9

Als er erwachte, fand er sich im grauen Licht der Morgendämmerung wieder, das die Araber Wolfsschwanz nannten. Monat, Kazz und das Mädchen schliefen noch. Burton kroch unter dem ihn bedeckenden Grashaufen hervor. Das Feuer war ausgegangen; von den Ästen und Zweigen der Bäume hingen Regentropfen.

Auch das Gras war naß. Burton schüttelte sich vor Kälte, aber er fühlte sich weder müde, noch konnte er sonst irgendwelche Nachwirkungen der Droge feststellen, was er eigentlich erwartet hatte. Unter einem Grashaufen, der im Schutz eines Baumes lag, fand er einen Stapel Bambus, mit dem er das Feuer schnell wieder zum Brennen brachte. Er erwärmte sich ein wenig und sah dann die aus Bambus hergestellten Wasserbehälter, aus denen er sich einen Schluck genehmigte. Alice saß in einer Grasmulde und starrte ihn gedankenverloren an. Sie hatte eine Gänsehaut.

»Kommen Sie her und wärmen Sie sich!« sagte Burton.

Sie krabbelte aus ihrer Schlafmulde, stand auf, ging zu den Wasserbehältern hinüber, beugte sich nieder, entnahm ihm eine Handvoll und benetzte sich das Gesicht. Dann kauerte sie sich neben dem Feuer nieder und wärmte sich die Hände über der kleinen Flamme. Wenn jedermann nackt ist, dachte Burton, verliert sogar der Zurückhaltendste seine Sittsamkeit.

Etwas später hörte er zu seiner Rechten das Gras rascheln. Ein nackter Schädel, der unzweifelhaft Peter Frigate gehörte, tauchte auf, und neben ihm erschien der Kopf einer Frau, die ihm folgte. Sie hatte einen schönen Körper, große, dunkelgrüne Augen und Lippen, die etwas zu voll waren, um schön zu sein. Aber sie machte einen reizenden Eindruck.

Frigate lächelte breit, wandte sich um und zog seine Begleiterin an der Hand in die Nähe der wärmenden Flammen.

»Sie schauen mich an wie die Katze, die eben den Kanarienvogel verspeist hat«, sagte Burton. »Was haben Sie mit Ihrer Hand angestellt?«

Peter Frigate warf einen Blick auf seine Knöchel. Sie waren angeschwollen.

Seine Handrücken wiesen starke Spuren eines Kampfes auf.

»Ich wurde in eine Schlägerei verwickelt«, sagte er, deutete mit einem Finger auf die neben ihm stehende Frau, die sich jetzt neben Alice hinkauerte, um sich zu wärmen, und fuhr fort: »Unten am Fluß ging es in der vergangenen Nacht wie in einem Irrenhaus zu. Das Kaugummi scheint irgendeine Droge enthalten zu haben. Sie würden es kaum glauben, was die Leute alles anstellten. Oder vielleicht doch? Immerhin sind Sie Richard Francis Burton.

Egal — auf jeden Fall fielen sie über alle Frauen her, derer sie habhaft werden konnten, keine war ihnen zu häßlich. Zuerst war ich entsetzt über das, was ich sah, aber dann muß ich wohl durchgedreht haben. Ich habe zwei Männer mit meinem Gral bewußtlos geschlagen. Sie waren dabei, ein zehn Jahre altes Mädchen zu vergewaltigen. Vielleicht habe ich sie auch umgebracht. Ich versuchte dem Mädchen beizubringen, daß es mit mir kommen sollte, aber es rannte weg. Ich entschloß mich, hierher zurückzukehren, und machte mir Vorwürfe wegen der beiden Männer, die ich niedergeschlagen hatte, auch wenn sie es verdient hatten. Die Droge war verantwortlich für das, was sie taten; ich glaube, sie hat auf einen Schlag alle Frustrationen in ihnen zum Ausbruch gebracht, die sie im Laufe ihres Lebens in sich angesammelt hatten.

Also machte ich mich auf den Rückweg und stieß dabei auf zwei andere Männer, die eine Frau angriffen. Mir schien, daß sie dem Gedanken, es mit einem Mann zu treiben, nicht abgeneigt war, was sie aber offensichtlich störte, war die Tatsache, daß die beiden es bei ihr gleichzeitig versuchen wollten, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Wie dem auch sei, jedenfalls schrie sie und wehrte sich, während die beiden Männer ihr hart zusetzten. Ich fiel über die Kerle her, verpaßte ihnen ein paar Hiebe, trat sie und drosch schließlich mit dem Gral auf sie ein. Die Frau ging mit mir. Ihr Name ist übrigens Loghu; das ist alles, was ich von ihr weiß, da ich ihre Sprache nicht verstehe.« Er grinste. »Weiter sind wir nicht gekommen.« Frigate fröstelte.

»Dann wurde ich irgendwann wach, und es regnete, blitzte und donnerte, als breche der Zorn Gottes über uns herein. Einen Moment lang dachte ich allen Ernstes — lachen Sie nicht darüber —, der jüngste Tag sei angebrochen, und Gott habe uns lediglich einen Tag gegeben, damit wir uns selbst richteten.«

Er lachte gepreßt und meinte: »Ich bin seit meinem vierzehnten Lebensjahr Agnostiker gewesen, und dennoch spielte ich mit dem Gedanken, einen Priester rufen zu lassen, als ich im Alter von neunzig Jahren im Sterben lag.

Komisch, daß das kleine Kind, das sich einst vor dem alten Gottvater, dem Höllenfeuer und der Verdammnis gefürchtet hat, doch noch irgendwie in mir steckte — selbst in dem alten Mann. Oder in dem jungen, der von den Toten auferstanden ist.«

»Was ist schon passiert?« fragte Burton. »Ging die Welt mit Donnergrollen und Blitzschlägen unter? Soweit ich sehen kann, sind Sie noch immer hier und haben nicht einmal der Sünde, die sich Ihnen in der Gestalt dieser Frau näherte, entsagt.«

»Wir fanden in der Nähe der Berge einen Gralstein. Er liegt etwa anderthalb Kilometer von hier entfernt. Wir hatten uns verirrt, liefen herum, froren, waren naß und zuckten jedesmal zusammen, wenn in unserer Nähe ein Blitz einschlug. Dann fanden wir den Gralstein. Es drängten sich ziemlich viele Leute an ihn, aber sie waren ausnahmslos freundlich, und da sie so viele waren, herrschte eine gewisse Wärme, obwohl wir alle nasse Füße bekamen.

Schließlich fielen wir in einen tiefen Schlaf, aber da hatte es bereits zu regnen aufgehört. Als ich aufwachte, suchte ich Loghu, die in der Nacht irgendwie abhanden gekommen war. Sie schien sich darüber zu freuen, daß ich wieder auftauchte. Ich mag sie, weil es eine Ähnlichkeit zwischen uns gibt.

Vielleicht kann ich mehr darüber sagen, wenn ich ihr erst einmal die englische Sprache beigebracht habe. Ich habe es in Französisch und Deutsch und ein wenig Russisch, Litauisch, Gälisch, in allen skandinavischen Sprachen einschließlich Finnisch, klassischem Nahuatl, Arabisch, Hebräisch, Onondaga-Irokesisch, Objiway, Italienisch, Spanisch, Latein, Alt- und Neugriechisch und einem Dutzend anderer Sprachen versucht. Das Resultat war immer das gleiche: Ein verständnisloser Blick.«

»Sie scheinen ja ein bemerkenswerter Linguist zu sein«, sagte Burton.

»Ich beherrsche nicht eine dieser Sprachen fließend«, erwiderte Frigate.

»Obwohl ich die meisten davon lesen kann, bringe ich beim Reden kaum mehr als ein paar alltägliche Phrasen zusammen. Im Gegensatz zu Ihnen verstehe ich keine neununddreißig Sprachen — einschließlich Pornographisch.«

Der Bursche schien ziemlich viel über ihn zu wissen, fiel Burton auf. Und irgendwann würde er schon noch herausbekommen, was.

»Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Peter«, sagte Burton. »Die plötzliche Aggressivität, die Sie an den Tag legen, verwundert mich. Ich hätte Sie nicht für fähig gehalten, so viele Männer anzugreifen und sich mit ihnen zu schlagen. Ihre Empfindlichkeit…«

»Es lag an dem Kaugummi. Es hat mir die Tür des Käfigs, in dem ich mich befand, geöffnet.«

Frigate kniete sich neben Loghu auf den Boden und berührte sie mit der Schulter. Sie sah ihn aus halbgeschlossenen Augen an. Sie würde eine Schönheit sein, wenn erst ihr Haar nachwuchs.

Frigate fuhr fort: »Ich bin deswegen so furchtsam und empfindlich, weil ich mich vor der Gewalt fürchte, die bei mir unter der Oberfläche kocht. Ich fürchte mich vor der Gewalt, weil ich gewalttätig bin. Ich habe Angst davor, mich so zu geben, wie ich wirklich bin. Zum Teufel, das ist mir seit mehr als vierzig Jahren bewußt. Und dieses Wissen hat mich bisher immer davor bewahrt, Dummheiten zu begehen!«

Er sah Alice an und sagte: »Guten Morgen.«

Alice erwiderte seinen Gruß und lächelte sogar, als er ihr Loghu vorstellte.

Sie würde sogar Burton angesehen haben und seine direkt an sie gerichteten Fragen beantworten. Aber sie würde weder mit ihm ein Schwätzchen halten noch ihm etwas anderes gewähren als einen eiskalten Blick.

Monat, Kazz und das kleine Mädchen näherten sich gähnend dem Feuer. Burton, der die Umgebung des Lagers ein wenig in Augenschein nahm, stellte fest, daß die Leute von Triest verschwunden waren. Einige hatten sogar ihre Grale zurückgelassen. Er verfluchte sie wegen ihrer Unvorsichtigkeit und dachte daran, ihnen dadurch eine Lektion zu erteilen, daß er sie irgendwo im Gras versteckte. Aber dann plazierte er sie doch wieder auf ihren Platz in den Vertiefungen des Gralsteins.

Kehrten die Besitzer der Zylinder nicht zurück, würden sie entweder hungern müssen oder darauf angewiesen sein, daß jemand seine Nahrung mit ihnen teilte. In der Zwischenzeit würde das Essen in den Gralen unberührt bleiben, da niemand sonst in der Lage war, sie zu öffnen. Erst am Tag zuvor hatten sie herausgefunden, daß außer dem rechtmäßigen Besitzer niemand den Deckel eines fremden Grals aufbekam. Ein Experiment unter Zuhilfenahme eines Stockes war ebenfalls ergebnislos verlaufen. Wer seinen Gral öffnen wollte, mußte dazu die eigenen Finger nehmen. Frigate hatte daraufhin die Theorie aufgestellt, daß das Oberflächenmaterial der Behälter irgendwie auf den Hautkontakt mit seinem Besitzer reagierte oder durch die von ihm ausgesandten Gehirnwellen beeinflußt wurde.

Inzwischen hatte sich der Himmel aufgeklart, wenngleich die Sonne noch immer hinter den östlichen Bergen stand. Etwa eine halbe Stunde später spuckte der Gralstein mit einem ohrenbetäubenden Donnern seine blaue Feuerwelle aus. Das Echo rollte von den Bergen zurück.

Diesmal enthielten die Behälter Speck und Eier, Schinken, Toast, Butter, Marmelade, Milch, ein Stück Melone, Zigaretten und einen Becher dunkelbrauner Kristalle, von denen Frigate behauptete, daß es sich dabei um sogenannten Instantkaffee handelte. Er trank die in seinem Becher befindliche Milch, spülte das Gefäß anschließend in dem Bambusbehälter aus, füllte den Becher mit Wasser und setzte ihn aufs Feuer. Als es zu kochen begann, nahm er etwa einen Teelöffel voll von der braunen Substanz und rührte sie ins Wasser hinein. Der Kaffee schmeckte ausgezeichnet, und sie besaßen genug von dem braunen Pulver, um sechs Becher damit zuzubereiten.

Schließlich machten sie durch Alice eine weitere Entdeckung: Es war gar nicht nötig, das Wasser zu erhitzen, bevor man den Kaffee hineingab. Sobald das Pulver mit dem Wasser in Berührung kam, brühte es sich innerhalb von drei Sekunden selbst auf.

Nach dem Essen spülten sie die Behälter aus und befestigten sie wieder im Innern der Grale. Burton befestigte seinen Zylinder wieder am Handgelenk.

Wenn er die Umgebung erforschte, konnte es ein Fehler sein, den Gral wieder in eine der Vertiefungen des Gralfelsens zurückzustellen. Auch wenn andere Leute mit dem Gerät nichts anfangen konnten — er legte keinen Wert darauf, daß jemand das Ding aus purer Boshaftigkeit versteckte und ihn damit dem Hungertod aussetzte.

Anschließend begann er die erste Sprachlektion mit Kazz und dem kleinen Mädchen. Frigate bedeutete Loghu, sich dazuzusetzen, und schlug vor, sie in irgendeiner Universalsprache zu unterrichten, da die Menschheit während ihrer jahrmillionenwährenden Existenz ihrer Rasse sicherlich mehr als fünfzig- oder sechzigtausend Sprachen benutzt habe. Jede einzelne dieser Sprachen — vorausgesetzt, daß die Theorie, nach der alle Menschen, die jemals auf Erden gelebt hatten, wiedererweckt worden waren, stimmte — mußte jetzt in der Flußebene im Gebrauch sein. Natürlich konnte er anhand der wenigen Quadratkilometer, die er bis jetzt gesehen hatte, keinen Anspruch darauf erheben, daß die sich dort aufhaltenden Menschen die Theorie bestätigten. Aber vielleicht sei es dennoch eine gute Idee, Esperanto zu propagieren, jene künstliche Sprache, die der polnische Augenarzt Dr.

Zamenhof im Jahre 1887 entwickelt hatte: Ihre Grammatik war sehr einfach und absolut regelmäßig, und die Aussprache relativ einfach. Die Basis dieser Sprache war Latein, enthielt aber auch sehr viele Worte aus dem Englischen, Deutschen und anderen westeuropäischen Sprachen.

»Bevor ich starb, habe ich einiges darüber gehört«, sagte Burton, »aber ich bin damit leider nie persönlich in Berührung gekommen. Vielleicht könnte diese Sprache uns einmal von Nutzen sein. Aber bis dahin werde ich ihnen erst einmal Englisch beibringen.«

»Aber die meisten Leute hier sprechen Italienisch oder Slowenisch!« sagte Frigate.

»Das mag stimmen, aber bis jetzt sind wir auch noch nicht sonderlich weit herumgekommen. Jedenfalls habe ich nicht die Absicht hierzubleiben, darauf können Sie sich verlassen.«

»Ich hätte es vorher wissen müssen«, murmelte Frigate. »Sie sind immer ein rastloser Charakter gewesen, ständig in Bewegung.«

Burton warf Frigate einen kurzen Blick zu und begann dann mit dem Unterricht. Etwa fünfzehn Minuten lang drillte er seine Schüler in der Aussprache und Identifikation von neunzehn Hauptwörtern und einiger Verben: Feuer, Bambus, Gral, Mann, Frau, Mädchen, Hand, Fuß, Auge, Zahn, essen, gehen, rennen, reden, Gefahr, ich, du, sie, wir. Seine Absicht war, auch gleichzeitig von ihnen soviel zu lernen wie möglich. Irgendwann würde auch Burton in der Lage sein, ihre Sprachen zu sprechen, welche Sprachen dies auch immer sein mochten.

Die Sonne ging über den östlichen Bergen auf, die Luft wurde wärmer, und sie ließen das Feuer ausgehen. Obwohl sie relativ gut in den zweiten Tag ihres neuen Lebens hinübergewechselt waren, wußten sie noch immer so gut wie nichts über diese Welt oder das Schicksal, das sie erwartete, und denjenigen, der es ihnen zugedacht hatte.

Lev Ruach steckte plötzlich seine große Nase aus dem Gestrüpp und fragte: »Darf ich zu euch kommen?«

Burton nickte, und Frigate sagte: »Klar, warum nicht?«

Ruach trat vor. Eine kleine, blasse Frau mit großen braunen Augen und einer zierlichen Figur folgte ihm. Er stellte sie als Tanya Kauwitz vor. Er hatte sie in der vergangenen Nacht kennengelernt, und sie waren, da sie einige Gemeinsamkeiten besaßen, gleich zusammengeblieben. Tanya war russisch-jüdischer Abstammung, hatte 1958 in der Bronx das Licht der Welt erblickt und später als Englischlehrerin im Schuldienst gearbeitet. Ihr erster Mann, ein Unternehmer, hatte seine erste Million gemacht und dann das Zeitliche gesegnet und sie im Alter von fünfundvierzig Jahren zurückgelassen. Tanya hatte noch einmal geheiratet und war fünfzehn Jahre später an Krebs gestorben.

Sie selbst, nicht Lev, war es, die die anderen in einem Satz über ihre Lebensgeschichte informierte.

»Auf der Ebene war in der letzten Nacht die Hölle los«, sagte Lev anschließend. »Tanya und mir blieb nichts anderes übrig, als um unser Leben zu laufen. Wir rannten in die Wälder, und ich kam zu dem Schluß, daß es besser sei, zu euch zurückzukehren und darum zu bitten, uns aufzunehmen. Ich möchte mich für mein gestriges Verhalten entschuldigen, Mr. Burton. Ich ließ mich zu den Bemerkungen aufgrund der Dinge hinreißen, die ich von Ihnen wußte, aber vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte mich zuerst ein wenig mit den Zusammenhängen vertraut gemacht, unter deren Eindruck Sie…«

»Lassen Sie uns darüber später reden«, sagte Burton. »Als ich dieses Buch schrieb, stand ich noch unter dem Eindruck dessen, was ich unter den Gemeinheiten und Niederträchtigkeiten der Geldverleiher von Damaskus zu erleiden hatte. Sie waren…«

»Sicher, Mr. Burton«, sagte Ruach. »Heben wir uns das, wie Sie sagten, für später auf. Ich wollte lediglich darauf hinweisen, daß ich Sie für einen fähigen Mann mit starkem Charakter halte und gern Ihrer Gruppe angehören möchte. Wir befinden uns in einem Zustand der Anarchie — wenn man Anarchie überhaupt als einen Zustand definieren kann —, und viele von uns werden Schutz benötigen.«

Es gefiel Burton nicht, wenn man ihn unterbrach. Er warf Ruach einen finsteren Blick zu und sagte: »Bitte erlauben Sie mir, daß ich Ihnen etwas erkläre. Ich…«

Frigate stand auf und sagte: »Da kommen die anderen. Ich frage mich, wo sie die ganze Zeit über gesteckt haben.«

Aber es waren lediglich vier von den neuen Menschen, die zurückkehrten.

Maria Tucci erklärte, daß sie, nachdem sie den Kaugummi probiert hatten, herumgewandert seien und schließlich bei einem der großen Feuer auf der Ebene angelangt wären. Dann war dort die Hölle losgebrochen. Es hatte schwere Kämpfe gegeben; Männer waren über die Frauen hergefallen, Männer hatten sich auf Männer, Frauen auf Frauen gestürzt, und sogar die Kinder hätte man nicht verschont. Die Gruppe hatte sich in dem allgemeinen Chaos aufgelöst. Sie selbst hatte die anderen drei erst Stunden später wieder getroffen, als sie sich bereits in den Hügeln auf der Suche nach dem Gralstein befand.

Lev fügte ihrer Erklärung noch einige Details hinzu. Je nach Gemütszustand desjenigen, der Kaugummi gekaut hatte, waren die Folgen entweder tragisch, amüsant oder erfreulich gewesen. Auf viele Menschen hatte die Droge einen lusterzeugenden Effekt ausgeübt, wenngleich dies nicht der einzige gewesen zu sein schien. So hatte es beispielsweise den Fall eines Ehepaares gegeben.

Beide, Mann und Frau, waren in Opcina, einem Vorort des Triest, im Jahre 1899 gestorben. Bei der Wiedererweckung hatten sie nur zwei Meter auseinandergelegen, waren sich in die Arme gefallen und hatten über das Glück, wieder zueinanderzufinden, vor Freude geweint. Sie hatten gemeinsam Gott für das Glück gedankt, wenngleich sie sich darüber beschwerten, daß diese Welt nicht das sei, was sie sich vom Leben nach dem Tode erhofft hatten. Aber sie hatten fünfzig Ehejahre hinter sich gebracht, also freuten sie sich darauf, von nun an bis in alle Ewigkeit zusammensein zu können.

Ein paar Minuten nachdem sie den Kaugummi in den Mund gesteckt hatten, erwürgte der Mann seine Frau, warf ihren Leichnam in den Fluß, packte eine andere Frau und verschwand mit ihr im Wald.

Ein anderer Mann war auf den Gralstein gesprungen und hatte eine Rede gehalten, wobei ihn auch der einsetzende Regen nicht zu stören schien. Er redete die ganze Nacht hindurch und erklärte den wenigen, die ihm zuhören mochten, daß er die Prinzipien einer perfekten Gesellschaft aufzustellen gedenke und wie diese in der Praxis aussähen. Als der Morgen graute, war er so heiser, daß er nicht mehr als ein Krächzen zustande brachte. Und wie sich bald herausstellte, hatte er auf der Erde zu denen gehört, die in ihrem Leben nicht einmal zur Wahlurne gegangen waren.

Ein paar Leute, die sich über das Treiben der anderen empörten, hatten versucht, die vor aller Augen sich in hektischer Aktivität paarenden Männer und Frauen auseinanderzubringen. Die Folgen: Knochenbrüche, blutige Nasen, zerschlagene Lippen und zwei Gehirnerschütterungen. Mehrere Männer und Frauen hatten die Nacht kniend verbracht, laut betend und um Vergebung ihrer Sünden bittend.

Selbst einige der Kinder waren verprügelt, vergewaltigt oder getötet worden.

Aber nicht alle Erwachsenen hatten den Verstand verloren. Eine ganze Reihe von ihnen hatte Kinder beschützt oder dies zumindest versucht.

Ruach berichtete vom Entsetzen eines kroatischen Moslems und eines österreichischen Juden, die in ihren Gralen Schweinefleisch entdeckten. Ein Hindu hatte wütende Obszönitäten in die Welt hinausgeschrien, weil sein Behälter ihm Fleisch anbot. Ein vierter Mann, der unaufhörlich schrie, sie alle befänden sich in den Händen des Teufels, hatte wütend seine Zigaretten in den Fluß geworfen. Einige Leute hatten darauf zu ihm gesagt: »Wenn du die Zigaretten nicht haben willst, warum gibst du sie dann nicht uns?«

»Tabak ist eine Erfindung des Teufels. Es ist ein Unkraut, das Satan im Garten Eden pflanzte!«

Ein Mann sagte zu ihm: »Zumindest hättest du sie mit uns teilen können. Es hätte dir doch nichts ausgemacht.«

»Am liebsten möchte ich das ganze verwerfliche Zeug in den Fluß schütten!« hatte der andere erwidert.

»Du bist ein elender Spießer und total verrückt«, hatte ein dritter Mann gesagt. Er versetzte dem Mann, der den Tabak haßte, einen Kinnhaken. Er hatte den Boden noch nicht einmal berührt, als vier andere sich auf ihn stürzten und mit den Füßen traten.

Später, als er sich wieder aufrappelte, wütend heulte und herumlief, schrie er: »Was habe ich getan, o Gott, daß ich dies hier ertragen muß? Ich bin zeit meines Lebens ein guter Mensch gewesen. Ich habe mehrere tausend Pfund für wohltätige Zwecke gespendet! Ich besuchte deinen Tempel dreimal in der Woche, kämpfte einen lebenslangen Kampf gegen Sünde und Korruption! Ich…«

»Ich kenne dich!« hatte da plötzlich eine Frau geschrien. Sie war groß, blauäugig, hatte ein hübsches Gesicht und eine gutgewachsene Figur. »Ich kenne dich! Sir Robert Smithson!«

Der Mann hörte auf zu zetern und sah sie kurz an. »Aber ich kenne DICH nicht!«

»Das kann ich mir denken! Aber du solltest mich erkennen! Ich bin eins von den tausend Mädchen, die sechzehn Stunden am Tag — und das sechseinhalb Tage in der Woche — arbeiten mußten, damit du in deinem großen Haus auf den Hügeln leben und in feinen Kleidern herumlaufen konntest. Sogar deine Hunde bekamen besseres Essen als unsereins. Ich war eins von den Mädchen in deiner Fabrik. Mein Vater war einer deiner Sklaven, meine Mutter, meine Brüder und Schwestern und alle anderen, die nicht zu krank oder zu schwach waren, um an zu wenig oder zu schlechter Nahrung in ihren schmutzigen Betten hinter zugigen Fenstern an Rattenbissen zugrunde zu gehen. Mein Vater verlor eine Hand in einer deiner Maschinen, und du ließest ihn ohne einen Penny auf die Straße werfen. Meine Mutter starb an der Weißen Seuche. Und auch ich habe mein Leben aus mir herausgehustet, verehrter Baron, während du selbst dich mit Köstlichkeiten vollstopftest, in weichen Sesseln saßest und dich in dem beruhigenden Gefühl aaltest, im Kirchenvorstand angesehen zu sein und Tausende dafür auszugeben, Missionare nach Asien zu schicken, damit man den Hungernden dort das Wort Gottes verkündete. Ich habe mir die Lungen aus dem Leib gehustet, und mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als auf die Straße zu gehen, um meine jüngeren Geschwister vor dem Verhungern zu bewahren. Und ich bekam die Syphilis, du elender, widerlicher Drecksack, weil es dir und deinesgleichen einfach gefiel, mich und meinesgleichen bis aufs Blut zu erniedrigen! Ich starb im Gefängnis, weil du dich bei der Polizei dafür stark machtest, daß sie hart und unerbittlich gegen jegliche Prostitution vorgehen solle. Du… du…!«

Smithson war zuerst rot geworden, aber dann wurde er bleich. Schließlich straffte sich seine Gestalt, und er warf der schimpfenden Frau einen finsteren Blick zu. »Ihr Huren findet doch immer eine Entschuldigung für eure Lüsternheit und das sündige Leben, das ihr führt«, sagte er. »Gott weiß genau, daß ich stets seine Weisungen befolgt habe.«

Er drehte sich um und ging weg, aber die Frau lief hinter ihm her und schwang ihren Gral. Es ging ganz schnell. Jemand stieß einen Schrei aus; Smithson wirbelte herum und duckte sich, bevor der Gral seinen Schädel treffen konnte.

Er rannte an der Frau vorbei, und ehe sie es sich versah, war er in den Wäldern untergetaucht. Leider, führte Ruach weiter aus, hatten nur die wenigsten der Umstehenden aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse etwas von der Auseinandersetzung verstanden.

»Sir Robert Smithson«, sagte Burton nachdenklich. »Wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen, besaß er Baumwollspinnereien und Stahlwerke in Manchester. Er war als Philanthrop und wegen seiner Mildtätigkeit gegenüber den Armen bekannt. Er soll um 1870 im Alter von achtzig Jahren gestorben sein.«

»Und möglicherweise hat er sich darauf verlassen, daß der Himmel ihn für seine Taten belohnen würde«, meinte Ruach. »Natürlich ist es ihm niemals in den Sinn gekommen, ein mehrfacher Mörder zu sein.«

»Hätte er nicht die Armen ausgebeutet, würde es eben ein anderer getan haben.«

»Das ist eine Entschuldigung, die sich durch die ganze Geschichte der Menschheit zieht«, erwiderte Ruach. »Aber es hat auch Industrielle gegeben, denen sehr wohl bewußt war, daß die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung in ihren Betrieben verbesserungsbedürftig waren. Einer davon hieß, soviel ich weiß, Robert Owen.«

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