Als ich geklopft hatte, fragte sie, wer da sei, und ich gab ihr Antwort.
»Einen Augenblick.«
Ich hörte ihre Schritte, und dann ging die Tür auf. Vialle ist kaum größer als fünf Fuß und sehr schlank. Brünett, schmalgesichtig, eine sehr leise Stimme. Sie trug Rot. Ihre blicklosen Augen schauten durch mich hindurch, erinnerten mich an die Düsternis der Vergangenheit, an Schmerz.
»Random«, sagte ich, »hat mich gebeten, Euch zu sagen, daß er noch aufgehalten wurde, daß Ihr Euch aber keine Sorgen machen sollt.«
»Bitte kommt herein«, sagte sie, trat zur Seite und machte dabei die Tür ganz auf.
Ich kam ihrer Aufforderung nach. Ich wollte eigentlich nicht eintreten, doch ich tat es. Ich hatte Randoms Bitte nicht wörtlich nehmen wollen – ihr zu erzählen, was geschehen und wohin er geritten war. Im Grunde wollte ich ihr nur mitteilen, was ich eben gesagt hatte – nicht mehr. Erst als wir unserer separaten Wege gegangen waren, wurde mir klar, was Randoms Ersuchen eigentlich umfaßte: Er hatte mich um nichts weiter gebeten, als seine Frau aufzusuchen, mit der ich bisher kaum ein halbes Dutzend Worte gewechselt hatte, und ihr zu sagen, daß er losgeritten sei, um nach seinem illegetimen Sohn zu suchen, dem Kind, dessen Mutter Morganthe Selbstmord begangen hatte, wofür Random bestraft worden war, indem er Vialle heiraten mußte. Die Tatsache, daß diese Ehe sehr harmonisch war, verblüffte mich noch immer. Ich hatte nicht den Wunsch, der Überbringer unangenehmer Nachrichten zu sein; als ich in das Zimmer trat, versuchte ich einen Ausweg zu finden.
Ich kam an einer Büste Randoms vorbei, die links an der Wand auf einem hohen Regal stand. Ich war schon daran vorbei, ehe mir auffiel, daß hier mein Bruder dargestellt war. Auf der anderen Seite des Zimmers entdeckte ich Vialles Arbeitstisch. Ich drehte mich um und betrachtete die Büste.
»Ich wußte gar nicht, daß Ihr Skulpturen macht«, sagte ich.
»Ja.«
Ich sah mich in der Wohnung um und entdeckte dabei andere Arbeiten, die von ihr sein mußten.
»Recht gut«, sagte ich.
»Vielen Dank. Möchtet Ihr Euch nicht setzen?«
Ich ließ mich in einen großen Stuhl mit hohen Armlehnen sinken, der bequemer war, als er aussah. Sie nahm auf einem niedrigen Diwan zu meiner Rechten Platz und zog die Beine hoch.
»Kann ich Euch etwas zu essen oder zu trinken anbieten?«
»Nein danke. Ich kann nicht lange bleiben. Die Sache ist die: Random, Ganelon und ich sind auf dem-Rückweg ein bißchen vom Wege abgekommen, anschließend haben wir uns noch eine Zeitlang mit Benedict besprochen. Daraus hat sich ergeben, daß Random und Benedict eine weitere kurze Reise machen mußten.«
»Wie lange wird er fort sein?«
»Wahrscheinlich nur über Nacht. Vielleicht ein bißchen länger. Sollte es erheblich länger werden, wird er sich wahrscheinlich über irgendeinen Trumpf melden, und dann geben wir Euch Bescheid.«
Meine Wunde begann zu schmerzen, und ich legte die Hand darauf und massierte vorsichtig die Stelle.
»Random hat mir viel von Euch erzählt«, sagte sie.
Ich lachte leise.
»Seid Ihr sicher, daß Ihr nicht doch etwas essen möchtet? Es macht keine Schwierigkeiten . . .«
»Hat er Euch etwa gesagt, daß ich immer Hunger habe?«
Sie lachte.
»Nein. Aber wenn Ihr wirklich so aktiv gewesen seid, wie Ihr eben angedeutet habt, ist Euch sicher nicht viel Zeit zum Essen geblieben.«
»Na, das stimmt nicht ganz. Aber gut. Wenn Ihr noch irgendwo ein Stück Brot herumliegen habt, würd´ ich schon gern daran herumknabbern.«
»Gut. Einen Augenblick.«
Sie stand auf und verschwand im Nachbarzimmer. Ich ergriff die Gelegenheit, mir energisch die Wunde zu kratzen, die plötzlich unangenehm zu jucken begann. Erst danach fiel mir auf, daß sie ja gar nicht hätte sehen können, wie ich meine Hüfte bearbeitete. Ihre sicheren Bewegungen, ihr selbstbewußtes Benehmen hatten mich vergessen lassen, daß sie blind war. Es freute mich, daß sie so gut damit fertigwurde.
Ich hörte sie ein Lied singen: »Die Ballade der Wassergeher«, das Lied von Ambers großer Handelsflotte. Amber ist nicht wegen seiner Industrie bekannt, und Landwirtschaft ist auch nicht unsere Stärke. Doch unsere Schiffe segeln durch die Schatten, zwischen irgendwo und überall, und nehmen jede Ladung. So ziemlich jeder männliche Amberianer, von hohem Blute oder auch nicht, verbringt eine gewisse Zeit in der Flotte. Die vom Blute haben die Handelsrouten vor langer Zeit festgelegt, auf daß andere Schiffe ihnen folgen konnten; im Kopf jedes Kapitäns befinden sich die Meere von etwa zwei Dutzend Welten. Ich hatte früher bei dieser Arbeit mitgeholfen, und obwohl ich mich nie so sehr damit beschäftigt hatte wie Gérard oder Caine, hatten mich die Kräfte der Tiefe und der Geist der Männer, die sie überquerten, sehr beeindruckt.
Nach einer Weile kehrte Vialle zurück. Sie brachte ein Tablett mit Brot, Fleisch, Käse, Früchten und einer Flasche Wein und stellte es auf einen Tisch in meiner Nähe.
»Wollt Ihr ein ganzes Regiment abfüttern?« fragte ich.
»Ich gehe lieber sicher.«
»Vielen Dank. Wollt Ihr nicht mitessen?«
»Vielleicht etwas Obst«, erwiderte sie.
Ihre Finger suchten einen Augenblick lang herum, fanden einen Apfel. Sie kehrte zum Diwan zurück.
»Random hat mir gesagt, Ihr hättet dieses Lied geschrieben«, sagte sie.
»Das ist jetzt schon lange her, Vialle.«
»Habt Ihr in letzter Zeit noch komponiert?«
Ich wollte den Kopf schütteln, faßte mich aber rechtzeitig und sagte: »Nein. Dieser Teil von mir . . . schlummert.«
»Schade. Das Lied ist schön.«
»Random ist der eigentliche Musiker in der Familie.«
»Ja, er ist sehr gut. Aber Musizieren und Komponieren sind etwas völlig anderes.«
»Gewiß. Wenn sich die Dinge etwas beruhigt haben, werde ich vielleicht . . . Sagt, seid Ihr glücklich hier in Amber? Ist alles so, wie Ihr es Euch wünscht? Braucht Ihr irgend etwas?«
Sie lächelte.
»Ich brauche nur Random. Er ist ein guter Mann.«
Es bewegte mich seltsam, so von ihm sprechen zu hören.
»Dann freue ich mich für Euch«, erwiderte ich. »Er ist jünger und kleiner als wir übrigen . . . vielleicht hat er es etwas schwerer gehabt als die anderen in unserer Familie. Es gibt nichts Nutzloseres als einen weiteren Prinzen, wenn bereits eine ganze Horde davon herumtobt. Ich war in dieser Beziehung ebenso gemein wie die anderen. Bleys und ich haben ihn einmal zwei Tage lang auf einer Insel südlich von hier ausgesetzt . . .«
». . . und Gérard zog los und befreite ihn, als er davon hörte«, fiel sie ein. »Ja, er hat mir davon erzählt. Es muß Euch aber zu schaffen machen, wenn Ihr nach so langer Zeit noch daran denkt.«
»Auf ihn scheint der Vorfall aber auch Eindruck gemacht zu haben.«
»Nein, er hat Euch schon vor langer Zeit verziehen. Mir hat er die Sache als Witz erzählt. Außerdem hat er Euch später einen Dorn durch den Stiefelabsatz gebohrt; das Ding stach Euch in den Fuß.«
»Random war das also! Da soll doch . . .! Ich hatte immer Julian in Verdacht.«
»Die Sache macht Random zu schaffen.«
»Wie lange das jetzt alles her ist . . .« Ich schüttelte den Kopf und aß weiter. Mehrere Minuten lang herrschte Schweigen, dann sagte ich: »So ist´s besser. Viel besser. Ich habe eine seltsame und anstrengende Nacht in der Himmelsstadt hinter mir.«
»Habt Ihr nützliche Omen erfahren?«
»Ich weiß nicht, als wie nützlich sie sich erweisen werden. Andererseits bin ich wohl froh, sie gesehen zu haben. Ist hier irgend etwas Interessantes passiert?«
»Ein Dienstbote hat mir gesagt, Euer Bruder Brand habe sich weiter gut erholt. Er hat heute früh mit Appetit gegessen, was immer ein ermutigendes Zeichen ist.«
»Das ist wahr«, sagte ich. »Es sieht aus, als wäre er außer Gefahr.«
»Anzunehmen. Es – es ist wirklich schrecklich, was Ihr alle habt durchmachen müssen. Es tut mir leid. Ich hatte gehofft, Ihr hättet in Tir-na Nog´th Hinweise auf eine positive Wende Eurer Angelegenheiten gefunden.«
»Ist nicht weiter wichtig«, sagte ich. »Ich bin mir nicht mal sicher, welchen Wert die Sache überhaupt hat.«
»Warum aber . . . Oh!«
Ich betrachtete sie mit neu erwachtem Interesse. Auf ihrem Gesicht zeigte sich noch immer keine Regung, doch ihre rechte Hand ruckte vor und zupfte an dem Stoff des Diwans.
Plötzlich hielt sie die Finger still, als sei ihr bewußt geworden, wie vielsagend die Bewegung sein konnte. Sie war offensichtlich eine Frau, die bereits eine Antwort auf ihre Frage gefunden hatte und sich jetzt wünschte, sie hätte sie lieber gar nicht gestellt.
»Ja«, sagte ich. »Ich habe Zeit zu gewinnen versucht. Ihr wißt natürlich von meiner Wunde.«
Sie nickte.
»Ich nehme es Random nicht übel, daß er Euch davon erzählt hat«, sagte ich. »Auf sein Urteil konnte man sich schon immer verlassen. Ich sehe keinen Grund, warum sich das jetzt ändern sollte. Dennoch muß ich mich erkundigen, wieviel er Euch verraten hat – zu Eurer eigenen Sicherheit und damit ich weiter ruhig schlafen kann. Denn es gibt Dinge, die ich vermute, von denen ich aber noch nicht gesprochen habe.«
»Ich verstehe das durchaus. Es ist schwierig, etwas Negatives zu beurteilen – die Dinge, die er vielleicht ausgelassen hat, meine ich –, aber er erzählt mir das meiste. Ich kenne Eure Geschichte und die der anderen in den wesentlichen Zügen. Er hält mich auf dem laufenden über Ereignisse, Verdächtigungen, Vermutungen, Schlußfolgerungen.«
»Vielen Dank«, sagte ich und trank einen Schluck Wein. »Das erleichtert mir das Sprechen doch sehr. Ich werde Euch alles erzählen, was seit dem Frühstück geschehen ist . . .«
Und das tat ich.
Während ich sprach, lächelte sie von Zeit zu Zeit, ohne mich zu unterbrechen. Als ich fertig war, fragte sie: »Ihr dachtet, es würde mich aufregen, von Martin zu sprechen?«
»Möglich erschien es mir«, antwortete ich.
»Nein«, sagte sie. »Wißt Ihr, ich kannte Martin aus Rebma, als er noch ein kleiner Junge war. Während er aufwuchs, lebte ich dort. Ich mochte ihn. Selbst wenn er nicht Randoms Sohn wäre, würde er mir noch heute etwas bedeuten. Ich kann mich über Randoms Sorge nur freuen und hoffe, daß sie ihn noch rechtzeitig überkommen hat, um beiden zu nützen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mit Menschen wie Euch habe ich nicht oft zu tun«, sagte ich. »Es freut mich, daß ich endlich einmal mit Euch sprechen konnte.«
Sie lachte. »Ihr habt auch lange ohne Augen leben müssen«, sagte sie.
»Ja.«
»Das kann einen Menschen verbittern – oder ihm eine größere Freude an den Dingen schenken, die ihm noch geblieben sind.«
Ich brauchte gar nicht erst an meine Gefühle aus den Tagen der Blindheit zurückzudenken, um zu wissen, daß ich zur ersten Kategorie gehörte, selbst wenn man die Umstände berücksichtigte, unter denen ich meine Blindheit erdulden mußte. Es tut mir leid, aber so bin ich nun mal.
»Wie wahr«, sagte ich. »Ihr seid ein glücklicher Mensch.«
»In Wirklichkeit ist es lediglich ein Gemütszustand – etwas, das ein Herr der Schatten natürlich sofort versteht.«
Sie stand auf.
»Ich habe mich immer gefragt, wie Ihr wohl ausseht«, sagte sie. »Random hat Euch beschrieben, aber das ist etwas anderes. Darf ich?«
»Natürlich.«
Sie kam näher und legte mir die Fingerspitzen auf das Gesicht. Vorsichtig ertastete sie meine Züge.
»Ja«, sagte sie schließlich, »Ihr seht etwa so aus, wie ich mir vorgestellt habe. Und ich spüre eine Spannung in Euch. Die gibt es schon seit langer Zeit, nicht wahr?«
»In der einen oder anderen Form wohl schon seit meiner Rückkehr nach Amber.«
»Ich möchte wissen«, sagte sie, »ob Ihr nicht glücklicher wart, als ihr das Gedächtnis noch nicht wiederhattet.«
»Das ist eine unmögliche Frage«, sagte ich. »Hätte ich meine Erinnerungen nicht zurückgewonnen, wäre ich jetzt vielleicht tot. Aber davon einmal abgesehen – selbst damals gab es etwas, das mich antrieb, das mich täglich beunruhigte. Ich suchte ständig nach Wegen, festzustellen, wer und was ich wirklich war.«
»Aber wart Ihr glücklicher oder weniger glücklich als jetzt?«
»Weder noch«, erwiderte ich. »Es gleicht sich alles aus. Wie Ihr schon sagtet, es ist ein Gemütszustand. Und selbst wenn es nicht so wäre, könnte ich doch nie in das andere Leben zurückkehren, nachdem ich nun weiß, wer ich bin, nachdem ich Amber gefunden habe.«
»Warum nicht?«
»Warum stellt Ihr mir diese Fragen?«
»Ich möchte Euch verstehen. Seitdem ich in Rebma zum erstenmal von Euch hörte, noch bevor Random mir Geschichten über Euch erzählte, bewegte mich die Frage, was Euch im Nacken saß. Jetzt habe ich die Gelegenheit – natürlich nicht das Recht, sondern nur die Gelegenheit –, meine Grenzen zu überschreiten und Euch zu fragen, und ich finde, es lohnt sich.«
Ein leises Lachen brandete in mir empor.
»Gut ausgedrückt«, sagte ich. »Mal sehen, ob ich ehrlich sein kann. Zuerst beflügelte mich der Haß – Haß auf meinen Bruder Eric – und mein Ehrgeiz auf den Thron. Hättet Ihr mich bei meiner Rückkehr gefragt, welches das stärkere Gefühl war, so hätte ich geantwortet, es sei der Thron. Jetzt aber . . . jetzt müßte ich zugeben, daß die Verhältnisse in Wirklichkeit umgekehrt waren. Ich habe es mir bis jetzt nie richtig überlegt, aber es stimmt. Eric ist allerdings tot, von meinen damaligen Gefühlen ist nichts mehr übrig. Der Thron bleibt, doch heute muß ich feststellen, daß meine Gefühle in diesem Punkt gemischt sind. Es besteht die Möglichkeit, daß bei der augenblicklichen Sachlage keiner von uns einen Anspruch darauf hat, und selbst wenn alle Einwände seitens der Familie aufgehoben würden, wäre ich nicht bereit, den Thron zu besteigen. Zuerst müßte im Lande die Ruhe wiederhergestellt und eine Reihe von Fragen beantwortet sein.«
»Selbst wenn diese Dinge ergäben, daß Ihr den Thron nicht besteigen dürftet?«
»Selbst dann.«
»Langsam beginne ich zu verstehen.«
»Was? Was gibt es da zu verstehen?«
»Lord Corwin, mein Wissen über die philosophischen Grundlagen solcher Dinge ist beschränkt, doch habe ich mir eingebildet, daß Ihr in der Lage seid, im Bereich der Schatten alles zu erlangen, das Ihr Euch wünscht. Dies hat mich seit längerem beunruhigt; Randoms Erklärungen habe ich nämlich nie ganz verstanden. Wenn Ihr wolltet, könnte da nicht jeder aus der Familie in die Schatten wandern und sich ein anderes Amber suchen – in jeder Hinsicht identisch mit diesem Amber, mit der einzigen Ausnahme, daß Ihr dort herrschtet oder jeden anderen Status innehättet, der Euch am Herzen liegt?«
»Ja, solche Orte vermögen wir zu finden«, sagte ich.
»Warum wird das dann nicht getan und all der Streit damit beendet?«
»Es liegt daran, daß ein solcher Ort gefunden werden könnte, der derselbe zu sein schiene – aber das wäre auch alles. Wir alle sind ebenso gewiß ein Teil dieses Amber, wie es ein Teil von uns ist. Jeder Schatten Ambers müßte mit Schatten unserer selbst bevölkert sein, damit die Übung überhaupt einen Nutzen hat. Wir könnten sogar den Schatten unseres eigenen Ich aussparen, wollten wir persönlich in ein wartendes Reich umziehen. Die Leute des Schattens wären jedoch nicht genau wie die Menschen hier. Ein Schatten entspricht niemals dem Gegenstand, der ihn wirft. Und die kleinen Unterschiede summieren sich; im Grunde sind sie sogar schlimmer als die großen Differenzen. Im Gesamteffekt liefe es darauf hinaus, daß man ein Land voller Fremder beträte. Der beste Vergleich, der mir in den Sinn kommt, ist die Begegnung mit einer Person, die große Ähnlichkeit mit einem anderen Menschen hat, den Ihr gut kennt. Immer wieder erwartet man, daß der Betreffende wie der Bekannte reagiert; und noch schlimmer, man neigt dazu, sich ihm gegenüber so zu benehmen wie vor dem anderen. Man tritt ihm mit einer bestimmten Maske gegenüber, und seine Reaktionen stimmen nicht. Ein unbehagliches Gefühl. Ich habe nie Freude daran, mit Menschen zu sprechen, die mich an andere erinnern. Die Persönlichkeit ist das einzige Element, das wir in unserer Manipulation der Schatten nicht zu steuern vermögen. Tatsächlich liegt hier sogar der Aspekt, durch den wir erkennen, ob einer von uns nur ein Schatten oder er selbst ist. Deshalb war Flora auf der Schatten-Erde so lange im Ungewissen: Meine Persönlichkeit hatte sich sehr verändert.«
»Ich beginne zu verstehen«, sagte sie. »Euch geht es nicht nur um Amber, sondern um diesen Ort und alles andere.«
»Dieser Ort und alles andere . . . Das ist Amber.«
»Ihr sagt, Euer Haß sei mit Eric gestorben, und Euer Streben nach dem Thron sei durch neue Kenntnisse abgekühlt worden, die Ihr inzwischen erlangt habt.«
»Richtig.«
»Dann glaube ich zu verstehen, was Euch motiviert.«
»Mich treibt der Wunsch nach Stabilität«, sagte ich, »und eine Art Neugier – und Rachegefühle gegenüber unseren Feinden . . .«
»Die Pflicht«, sagte sie. »Natürlich.«
Ich schnaubte durch die Nase.
»Es wäre tröstend, könnte man der Sache dieses Mäntelchen umhängen«, sagte ich. »Doch wie die Dinge nun mal liegen, möchte ich nicht als Heuchler dastehen. Ich bin wahrlich kein pflichtbewußter Sohn Ambers oder Oberons.«
»Eure Stimme macht klar, daß Ihr nicht als solcher gelten wollt.«
Ich schloß die Augen, schloß sie, um zu ihr in die Dunkelheit zu treten, um mich vorübergehend an die Welt zu erinnern, wo andere Eindrücke als Lichtwellen den ersten Rang einnahmen. Ich wußte, daß sie mit meiner Stimme recht hatte. Warum hatte ich das Wort Pflicht so energisch abgetan, kaum daß es geäußert worden war? Ich möchte gelobt werden, wenn ich tatsächlich anständig, edel und mutig gewesen bin, und manchmal auch dann, wenn ich es nicht verdient habe – darin unterscheide ich mich nicht von meinen Mitmenschen. Was störte mich aber an dem Gedanken an eine Pflicht in Amber? Nichts. Was dann?
Vater.
Ich schuldete ihm nichts mehr, und schon gar kein Pflichtbewußtsein. In letzter Konsequenz war er für den jetzigen Status Quo verantwortlich. Er hatte eine große Nachkommenschaft in die Welt gesetzt, ohne eine konkrete Thronfolge festzulegen. Er hatte unsere diversen Mütter ziemlich unfreundlich behandelt und anschließend unsere Ergebenheit und Unterstützung erwartet. Er hatte einige seiner Kinder bevorzugt und möglicherweise sogar gegeneinander ausgespielt. Schließlich geriet er in eine Sache, mit der er nicht fertig wurde, und hinterließ das Königreich in schlimmem Zustand. Sigmund Freud hatte schon vor langer Zeit meinem normalen, allgemeinen Groll auf die Familie den Stachel genommen. In dieser Beziehung habe ich mit niemandem ein Hühnchen mehr zu rupfen. Tatsachen sind aber etwas anderes. Ich lehnte meinen Vater nicht nur deswegen ab, weil er mir keinen Grund gegeben hatte, ihn zu mögen; eher kam es mir vor, als habe er auf das Gegenteil hingewirkt. Genug. Ich erkannte, was mir an der Pflicht mißfiel: der, dem gegenüber sie erfüllt wurde.
»Ihr habt recht«, sagte ich, öffnete die Augen und sah sie an. »Ich bin froh, daß Ihr mir davon erzählt habt.« Ich stand auf. »Gebt mir die Hand«, sagte ich.
Sie streckte die rechte Hand aus, und ich hob sie an die Lippen. »Vielen Dank«, sagte ich. »Es war ein köstliches Mahl.«
Ich drehte mich um und ging zur Tür. Als ich zurückblickte, sah ich, daß sie rot geworden war und lächelte, die Hand noch immer ein Stück erhoben. Da begann ich die Veränderung zu verstehen, die mit Random vor sich gegangen war. Sie war eine fabelhafte Frau.
»Viel Glück für Euch«, sagte sie, als meine Schritte verstummten.
». . . Und für Euch«, sagte ich und verließ hastig das Zimmer.
Eigentlich hatte ich nun vorgehabt, Brand aufzusuchen, doch ich brachte es nicht über mich. Zum einen wollte ich nicht mit ihm zusammenkommen, solange mein Gehirn vor Müdigkeit vernebelt war. Zum anderen war mein Gespräch mit Vialle das erste angenehme Ereignis seit langer Zeit gewesen, und zur Abwechslung wollte ich einmal aufhören, solange ich die Nase vorn hatte.
Ich erstieg die Treppe und ging durch den Korridor zu meinem Zimmer, wobei ich an die Nacht der Messer dachte, während ich den neuen Schlüssel in das neue Schloß steckte. In meiner Schlafkammer zog ich die Gardinen zu, sperrte das Licht des Nachmittags aus, zog mich aus und ging zu Bett. Wie es oft passiert, wenn man sich nach großer Anspannung ausruht und weitere Mühen vor sich weiß, konnte ich nicht sofort einschlafen. Lange Zeit warf ich mich auf dem Lager hin und her und durchlebte noch einmal die Ereignisse der letzten Tage und weiter zurückliegender Perioden. Als ich endlich einschlummerte, waren meine Träume eine Mischung aus demselben Stoff, einschließlich einer kurzen Zeit in meiner alten Zelle, die ich damit verbrachte, an der Tür herumzukratzen.
Es war dunkel, als ich erwachte. Ich fühlte mich tatsächlich erfrischt. Die Spannung hatte meinen Körper verlassen, meine Gedanken strömten viel gelassener. Tatsächlich zuckte sogar ein winziger Funke freudiger Erregung durch einen Winkel meines Gehirns. Es war ein Vorhaben, das ich unter der Schwelle des Bewußtseins wußte, ein vergrabener Plan, der . . .
Ja!
Ich setzte mich auf, griff nach meiner Kleidung, begann mich anzuziehen. Ich gürtete Grayswandir um, faltete eine Decke zusammen und klemmte sie mir unter den Arm. Natürlich . . .
Meine Gedanken waren klar, und die Wunde hatte aufgehört zu schmerzen. Ich wußte nicht, wie lange ich geschlafen hatte, und hielt es auch nicht für erforderlich, die Zeit in Erfahrung zu bringen. Ich mußte einer Sache nachgehen, die weitaus wichtiger war, etwas, das mir schon längst hätte einfallen müssen – und das mir sogar schon durch den Kopf gegangen war. Ich hatte einmal sogar direkt darauf gestarrt, doch der Ansturm der Zeit und der Ereignisse hatte das Detail aus meinem Gehirn vertrieben. Bis jetzt.
Ich verschloß das Zimmer hinter mir und ging zur Treppe. Kerzen flackerten, und der verblaßte Hirsch, der seit Jahrhunderten auf dem Wandteppich zu meiner Rechten im Sterben lag, starrte auf die verblaßten Hunde, die ihn ungefähr ebenso lange verfolgt hatten. Manchmal gelten meine Sympathien dem Hirsch; doch meistens bin ich ganz Hund. Irgendwann muß ich das Ding mal restaurieren lassen.
Die Treppe hinab. Kein Geräusch von unten. Muß also ziemlich spät sein. Gut. Ein neuer Tag, und wir sind immer noch am Leben. Vielleicht sogar ein bißchen klüger. Klug genug, um zu erkennen, daß es noch viele Dinge gibt, die wir in Erfahrung bringen müssen. Und die Hoffnung, jawohl. Etwas, das mir fehlte, als ich in der verdammten Zelle hockte, die Hände vor die zerstörten Augen gepreßt, weinend. Vialle . . . Ich wünschte, ich hätte mich damals ein paar Minuten lang mit Euch unterhalten können. Doch ich mußte durch eine harte Schule gehen, und selbst ein rücksichtsvollerer Lehrplan hätte mir wahrscheinlich niemals Eure Anmut verliehen. Trotzdem . . . man weiß nie. Ich hatte immer das Gefühl, mehr Hund als Hirsch zu sein, mehr Jäger als Opfer. Ihr hättet mir vielleicht etwas beigebracht, das die Bitterkeit abgeschwächt, den Haß gemäßigt hätte. Aber wäre das wirklich besser gewesen? Der Haß erstarb mit seinem Ziel, und auf ähnliche Weise ist die Bitterkeit vergangen – aber rückblickend muß ich mich doch fragen, ob ich es ohne die Hilfe dieser Gefühle geschafft hätte. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich meine Gefangenschaft ohne diese häßlichen Begleiter überstanden hätte, die mich immer wieder ins Leben zurückholten und wieder zur Vernunft brachten. Heute kann ich mir den Luxus eines gelegentlichen Gedankens an den Hirsch leisten, aber damals hätte so etwas tödlich sein können. Ich weiß ehrlich keine Antwort darauf, freundliche Dame, und möchte bezweifeln, ob ich sie jemals finde.
Stille auch im ersten Stockwerk. Einige Laute von unten. Schlaf gut, Dame. Herum und weiter nach unten. Ich fragte mich, ob Random Dinge von großer Wichtigkeit herausgefunden hatte. Wahrscheinlich nicht, sonst hätten er oder Benedict sich längst mit mir in Verbindung gesetzt. Es sei denn, es gab Ärger. Aber nein. Es ist lächerlich, sich die Sorgen aus den Ecken herzusuchen. Die Realität macht sich zu gegebener Zeit von allein bemerkbar, und ich hatte mehr als genügend andere Sorgen.
Erdgeschoß.
»Will«, sagte ich, und: »Rolf.«
Die beiden Wächter hatten Haltung angenommen, als sie meine Schritte vernahmen. Ihre Gesichter verrieten mir, daß alles in Ordnung war; der guten Ordnung halber fragte ich trotzdem.
»Ruhig, Lord, ruhig ist es«, erwiderte der Dienstältere.
»Sehr gut«, sagte ich und setzte meinen Weg fort. Ich betrat und durchquerte den mit Marmor ausgekleideten Speisesaal.
Es würde klappen, davon war ich überzeugt, wenn Zeit und Feuchtigkeit nicht sämtliche Spuren getilgt hatten. Und dann . . .
Ich betrat den langen Korridor, der bedrängt wurde von staubigen Wänden. Dunkelheit, Schatten, meine Schritte . . .
Ich erreichte die Tür am anderen Ende, öffnete sie, trat auf die Plattform hinaus. Dann von neuem in die Tiefe, die Wendeltreppe hinab, hier ein Licht, dort ein Licht, hinab in die Höhlen des Kolvir. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, daß Random recht hatte: Wenn man den Berg bis hinab zur Ebene jenes fernen Bodens abtrug, bestand eine weitgehende Übereinstimmung zwischen dem, was übrig war, und der Umgebung des Ur-Musters, das wir heute früh besucht hatten.
. . . Weiter hinab. In engen Kehren durch die Düsternis. Die durch Fackeln und Laternen erhellte Wachstation wirkte wie ein Bühnenbild. Ich erreiche den Boden und näherte mich dem Posten.
»Guten Abend, Lord Corwin«, sagte die ausgemergelt wirkende Gestalt, die an einem Lagerregal lehnte und mich angrinste, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.
»Guten Abend, Roger. Wie stehen die Dinge in der Unterwelt?«
»Eine Ratte, eine Fledermaus, eine Spinne. Sonst rührt sich hier nicht viel. Friedlich ist es.«
»Gefällt Euch diese Aufgabe?«
Er nickte.
»Ich schreibe gerade eine philosophische Liebesgeschichte, durchdrungen von Elementen des Horrors und der Morbidität. An diesen Aspekten arbeite ich hier unten.«
»Das paßt ja nun wirklich«, sagte ich. »Ich brauche eine Laterne.«
Er nahm eine aus dem Regal und zündete sie an seiner Kerze an.
»Wird Eure Geschichte ein glückliches Ende haben?« wollte ich wissen.
Er zuckte die Achseln.
»Jedenfalls werde ich glücklich sein.«
»Ich meine, siegt das Gute, und geht der Held mit der weiblichen Hauptperson ins Bett? Oder laßt Ihr sie zum Schluß beide umkommen?«
»Das wäre kaum fair.«
»Na, egal. Vielleicht darf ich die Geschichte eines Tages mal lesen.«
»Vielleicht.«
Ich ergriff die Laterne, wandte mich ab und schritt in die Richtung, die ich seit langer Zeit nicht mehr eingeschlagen hatte. Ich stellte fest, daß ich die Echos noch immer auszumessen verstand.
Nach kurzer Zeit näherte ich mich der Wand, machte den richtigen Korridor aus und betrat ihn. Nun ging es nur noch darum, die Schritte zu zählen. Meine Füße kannten den Weg.
Die Tür zu meiner alten Zelle stand halb offen. Ich stellte die Laterne ab und gebrauchte beide Hände, um sie ganz zu öffnen. Sie ruckte widerstrebend auf und stieß dabei ein Ächzen aus. Dann hob ich die Laterne und trat ein.
Schauder überliefen mich, und mein Magen zuckte krampfartig. Ich begann zu zittern. Ich mußte gegen den starken Wunsch ankämpfen, die Flucht zu ergreifen. Auf diese Reaktion war ich nicht gefaßt gewesen. Am liebsten hätte ich mich gar nicht von der schweren, eisenbeschlagenen Tür entfernt, aus Angst, daß irgend jemand sie hinter mir zuschlagen und verriegeln könnte. Die kleine schmutzige Zelle löste in mir etwas aus, das nacktem Entsetzen sehr nahe kam. Ich zwang mich dazu, Einzelheiten zu betrachten – das Loch, das meine Toilette gewesen war, die geschwärzte Stelle, wo ich am letzten Tag das Feuer entzündet hatte. Mit der linken Hand betastete ich das Innere der Tür und erkundete die Rillen, die ich in meiner Verzweiflung mit dem Löffel geschabt hatte. Ich dachte daran, was diese Arbeit für meine Hände bedeutet hatte. Ich bückte mich und betrachtete die Spuren. Nicht annähernd so tief, wie es mir damals vorgekommen war, nicht wenn man die Gesamtdicke der Tür bedachte. Ich erkannte, wie sehr ich meine schwachen Befreiungsbemühungen damals überbewertet hatte. Ich ging weiter und betrachtete die Mauer.
Undeutlich zu erkennen. Staub und Feuchtigkeit hatten sich bemüht, die Zeichnung auszulöschen. Doch noch immer vermochte ich die Umrisse des Leuchtturms von Cabra auszumachen, umrahmt von vier Strichen meines alten Löffelgriffs. Der Zauber war noch vorhanden, die Kraft, die mich schließlich in die Freiheit versetzt hatte. Ich spürte sie, ohne sie gerufen zu haben.
Ich machte kehrt und sah mir die gegenüberliegende Wand an.
Die Zeichnung, die hier zu finden war, hatte die Zeit nicht so gut überstanden wie der Leuchtturm, doch schließlich war sie in äußerster Hast im Lichte meiner letzten Streichhölzer entstanden. Ich vermochte nicht einmal mehr alle Einzelheiten zu erkennen, wenn auch meine Erinnerung ein paar dazutat, die jetzt verborgen waren: der Blick in ein Arbeitszimmer oder eine Bibliothek, Bücherregale an den Wänden, ein Tisch im Vordergrund, ein Globus neben dem Tisch. Ich überlegte, ob ich es riskieren durfte, die Zeichnung abzuwischen.
Ich stellte die Laterne auf den Boden und kehrte zu der Zeichnung an der anderen Wand zurück. Mit einer Kante meiner Decke wischte ich vorsichtig etwas Staub von einer Stelle am Fuß des Leuchtturms. Die Linie wurde deutlicher. Ich wischte weiter und drückte diesmal ein wenig fester zu. Dabei löschte ich einen Zoll der Linie völlig aus.
Ich trat zurück und riß einen breiten Streifen von der Seite der Decke ab. Den Rest faltete ich zu einem Kissen zusammen und setzte mich darauf. Langsam und vorsichtig begann ich am Leuchtturm zu arbeiten. Ich mußte mich mit der Arbeit vertraut machen, ehe ich die andere Darstellung zu säubern versuchte.
Eine halbe Stunde später stand ich auf und streckte mich; dann bückte ich mich und massierte meine Beine, die eingeschlafen waren. Die Zeichnung des Leuchtturms war wieder sauber. Leider hatte ich etwa zwanzig Prozent des Bildes zerstört, ehe ich mich an die Struktur der Wand gewöhnt und die richtige Wischbewegung gefunden hatte. Ich nahm nicht an, daß ich meine Technik noch verbessern konnte.
Die Laterne begann zu flackern, als ich sie umsetzte. Ich entfaltete die Decke, schüttelte sie aus, und riß einen frischen Streifen ab. Dann machte ich mir ein neues Kissen, kniete mich vor der anderen Zeichnung hin und ging an die Arbeit.
Kurz darauf hatte ich die Reste des Bildes freigelegt. Den Schädel auf dem Tisch hatte ich vergessen, bis eine vorsichtige Bewegung ihn wieder zutage förderte – ebenso den Winkel der gegenüberliegenden Wand und einen hohen Kerzenhalter . . . ich beugte mich zurück. Weiterzureiben konnte riskant sein. Wahrscheinlich war es auch überflüssig. Die Zeichnung kam mir so komplett vor, wie sie gewesen war.
Wieder flackerte die Lampe. Ich fluchte auf Roger, der es versäumt hatte, den Petroleumstand zu prüfen, stand auf und hielt das Licht in Schulterhöhe nach links. Dann konzentrierte ich mich so fest ich konnte auf die vor mir liegende Szene.
Während ich hinschaute, gewann das Bild bereits an Tiefe. Gleich darauf war es völlig dreidimensional und hatte sich über mein ganzes Blickfeld ausgebreitet. Da endlich trat ich vor und stellte die Laterne auf dem Tisch ab.
Ich sah mich um. An allen vier Wänden ragten Bücherregale empor. Fenster gab es nicht. Zwei Türen am entgegengesetzten Ende des Zimmers, sich links und rechts gegenüberliegend, die eine Tür zu, die andere halb geöffnet. Ich sah neben der geöffneten Tür einen langen niedrigen Tisch voller Bücher und Papiere. Bizarre Objekte standen an leeren Stellen in den Regalen und in seltsamen Wandnischen – Knochen, Steine, Töpfereiwaren, Schrifttafeln, Linsen, Stäbe, Instrumente, deren Zweck mir unbekannt war. Der riesige Teppich erinnerte mich an einen Ardebil. Ich machte einen Schritt in das Zimmer, und die Laterne flackerte ein drittesmal. Ich drehte mich um und griff danach. Im gleichen Augenblick verlöschte das Licht.
Ich brummte einen Fluch und senkte die Hand. Dann drehte ich mich langsam um und suchte nach möglichen Lichtquellen. Auf einem gegenüberliegenden Regal schimmerte etwas, das an einen Korallenzweig erinnerte; außerdem war am Fuße der geschlossenen Tür ein bleicher Lichtstreifen zu sehen. Ich ließ die Laterne stehen und durchquerte das Zimmer.
Ich öffnete die Tür, so leise es ging. Der benachbarte Raum war leer, ein kleiner fensterloser Wohnraum im schwachen Licht eines noch glimmenden Herdfeuers. Die Wände bestanden aus Stein und ragten hoch über mir auf. Die Feuerstelle sah aus wie eine natürliche Vertiefung in der Wand zu meiner Linken. In der Wand gegenüber entdeckte ich eine breite Metalltür; ein großer Schlüssel war halb herumgedreht.
Ich trat ein, nahm von einem Tisch in der Nähe eine Kerze und ging zur Feuerstelle, um sie anzuzünden. Als ich niederkniete und in die Glut blies, um eine Flamme zu entfachen, hörte ich leise Schritte von der Tür her. Ich drehte mich um und entdeckte ihn auf der Schwelle. Etwa fünf Fuß groß, bucklig. Haar und Bart waren noch länger, als ich sie in Erinnerung hatte. Dworkin trug ein Nachthemd, das bis zu den Knöcheln herabhing. In der Hand hielt er eine Öllampe, seine dunklen Augen starrten an ihrem rußigen Aufsatz vorbei.
»Oberon«, fragte er, »ist es endlich Zeit?«
»Welche Zeit meinst du?« fragte ich leise.
Er kicherte.
»Na, welche schon? Zeit, die Welt zu vernichten!«