15

Man brachte sie in ein Gebäude, das hinter einer Umzäunung aus Palisaden lag. Jeder Schritt, den Burton machte, erzeugte in seinem Kopf einen dumpfen Schmerz. Obwohl seine Schulterwunde ebenso wie seine Verletzung an der Brust aufgehört hatten zu bluten, taten sie noch immer weh. Die Festung, zu der man sie führte, war ebenfalls aus Pinienstämmen errichtet worden. Sie verfügte über ein zweites Stockwerk und war schwer bewacht. Man führte die Gefangenen durch ein gewaltiges, aus mächtigen Stämmen gefertigtes Tor, hinter dem sich ein zwanzig Meter langes, grasbewachsenes Gelände erstreckte. Durch ein weiteres Tor betraten sie schließlich einen Saal, der zehn Meter breit und achtzehn Meter lang war. Außer Frigate, der zu schwach war, um sich noch auf den Beinen halten zu können, blieben sie vor einem großen, runden Eichentisch stehen. Es war kühl und dunkel. Die Gefangenen blinzelten und stellten fest, daß an dem Tisch vor ihnen lediglich zwei Männer saßen.

Mit Speeren, Knüppeln und Äxten bewaffnete Wachen waren jetzt überall. Am Ende des Saales führte eine hölzerne Treppe nach oben auf eine Galerie.

Hinter den hohen Geländern drängten sich Frauen, die neugierig zu ihnen herunterblickten.

Einer der beiden Männer am Tisch war untersetzt und muskulös. Sein Körper war stark behaart, während Augen und Nase etwas Adlerhaftes hatten. Der andere war größer, hatte blondes Haar und — soweit das in dem schlechten Licht erkennbar war — helle Augen. Sein Gesicht war breit und wirkte teutonisch. Ein kleiner Bauch und die verwitterten Gesichtszüge deuteten darauf hin, daß er zu sehr dem Alkohol frönte, den die Grale seiner Sklaven ihm lieferten. Er schien auch ein Freund guten Essens zu sein.

Frigate hatte sich zunächst auf dem Grasboden niedergelassen, wurde aber auf ein Signal des Blonden hin sofort wieder hochgerissen. Frigate blickte den blonden Mann an und sagte: »Sie sehen aus wie eine jüngere Ausgabe von Hermann Göring.«

Dann schrie er auf und fiel auf die Knie. Einer der hinter ihm stehenden Männer hatte mit dem stumpfen Ende seiner Lanze zugeschlagen.

In englischer Sprache und einem hörbaren deutschen Akzent sagte der Blonde: »Hört auf damit, bis ich euch entsprechende Befehle gebe. Laßt sie reden.«

Er musterte seine Gefangenen mehrere Minuten lang und meinte schließlich: »Ich bin Hermann Göring.«

»Wer ist Hermann Göring?« fragte Burton.

»Ihr Freund kann Ihnen das später erzählen«, sagte der Deutsche. »Falls es ein Später für Sie gibt. Ich empfinde allerdings keinen Zorn wegen des Kampfes, den Sie uns lieferten, ganz im Gegenteil. Ich mag Menschen, die gut zu kämpfen verstehen. Ich kann zudem jederzeit Leute gebrauchen, die so gut wie Sie mit Lanzen umgehen können. Ich mache Ihnen ein Angebot. Kämpfen Sie auf meiner Seite, und ich biete Ihnen neben genügender Nahrung, gutem Alkohol, Tabak und Frauen alle Annehmlichkeiten, die das Leben anzubieten hat. Die Alternative dazu lautet: Ihr werdet für mich als Sklaven arbeiten.«

»Für uns«, warf der andere Mann in gebrochenem Englisch ein. »Du vergißt, Hermann, daß ich darüber genauso viel zu bestimmen habe wie du.«

Göring lächelte, kicherte und sagte schließlich: »Natürlich! Wie konnte ich das nur vergessen. Also gut, für uns. Wenn ihr schwört, uns zu dienen — und es würde euch sicherlich besser anstehen, dies zu tun —, gehört eure Loyalität mir, Hermann Göring, und dem ehemaligen König von Rom, Tullius Hostilius.«

Burton sah sich den anderen etwas genauer an. War es wirklich möglich, daß er hier einem der legendären römischen Könige gegenüberstand? Tullius Hostilius mußte einer Epoche entstammen, in der Rom noch eine kleine Ortschaft gewesen war und sich ständig gegen andere italische Stämme — der Sabiner, der Aequi und Volsci — hatte erwehren müssen. Diese Stämme hatten wiederum die Umbrier, deren Hauptgegner die mächtigen Etrusker gewesen waren, zum Feind gehabt. War dieser Mann wirklich Tullius Hostilius, der kriegerische Bezwinger des friedfertigen Numa Pompilius? Es gab nichts an ihm, was ihn von den Tausenden von Männern in den Straßen Sienas unterschied. Aber wenn er war, was er vorgab, stellte dieser Mann eine unbezahlbare Quelle historischer und sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse dar. Tullius würde — da er möglicherweise selbst von Geburt her ein Etrusker war — diese Sprache beherrschen und sicherlich über umfassende Kenntnisse des vorklassischen Latein, des Sabinerischen und des Altgriechischen verfügen. Unter Umständen hatte er sogar Romulus, den legendären Gründer der Stadt Rom, noch gekannt. Welche Geschichten würde er erzählen können!

»Nun?« sagte Göring.

»Was hätten wir zu tun, wenn wir uns Ihnen anschließen würden?« fragte Burton.

»Zuerst müßte ich… müßten wir sichergehen, daß Sie wirklich die Voraussetzungen, die wir an unsere Leute stellen, erfüllen. Mit anderen Worten: Wir müßten uns davon überzeugen, ob ihr die Leute seid, die ohne zu zögern sofort unseren Befehlen nachkommen. Wir würden euch einer kleinen Prüfung unterziehen.«

Er gab einen Befehl. Einige Minuten später wurde eine Gruppe von Männern in den Saal geschoben. Sie waren ausnahmslos klapperdürr, und jeder einzelne von ihnen verkrüppelt.

»Sie sind während der Bauarbeiten für diese Gebäude in Unfälle verwickelt worden«, erklärte Göring. »Außer zweien, die sich ihre Verletzungen während eines Fluchtversuchs zuzogen. Sie werden für ihre Vergehen zu büßen haben.

Sie nützen uns nichts mehr und werden deswegen getötet. Wer von Ihnen also den festen Willen hat, uns zu dienen, sollte jetzt nicht zögern.«

Und er fügte hinzu: »Nebenbei: Es handelt sich ausnahmslos um Juden.

Vielleicht macht Ihnen das die Sache leichter.«

Campbell, der Rotschopf, der Gwenafra in den Fluß geworfen hatte, hielt Burton eine langschaftige Keule entgegen, auf deren Spitze mehrere Steinscherben prangten. Zwei der Wachen zwangen einen der Sklaven auf die Knie. Es handelte sich um einen großen blonden Mann mit griechischem Profil.

Plötzlich warf er Göring einen haßerfüllten Blick zu und spuckte ihn an.

Göring lachte. »Er verfügt über die übliche Arroganz seiner Rasse. Wenn ich wollte, könnte ich ihn so erniedrigen, daß er nur noch als um Gnade winselnder Wurm vor meinen Füßen herumrutscht. Aber mir liegt wirklich nichts an Folterungen. Ich bin sicher, daß Tullius ihn gern ein wenig über einer Flamme rösten würde, aber was mich angeht, so bin ich im Grunde meines Herzens Humanist.«

»Ich bin bereit zu töten, wenn es zur Verteidigung meines Lebens oder um andere zu beschützen notwendig ist«, sagte Burton. »Aber ich bin kein Mörder.«

»Einen Juden zu töten ist nichts anderes als ein Akt der Selbstverteidigung«, erwiderte Göring. »Wenn Sie es nicht tun wollen, werden Sie an seiner Stelle sterben — auch wenn es etwas länger dauert.«

»Ich werde es nicht tun«, sagte Burton.

Göring seufzte. »Ihr Engländer! Nun, ich hätte euch lieber an meiner Seite gehabt. Aber wenn ihr euch weigert, rational zu handeln, dann eben nicht.«

Zu Frigate gewandt, sagte er: »Und was ist mit Ihnen?«

Frigate, der immer noch nicht wieder ganz Herr seines Körpers war, erwiderte: »Nach dem, was Sie angerichtet haben, landete Ihre Asche auf einer Müllkippe von Dachau. Haben Sie vor, dieselben verbrecherischen Dinge, die Sie schon auf der Erde trieben, hier zu wiederholen?«

Göring lachte und sagte: »Ich weiß, was aus mir wurde. Eine Menge meiner jüdischen Sklaven hat mir darüber berichtet.« Er deutete auf Monat: »Wer ist dieses Ungeheuer?«

Burton erklärte ihm, wer Monat war. Göring schaute ihn sich verwundert an und meinte schließlich: »Er kommt ebenfalls zu den Sklaven. Ich könnte ihm nicht über den Weg trauen. He, du da, Affenmensch. Wie entscheidest du dich?«

Zu Burtons Überraschung trat Kazz vor. »Ich für dich töten. Will kein Sklave sein.«

Während die Wachen die Lanzen auf ihn richteten, nahm er die Keule in die Hand. Offenbar trauten die Männer ihm nicht so recht und fürchteten, er werde sie angreifen. Kazz warf ihnen einen finsteren Blick zu, dann hob er die Waffe. Er führte einen heftigen Schlag, dann fiel der Sklave mit dem Gesicht in den Schmutz. Kazz gab Campbell die Keule zurück und stellte sich zur Seite. Er vermied es, Burton anzusehen.

Göring sagte: »Wir, werden die Sklaven heute Abend zusammentreiben und ihnen zeigen, was mit ihnen geschieht, wenn sie einen Fluchtversuch unternehmen. Wir werden die Flüchtlinge für eine Weile über dem Feuer rösten und dann von ihren Leiden erlösen. Mein werter Kollege wird es sich nicht nehmen lassen, persönlich die Keule zu führen. Er mag solche Dinge gern.«

Dann deutete er auf Alice. »Diese da. Die nehme ich.«

Tullius stand auf. »Nein, nein. Sie gefällt mir. Nimm du die anderen, Hermann. Ich gebe dir alle. Aber die… die möchte ich gerne haben. Sie sieht aus wie — wie sagst du? — eine Aristokratin. Ist sie… eine Königin?«

Sein Englisch war entsetzlich. Burton brüllte auf, riß die Keule aus Campbells Hand und sprang mit einem Satz auf den Eichentisch. Göring zuckte zurück; die Keulenspitze hatte seine Nase nur um einen Zentimeter verfehlt.

Gleichzeitig warf der Römer Burton eine Lanze entgegen, die ihn an der Schulter verletzte. Aber er ließ die Keule nicht fallen, wirbelte herum und schlug Tullius eine andere Waffe aus der Hand.

Brüllend warfen sich die Sklaven auf die Wachen. Frigate hatte plötzlich einen Speer in der Hand und drosch Kazz mit dem stumpfen Ende über den Schädel. Kazz taumelte. Monat trat einem der Wächter in den Magen und entriß ihm den Speer.

Was danach geschah, entzog sich Burtons Kenntnis. Als er wieder zu sich kam, war es dunkel. Sein Kopf schmerzte noch mehr als zuvor, und Schultern und Rippen waren beinahe gefühllos geworden. Er lag innerhalb eines von Palisaden umzäunten Hofes, etwa zwanzig mal zwanzig Meter groß. Fünf Meter über ihnen befand sich ein Wehrgang, auf dem bewaffnete Wächter patrouillierten.

Stöhnend setzte er sich auf. Frigate, der neben ihm kniete, sagte: »Ich hatte schon befürchtet, du würdest nie mehr erwachen.«

»Wo sind die Frauen?« fragte Burton.

Frigate begann zu weinen. Burton schüttelte benommen den Kopf und sagte: »Hör mit dem Gewinsel auf. Wo sind sie?«

»Wo, zum Teufel, vermutest du sie denn?« fuhr Frigate ihn an. »Oh, mein Gott!«

»Du solltest besser nicht daran denken«, sagte Burton. »Wir können jetzt doch nichts für sie tun. Jedenfalls nicht jetzt. Wieso hat man mich nicht umgebracht, nachdem ich Göring angriff?«

Frigate wischte sich die Tränen ab und sagte: »Ich habe keine Ahnung.

Vielleicht sparen sie dich und mich für das Feuer auf. Als abschreckendes Beispiel. Ich wünschte, sie hätten uns umgebracht.«

»Was denn«, erwiderte Burton verächtlich. »Da hast du gerade erst ein Paradies gewonnen und wünschst dir schon, es wieder zu verlieren?« Er lachte, hielt es aber wegen der starken Kopfschmerzen nicht allzu lange durch.

Als Burton mit Robert Bruce, einem 1945 in Kensington geborenen Engländer sprach, stellte sich heraus, daß Göring und Tullius sich erst seit weniger als einem Monat an der Macht befanden. Bisher hatten sie ihre Nachbarn in Frieden gelassen. Es gab allerdings Pläne, den Machtbereich auszuweiten und die angrenzenden Territorien zu erobern. Besonderen Wert schienen sie auf das Gebiet der Onondaga-Indianer zu legen, die auf der anderen Seite des Flusses lebten. Und bis jetzt war noch keinem Sklaven, der die anderen Regionen von Görings Absichten hätte unterrichten können, die Flucht gelungen.

»Aber die Leute in den anderen Gebieten können doch selber sehen, daß diese Palisaden von Sklaven aufgebaut wurden«, sagte Burton.

Bruce grinste trocken und erwiderte: »Göring hat verbreiten lassen, daß seine Sklaven ausschließlich Juden sind und daß sie die einzigen sind, die er zu versklaven gedenkt. Warum sollten sich die anderen Gruppen also Sorgen machen? Aber Sie können selbst sehen, daß seine Worte nicht der Wahrheit entsprechen. Die Hälfte seiner Sklaven sind Nichtjuden.«

Als der Morgen graute, brachte man Burton, Frigate, Ruach, de Greystock und Monat aus der Umzäunung heraus und führte sie im Gänsemarsch zu einem Gralstein. Hier stießen sie auf mehr als zweihundert bereits versammelte Sklaven, die von etwa siebzig Göringisten bewacht wurden. Man zwang sie, die leeren Grale in die dafür vorgesehenen Vertiefungen zu stellen, und hieß sie abwarten. Die blauen Flammen taten aufbrüllend ihre Arbeit. Die Sklaven nahmen die Grale wieder an sich, öffneten sie und händigten dem Wachpersonal Tabak, Alkohol und die Hälfte der Nahrung aus.

Einige der Wunden, die Frigates Schultern und Kopf zierten, sahen aus, als sei es erforderlich, sie zu nähen. Wenigstens war inzwischen die Blutung zum Stillstand gekommen. Er war noch immer blaß und klagte über starke Rücken- und Leberschmerzen.

»Jetzt sind wir also auch Sklaven«, sagte er zu Burton. »Du hast doch früher mal einiges Positive an der Sklaverei gesehen, wenn ich mich recht erinnere, Dick. Haben sich deine Ansichten inzwischen geändert?«

»Dabei ging es um die orientalische Form der Sklaverei«, erwiderte Burton.

»In der hiesigen Gesellschaft besteht für einen Sklaven aber wohl nicht die geringste Chance, irgendwann die Freiheit zu gewinnen. Es gibt hier auch keine Gefühle zwischen Sklaven und Eigentümer — ausgenommen Haß. Im Orient war die Situation ganz anders. Aber natürlich hatte auch die orientalische Sklaverei — wie jede menschliche Institution — ihre Nachteile.«

»Du bist ein sturer Bursche«, sagte Frigate. »Hast du schon bemerkt, daß mindestens die Hälfte der Sklaven Juden sind? Es handelt sich, nehme ich an, in der Hauptsache um Israelis aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert. Ein Mädchen hat mir erzählt, Göring habe die Gralsklaverei damit begonnen, daß er in den Leuten, die dieses Gebiet bevölkerten, antisemitische Gefühle erweckte. Natürlich müssen diese Gefühle schon vor seinem Auftauchen existiert haben, sonst hätte er sie nicht zielgerichtet einsetzen können.

Nachdem er mit Tullius’ Hilfe an die Macht gekommen war, hat er eine ganze Reihe seiner ehemaligen Parteigänger zu den Juden in die Sklaverei geworfen.«

Er machte eine Pause und fuhr fort: »Das Schlimmste an allem ist aber, daß dieser Göring — relativ gesehen — keiner der üblichen Antisemiten ist. Er soll sich einst sogar Himmler gegenüber eingesetzt haben, Juden zu retten.

Aber in gewisser Weise ist er noch schlimmer als einer der gewöhnlichen Judenhasser: Er ist ein Opportunist. Der Antisemitismus war in Deutschland zeitweilig eine Welle der öffentlichen Meinung; wer es zu etwas bringen wollte, hatte keine andere Wahl, als sie mitzumachen. Also führte Göring sich damals genauso auf wie heute hier, ganz im Gegensatz zu Leuten wie Goebbels oder Frank, die wirklich glaubten, was sie sagten. Sie folgten pervertierten Prinzipien irgendwelcher obskuren Rassentheorien. Im Gegensatz zu ihnen war dem fetten Göring völlig egal, was mit den Juden geschah. Er tat nichts anderes, als sie zu benutzen, um seine Schäfchen ins trockene zu bringen.«

»Das ist ja alles plausibel«, sagte Burton. »Aber ich frage mich, was das mit mir zu tun hat? Oh, ich verstehe! Du hast vor, mich zu schulen.«

»Dick, ich verehre dich, wie ich nur wenige andere Menschen in meinem Leben verehrt habe. Ich habe dich so gern, wie ein Mann einen anderen nur haben kann. Und ich bin wirklich ebenso glücklich, dich getroffen zu haben, wie es Plutarch gewesen wäre, wäre ihm Alkibiades oder Theseus über den Weg gelaufen. Aber ich bin nicht blind. Ich kenne deine Fehler. Es sind nicht wenige, und ich bedauere sie.«

»Und welchen meinst du jetzt konkret?«

»Dieses Buch. Der Jude, der Zigeuner und der Islam. Wie hast du es nur schreiben können? Es ist ein einziges Dokument des Hasses, voll von borniertem Unsinn, Vorurteilen und Mißtrauen. Es gleicht einem Ritualmord!«

»Ich war wütend über die Erniedrigungen, die ich hatte in Damaskus hinnehmen müssen. Es war einfach eine Antwort auf all die Lügen meiner Gegner, unter denen…«

»Das erklärt immer noch nicht, warum du diese Lügen über ein ganzes Volk verbreiten mußtest!«

»Lügen! Ich schrieb die Wahrheit!«

»Vielleicht hast du sie nur für Wahrheiten gehalten. Ich entstamme einem Zeitalter, in dem man längst herausgefunden hatte, was die Wahrheit war.

Niemand, der zu deiner Zeit seine fünf Sinne beisammenhatte, hätte diesen Unsinn glauben können?«

»Tatsache ist«, sagte Burton, »daß die jüdischen Geldverleiher in Damaskus die Armen mit ungeheuren Wucherzinsen ausplünderten. Tatsache ist auch, daß sie dies nicht nur der christlichen und islamischen Bevölkerung, sondern sogar ihrem eigenen Volk antaten. Tatsache ist ebenso, daß viele jüdische Bewohner von Damaskus mich verteidigten, als man mich aufgrund meiner Angriffe in England des Antisemitismus beschuldigte. Und es entspricht der Wahrheit, daß ich auf das schärfste dagegen protestierte, daß die Türken die Synagoge von Damaskus an die Griechen verkauften, die daraus eine orthodoxe Kirche machen wollten. Ich habe mit eigener Hand achtzehn Moslems niedergemacht, die gegen Juden vorgingen. Ich habe christliche Missionare vor den Drusen geschützt und die Drusen davor gewarnt, als dieser fette und ölige Türke Rashid Pascha beabsichtigte, sie zu einer Revolte zu provozieren, damit er sie um so leichter abschlachten konnte. Und eine weitere Tatsache ist, daß mir, als ich wegen der gegen mich gerichteten Propaganda christlicher Missionare und Priester, Rashid Paschas und einiger jüdischer Wucherer, Tausende von Christen, Moslems und Juden zu Hilfe eilten, obwohl es bereits zu spät und ich meines Konsulatspostens enthoben war. Und außerdem sehe ich keinen Grund, der mich dazu verpflichten könnte, meine Handlungen vor dir oder irgendeinem anderen Menschen zu verteidigen!«

Es war wieder einmal typisch Frigate, daß er ein solches Thema an einem solchen Ort zu solcher Zeit aufwarf. Vielleicht unternahm er aber auch nur den Versuch, seine eigene Unzulänglichkeit damit zu überdecken, daß er seine Wut auf Burton richtete. Oder er konnte es nicht überwinden, daß auch derjenige, der bisher sein Held gewesen war, über menschliche Schwächen verfügte.

Lev Ruach, der die ganze Zeit dagesessen und sein Gesicht in den Händen verborgen hatte, straffte sich plötzlich und sagte in klagendem Tonfall: »Willkommen im Konzentrationslager, Burton. Sie werden noch merken, daß das, was Sie bis jetzt erlebten, nur ein Vorgeschmack dessen ist, was noch kommt.

Für mich ist es eine alte Geschichte; so alt, daß ich schon keine Lust mehr habe, sie jemandem zu erzählen. Ich war in einem Konzentrationslager der Nazis und in einem der Russen, aber ich überlebte und entkam. In Israel schnappten mich die Araber, und ich entkam ebenfalls. Und vielleicht gelingt es mir hier wieder, wer weiß? Aber wohin sollte ich gehen? In ein anderes Lager? Es scheint, daß man überall auf sie stößt, wo immer es Menschen gibt.

Der Mensch baut fleißig an ihnen weiter und läßt sich in alle Ewigkeit keine Möglichkeit entgehen, seinesgleichen zu erniedrigen und zu versklaven.

Selbst hier, wo wir alle Möglichkeiten eines Neubeginns hatten, wo wir alle Religionen und Ansichten hätten vergessen können, tut man dasselbe wie auf der Erde. Es hat sich nichts geändert.«

»Halt die Schnauze«, sagte ein Mann, der sich in Ruachs Nähe befand. Er hatte rotes, gekräuseltes Haar, blaue Augen und ein Gesicht, das hübsch hätte sein können, wäre nicht das gebrochene Nasenbein gewesen. Der Mann war über einen Meter achtzig groß und hatte die Figur eines Ringers.

»Ich bin Dov Targoff«, sagte er mit leichtem Oxfordakzent. »Ehemaliger Commander der israelischen Marine. Sie sollten diesem Mann hier keine Aufmerksamkeit schenken. Er ist einer dieser altmodischen Juden, die sich hauptsächlich durch ihren Pessimismus auszeichnen. Eine Heulsuse. Anstatt aufzustehen und wie ein Mann zu kämpfen, würde er sich eher schluchzend an die Klagemauer lehnen.«

Ruach schnappte nach Luft und fauchte: »Du arroganter Sabra! Ich habe gekämpft und getötet! Ich bin keine Heulsuse! Was tust du denn jetzt, du tapferer Krieger? Bist du nicht genauso ein Sklave wie wir alle?«

»Es ist immer wieder die gleiche alte Geschichte«, sagte eine Frau. Sie war groß und dunkelhaarig, aber zu hager, um schön zu sein. »Die gleiche alte Geschichte. Wir streiten uns untereinander, während unsere Gegner die Eroberungen machen. Als Titus in Jerusalem einfiel, töteten wir mehr von unserem eigenen Volk als die Römer. Und als…«

Die beiden Männer wandten sich ihr zu und begannen so laut mit der Frau zu streiten, daß ein Wächter herbeieilte und mit einem Knüppel auf sie eindrosch.

Später sagte Targoff mit geschwollenen Lippen: »Ich kann es nicht mehr allzu lange aushalten. Bald… Nun, dieser Wächter jedenfalls gehört mir«, knirschte er.

»Haben Sie einen Plan?« sagte Frigate interessiert. Aber Targoff antwortete nicht.

Kurz vor dem Morgengrauen des nächsten Tages weckte man die Gefangenen erneut und führte sie zum Gralstein. Auch diesmal ließ man ihnen lediglich ein Minimum an Nahrung. Nach dem Essen teilte man sie in mehrere Gruppen auf und führte sie weg. Burton und Frigate landeten an der nördlichen Grenze, wo sie zusammen mit tausend anderen Sklaven arbeiten mußten und den ganzen Tag über nackt der Sonne ausgesetzt waren. Die einzige Arbeitspause bestand darin, daß man sie zu einem Gralstein brachte, als die Mittagszeit nahte, und ihnen zu essen gab.

Göring beabsichtigte, zwischen den Bergen und dem Fluß eine Mauer zu bauen; ebenso war es sein Plan, eine zweite Mauer zu errichten, die zwanzig Kilometer am Flußufer entlangführen sollte, während eine dritte den Süden hermetisch abriegelte.

Es war die Aufgabe Burtons und der anderen Sklaven, einen tiefen Graben auszuheben und die ausgehobene Erde zu einem Wall aufzuschütten. Die Arbeit war hart, zumal man lediglich steinerne Hacken zur Verfügung hatte. Da die Graswurzeln derart stark mit dem Boden verwachsen waren, konnte man sie nur unter größten Schwierigkeiten lösen. Die Erde und die Grasschollen wurden mit hölzernen Schaufeln auf Tragbahren aus Bambusstäben getürmt.

Trägergruppen beförderten die Erde dann auf die anwachsenden Wälle, wo sie mit Schaufeln verteilt und festgeklopft wurde. Auf diese Weise wurde die Mauer ständig höher und dicker.

Während der Nachtzeit wurden die Gefangenen wieder in die Umzäunung zurückgetrieben. Die meisten von ihnen fielen sofort in tiefen Schlaf.

Lediglich Targoff, der rothaarige Israeli, kniete sich neben Burton auf den Boden.

»Gelegentlich dringen einige Gerüchte zu einem durch«, sagte er leise. »Ich habe von dem Kampf gehört, den Sie und Ihre Mannschaft hinter sich haben.

Ich weiß auch, daß Sie sich weigerten, sich in Görings Truppen einreihen zu lassen.«

»Haben Sie auch von meinem infamen Buch gehört?« fragte Burton zurück.

Targoff lächelte und sagte: »Ich hatte keine Ahnung davon, bis Ruach mir davon erzählte. Ich pflege die Leute allerdings aufgrund ihrer Taten einzuschätzen. Ruach ist in dieser Beziehung wesentlich empfindlicher. Aber nach dem, was er alles durchgemacht hat, kann man ihn vielleicht verstehen.

Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich anders benehmen würden, selbst wenn Sie der wären, für den Ruach Sie hält. Ich halte Sie für einen guten Mann. Sie sind genau der Typ, den wir brauchen. Also…«


Tage und Nächte vergingen. Die Nahrung war knapp, die Arbeit dafür um so härter. Schließlich erfuhr Burton sogar etwas über die Frauen. Es hieß, daß Wilfreda und Fatima sich in Campbells Räumen aufhielten. Loghu war bei Tullius. Göring hatte Alice eine Woche lang bei sich gehalten und sie dann an einen seiner Leutnants, einen gewissen Manfred von Kreyscharft, weitergereicht. Die Gerüchte besagten, daß Göring, wütend über die Kälte, die sie ihm gegenüber gezeigt hatte, drauf und dran gewesen war, sie an seine Leibwächter zu verschenken. Von Kreyscharft hatte ihn gebeten, Alice ihm zu überlassen.

Ein ungeheurer Schmerz begann Burton zu peinigen. Die Vorstellung, daß sie mit Göring und von Kreyscharft zusammengewesen war, versetzte ihn beinahe in Raserei. Er mußte diesen Ungeheuern Einhalt gebieten oder würde versuchen zu sterben. Spät in der Nacht kroch er aus der großen Hütte, die er mit fünfundzwanzig anderen Sklaven teilte, und schlich sich zu Targoff hinüber, der in einer anderen Unterkunft hauste. Er mußte ihn wecken.

»Sie sagten einmal, ich sei der richtige Mann, um an Ihrer Seite zu kämpfen«, flüsterte Burton leise. »Und jetzt frage ich Sie, wann Sie damit anfangen wollen, mich in Ihr Vertrauen zu ziehen. Wenn Sie das nicht tun wollen, kann ich Ihnen schon jetzt sagen, daß ich beabsichtige, eine eigene Gruppe zu formieren. Ich werde einen Ausbruch wagen, und zwar mit jedem, der bereit ist, sich uns anzuschließen.«

»Ruach hat mir einiges mehr über Sie erzählt«, erwiderte Targoff. »Zuerst verstand ich gar nicht, was er meinte. Aber… kann ein Jude wirklich einem Mann vertrauen, der ein solches Buch geschrieben hat? Kann man sich darauf verlassen, daß er sich nicht gegen seine Kampfgefährten wendet, nachdem der gemeinsame Feind besiegt ist?«

Burton öffnete den Mund. Er hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, hütete sich aber dann doch, sie auszusprechen. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Mit kühler Stimme sagte er schließlich: »Ich bin der Meinung, daß man mich an meinen Taten auf der Erde messen sollte, nicht an den gedruckten Worten. Ich kannte sehr viele Juden gut und habe in meinem Leben viele von ihnen beschützt. Ich hatte sogar eine Reihe von Freunden unter Ihren Leuten.«

»Ihre letzte Feststellung hat in der Vergangenheit stets zur Vorbereitung eines Angriffs auf die Juden gedient«, sagte Targoff.

»Vielleicht. Selbst wenn das, was Ruach glaubt, der Wahrheit entsprochen hätte — der Richard Burton, den Sie hier vor sich sehen, ist nicht mehr derselbe wie der auf der Erde. Ich glaube, die Erfahrungen dieser Welt haben jeden einzelnen Menschen ziemlich verändert. Und wem das nicht so ergangen ist, der ist möglicherweise unveränderbar und wäre besser bei den Toten geblieben, bei denen er erwachte. Während der vierhundertsiebenundsechzig Tage, die ich auf diesem Fluß verbracht habe, habe ich eine Menge gelernt.

Ich gehöre nicht zu denen, die unfähig sind, ihren Sinn zu ändern. Ich habe Ruach und Frigate zugehört. Ich habe ab und zu sogar mit ihnen gestritten.

Und auch wenn ich es während unserer Gespräche nicht zugab — ich habe über das, was sie mir erzählten, sehr oft nachdenken müssen.«

»Judenhaß«, sagte Targoff, »ist etwas, das man im allgemeinen schon kleinen Kindern einimpft. Nach und nach geht es einem in Fleisch und Blut über. Es ist keine Sache des Willens, sich davon zu befreien, außer wenn die Haßgefühle nicht sonderlich tief sind oder man über einen sehr starken Willen verfügt. Wenn die Glocke bimmelt, beginnen die Pawlowschen Hunde zu geifern. Sprechen Sie das Wort JUDE aus, und das Nervensystem der Nichtjuden schaltet das Gehirn ab. Bei mir setzt es aus, wenn ich das Wort Palästinenser höre. Aber ich habe einen realistischen Grund dafür, sie zu hassen.«

»Ich habe jetzt genug geredet«, sagte Burton. »Entweder akzeptieren Sie mich, oder Sie lehnen mich ab. Wie dem auch sei — Sie wissen jetzt, was ich tun werde.«

»Ich akzeptiere Sie«, sagte Targoff. »Wenn Sie in der Lage sind, Ihr Bewußtsein zu ändern, will ich nicht zurückstehen. Ich habe mit Ihnen zusammengearbeitet und das gleiche Brot gegessen. Ich halte mich für einen einigermaßen guten Menschenkenner. Aber sagen Sie mir: Wenn Sie die Sache zu planen hätten — was würden Sie tun?«

Targoff hörte ihm aufmerksam zu. Als Burton geendet hatte, nickte er. »Ich hätte es kaum anders gemacht. Aber jetzt…«

Загрузка...