11

Ich konnte manche Abkürzung über die Felder machen, wo sich Bill an die Straßen halten mußte; folglich kam ich dicht hinter ihm ans Ziel. Als ich Drum zügelte, unterhielt er sich gerade mit Ed, der nach Südwesten deutete.

Ich stieg ab, und Ed musterte mein Pferd.

»Schönes Tier«, sagte er.

»Vielen Dank.«

»Sie sind fort gewesen?«

»Ja.«

Wir gaben uns die Hand.

»Schön, Sie wieder mal zu sehen. Ich habe Bill eben gesagt, daß ich gar nicht weiß, wie lange der Künstler eigentlich hier war. Ich dachte mir nur, daß er schon verschwinden würde, sobald es dunkel wird, und habe mich gar nicht mehr um ihn gekümmert. Wenn der Bursche nun wirklich etwas gesucht hat, das Ihnen gehört, und über den Komposthaufen Bescheid wußte, könnte er sich noch immer da draußen herumtreiben. Wenn Sie wollen, hole ich meine Schrotflinte und komme mit.«

»Nein, vielen Dank«, sagte ich. »Ich glaube, ich weiß schon, wer der Kerl war. Auf die Flinte können wir verzichten. Wir gehen nur mal eben hinüber und sehen uns die Stelle an.«

»Na schön«, sagte er. »Ich komme mit und helfe Ihnen.«

»Das ist aber nicht notwendig«, gab ich zurück.

»Was ist mit Ihrem Pferd? Soll ich es tränken und ihm zu fressen geben und es etwas abreiben?«

»Dafür wäre es Ihnen sehr dankbar – und ich auch.«

»Wie heißt es denn?«

»Drum.«

Er näherte sich dem Pferd und begann sich mit ihm anzufreunden.

»Gut«, sagte er. »Dann bin ich drüben in der Scheune. Wenn Sie mich brauchen – ein Ruf genügt!«

»Vielen Dank.«

Ich holte die Werkzeuge aus Bills Wagen, und er führte mich im Schein einer Taschenlampe nach Südwesten, in die Richtung, in die Ed vorhin gedeutet hatte.

Ich folgte Bills Licht über das Feld und suchte nach dem Komposthaufen. Als wir eine Stelle erreichten, an der etwas lag, das wie die Überreste eines solchen Haufens aussah, atmete ich unwillkürlich tief. Irgend jemand mußte hier am Werk gewesen sein; die herumgestreuten Brocken sprachen eine deutliche Sprache. Vom bloßen Abladen wäre die Masse nicht so verstreut worden.

Trotzdem . . . Die Tatsache, daß hier jemand gewühlt hatte, bedeutete nicht, daß das Gesuchte auch gefunden worden war.

»Was meinst du?« erkundigte sich Bill.

»Keine Ahnung«, gab ich zurück, legte die Werkzeuge fort und näherte mich dem größten Haufen. »Leuchte mal hierher.«

Ich sah mir die Überreste an, griff schließlich nach einer Harke und begann alles zu zerstreuen. Ich zerbrach jeden Brocken, breitete ihn über den Boden aus und fuhr mit den Zacken hindurch. Nach einer Weile stellte Bill die Lampe auf einer kleinen Anhöhe ab und begann mir zu helfen.

»Ich habe ein seltsames Gefühl . . .«, brummte er.

»Ich auch.«

». . . als wären wir zu spät gekommen.«

Wir setzten unsere Arbeit fort: zerkleinern und ausbreiten, zerkleinern und ausbreiten . . .

Da spürte ich das vertraute Kribbeln. Ich richtete mich auf und wartete.

Sekunden später kam der Kontakt.

»Corwin!«

»Hier Gérard.«

»Was hast du gesagt?« wollte Bill wissen.

Ich hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und konzentrierte mich auf Gérard. Er stand im Schatten vor dem hellen Anfang des Musters und stützte sich auf seine riesige Klinge.

»Du hattest recht«, sagte er. »Brand hat sich eben hier blicken lassen. Ich weiß nicht genau, wie er überhaupt hergekommen ist. Er kam dort drüben links aus den Schatten.« Er machte eine Handbewegung. »Er sah mich einen Augenblick lang an, machte kehrt und marschierte zurück. Auf meine Rufe hat er nicht reagiert. Daraufhin habe ich die Laterne großgestellt, doch er war nirgends zu sehen. Er ist einfach verschwunden! Was soll ich jetzt tun?«

»Trug er das Juwel des Geschicks?«

»Das konnte ich nicht erkennen. Ich habe ihn nur eine Sekunde lang gesehen, bei diesem ganz schlechten Licht.«

»Wird das Muster in Rebma auch bewacht?«

»Ja. Llewella hat die Leute dort alarmiert.«

»Gut. Bleib auf Wache. Ich melde mich wieder.«

»Gut, Corwin – und was die Sache von vorhin angeht . . .«

»Längst vergessen.«

»Vielen Dank. Dieser Ganelon ist ein harter Bursche.«

»Kann man wohl sagen! Schlaf nicht ein!«

Sein Bild verblaßte, als ich den Kontakt fahren ließ; doch im gleichen Augenblick passierte etwas Seltsames. Das Gefühl der Verbindung, der Pfad blieb, objektlos, offen, wie ein eingeschaltetes Radio, das auf keine bestimmten Sender eingestellt ist.

Bill musterte mich mißtrauisch.

»Carl, was geht hier eigentlich vor?«

»Keine Ahnung. Moment noch!«

Plötzlich hatte ich wieder Kontakt, allerdings nicht mit Gérard. Sie mußte versucht haben, mich zu erreichen, während meine Aufmerksamkeit Gérard galt.

»Corwin, es ist wichtig . . .«

»Sprich weiter, Fiona.«

»Was du suchst, wirst du dort nicht finden. Brand hat es.«

»Das ahnte ich schon.«

»Wir müssen ihn aufhalten. Ich weiß nicht, wieviel du weißt . . .«

»Ich auch nicht mehr«, gab ich zurück, »doch ich habe die Muster in Amber und Rebma unter Aufsicht gestellt. Gérard hat mir eben mitgeteilt, daß Brand am Muster von Amber erschienen ist, sich aber hat abschrecken lassen.«

Ihr hübsches kleines Gesicht nickte. Ihre roten Zöpfe waren ungewöhnlich zerzaust. Sie wirkte müde.

»Das ist mir bekannt«, sagte sie. »Ich beobachte ihn nämlich. Eine dritte Möglichkeit hast du allerdings vergessen.«

»Nein«, sagte ich. »Nach meinen Berechnungen dürfte an Tir-na Nog´th noch niemand herankommen . . .«

»Das meinte ich nicht. Er ist unterwegs zum Ur-Muster!«

»Um das Juwel einzustimmen?«

»Richtig!«

»Wollte er dieses Muster beschreiten, müßte er die beschädigten Stellen betreten. Soweit ich weiß, ist das kein geringes Problem.«

»Du weißt also davon«, sagte sie. »Gut, das spart uns Zeit. Die dunklen Stellen würden ihm nicht so sehr zu schaffen machen wie uns anderen. Er hat sich nicht mit der Dunkelheit arrangiert. Wir müssen ihn aufhalten!«

»Kennst du irgendwelche Abkürzungen dorthin?«

»Ja. Komm zu mir. Ich bringe dich hin.«

»Moment noch. Ich möchte Drum bei mir haben.«

»Weshalb denn das?«

»Man weiß nie – sicher ist sicher.«

»Na schön. Dann hol mich zu dir. Wir können genausogut von dort aufbrechen.«

Ich streckte die Hand aus. Gleich darauf hielt ich die ihre umklammert. Sie trat vor. »Himmelherrgott!« sagte Bill und wich zurück. »Ich hatte schon begonnen, an deinem Verstand zu zweifeln, Carl. Jetzt bin ich wohl reif für die Klapsmühle. Sie – sie steht auf einer der Karten, nicht wahr?«

»Ja, Bill, ich möchte dir meine Schwester Fiona vorstellen. Fiona, dies ist Bill Roth, ein guter Freund von mir.«

Fiona hielt ihm die Hand hin und lächelte, und ich ließ die beiden stehen und ging Drum holen. Wenige Minuten später führte ich ihn ins Freie.

»Bill«, sagte ich. »Es tut mir leid, dich gestört zu haben. Mein Bruder hat tatsächlich das Schmuckstück. Wir werden ihn jetzt verfolgen. Vielen Dank für deine Hilfe.«

Ich schüttelte ihm die Hand.

»Corwin«, sagte er, und ich lächelte.

»Ja, so heiße ich.«

»Wir haben uns unterhalten, deine Schwester und ich. In den wenigen Minuten konnte ich nicht viel erfahren, aber ich weiß, daß die Sache gefährlich ist. Viel Glück also: Und eines Tages möchte ich die ganze Geschichte hören.«

»Danke«, erwiderte ich. »Ich sorge dafür, daß du später alles erfährst.«

Ich stieg auf, beugte mich hinab und zog Fiona vor mich in den Sattel.

»Gute Nacht, Mr. Roth«, sagte sie. Dann zu mir: »Reite langsam an, über das Feld.«

Ich gehorchte.

»Brand behauptet, du hättest ihm die Messerwunde beigebracht«, bemerkte ich, als wir weit genug entfernt waren, um uns allein zu fühlen.

»Richtig.«

»Warum?«

»Um dies alles zu verhindern.«

»Ich habe mich lange mit ihm unterhalten. Er sagt, ursprünglich hättest du zusammen mit Bleys und ihm versucht, die Macht zu übernehmen.«

»Richtig.«

»Er erzählte mir, er habe Caine angesprochen, um ihn für eure Seite zu gewinnen, doch Caine wollte davon nichts hören; vielmehr habe er Eric und Julian Bescheid gegeben, was dazu führte, daß die drei eine eigene Gruppe bildeten, um euch den Weg zum Thron zu verstellen.«

»In groben Zügen ist das richtig. Caine hatte eigene ehrgeizige Pläne – langfristige Hoffnungen, doch immerhin Hoffnungen. Allerdings war er nicht in der Lage, sie zu realisieren, und wenn er schon die zweite Geige spielen mußte, wollte er lieber unter Eric als unter Bleys dienen. Das kann ich ihm sogar nachfühlen.«

»Brand behauptet weiterhin, ihr drei hättet ein Arrangement mit den Mächten am Ende der schwarzen Straße, mit den Höfen des Chaos getroffen.«

»Ja, das war richtig.«

»Du sprichst in der Vergangenheit?«

»Für mich und Bleys – jawohl.«

»Aber so hat Brand es nicht dargestellt.«

»Kein Wunder!«

»Er sagte, du und Bleys wolltet dieses Bündnis weiter ausbauen, er aber hätte es sich anders überlegt. Und deswegen, so sagt er, hättet ihr euch seiner entledigt und ihn in jenem Turm eingeschlossen.«

»Warum hätten wir ihn nicht einfach umbringen sollen?«

»Keine Ahnung. Verrat´s mir.«

»Er war zu gefährlich, als daß er frei herumlaufen durfte; andererseits konnten wir ihn nicht umbringen, weil er über etwas Entscheidendes verfügte.«

»Was?«

»Nach Dworkins Verschwinden war Brand der einzige, der wußte, wie der Schaden, den er dem Ur-Muster zugefügt hatte, getilgt werden konnte.«

»Ihr hattet genug Zeit, um diese Information aus ihm herauszubekommen.«

»Er verfügte über unglaubliche Kräfte.«

»Warum bist du dann trotzdem mit dem Dolch auf ihn losgegangen?«

»Um dies alles zu verhindern, wie ich eben schon sagte. Wenn ich zwischen seiner Freiheit oder seinem Tod zu wählen hatte, war es besser, ihn zu töten. Dann hätten wir eben selbst eine Möglichkeit finden müssen, das Muster wiederherzustellen, so riskant das auch sein mag.«

»Wenn das alles so ist, warum hast du dich dann bereit erklärt, an seiner Zurückholung mitzuwirken?«

»Zunächst habe ich nicht daran mitgewirkt, vielmehr habe ich den Versuch sabotieren wollen. Aber zu viele haben sich wirklich Mühe gegeben. Ihr kamt zu ihm durch. Zweitens mußte ich zur Stelle sein und ihn zu töten versuchen, sobald ihr Erfolg hattet. Schade, daß die Dinge sich dann doch ganz anders entwickelt haben.«

»Du behauptest also, du und Bleys hättet Bedenken gehabt wegen eures Bündnisses mit den Kräften der Finsternis – Brand aber nicht?«

»Genau.«

»Wie wirkten sich diese Bedenken auf eure Bestrebungen aus, den Thron zu erlangen?«

»Wir glaubten, wir könnten es ohne weitere Hilfe von außerhalb schaffen.«

»Ich verstehe.«

»Glaubst du mir?«

»Ich fürchte, daß ich mich allmählich überzeugen lasse.«

»Hier abbiegen.«

Ich ritt in einen Einschnitt zwischen Hügeln. Der Weg war eng und sehr dunkel; über uns schimmerte lediglich ein schmales Sternenband. Fiona hatte während unseres Gesprächs die Schatten manipuliert; sie hatte uns von Eds Feld aus in die Tiefe geführt, in ein nebliges, moorähnliches Gebiet, dann wieder in die Höhe, auf einen Felspfad zwischen hohen Bergen. Während wir uns durch den düsteren Engpaß bewegten, spürte ich, wie sie erneut mit den Schatten arbeitete. Die Luft war kühl, aber nicht kalt. Die Schwärze links und rechts war absolut und ließ nicht etwa an schattenumhüllte nahe Felsen denken, sondern erzeugte die Illusion gewaltiger Tiefe. Ich erkannte plötzlich, daß dieser Eindruck durch die Tatsache verstärkt wurde, daß Drums Hufschlag kein Echo fand und auch keinen Nachhall, keine Obertöne hatte.

»Was kann ich tun, um dein Vertrauen zu erringen?« fragte sie.

»Das ist eine kitzlige Frage.«

Sie lachte. »Ich will sie neu formulieren. Was kann ich tun, um dich zu überzeugen, daß ich die Wahrheit sage?«

»Beantworte mir bitte eine Frage.«

»Welche?«

»Wer hat auf meine Reifen geschossen?«

Wieder lachte sie.

»Du hast es herausgefunden, nicht wahr?«

»Vielleicht. Aber sag´s mir.«

»Brand«, sagte sie. »Er hatte es nicht geschafft, dein Erinnerungsvermögen zu vernichten, also beschloß er, dich ein für allemal auszuschalten.«

»Die Version, die ich bisher kannte, ging davon aus, daß Bleys schoß und mich im See ertrinken ließ, daß Brand aber noch rechtzeitig eintraf, um mich an Land zu ziehen und mir das Leben zu retten. Darauf schien mir auch der Polizeibericht hinzudeuten.«

»Wer aber rief die Polizei?« wollte sie wissen.

»Es war von einem anonymen Anruf die Rede, aber . . .«

»Bleys war der Anrufer. Als ihm klar wurde, was da eigentlich passierte, kam er nicht rechtzeitig an dich heran, um dich zu retten. Er hoffte, daß es die Beamten schaffen würden, was zum Glück der Fall war.«

»Was soll das heißen?«

»Brand hat dich nicht aus dem Autowrack gezerrt. Das hast du selbst geschafft. Er hielt sich in der Nähe auf, um sicher zu gehen, daß du auch tot warst. Statt dessen kamst du an die Wasseroberfläche und schwammst an Land. Er ging zu dir und beschäftigte sich gerade mit dir, um zu sehen, ob du von allein sterben würdest oder er dich wieder ins Wasser schubsen mußte. Etwa um diese Zeit traf die Polizei ein, und er mußte verschwinden. Wir erwischten ihn kurz darauf und vermochten ihn festzuhalten und in den Turm zu sperren. Das war keine Kleinigkeit. Später setzte ich mich mit Eric in Verbindung und teilte ihm mit, was geschehen war. Daraufhin befahl er Flora, dich in das andere Krankenhaus zu bringen und dafür zu sorgen, daß du bis nach seiner Krönung dort bliebst.«

»Es paßt alles«, sagte ich. »Vielen Dank.«

»Was paßt?«

»Ich war nur ein kleiner Landarzt in einer weniger komplizierten Zeit, und mit psychiatrischen Fällen hatte ich nie viel zu tun. Aber ich weiß, daß man niemandem eine Elektroschocktherapie verschreibt, wenn man sein Gedächtnis wiederherstellen will. EST bewirkt im allgemeinen genau das Gegenteil – es zerstört Kurzzeiterinnerungen. Mein Verdacht begann sich zu regen, als ich erfuhr, daß Brand mir eine solche Behandlung verschafft hatte. Darauf baute ich meine Hypothese auf. Das Autowrack löste keine Erinnerungen aus, ebensowenig das EST. Ich hatte schließlich begonnen, mein Gedächtnis auf natürlichem Wege zurückzugewinnen und nicht als Folge eines bestimmten Traumas. Ich muß irgend etwas getan oder gesagt haben, das auf diese Entwicklung hindeutete. Irgendwie erfuhr Brand davon und kam zu dem Schluß, daß dies keine gute Sache wäre. Also suchte er meinen Schatten auf, brachte mich in psychiatrischen Gewahrsam und unterwarf mich einer Behandlung, von der er hoffte, daß sie jene Dinge wieder auslöschen würde, an die ich mich seit kurzem erinnern konnte. Damit hatte er nur zum Teil Erfolg: Ich war nur in den Tagen unmittelbar nach der Behandlung verwirrt. Vielleicht hat auch der Unfall dazu beigetragen. Als ich jedoch aus dem Porter-Sanatorium floh und seinen Mordversuch überlebte, setzte sich der Prozeß der Erholung fort, und erst recht, als ich in Greenwood wieder zu mir kam und auch dieses Krankenhaus verließ. Schon bei Flora kehrten meine Erinnerungen schneller zurück. Der Vorgang wurde weiterhin beschleunigt, als Random mich nach Rebma mitnahm, wo ich das Muster beschritt. Wäre das nicht geschehen, davon bin ich jetzt überzeugt, wäre mir trotzdem alles wieder eingefallen. Es hätte bestimmt länger gedauert, aber der Damm war gebrochen, die Erneuerung des Gedächtnisses war ein fortlaufender Prozeß, der sich mit der Zeit immer mehr beschleunigte. Ich schloß also, daß Brand mich hatte behindern wollen, und das paßt nun zu den Dingen, die du eben erzählt hast.«

Das Band der Sterne war noch schmaler geworden und verschwand schließlich völlig. Wir bewegten uns scheinbar durch einen völlig schwarzen Tunnel, an dessen anderem Ende ein sehr vager Lichtschimmer zu erkennen war.

»Ja«, sagte sie in der Dunkelheit vor mir, »du hast richtig vermutet. Brand hatte Angst vor dir. Er behauptete, er hätte eines Nachts in Tir-na Nog´th deine Rückkehr erschaut, zum Nachteil für unsere Pläne. Damals achtete ich nicht weiter auf ihn, wußte ich doch gar nicht, daß du noch am Leben warst. Kurz darauf muß er sich auf die Suche nach dir gemacht haben. Ob er deinen Aufenthaltsort auf übernatürlichem Wege herausfand oder ihn nur in Erics Verstand las, weiß ich nicht. Vermutlich das letztere. Gelegentlich vollbringt er solche Taten. Jedenfalls fand er dich – und den Rest weißt du selbst.«

»Es waren Floras Anwesenheit an jenem Ort und ihre seltsame Beziehung zu Eric, die sein Mißtrauen weckten. Jedenfalls behauptet er das. Aber darauf kommt es nicht mehr an. Was gedenkst du mit ihm zu tun, wenn wir ihn erwischen?«

Sie lachte leise.

»Du hast deine Klinge bei dir«, sagte sie.

»Brand sagte mir kürzlich, Bleys sei noch am Leben. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Warum bin ich dann hier und nicht Bleys?«

»Bleys ist nicht auf das Juwel eingestimmt – im Gegensatz zu dir. Du hast aus geringer Entfernung Einfluß darauf, und es wird versuchen, dich zu schützen, solltest du in Lebensgefahr sein. Das Risiko ist deshalb nicht besonders groß«, sagte sie und fuhr fort: »Aber du solltest dich nicht zu sehr darauf verlassen. Ein schneller Hieb kann der Reaktion des Juwels zuvorkommen. Du könntest trotz allem in seiner Gegenwart sterben.«

Das Licht vor uns wurde größer und heller, doch es kamen kein Windhauch, kein Laut und auch kein Geruch aus dieser Richtung. Im Weiterreiten dachte ich an die verschiedenen Konstellationen von Erklärungen, die ich seit meiner Rückkehr gehört hatte, jede Version mit einem eigenen Komplex an Motiven und Rechtfertigungen für die Geschehnisse während meiner Abwesenheit, für die Ereignisse seither und die bevorstehenden Dinge. An all die Emotionen, die Pläne, die Gefühle, die Ziele, die ich wie eine Sturzflut durch das Gebäude der Tatsachen hatte strömen sehen, das ich auf dem Grab meines anderen Ich errichtete – und obwohl in der besten Steinschen Tradition eine Tat eine Tat ist, verschob jede Woge der Interpretation, die mich untertauchen ließ, dieses oder jenes Detail, das ich fest verankert geglaubt hatte, und führte dadurch eine Veränderung des Ganzen herbei, mit der Folge, daß das Leben mir fast wie ein bewegtes Spiel der Schatten um das Amber einer nie zu erlangenden Wahrhaftigkeit anmutete. Trotzdem, ich konnte nicht leugnen, daß ich inzwischen mehr wußte als noch vor mehreren Jahren, daß ich dem Kern der Dinge näher stand als früher, daß der ganze Strom der Ereignisse, der mich bei meiner Rückkehr ergriffen hatte, nun der letzten Lösung entgegenzustürzen schien. Und was wollte ich dabei? Ich wünschte mir eine Chance, zu erfahren, was richtig war, eine Chance, danach zu handeln! Ich lachte. Wem gelingt es jemals, die erste Chance zu erringen, geschweige denn die zweite? Also eine vernünftige Annäherung an die Wahrheit. Das würde genügen . . . Und die Gelegenheit, meine Klinge ein paarmal in die richtige Richtung zu schwingen: Ich lachte wieder und vergewisserte mich, daß mein Schwert locker in der Scheide saß.

»Brand sagt, Bleys hätte eine neue Armee aufgestellt . . .«, begann ich.

»Später«, sagte sie, »später. Dazu ist keine Zeit mehr.«

Sie hatte recht. Das Licht war größer geworden, hatte sich zu einer kreisförmigen Öffnung erweitert. Die Erscheinung hatte sich mit einem Tempo genähert, das nichts mit dem Schritt des Pferdes zu tun haben konnte; als zöge sich der Tunnel selbst zusammen. Tageslicht schien durch die Öffnung hereinzudringen, die ich mir als Tunnelausgang vorstellte.

»Also schön«, sagte ich, und gleich darauf erreichten wir die Öffnung und stürmten hindurch.

Ich kniff die Augen zusammen und blinzelte. Links befand sich das glitzernde Meer, das mit einem hellen Himmel zu verschmelzen schien. Die goldene Sonne, die darin schwebte, schien aus allen Richtungen gleichzeitig mit grellen Strahlen einzufallen. Hinter mir war nur noch Felsgestein; der Tunnel verschwunden. Ziemlich dicht unter uns, etwa hundert Fuß entfernt – lag das Ur-Muster. Eine Gestalt durchschritt den zweiten seiner äußeren Bögen; sie war dermaßen konzentriert, daß sie unsere Gegenwart offenbar noch nicht wahrgenommen hatte. Als sie um eine Biegung kam, ein rotes Aufblitzen: das Juwel, das um ihren Hals hing wie zuvor um meinen, um Erics und Vaters Hals. Die Gestalt war natürlich Brand.

Ich stieg ab, blickte zu Fiona empor, eine nervöse zierliche Person. Ich reichte ihr Drums Zügel.

»Hast du irgendeinen Vorschlag – außer ihn zu verfolgen?« flüsterte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

Da wandte ich mich um, zog Grayswandir und machte mich an den Abstieg.

»Viel Glück«, sagte sie leise.

Als ich mich dem Muster näherte, erblickte ich die lange Kette, die von der Höhlenöffnung zur unbeweglichen Gestalt des Greifen führte. Der Kopf des Tieres lag auf dem Boden, mehrere Schritte vom Rest seines Körpers entfernt. Körper und Kopf hatten den Felsboden mit Blut besudelt.

Als ich mich dem Ausgangspunkt des Musters näherte, stellte ich eine hastige Berechnung an. Brand hatte bereits mehrere Kurven der gewaltigen Spirale des Musters hinter sich. Er war annähernd zweieinhalb Biegungen vom Anfang entfernt. Sobald wir nur noch durch eine Windung voneinander getrennt waren, vermochte ich ihn mit meiner Klinge zu erreichen, sobald ich einen Standpunkt parallel zu seinem erreicht hatte. Allerdings war das Vorankommen schwerer, je tiefer man in das Muster eindrang. Folglich bewegte sich Brand mit ständig abnehmendem Tempo. Es wurde also knapp. Ich brauchte ihn gar nicht zu fangen. Ich brauchte nur anderthalb Windungen aufzuholen, um ihn über den Streifen zwischen den Linien hinweg berühren zu können.

Ich stellte den Fuß auf das Muster und machte mich auf den Weg, schritt aus, so schnell ich konnte. Als ich mich in der ersten Kurve gegen den wachsenden Widerstand bewegte, begannen die blauen Funken um meine Füße emporzustieben. Das Feuerwerk nahm schnell an Größe zu. Ich erreichte den Ersten Schleier, und meine Haare begannen sich aufzurichten. Das Knistern der Funken war nun deutlich vernehmbar. Ich stemmte mich gegen den Druck des Schleiers, wobei ich überlegte, ob Brand mich bereits entdeckt hatte: Jedenfalls konnte ich es mir in diesem Augenblick nicht leisten, zu ihm hinüberzublicken und mich womöglich ablenken zu lassen. Ich ging verstärkt gegen den Widerstand vor, und einige Schritte später war ich durch den Schleier und kam wieder etwas leichter voran.

Nun blickte ich auf. Brand verließ soeben den schrecklichen Zweiten Schleier; die blauen Funken sprangen hüfthoch. Er hatte ein Lächeln der Entschlossenheit und des Triumphes auf dem Gesicht, als er freikam und den nächsten Schritt machte. In dem Moment sah er mich.

Sein Lächeln erlosch, und er zögerte – ein Punkt zu meinen Gunsten. Wenn es nicht unbedingt sein muß, bleibt man auf dem Muster nicht stehen. Hält man an, kostet es erhebliche zusätzliche Energien, um wieder in Gang zu kommen.

»Du kommst zu spät!« rief er.

Ich antwortete nicht, sondern schritt eilig weiter aus. Blaues Feuer sprühte von den Linien des Musters auf Grayswandirs Klinge.

»Du schaffst es nicht über die schwarze Stelle«, rief er.

Ich ging weiter. Der schwarze Fleck lag vor mir. Ich war froh, daß sich der Schaden nicht über einen der schwierigeren Teile des Musters erstreckte. Brand setzte sich wieder in Bewegung und ging langsam auf die Große Kurve zu. Wenn ich ihn dort erwischte, hatte er keine Chance. In der Kurve hatte er weder die Kraft noch das Reaktionsvermögen, um sich erfolgreich zu verteidigen.

Als ich mich dem beschädigten Teil des Musters näherte, dachte ich an die Art und Weise, wie Ganelon und ich während unserer Flucht aus Avalon die schwarze Straße durchschnitten hatten. Es war mir gelungen, die Macht der Straße zu brechen, indem ich mir während der Überquerung das Bild des Musters vor Augen gehalten hatte. Hier war ich zwar ringsum von dem Muster selbst umgeben, doch die Strecke war nicht annähernd so groß. Ich hatte im ersten Augenblick angenommen, daß Brand mich mit seiner Drohung lediglich unsicher machen wollte, aber jetzt sagte ich mir, daß die Kraft des Schwarzen hier an ihrer Quelle womöglich viel stärker war. Als ich vor der verwischten Stelle stand, flammte Grayswandir in plötzlicher Intensität auf. Einer Eingebung folgend, setzte ich die Spitze der Klinge an den Rand des schwarzen Flecks – dort, wo die Linie des Musters endete.

Grayswandir klammerte sich an die Schwärze und konnte nicht mehr davon gelöst werden. Ich setzte meinen Marsch fort: Die Klinge schlitzte die Schwärze vor mir auf und verfolgte dabei einen Weg, der ungefähr der ursprünglichen Linie entsprach. Ich folgte. Die Sonne schien sich zu verdüstern, als ich die dunkle Fläche betrat. Urplötzlich spürte ich meinen Herzschlag, der Schweiß brach mir aus. Die Umgebung war plötzlich wie in ein graues Licht getaucht. Die Welt schien mir zu entrücken, das Muster zu verblassen. Sicher war es sehr leicht, an diesem Ort einen Fehltritt zu tun, und ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob das Ergebnis genauso sein würde wie ein Verlassen der intakten Teile des Musters. Andererseits wollte ich es gar nicht wissen.

Ich hielt den Blick gesenkt und folgte der Linie, die Grayswandir vor mir zeichnete; die blaue Strahlung der Klinge war die einzige Farbe, die in der Welt noch verblieben war. Rechter Fuß, linker Fuß . . .

Plötzlich lag der schwarze Fleck hinter mir, und Grayswandir bewegte sich wieder unbehindert in meiner Hand; das Feuer auf der Klinge war zum Teil erloschen.

Ich sah mich um und erkannte, daß sich Brand der Großen Kurve näherte. Was mich betraf, so arbeitete ich mich an den Zweiten Schleier heran. In wenigen Minuten würden wir beide uns angestrengt mit diesen Hindernissen auseinandersetzen müssen. Die Große Kurve ist allerdings schwieriger und zieht sich länger hin als der Zweite Schleier. So war ich vermutlich wieder frei unterwegs, ehe er seine Barriere überwunden hatte. Doch dann mußte ich das beschädigte Areal ein zweitesmal überqueren. Anschließend mochte auch er wieder frei sein, doch er kam dann langsamer voran als ich, befand er sich doch in einem Gebiet, in dem die Beine noch mehr behindert werden.

Jeder Schritt war von einem gleichmäßigen Knistern begleitet, ein Kribbeln durchzog meinen ganzen Körper. Die Funken stiegen bis zur Mitte der Waden empor. Es war, als schritte ich durch ein Feld mit elektrisch geladenem Getreide. Mein Haar stand empor, ich spürte, wie es sich regte. Einmal blickte ich zurück und sah Fiona auf dem Pferd sitzen, reglos, beobachtend.

Ich kämpfte mich zum Zweiten Schleier vor.

Windungen . . . kurze, enge Kurven . . . Die Gegenwehr nahm zu und brandete gegen mich, so daß schließlich all meine Aufmerksamkeit, all meine Kraft dem Bemühen galten, dagegen anzukommen. Wieder einmal stellte sich das vertraute Gefühl der Zeitlosigkeit ein, als wäre dies alles, was ich jemals getan hätte, alles, was ich jemals tun würde. Und der Wille . . . ein Sammeln von Antrieben und Wünschen in einer solchen Intensität, daß alles andere ausgeschlossen wurde . . . Brand, Fiona, Amber, meine eigene Identität . . . Die Funken stiegen höher empor, während ich kämpfte, mich drehte, mich vordrängte: Jeder Schritt erforderte mehr Einsatz als der vorherige.

Ich stieß hindurch. Und wieder auf die schwarze Fläche.

Im Reflex bewegte ich Grayswandir vor mich nach unten. Wieder das Grau, der farblose Nebel, durchschnitten vom Blau der Klinge, die wie ein chirurgisches Skalpell den Weg aufbrach.

Als ich ins normale Licht zurückkehrte, suchten meine Augen nach Brand. Er befand sich noch im westlichen Quadranten, kämpfte noch mit der Großen Kurve – er hatte dieses Hindernis zu etwa zwei Dritteln überwunden. Wenn ich mich anstrengte, erwischte ich ihn vielleicht in dem Augenblick, da er wieder los kam. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft darauf, die Linie so schnell wie möglich zu durchschreiten.

Als ich das Nordende des Musters und die Kurve erreichte, die zurückführte, ging mir plötzlich auf, was ich da plante.

Ich wollte neues Blut auf dem Muster vergießen!

Wenn ich zwischen einem weiteren Schaden für das Muster und der völligen Vernichtung des Musters durch Brand zu wählen hatte, dann wußte ich, was zu tun war. Doch spürte ich, daß es eigentlich eine andere Möglichkeit geben müßte. Ja . . .

Ich ging etwas langsamer. Es kam auf den richtigen Zeitpunkt an. Brand hatte es im Augenblick viel schwerer als ich, so daß ich ihm in dieser Beziehung überlegen war. Meine neue Strategie zielte darauf ab, unsere Begegnung am richtigen Ort herbeizuführen. Ironischerweise fiel mir in diesem Augenblick Brands Sorge um seinen Teppich ein. Diesen Ort sauberzuhalten, war viel problematischer.

Er näherte sich dem Ende der Großen Kurve, und ich verfolgte ihn, während ich die Entfernung zur Schwärze abschätzte. Ich hatte beschlossen, ihn sein Blut auf dem Gebiet vergießen zu lassen, das bereits beschädigt war. Der einzige erkennbare Nachteil bestand darin, daß ich zur Rechten von Brand stehen würde. Um diesen Vorteil beim Kampf für ihn so klein wie möglich zu halten, mußte ich ein Stück hinter ihm bleiben.

Brand rückte mühsam weiter vor, seine Bewegungen liefen wie in Zeitlupe ab. Auch ich mußte mich anstrengen, doch nicht im gleichem Maße. Ich hielt mit ihm Schritt. Dabei beschäftigten sich meine Gedanken mit dem Juwel, mit der Affinität, die wir seit der Einstimmung gespürt hatten. Ich empfand seine Gegenwart links vor mir, obwohl ich es auf Brands Brust nicht zu sehen vermochte. Würde es mich wirklich auf diese Entfernung zu schützen versuchen, falls Brand in der bevorstehenden Auseinandersetzung die Oberhand gewann? Seine Gegenwart spürend, war ich fast davon überzeugt. Es hatte mich einem Angreifer entrissen, in meinem Gedächtnis irgendwie einen traditionellen Platz der Geborgenheit gefunden – mein Bett auf der Erde – und mich dorthin befördert. Wie ich es nun spürte, wie ich durch Brands Körper hindurch förmlich den Weg vor seinen Füßen erblickte, durchströmte mich die beruhigende Erwartung, daß es sich von neuem zu meinem Schutz einsetzen würde. Andererseits dachte ich an Fionas Worte und war entschlossen, mich nicht darauf zu verlassen. Dennoch bedachte ich die anderen Funktionen des Juwels und spekulierte über meine Fähigkeit, es mir ohne Berührung nützlich zu machen . . .

Brand hatte die Große Kurve fast hinter sich gebracht. Aus der Tiefe meines Seins heraus streckte ich mich und setzte mich mit dem Juwel in Verbindung. Ich erlegte ihm meinen Willen auf und forderte einen Sturm nach Art des roten Tornados, der Iago vernichtet hatte. Ich wußte nicht, ob ich dieses Phänomen hier zu lenken vermochte; dennoch rief ich danach und schickte es gegen Brand. Im ersten Augenblick passierte nichts, obwohl ich spürte, daß das Juwel in Aktion trat. Brand erreichte den Abschluß der Biegung und verließ nach einer letzten Anstrengung die Große Kurve.

Ich war unmittelbar hinter ihm.

Er wußte es – irgendwie. Kaum war der Druck von ihm gewichen, da hatte er auch schon die Klinge in der Hand; etliche Schritte legte er schneller zurück, als ich es für möglich gehalten hätte, dann stellte er den linken Fuß nach vorn, drehte den Körper zur Seite und begegnete meinem Blick über den Linien unserer Klingen.

»Du hast es tatsächlich geschafft«, sagte er und berührte meine Klingenspitze mit der seinen. »Du wärst nie so schnell hier gewesen, wenn sich nicht die Hexe auf dem Pferd da eingeschaltet hätte.«

»Eine hübsche Art hast du, von deiner Schwester zu sprechen«, sagte ich, fintete und beobachtete, wie er parierte.

Wir waren dadurch behindert, daß keiner von uns energisch angreifen konnte, ohne das Muster zu verlassen. Ein weiteres Problem bestand für mich darin, daß ich ihn noch nicht ernsthaft bluten lassen wollte. Ich täuschte einen Stoß vor, und er zuckte zurück, wobei er mit dem linken Fuß rückwärts über das Muster glitt. Dann hob er den rechten an, stampfte ihn nieder und hieb blitzschnell nach meinem Kopf. Verdammt! Ich parierte und ripostierte instinktiv. Der Brusthieb, mit dem ich antwortete, sollte ihn eigentlich gar nicht treffen, doch Grayswandirs Spitze zog eine Linie unter sein Brustbein. Plötzlich hörte ich ein Summen in der Luft über uns. Ich konnte es mir aber nicht leisten, den Blick von Brand zu lösen. Er blickte nach unten und wich weiter zurück. Gut. Eine rote Linie zierte sein Hemd; mein Schnitt hatte seine Spur hinterlassen. Bis jetzt schien der Stoff das Blut aufzusaugen. Ich stampfte vor, täuschte, stieß zu, parierte, griff erneut an, aber nicht zu heftig – ich tat alles, was mir in den Sinn kam, um ihn weiter zurückzutreiben. Dabei war ich psychologisch im Vorteil, wußten wir doch beide, daß ich die größere Reichweite hatte und mehr damit anfangen und mich schneller bewegen konnte. Brand näherte sich der dunklen Fläche. Noch ein paar Schritte . . . Da hörte ich etwas, das sich nach einem Glockenschlag anhörte, gefolgt von lautem Brausen. Ein Schatten hüllte uns plötzlich ein, als habe sich eine Wolke vor die Sonne geschoben.

Brand hob den Kopf. Vermutlich hätte ich ihn in diesem Augenblick töten können, doch er war vom Zielgebiet noch einige Schritte entfernt.

Er faßte sich schnell Und starrte mich finster an.

»Verdammt, Corwin! Das Ding kommt von dir, nicht wahr?« rief er und griff an, wobei er den letzten Rest von Vorsicht über Bord warf.

Leider war ich jetzt in einer schlechten Ausgangslage, aufgrund meines Bemühens, ihn auch den Rest des Weges vor mir her zu treiben. Ich war ohne Deckung und nicht sehr standfest. Noch während ich parierte, wurde mir klar, daß ich so nicht durchkam. Ich drehte mich zur Seite und stürzte rückwärts.

Dabei versuchte ich die Füße auf der Linie des Musters zu halten. Ich fing mich mit dem rechten Ellbogen und der linken Hand ab und fluchte. Der Schmerz war zu groß; mein Ellbogen glitt ab, und ich fiel auf die rechte Schulter.

Brands Stich aber hatte mich verfehlt, und in blauen Kaskaden berührten meine Füße noch immer die Linie. Brand vermochte nun keinen Todesstoß mehr anzubringen; dazu war ich zu weit entfernt; er konnte mir höchstens die Achillessehnen durchschneiden.

Grayswandir haltend, hob ich den rechten Arm. Ich versuchte mich aufzurichten. Dabei erkannte ich, daß die rote Formation, die am Rande gelblich schimmerte, nun direkt über Brand kreiselte, knisternd vor Funken und kleinen Blitzen, während das Brausen zu einem schrillen Heulton anschwoll.

Brand packte seine Klinge unter dem Griffschutz und hob sie über die Schulter wie einen Speer, der in meine Richtung wies. Ich wußte, daß ich diese Attacke nicht parieren, ihr nicht ausweichen konnte.

Dieser Erkenntnis folgend, griff ich im Geiste nach dem Juwel und zu dem Gebilde am Himmel . . .

Helles Licht zuckte auf, als ein kleiner Blitzfinger herablangte und seine Waffe berührte.

Die Klinge fiel ihm aus der Hand, die Hand hob sich ruckartig an seinen Mund. Mit der Linken zerrte er am Juwel des Geschicks, als würde ihm plötzlich klar, was ich tat, als wollte er meinen Angriff zunichtemachen, indem er den Stein bedeckte. An seinen Fingern saugend, blickte er empor; der Ausdruck des Zorns wich aus seinem Gesicht und wurde von einem der Angst, ja des Entsetzens abgelöst. Der Kegel begann sich herabzusenken.

Er machte kehrt, betrat das schwarze Gebiet und wandte sich nach Süden. Ruckhaft hob er beide Arme und schrie etwas, das ich über dem Heulen nicht verstehen konnte.

Der Kegel stürzte auf ihn zu, doch noch während der Annäherung schien er plötzlich zweidimensional zu werden. Sein Umriß schwankte. Er begann zu schrumpfen – was aber nicht eine Funktion tatsächlicher Größe zu sein schien, sondern eher die Auswirkung eines Davonrückens. Er wurde kleiner, immer kleiner und war verschwunden, einen Sekundenbruchteil bevor der Kegel die Stelle bedeckte, an der er eben noch gestanden hatte.

Mit ihm verschwand das Juwel, so daß ich nun keine Möglichkeit mehr hatte, das Gebilde über mir zu kontrollieren. Ich wußte nicht, ob es besser war, am Boden sitzenzubleiben oder aufzustehen. Ich entschied mich für das letztere, denn der Wirbelwind schien es auf Dinge abgesehen zu haben, die den normalen Fluß des Musters störten. Ich rutschte vorsichtig zur Linie. Dann beugte ich mich vor, bis ich hockte; gleichzeitig hatte der Kegel wieder zu steigen begonnen. Das Heulen glitt dabei in eine tiefere Tonlage ab. Das blaue Feuer um meine Stiefel war erloschen. Ich drehte mich um und sah zu Fiona hinüber. Sie bedeutete mir aufzustehen und weiterzugehen.

Ich richtete mich langsam auf, wobei ich sah, daß sich der Wirbel über mir weiter auflöste. Ich näherte mich der Stelle, auf der Brand eben noch gestanden hatte, und ließ mir von Grayswandir den Weg öffnen. Die verbogenen Überreste von Brands Klinge lagen auf der anderen Seite des dunklen Flecks.

In diesem Augenblick wünschte ich mir, es gäbe einen schnellen Weg aus dem Muster. Es kam mir sinnlos vor, den Weg zu vollenden. Doch es gibt keine Umkehr, sobald man es einmal betreten hat, und ich wagte es nicht, über den schwarzen Fleck zu entfliehen. So näherte ich mich der Großen Kurve. Ich fragte mich, wohin Brand geflohen sein mochte. Ich hätte dem Muster befehlen können, mich ebenfalls dorthin zu versetzen. Vielleicht hatte Fiona eine Idee. Wahrscheinlich würde er sich aber ein Versteck suchen, in dem er Verbündete hatte. Sinnlos also, ihn allein zu verfolgen.

Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich zumindest seine Einstimmung auf das Juwel verhindert hatte.

Dann erreichte ich die Große Kurve. Ringsum züngelten die Funken empor.

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