6

Burton untersuchte die unterste Schicht des Berges. Das blauschwarze Gestein schien irgendeiner Art von Basalt zuzurechnen zu sein. Aber über die Oberfläche verstreut erkannte er vereinzelte Stücke von Feuerstein, die ebenso da und dort auf dem Boden zu finden waren. Letztere erweckten in ihm den Eindruck, als seien sie aus der Höhe herabgefallen, also bestand die Möglichkeit, daß nicht der ganze Berg aus einer soliden Basaltmasse war.

Er nahm ein Stück Feuerstein zu Hilfe und kratzte, eine spitze Kante einsetzend, ein wenig des den Fels bedeckenden Flechtengewächses ab. Das darunter zum Vorschein kommende Gestein schien grüner Dolomit zu sein. Dem Anschein nach stammten die Feuersteinbrocken davon ab, auch wenn sich keine sichtbaren Bruchstellen ausmachen ließen.

Das Flechtengewächs konnte Parmelia saxilitis sein, das ebenso auf alten Knochen und Schädeln wuchs und außerdem als Heilmittel gegen Epilepsie und — als Heilsalbe — bei offenen Wunden Verwendung finden konnte.

Das Geräusch aufeinanderschlagenden Gesteins führte Burton zu der Gruppe zurück. Die anderen hatten sich um den Frühmenschen und den Amerikaner geschart, die — Rücken an Rücken — auf dem Boden knieten und den Feuerstein bearbeiteten. Beide fertigten grobschlächtige Handbeile und produzierten, während die anderen ihnen zusahen, sechs weitere. Anschließend nahm jeder von ihnen eine große Feuersteinplatte und zertrümmerte sie mit einem Faustkeil. Mit dem einen Stück brachen sie das andere solange auseinander, bearbeiteten es an den Rändern, bis vor jedem ein Dutzend Klingen lag.

Sie setzten ihre Arbeit fort — ein Mensch, der hunderttausend Jahre vor Christus über die Erde gewandert war, und ein Mensch, der das Produkt einer langen Evolution darstellte und der — technologisch gesehen — zu den Abkömmlingen der höchsten Zivilisationsstufe der Menschheit gehörte. Und wenn Frigates Worte stimmten, gehörte er zudem noch zu den letzten Menschen, die die Erde hervorgebracht hatte.

Frigate sprang plötzlich auf, stieß einen Schmerzensschrei aus und begann, den linken Daumen umklammernd, wild hin und her zu hüpfen. Einer seiner Schläge hatte sein Ziel verpaßt. Kazz entblößte grinsend zwei Reihen beinahe grabsteingroßer Zähne. Dann stand er ebenfalls auf, verschwand mit seinem leicht watschelnden Gang zwischen den hohen Gräsern und kehrte ein paar Minuten später mit einem halben Dutzend Bambusstäben zurück. Einige davon waren angespitzt. Er setzte sich auf den Boden und begann den ersten Stab zu bearbeiten, indem er das stumpfe Ende spaltete. Geschickt klemmte er einen der dreieckigen, scharfkantigen Steine in den Spalt und band ihn mit langen zähen Grashalmen fest.

Innerhalb einer halben Stunde war die ganze Gruppe mit Steinbeilen, Bambusschaftäxten, Lanzen, Steindolchen und Faustkeilen bewaffnet.

Frigates Hand ging es bereits etwas besser. Der Schmerz ließ nach, und auch die Blutung hatte aufgehört. Burton fragte ihn neugierig, wieso er sich so gut in der Bearbeitung von Steinen auskenne.

»Ich war einmal Amateuranthropologe«, erwiderte Frigate. »Eine ganze Menge von Leuten — relativ gesehen — lernten zu meiner Zeit, wie man aus Steinen Werkzeuge und Waffen herstellte. Es war ein Hobby, verstehen Sie? Einige von uns entwickelten sogar meisterhafte Fertigkeiten in diesem Fach, auch wenn ich der Ansicht bin, daß keiner davon es je so weit brachte wie unser paläolithischer Spezialist hier. Unsere Vorfahren machten schließlich solche Dinge ihr Leben lang. Na ja, und da ich auch ein bißchen darüber weiß, wie man mit Bambus umgeht, dachte ich, meine Mitarbeit könnte für die Gruppe von einigem Wert sein.«

Sie schickten sich an, zum Fluß zurückzukehren. Auf dem Rücken eines breiten Hügels legten sie eine Rast ein. Die Sonne stand jetzt beinahe senkrecht über ihnen. Von hier aus war es ihnen möglich, den Fluß und die Ebene über mehrere Kilometer hinweg zu überblicken. Obwohl sie zu weit von den Menschen auf der anderen Seite des Wassers entfernt waren, stellte es keine Schwierigkeit dar, die pilzförmigen Felsformationen zu erkennen, welche das gegenüberliegende Ufer säumten. Das Gelände auf der anderen Seite glich dem ihrer Umgebung fast aufs Haar. Auch die dortige Ebene schien anderthalb Kilometer breit zu sein. Die sich daran anschließende Hügelkette war mit Bäumen bedeckt. Dahinter erhoben sich die steilen Flanken blauschwarzer Berge.

Nördlich und südlich von ihnen erstreckte sich das Tal an die fünfzehn Kilometer weit. Dann machte es einen Knick, und der Fluß kam außer Sichtweite.

»Die Sonne scheint hier spät auf- und früh unterzugehen«, sagte Burton. »Wir sollten die Helligkeit in jedem Fall für unsere Zwecke nutzen und das Beste daraus machen.«

Im gleichen Moment zuckten sie zusammen. Einige Angehörige der Gruppe schrieen auf. Eine blaue Flamme schoß von der Spitze eines der pilzförmigen Felsen in die Höhe, zischte bis zu sechs Meter hoch in die Luft und erlosch schlagartig wieder. Ein paar Sekunden später drang das Geräusch rollenden Donners an ihre Ohren. Die Welle erreichte das hinter der Gruppe liegende Gehölz und wurde als Echo wieder zurückgeworfen.

Burton nahm das kleine Mädchen auf den Arm und bewegte sich als erster bergab. Obwohl keiner von ihnen mehr Kraft aufwandte als unbedingt nötig war, mußten sie von Zeit zu Zeit anhalten, um sich zu verschnaufen. Dennoch fühlte Burton sich wunderbar. Es war lange her, seit er es gewagt hatte, seinen Muskeln eine solche Anstrengung zuzumuten; er war begierig, die Grenzen seiner neuen Leistungsfähigkeit kennenzulernen. Noch vor kurzer Zeit wären einem solchen Marsch das Anschwellen seiner Füße und wildes Herzklopfen gefolgt. Es war kaum zu glauben, mit welcher Leichtfüßigkeit er nun die Kilometer hinter sich brachte.

Sie erreichten die Ebene und setzten ihren Weg gemütlicher fort. Man sah auf den ersten Blick, daß die sich hier aufhaltenden Menschen ziemlich überrascht waren, als sie ihre Bewaffnung sahen. Burton schob diejenigen, die ihm im Weg standen, einfach beiseite. Zwar erntete er manchen bösen Blick, aber niemand wagte es, darauf mit einem ähnlichen Verhalten zu reagieren. Dann hatte er auch schon den Platz des nächstliegenden Pilzfelsens erreicht und erkannte, was die Aufmerksamkeit der Leute erregte.

Man konnte es sogar riechen.

Frigate, der sich hinter ihm aufhielt, sagte plötzlich: »Oh, mein Gott.« Er versuchte sich — trotz seines leeren Magens — zu übergeben.

Burton hatte im Laufe seines Lebens zu viele scheußliche Dinge gesehen, um sich noch überraschen zu lassen. Darüber hinaus besaß er die Fähigkeit, Dinge, die ihn zu sehr mitnahmen, auf bewundernswerte Weise zu verdrängen.

Meistens gelang es ihm, den allzu üblen Dingen des Lebens mit einem einfachen, aus der Realität des Daseins hinausführenden Schritt auszuweichen, und in der Regel tat er das automatisch. Und so war es auch in diesem Fall.

Die Leiche lag auf der Seite und wurde halb von der pilzförmigen Überdachung des Felsens verdeckt. Ihre Haut war völlig verbrannt, die nackten Muskeln sichtbar. Nase und Ohren, Finger, Zehen und Genitalien waren entweder nicht mehr vorhanden oder zu kleinen, formlosen Stümpfen zerschmolzen.

Neben der Leiche hockte eine Frau auf den Knien und murmelte in italienischer Sprache ein Gebet. Sie hatte große, schwarze Augen, die man hätte schön nennen können, wären sie nicht vom Weinen gerötet und von Tränen überschwemmt gewesen. Unter anderen Umständen hätte ihre phantastische Figur sicher die Blicke aller Anwesenden auf sich gezogen.

»Was ist passiert?« fragte Burton.

Die Frau hielt inne und sah ihn an. Schließlich stand sie auf und sagte leise: »Pater Giuseppe hatte sich gegen diesen Felsen gelehnt; er sagte, er sei hungrig und sehe keinen Sinn darin, ins Leben zurückgerufen zu werden, um dann des Hungers zu sterben. Ich erwiderte, daß wir schon nicht sterben würden, daß ich DARIN keinen Sinn sähe. Wenn man uns von den Toten hat auferstehen lassen, ist auch jemand da, der uns beschützen wird. Er sagte daraufhin, daß wir uns möglicherweise in der Hölle befänden, daß wir von nun an bis in alle Ewigkeit nackt und hungrig hier herumlaufen müßten. Ich sagte ihm, er solle nicht blasphemisch werden und daß er der letzte sei, der sich solche Worte erlauben dürfe. Er meinte, dies hier sei nicht identisch mit dem, was er vierzig Jahre lang den Menschen erzählt habe. Und dann… und dann…«

Burton wartete einige Sekunden lang und sagte dann: »Was geschah dann?«

»Pater Giuseppe sagte, daß es hier zwar kein Höllenfeuer gebe, aber daß dies immer noch besser sei, als eines langsamen, sich ewig dahinziehenden Hungertodes zu sterben. Dann schlugen plötzlich Flammen auf ihn ein, umhüllten ihn und erzeugten einen Knall, als sei eine Bombe explodiert. Er war sofort tot, völlig verbrannt. Es war schrecklich… schrecklich.«

Um den Wind im Rücken zu haben, näherte Burton sich der Leiche von Norden, aber selbst hier war der Gestank unbeschreiblich. Aber nicht der Geruch, sondern der Gedanke an den Tod war es, der ihn bewegte. Der erste Tag der Wiedererweckung war noch nicht halb vorbei, und schon war der erste von ihnen nicht mehr am Leben. Bedeutete das, daß die Wiedergeborenen hier ebenso der Gefahr des Todes ausgesetzt waren wie in ihrem irdischen Dasein?

Und wenn das so war — welcher Sinn steckte dahinter?

Frigates Magen schien sich jetzt wieder beruhigt zu haben. Etwas bleich und schwankend erhob er sich aus seiner knienden Stellung und wandte sich Burton zu, dem Leichnam den Rücken zudrehend.

»Hätten wir uns das nicht lieber ersparen sollen?« fragte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter.

»Ganz bestimmt«, erwiderte Burton gelassen. »Es ist wirklich schade, daß seine Haut völlig ruiniert wurde.«

Er grinste den Amerikaner an. Frigate sah jetzt noch schockierter aus als zuvor.

»Hier«, sagte Burton. »Nehmen Sie seine Beine. Ich werde ihn am anderen Ende packen. Wir werfen ihn in den Fluß.«

»In den Fluß?« fragte Frigate erstaunt.

»Yeah. Falls Sie ihn nicht in die Hügel hinauftragen und ein Loch für ihn ausheben wollen.«

»Ich kann das nicht«, erwiderte Frigate und ging weg. Burton warf ihm einen erstaunten Blick nach und gab dann dem Frühmenschen einen Wink. Kazz grunzte, kam mit seinem Watschelgang näher. Vor der Leiche blieb er stehen, beugte sich über den Körper, und ehe Burton auch nur zugreifen konnte, warf er sich den Toten über die Schulter, machte ein paar Schritte auf den Fluß zu und warf ihn mit gewaltiger Kraft ins Wasser. Die Leiche wurde von der Strömung erfaßt und wirbelte davon. Dennoch schien Kazz mit seinem Werk noch nicht zufrieden zu sein. Er machte ein paar Schritte in den Fluß hinein, wartete, bis das Wasser ihm bis zu den Hüften reichte, und tauchte unter.

Offensichtlich war er damit beschäftigt, den Körper des Toten mehr in die Mitte des Flusses zu schieben.

Alice Hargreaves schaute ihm entsetzt zu und sagte: »Aber das hier ist unser Trinkwasser!«

»Der Fluß ist groß genug, um sich aus eigener Kraft zu reinigen«, erwiderte Burton. »Und zudem haben wir größere Probleme zu bewältigen als lediglich sanitäre.«

Als Monat seine Schulter berührte, wandte er sich um. Monat sagte: »Sehen Sie sich das an!« An der Stelle, wo sich die Leiche befinden mußte, wurde das Wasser aufgewirbelt, und für einen Moment durchbrach die silberweiße Finne eines Fisches die Oberfläche.

»Es sieht so aus, als entpuppten sich Ihre Sorgen über die Sauberkeit des Wassers als unnötig«, sagte Burton zu Alice Hargreaves. »Der Fluß hat seine eigenen Reinigungskolonnen. Ich frage mich allerdings… ob man es unter diesen Umständen riskieren kann, in ihm zu schwimmen.«

Der Frühmensch zumindest verließ das Wasser, ohne angegriffen worden zu sein, stellte sich vor Burton hin und schüttelte die Tropfen von seinem haarlosen Körper. Er grinste breit, entblößte seine gewaltigen Zähne und wirkte in diesem Moment furchterregend häßlich. Aber er besaß das Wissen einer primitiven Lebensform, ein Wissen, das ihnen allen in dieser ebenso primitiven Umgebung nur von Nutzen sein konnte. Und wenn es zu Kämpfen kommen sollte: Burton konnte sich keinen besseren Mann vorstellen, um sie zu überstehen. Wer Kazz im Rücken hatte, besaß eine Überlebensgarantie. Obwohl er nicht sonderlich groß war, wirkte er ungeheuer massig. Er hatte schwere Knochen und die dazugehörenden kräftigen Muskeln. Und es war offensichtlich, daß er sich irgendwie Burton zugehörig fühlte; wahrscheinlich, weil sein primitiver Instinkt ihm sagte, daß er — wenn er seinerseits überleben wollte — diesem Mann folgen mußte. Mehr noch: Der Frühmensch, der er war, hatte möglicherweise Burtons intellektuelle Überlegenheit erkannt und war zu der Ansicht gelangt, daß er sie in seinem eigenen Interesse erhalten mußte, auch wenn er selbst einem Tier näherstand als diesem Homo sapiens.

Aber Burton erinnerte sich ebenfalls daran, daß die Reputation, die er aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten in seinem irdischen Leben genossen hatte, hauptsächlich darauf zurückzuführen war, daß er sie geschickt um sich herum aufgebaut hatte und im Grunde doch nur ein Scharlatan war. Im Laufe seines Lebens war so oft von seinen überragenden Fähigkeiten die Rede gewesen, daß er sie am Ende selbst für bare Münze genommen hatte. Dennoch gab es gelegentlich Momente in seinem Leben, in denen er sich in Erinnerung rief, daß seine „Fähigkeiten“ zumindest zur Hälfte auf einem geschickten Bluff basierten.

»Der Felsen hat eine unglaubliche Energie freigesetzt«, sagte Lev Ruach.

»Möglicherweise Elektrizität. Aber warum? Ich kann mir nicht vorstellen, daß das ohne Grund geschah.«

Burton musterte den pilzförmigen Felsen. Der graue Metallzylinder, der in seine Oberfläche eingelassen war, schien völlig unbeschädigt zu sein. Er berührte das Gestein und stellte fest, daß es keinesfalls wärmer war, als man unter dieser Sonnenbestrahlung erwarten konnte.

Lev Ruach schrie: »Berühren Sie ihn nicht. Vielleicht gibt es noch einmal…« Als er sah, daß seine Warnung zu spät kam, verstummte er.

»Noch eine Entladung?« sagte Burton. »Ich glaube nicht daran. Zumindest jetzt noch nicht. Der Zylinder ist noch an der alten Stelle. Vielleicht finden wir an ihm einige Hinweise, die uns nützen können.«

Er umklammerte den Rand der Oberfläche mit den Händen und zog sich hinauf.

Ohne Schwierigkeiten betrat er die Oberfläche und fühlte sich ein wenig stolz. Es war lange her gewesen, seit er sich derart jung und kräftig gefühlt hatte. Und so hungrig.

Einige Stimmen aus der Menge warnten ihn davor, weiterzugehen, denn viele erwarteten jeden Moment eine neue Energieentladung, während andere den Eindruck erweckten, als warteten sie nur darauf, daß es ihn erwischte. Der Mehrheit der Umstehenden jedoch schien es völlig gleichgültig zu sein, welchem Risiko er sich aussetzte.

Obwohl Burton sich keinesfalls so sicher war, wie er sich nach außen hin gab, geschah nichts. Das Gestein unter seinen nackten Füßen fühlte sich angenehm warm an.

Über die Vertiefungen hinweg näherte Burton sich dem Zylinder und legte die Finger unter den Deckelrand. Er ließ sich leicht öffnen. Mit aufgeregt klopfendem Herzen warf er einen Blick in den Behälter. Er hatte nahezu ein Wunder erwartet, und das, was sich ihm präsentierte, konnte mit keinem anderen Wort beschrieben werden. Das in dem Zylinder angebrachte Gestell enthielt sechs Behälter. Und jeder einzelne davon war gefüllt.

Er gab seiner Gruppe das Zeichen heraufzukommen. Kazz schwang sich mit Behendigkeit über den Rand. Frigate, der seine Übelkeit inzwischen völlig überwunden hatte, folgte ihm mit der Geschmeidigkeit eines Athleten. Wenn sein Magen nicht so empfindlich wäre, dachte Burton, könnte auch er die Stellung einer absoluten Trumpfkarte in unserer Gruppe innehaben. Frigate wandte sich um und zog Alice hinauf, die seine Hände ergriff und sich über den Felsrand des Pilzhutes rollte.

Als sie sich um ihn versammelt hatten und neugierig die Köpfe in Richtung des Zylinders vorstreckten, um den Inhalt der Behälter in Augenschein zu nehmen, sagte Burton: »Es ist wahrhaftig ein Gral! Seht nur! Ein Steak — ein dickes, saftiges Steak! Brot und Butter! Marmelade! Salat! Und was haben wir hier? Ein Päckchen Zigaretten? Yeah! Und eine Zigarre! Und ein Becher Bourbon — dem Duft nach eine ziemlich gute Marke! Und etwas… was ist das?«

»Sieht aus wie Kaugummistreifen«, sagte Frigate verdattert. »Aber sie sind nicht eingepackt. Und das hier muß ein… Was ist das? Ein Feuerzeug vielleicht?«

»Etwas zu essen!« schrie irgend jemand. Es war ein großer Mann und gehörte nicht der Gruppe an, die Burton als „seine Gruppe“ ansah. Er war ihnen gefolgt, und jetzt schickten sich auch die Zurückgebliebenen an, den Pilzfelsen zu erklimmen. Burton langte mit der einen Hand in den Gral-Zylinder hinein und griff nach dem auf dem Boden liegenden silbernen Objekt. Frigate hatte es als Feuerzeug bezeichnet, und obwohl Burton keine Ahnung hatte, was dieser Begriff bedeutete, vermutete er, daß seine Funktion darin bestand, den Zigaretten das nötige Feuer zu liefern. Er legte das Ding auf die Handfläche und schloß mit der anderen Hand den Zylinderdeckel. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und auch den anderen schien es keinesfalls anders zu ergehen. Sie starrten begierig die Nahrung an und verstanden keineswegs, warum er sie nicht den Behältern entnahm.

In lautem Italienisch, dessen Akzent ihn als einen Bewohner von Triest auswies, sagte der große Mann plötzlich: »Ich habe Hunger und werde jeden umbringen, der versucht mich aufzuhalten! Mach das Ding wieder auf!«

Die anderen schwiegen, aber offensichtlich erwarteten sie von Burton, daß er selbst in diesem Fall die Lage klärte. Statt dessen sagte er einfach: »Öffnen Sie es selbst« und wandte sich ab. Die anderen zögerten. Sie hatten das Essen gesehen und sein Aroma gerochen. Kazz geiferte. Aber Burton sagte nur: »Schaut euch die Menge an. In spätestens einer Minute werden sie aufeinander einschlagen. Meinetwegen sollen sie sich um die paar Bissen prügeln.« Er warf den anderen einen grimmigen Blick zu und meinte: »Nicht daß Sie glauben, ich ginge einem Kampf aus dem Weg. Aber ich bin sicher, daß wir spätestens zum Abendessen über unsere eigenen gefüllten Gral-Zylinder verfügen werden. Diese Gral-Zylinder brauchen nur in diese Vertiefungen gestellt zu werden, wenn Essenszeit ist. Für mich ist die Sache klar, daß man diesen einzelnen Gral-Zylinder hier nur deponiert hat, um uns zu zeigen, wozu die anderen dienen.«

Er ging zu der dem Fluß zugewandten Seite des Grals und sprang hinunter.

Augenblicklich füllte sich die Oberfläche des Pilzfelsens mit weiteren Menschen. Immer mehr versuchten nun, einen Platz auf ihm zu ergattern. Der große Mann hatte sich mittlerweile das Steak gesichert und biß hinein. Schon versuchte ein anderer, es ihm zu entreißen. Der Mann wehrte sich mit einem wütenden Aufschrei, durchbrach die Reihe der Umstehenden und verschwand mit einem gewaltigen Sprung im Wasser, während die anderen Männer und Frauen sich keifend und raufend um die restliche Nahrung stritten.

Der Mann, der in den Fluß gesprungen war, trieb mit dem Gesicht nach oben auf den Wellen und ließ sich das Steak schmecken. Burton betrachtete ihn aus unmittelbarer Nähe und erwartete jeden Moment den Angriff eines Raubfisches.

Aber nichts geschah. Ungestört trug der Fluß den Mann hinweg.

Auf beiden Seiten des Stromes begannen sich nun die Grale mit kämpfenden Menschen zu füllen.

Burton suchte sich einen Weg aus der Menge und setzte sich nieder. Die Gruppe, die ihm gefolgt war, tat es ihm gleich, kniete nieder oder beobachtete stehend, was sich innerhalb der schreienden und quirlenden Masse abspielte. Die Grals-Pilze glichen überbevölkerten Ameisenhaufen. Der Lärm war ungeheuer, schon floß das erste Blut.

Der am meisten deprimierende Aspekt dieser Szene war die Reaktion der Kinder. Die jüngeren waren den Felsen ferngeblieben, obwohl sie wußten, daß es dort etwas zu essen gab. Erschreckt über das Verhalten der kämpfenden Erwachsenen rannten sie weinend hin und her. Das Mädchen, das sich bei Burton aufhielt, gab keinen Laut von sich, aber sie zitterte und schlang schließlich ihre Arme um seinen Hals. Burton zog sie an sich, tätschelte ihr beruhigend den Rücken und sagte ein paar freundliche Worte, die sie zwar nicht begriff, aber aufgrund seines Tonfalls nicht mißverstehen konnte.

Die Sonne begann zu sinken. In etwa zwei Stunden würde sie hinter den sich in der Ferne auftürmenden Bergen verschwunden sein, obwohl ihr Licht den Tag sicher noch um einige Stunden erhalten konnte. Sie hatten keine Möglichkeit herauszufinden, wie lange die Tage in dieser Umgebung dauerten. Die Temperatur war angestiegen, aber dennoch war das Sitzen in der Sonne keinem unangenehm, da ständig ein kühler Wind wehte.

Kazz signalisierte ihnen, daß er Feuer machen wollte, und zeigte auf die Spitze seiner Lanze. Zweifellos hatte er vor, sie im Feuer zu härten.

Burton hatte inzwischen das metallene Objekt, das er dem Gral entnommen hatte, einer Untersuchung unterzogen. Es bestand aus hartem, silbern glänzendem Material, war von länglich-flacher Form, etwa fünf Zentimeter lang und einen Zentimeter breit. Am einen Ende war ein kleines Loch, während das andere mit einem beweglichen Schieber versehen war. Burton bewegte den Schieber mit dem Daumennagel, und auf der Stelle schoß eine zwei Zentimeter lange Flamme aus dem Loch, die unter der Einwirkung der Sonne weißlich glühte. Er sengte einen Grashalm an und richtete die Flamme dann gegen die Spitze seines Bambusspeers, wo sofort ein winziges Loch entstand. Als Burton den Schieber wieder in seine Ausgangsposition zurückschnellen ließ, kroch die Flamme in das silberne Gehäuse zurück und verschwand.

Frigate und Ruach wunderten sich beide über die Kraft, die in diesem kleinen Gerät steckte. Um den kleinen Draht, der durch das Loch zu sehen war, derart zu erhitzen, bedurfte es ungeheurer Energien. Über welche Möglichkeiten mußte die Batterie oder der radioaktive Kern in seinem Innern verfügen? Und wie konnte man die Kraftquelle erneuern, wenn sie ausgebrannt war?

Aber das waren Fragen, die unter den gegebenen Umständen von keinem aus ihren Reihen beantwortet werden konnten. Vielleicht würden sie sogar niemals beantwortet werden. Am meisten von allem beschäftigte sie zunächst einmal die Frage, wie es möglich gewesen war, daß jeder einzelne von ihnen ins Leben hatte zurückgerufen werden können und über einen neuen Körper verfügte. Wer immer dazu in der Lage gewesen war, verfügte über eine Macht, die göttlich sein mußte. Aber auch ihre Spekulationen, die zumindest dazu dienten, die Gespräche aufrechtzuerhalten, würden im Endeffekt zu keinem Resultat führen.

Nach einer Weile begann die Menge sich aufzulösen und zog sich von den grauen Gral-Zylindern auf den Spitzen der Gralsteine zurück. Da und dort lagen leblose Körper, und viele der Männer und Frauen, denen es gelungen war, auf der Oberfläche der Grale einen Platz zu finden, waren verletzt.

Burton mischte sich unter die Leute und betrachtete sie. Er sah das zerkratzte Gesicht einer weinenden Frau, der niemand auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte, während an einer anderen Stelle ein stöhnender Mann lag, der seine zerkratzte Leistengegend betastete. Scharfe Fingernägel hatten auch an ihm unübersehbare Spuren hinterlassen. — Von den vier auf der Oberfläche des Gralsfelsens liegenden Personen waren drei ohne Bewußtsein.

Eine Handvoll Wasser brachte sie wieder zu sich. Der vierte, ein kleingewachsener, schlanker Mann war tot. Jemand hatte ihm den Hals gebrochen.

Burton warf einen Blick auf die Sonne und sagte: »Ich weiß nicht genau, wann die Zeit für das Abendessen anbricht, deshalb schlage ich vor, daß wir sofort zurückkehren, wenn die Sonne sich anschickt, hinter den Bergen zu verschwinden. Wir werden unsere Zylinder, Wundermaschinen, Essensstäbe — oder wie immer ihr sie nennen wollt — in diese Vertiefungen stecken und warten. In der Zwischenzeit…«

Er hätte den Körper des Toten natürlich auch dem Fluß übergeben können, aber der Gedanke, daß er ihnen dienlich sein konnte, ließ Burton jetzt nicht mehr los. Er sagte den anderen, was er damit zu tun gedachte, und sie hoben die Leiche von dem Felsen und trugen sie über die Ebene. Frigate und Galeazzi, ein ehemaliger Bewohner der Stadt Triest, übernahmen den ersten Teil des Weges. Frigate packte die Füße des Toten und schritt aus, während Galeazzi die Armbeugen des Mannes ergriff. Alice folgte Burton und hielt dabei das Kind an der Hand. Obwohl einige Mitglieder der Gruppe ihnen ungläubige Blicke zuwarfen und neugierige Fragen stellten, ignorierte Burton sie. Nach einer Strecke von anderthalb Kilometern übernahmen Kazz und Monat den Transport der Leiche. Das Mädchen reagierte auf den Anblick des Toten überhaupt nicht. Möglicherweise hatte sie bei dem verbrannten Körper von Pater Giuseppe lediglich deren erschreckender Zustand geängstigt.

»Wenn sie wirklich eine aus der Frühzeit stammende Gallierin ist«, sagte Frigate, »wird sie wahrscheinlich daran gewöhnt sein, Menschen brennen zu sehen. Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, war es bei den Galliern Sitte, Menschenopfer, die in irgendwelche Tücher eingewickelt waren, brennend irgendwelchen Göttern darzubringen. Aber ich weiß nicht mehr, zu Ehren welcher Gottheiten sie das taten. Ich wünschte, ich hätte eine Bibliothek, in der ich nachforschen könnte. Glauben Sie, daß wir jemals soweit kommen werden? Ich glaube, ich würde allmählich den Verstand verlieren, wenn ich sicher wäre, daß ich niemals die Gelegenheit haben würde, in irgendwelchen Büchern herumzustöbern.«

»Das wird die Zukunft zeigen«, erwiderte Burton. »Wenn wir auf keine Bibliothek stoßen, werden wir uns unsere eigene machen müssen. Wenn wir dazu überhaupt die technischen Möglichkeiten zustande bringen.«

In Wirklichkeit hielt er Frigates Frage für absolut verrückt, aber unter Berücksichtigung der Umstände konnte man wohl in dieser Umgebung von keinem Menschen sagen, daß er alle seine fünf Sinne beisammen hatte.

Am Fuße des Hügelgeländes lösten Rocco und Brontic, zwei andere Männer, Kazz und Monat ab. Burton führte sie durch das hüfthohe Gras in den Wald hinein.

Die scharfen Grashalme schnitten ihnen ins Fleisch. Mit seinem Messer schnitt Burton einen Zweig ab und prüfte seine Flexibilität, während Frigate in seiner Nähe blieb und weiterredete. Möglicherweise, dachte Burton, redet er nur soviel, um nicht an die beiden Toten denken zu müssen.

»Wenn jeder Mensch, der einmal gelebt hat, auf dieser Welt wiedererweckt wurde«, sagte Frigate, »dann könnten wir vor einer Forschungsaufgabe stehen, die sich noch keinem anderen geboten hat! Denken Sie nur einmal daran, welche historischen Geheimnisse und Fragen wir klären könnten! Sie könnten mit John Wilkes Booth sprechen und ihn danach fragen, ob Stanton, der Staatssekretär im Kriegsministerium, wirklich mit der Ermordung Lincolns zu tun hatte. Sie könnten die wahre Identität von Jack the Ripper klären und herausfinden, ob Johanna von Orleans wirklich einer Sekte angehörte, die Hexenkult trieb. Man könnte mit Napoleons Marschall Ney reden und von ihm erfahren, ob er wirklich den Kugeln des Erschießungskommandos entging und später als Lehrer in Amerika lebte. Wir könnten die Hintergründe von Pearl Harbour aufdecken, das Gesicht des Mannes mit der Eisernen Maske sehen — falls es ihn je in Wirklichkeit gegeben hat. Wir könnten Lucrezia Borgia interviewen und ebenso alle, die sie kannten, um zu erfahren, ob sie wirklich jene giftmordende Hexe war, als die sie die Geschichte hinstellt.

Die Identität des Mörders, der die beiden kleinen Prinzen in jenem Turm umbrachte, wäre kein Geheimnis mehr für uns. Vielleicht war es wirklich Richard III. der sie umbrachte. — Und was Sie selbst betrifft, Sir Richard Francis Burton: Es gibt sicher auch eine ganze Reihe von Fragen, die Ihre Biographen interessieren würde! Stimmt es wirklich, daß Sie einst in eine Perserin verliebt waren, der zuliebe Sie bereit waren, Ihre wahre Identität zu vergessen und ein Eingeborener zu werden? Stimmt es, daß sie starb, bevor Sie sie heiraten konnten, und Sie darüber so verbittert waren, daß Sie für den Rest Ihres Lebens ständig eine Fackel als Andenken bei sich trugen?«

Burton warf ihm einen raschen Blick zu. Er hatte den Mann erst vor einer Weile kennen gelernt, und bereits jetzt erdreistete er sich, ihm die intimsten und persönlichsten Fragen zu stellen. Es gab nichts, das dieses Verhalten zu entschuldigen vermochte.

Frigate zog sich ein wenig zurück und sagte: »Und… und… Nun, ich verstehe vollkommen, daß dies nicht die richtige Zeit ist, über solche Dinge zu reden. Aber wußten Sie, daß Ihre Frau Sie kurz nach Ihrem Tod mit einer besonderen Salbung versehen und auf einem katholischen Friedhof bestatten ließ — Sie, den Ungläubigen?«

Lev Ruach, dessen Augen während Frigates Gerede immer größer geworden waren, sagte plötzlich: »Sie sind Burton, der Forscher und Sprachwissenschaftler?

Der Entdecker des Tanganyikasees? Der Mann, der als Moslem verkleidet nach Mekka und Medina pilgerte? Der Tausendundeine Nacht übersetzte?«

»Ich verspüre nicht das geringste Bedürfnis, dies abzustreiten. Der bin ich.«

Lev Ruach spuckte Burton an. Glücklicherweise sorgte der Wind dafür, daß er ihn nicht traf. »Sie Schwein!« schrie er laut. »Sie verdammtes Nazischwein!

Ich habe einiges über Sie gelesen! Auf die eine oder andere Art sollen Sie ja eine verehrungswürdige Gestalt gewesen sein — aber Sie waren Antisemit!«

Загрузка...