beteiligten. Sein Bericht zusammen mit den Dingen, die Bill mir auf der Schatten-Erde eröffnet hatte, brachte endlich ein wenig Sinn und Klarheit in die Ereignisse der letzten Jahre. Zugleich gab mir Brand näheren Aufschluß über die Beschaffenheit der Gefahren, denen wir uns im Augenblick gegenübersahen.

Am nächsten Tag unternahm ich gar nichts, sondern gab vor, mich auf einen Besuch in Tir-na Nog´th vorzubereiten; in Wirklichkeit wollte ich nur Zeit gewinnen, um mich noch von meiner Verletzung zu erholen. Dem Vorwand mußte allerdings Glaubwürdigkeit verschafft werden. So reiste ich dann tatsächlich an jenem Abend in die Stadt am Himmel und stieß dort auf eine verwirrende Sammlung von Zeichen und Symbolen, die wahrscheinlich nichts bedeuteten, und nahm dabei dem Gespenst meines Bruders Benedict einen seltsamen künstlichen Arm ab.

Von diesem Ausflug in himmlische Höhen zurückgekehrt, frühstückte ich mit Random und Ganelon, ehe wir über den Kolvir nach Hause zurückreiten wollten. Langsam und rätselhaft begann sich der Weg rings um uns zu verändern. Es war, als schritten wir durch die Schatten, was in solcher Nähe zu Amber geradezu unmöglich war. Als wir zu diesem Schluß gelangt waren, versuchten wir unseren Kurs zu ändern, doch Random und ich waren nicht in der Lage, einen Szenenwechsel vorzunehmen. Etwa um diese Zeit tauchte das Einhorn auf. Es schien uns aufzufordern, ihm zu folgen – und wir gehorchten.

Es hatte uns durch eine kaleidoskopartige Fülle von Veränderungen geführt, bis wir schließlich diesen Ort erreichten, an dem es uns wieder allein ließ. Während mir dieser gewaltige Reigen der Ereignisse durch den Kopf ging, arbeitete mein Verstand an der Schwelle zum Unterbewußtsein weiter und kehrte nun zu den Worten zurück, die Random soeben gesagt hatte. Ich hatte das Gefühl, ihm wieder ein Stück voraus zu sein. Wie lange dieser Zustand andauern mochte, wußte ich nicht, doch war mir nun klar, wo ich schon einmal Darstellungen von der Hand gesehen hatte, die den durchstochenen Trumpf geschaffen hatte.

Wenn er eine seiner melancholischen Perioden durchmachte, hatte Brand oft zum Pinsel gegriffen; und als ich mir die vielen Leinwände vorstellte, die er bepinselt hatte, erinnerte ich mich an seine Lieblingstechniken. Dazu seine Jahre zurückliegende Kampagne, Erinnerungen und Beschreibungen aller Leute zu sammeln, die Martin gekannt hatten. Random hatte seinen Stil noch nicht erkannt, doch ich fragte mich, wie lange es dauern mochte, bis er wie ich über die möglichen Ziele von Brands Informationssuche nachzudenken begann. Selbst wenn seine Hand die Klinge nicht selbst geführt hatte, war Brand doch in die Angelegenheit verstrickt, denn von ihm kam das Werkzeug zu dieser Tat. Ich kannte Random gut genug, um zu wissen, daß die eben geäußerten Worte ernst gemeint waren. Er würde versuchen, Brand zu töten, sobald ihm die Verbindung aufging. Eine mehr als unangenehme Sache.

Dabei ging es mir nicht darum, daß Brand mir wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Ich bildete mir ein, meine Schuld bei ihm beglichen zu haben, als ich ihn aus dem Turm rettete. Nein. Nicht Schuld oder Gefühl veranlaßte mich, nach einer Möglichkeit zu suchen, Random in die Irre zu führen oder von voreiligen Schritten abzuhalten. Es war vielmehr die nüchterne Überlegung, daß ich Brand brauchte. Dafür hatte er gesorgt. Daß ich ihn jetzt rettete, hatte einen Grund, der nicht weniger altruistisch war als die Motive, die ihn bewegt hatten, als er mich aus dem See zog. Er besaß etwas, dessen ich jetzt bedurfte: Informationen. Er hatte dies sofort erkannt und setzte mich geschickt auf kleine Rationen: sein Beitrag zur Gewerkschaft des Lebens.

»Ich sehe die Ähnlichkeit«, sagte ich zu Random. »Du könntest recht haben mit deiner Vermutung.«

»Natürlich habe ich recht.«

»Die Karte wurde durchstoßen«, sagte ich.

»Kein Zweifel. Ich weiß nicht . . .«

»Er wurde also nicht durch den Trumpf geholt. Der Täter hat Verbindung aufgenommen, hat ihn aber nicht überreden können, durchzukommen.«

»So? Der Kontakt muß sich aber bis zu einer ausreichenden Festigkeit und Nähe entwickelt haben, daß er zustechen konnte. Vielleicht hat er ihn sogar geistig blockiert und festgehalten, während er blutete. Der Junge hatte vermutlich keine große Erfahrung mit den Trümpfen.«

»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, sagte ich. »Llewella oder Moire können uns sicher sagen, wieviel er über die Trümpfe wußte. Ich wollte mehr auf die Möglichkeit hinaus, daß der Kontakt vielleicht vor dem Tod unterbrochen wurde. Wenn er deine regenerativen Fähigkeiten geerbt hat, lebt er vielleicht noch.«

»Vielleicht? Ich möchte keine Mutmaßungen hören, sondern klare Antworten!«

Damit begann ein schwieriger geistiger Balanceakt. Ich glaubte etwas zu wissen, das ihm unbekannt war, doch meine Informationsquelle war nicht die beste. Außerdem wollte ich mich über die Möglichkeit zunächst ausschweigen, weil ich noch keine Gelegenheit gehabt hatte, mit Benedict darüber zu sprechen. Andererseits war Martin Randoms Sohn, und ich wollte seine Aufmerksamkeit von Brand ablenken.

»Random, vielleicht habe ich etwas«, sagte ich.

»Was?«

»Unmittelbar nachdem Brand verwundet wurde«, sagte ich, »als wir uns im Wohnzimmer unterhielten, da kam die Sprache auch auf Martin – erinnerst du dich?«

»Ja. Aber dabei wurde nichts Neues diskutiert.«

»Ich hätte damals etwas dazu sagen können, doch ich habe mich zurückgehalten, weil eben alle da waren. Außerdem wollte ich die Sache mit der betreffenden Person unter vier Augen weiter verfolgen.«

»Wer ist der Mann?«

»Benedict.«

»Benedict? Was hat der mit Martin zu schaffen?«

»Keine Ahnung. Deshalb wollte ich ja den Mund halten, bis ich mehr wußte. Außerdem war meine Informationsquelle problematisch.«

»Sprich weiter.«

»Dara. Benedict fährt aus der Haut, wenn ich ihren Namen nur ausspreche, trotzdem haben sich bisher etliche Dinge, die sie mir erzählte, als richtig herausgestellt – zum Beispiel die Reise Julians und Gérards über die schwarze Straße, ihre Verwundung, ihr Aufenthalt in Avalon. Benedict räumte ein, daß diese Dinge in der Tat geschehen seien.«

»Was sagte sie über Martin?«

Ja, was? Wie konnte ich es formulieren, ohne Brand bloßzustellen –? Dara hatte gesagt, Brand habe Benedict über Jahre hinweg mehrfach in Avalon aufgesucht. Der Zeitunterschied zwischen Amber und Avalon ist ziemlich extrem; nachdem ich nun darüber nachdachte, erschien es mir durchaus möglich, daß diese Besuche in die Zeit fielen, da Brand aktiv Informationen über Martin suchte. Ich hatte mich bereits gefragt, was ihn immer wieder dorthin zog, waren er und Benedict doch nie besonders gut miteinander ausgekommen.

»Nur daß Benedict einen Besucher namens Martin gehabt hätte, von dem sie annahm, er käme aus Amber«, log ich.

»Wann?«

»Einige Zeit ist das jetzt her. Ich weiß es nicht genau.«

»Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«

»Ist ja eigentlich keine große Sache – außerdem hast du dich bisher nie erkennbar für Martin interessiert.«

Random blickte auf den Greif, der nun rechts von mir hockte und vor sich hin gurgelte. Dann nickte er.

»Jetzt interessiere ich mich aber für ihn«, erwiderte er. »Man ändert sich eben. Wenn er noch lebt, würde ich ihn gern näher kennenlernen. Wenn nicht . . .«

»Schön«, sagte ich. »Die beste Methode zu beidem ist, zunächst einmal den Heimweg zu suchen. Wir dürften gesehen haben, was wir sehen sollten. Ich möchte jetzt lieber hier fort.«

»Darüber habe ich mir schon meine Gedanken gemacht«, sagte er. »Und ich bin darauf gekommen, daß wir wahrscheinlich das Muster benutzen können. Wir brauchen nur zur Mitte zu gehen und uns nach Hause versetzen zu lassen.«

»Über die dunkle Fläche?« fragte ich.

»Warum nicht? Ganelon hat es doch versucht und ist wohlauf.«

»Moment«, warf Ganelon ein. »Ich habe nicht gesagt, daß es leicht war. Außerdem meine ich, daß ihr die Pferde nicht aufs Muster bekommt.«

»Was dann?« wollte ich wissen.

»Erinnerst du dich an die Stelle, an der wir die schwarze Straße überquert haben – damals, als wir aus Avalon flohen?«

»Natürlich!«

»Nun, die Gefühle, die ich hatte, als ich die Karte und den Dolch zurückholte, hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit der Erregung, die wir damals verspürten. Das ist einer der Gründe, warum ich so gelaufen bin. Ich wäre dafür, es zunächst noch einmal mit den Trümpfen zu versuchen, in der Annahme, daß dieser Ort mit Amber kongruent ist.«

Ich nickte.

»Na schön. Wir können genausogut versuchen, es uns so einfach wie möglich zu machen. Treiben wir zuerst die Pferde zusammen.«

Das taten wir, wobei wir die Länge der Kette des Greifs herausbekamen. Seine Grenze lag bei etwa dreißig Metern vor der Höhlenöffnung. Als sich die Kette spannte, begann er sofort durchdringend zu klagen. Dies erleichterte es nicht gerade, die Pferde zu beruhigen, brachte mich aber auf einen Gedanken, den ich zunächst für mich behielt.

Sobald wir alles unter Kontrolle hatten, griff Random nach seinen Trümpfen, und ich zog mein Spiel ebenfalls aus der Tasche. »Versuchen wir Benedict«, sagte er.

»Gut. Bist du bereit?«

Ich stellte sofort fest, daß sich die Karten wieder kalt anfühlten, was ein gutes Zeichen war. Ich zog Benedicts Karte aus dem Stapel und begann mich an die Kontaktaufnahme heranzutasten. Random neben mir tat dasselbe.

Der Kontakt ergab sich fast sofort.

»Was liegt an?« fragte Benedict, und sein Blick wanderte über Random, Ganelon und die Pferde und richtete sich schließlich auf mich.

»Holst du uns zu dir?« fragte ich.

»Die Pferde auch?«

»Alles.«

»Kommt.«

Er streckte die Hand aus, und ich berührte sie. Wir alle näherten uns ihm. Sekunden später standen wir neben ihm an einem hohen felsigen Ort; ein kühler Wind bewegte unsere Kleidung, die Nachmittagssonne Ambers stand an einem wolkigen Himmel. Benedict trug eine dicke Lederjacke und Wildlederstiefel. Sein Hemd schimmerte in einem verwaschenen Gelb. Ein orangeroter Mantel verhüllte den Stumpf des rechten Arms. Er reckte das lange Kinn und blickte auf mich herab.

»Interessanter Ort, von dem ihr da kommt«, bemerkte er. »Ich habe ein Stück vom Hintergrund gesehen.«

Ich nickte.

»Interessanter Ausblick aus dieser Höhe«, sagte ich und blickte auf das Spionglas an seinem Gürtel; im gleichen Augenblick erkannte ich, daß wir auf dem breiten Felsvorsprung standen, von dem aus Eric am Tage seines Todes und meiner Rückkehr die Schlacht geleitet hatte. Ich trat vor und betrachtete den schwarzen Pfad durch Garnath, der tief unter uns lag und sich bis zum fernen Horizont erstreckte.

»Ja«, sagteer. »Die schwarze Straße scheint ihre Grenzen fast überall stabilisiert zu haben. An einigen Stellen jedoch erweitert sie sich noch immer. Es sieht fast so aus, als näherte sie sich einer höchsten Übereinstimmung mit irgendeinem . . . Muster. Jetzt erzählt schon, woher kommt ihr?«

»Ich habe die letzte Nacht in Tir-na Nog´th verbracht«, sagte ich. »Und heute früh sind wir beim Überqueren des Kolvir vom Weg abgekommen.«

»Was nun wirklich eine Leistung ist«, stellte er fest. »Sich auf dem eigenen Berg zu verirren! Man kommt immer wieder nach Osten, weißt du. Das ist die Richtung, aus der, wie zu hören ist, die Sonne aufsteigt.«

Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoß.

»Es hat einen Unfall gegeben«, sagte ich und blickte zur Seite. »Dabei ist uns ein Pferd verlorengegangen.«

»Was für ein Unfall?«

»Ein schlimmer Unfall – schlimm für das Pferd.«

»Benedict«, sagte Random und hob den Kopf. Erst jetzt bemerkte ich, daß er die ganze Zeit den durchstochenen Trumpf angeschaut hatte. »Was kannst du mir über meinen Sohn Martin sagen?«

Benedict musterte ihn einige Sekunden lang, ehe er reagierte. »Woher das plötzliche Interesse?« fragte er dann.

»Weil ich Grund zu der Vermutung habe, daß er tot ist«, erwiderte Random. »Wenn das stimmt, möchte ich ihn rächen. Wenn nicht- nun, der Gedanke, daß er tot sein könnte, hat mich ziemlich aufgewühlt. Lebt er aber noch, möchte ich ihn gern sehen und mit ihm sprechen.«

»Wie kommst du darauf, daß er vielleicht nicht mehr lebt?«

Random sah mich an. Ich nickte.

»Fang beim Frühstück an«, sagte ich.

»Während er erzählt, besorge ich uns etwas zu essen«, sagte Ganelon und wühlte in einem seiner Tragebeutel herum.

»Das Einhorn wies uns den Weg . . .«, begann Random.

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