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Göring aß weiter, hörte jedoch plötzlich auf, starrte ihn an und fragte erstaunt: »Aber wieso denn? Ich besitze in dieser Gegend nicht die geringste Autorität. Ich könnte Ihnen überhaupt nichts tun. Ich bin nur ein Gast hier.

Es sind verdammt freundliche Leute hier. Sie haben mich völlig in Ruhe gelassen und mich nur ab und zu gefragt, ob alles in Ordnung sei. Allerdings weiß ich nicht, wie lange sie mich noch hier behalten werden.«

»Sie haben diese Hütte noch nicht verlassen?« fragte Burton. »Wer hat dann Ihren Gral für Sie aufgefüllt? Wie sind Sie an soviel Traumgummi gekommen?«

Göring lächelte listig. »An dem Ort, wo ich mich zuletzt aufhielt, hatte sich eine beträchtliche Menge angesammelt. Etwa zweitausend Kilometer flußaufwärts.«

»Ich zweifle nicht daran, daß Sie es irgendwelchen armen Sklaven abnahmen«, sagte Burton. »Warum sind Sie dort weggegangen, wenn die Sache für Sie so gut stand?«

Göring begann plötzlich zu weinen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die über seine Wangen hinabliefen und seine Brust benetzten. Er zitterte.

»Ich… mußte einfach gehen. Ich hatte keinen guten Einfluß auf die anderen.

Nach und nach verlor ich meine Gewalt über sie. Ich verbrachte zuviel Zeit mit Trinken, Marihuana und Traumgummi. Sie sagten, ich sei mir selbst gegenüber einfach zu nachgiebig. Sie hätten mich entweder beizeiten umgebracht oder zu den Sklaven geworfen. Darum floh ich… nahm mir in der Nacht ein Boot. Ich kam ohne Schwierigkeiten dort weg und wurde während der Fahrt nicht behelligt. So kam ich hierher und tauschte einen Teil meines Besitzes für zwei Wochen Unterkunft ein.«

Burton starrte Göring mißtrauisch an.

»Wollen Sie mir erzählen, daß Sie keine Ahnung hatten, welche Auswirkungen der Traumgummi auf den menschlichen Geist haben kann? Daß Sie nichts von den Alpträumen, Halluzinationen, Wahnzuständen wußten? Sie haben keine Ahnung gehabt, daß die Einnahme eine mentale und physische Desorientierung hervorruft? Allein schon das Beispiel der anderen hätte Ihnen das sagen müssen.«

»Auf der Erde war ich morphiumsüchtig!« schrie Göring. »Ich habe lange Zeit dagegen angekämpft und es schließlich auch geschafft, davon loszukommen, aber als die Lage für das Dritte Reich — und damit auch für mich — immer prekärer wurde und Hitler mich beschuldigte, fing ich wieder damit an!«

Er machte eine Pause und fuhr fort: »Aber als ich hier in einem neuen Körper erwachte, ein ganz neues Leben vor mir lag und alles den Anschein erweckte, als läge eine nie endende Jugend vor mir glaubte ich, daß weder Gott im Himmel noch ein Teufel in der Lage wäre, mich zu stoppen, und wollte endlich das werden, was ich mir schon lange erhofft hatte. Ein noch größerer Mann als Hitler! Das kleine Gebiet, in dem wir einander zum erstenmal begegneten, sollte nur der Anfang sein. Ich sah vor mir ein Imperium, das sich zu beiden Seiten des Flusses in unendliche Fernen erstreckte. Ich wollte Herrscher über ein Gebiet werden, das zehnmal größer sein sollte als das, von dem Hitler jemals träumte!«

Er brach erneut in Tränen aus, hielt inne, um einen weiteren Schluck Wasser zu trinken, und schob sich schließlich einen Gummistreifen zwischen die Lippen. Göring begann zu kauen; nach und nach wurden seine Züge entspannter.

»Ich wurde ständig von dem Alptraum verfolgt, daß Sie mir eine Lanze in den Leib rammten«, fuhr er nach einer Weile fort. »Wenn ich aufwachte, verspürte ich echten Schmerz. Und so fing ich schließlich an, Gummi zu kauen, um dieses schreckliche Gefühl zu verdrängen. Zunächst half es mir wirklich. Es machte mich innerlich groß. Ich fühlte mich wie der Herr der Welt, wie Hitler, Napoleon, Julius Cäsar, Alexander der Große, Dschingis Khan und wer weiß was in einer Person. Ich wurde zum Kommandanten von Richthofens Geschwader; es war eine herrliche Zeit, sicherlich die bisher schönste in meinem Leben. Aber dann schwand die Euphorie, und ich fiel in eine Hölle.

Ich wurde zu meinem eigenen Ankläger, während sich hinter mir eine Million weiterer befand, die die Opfer dieses großen und glorreichen Helden, dieses wahnsinnigen Hitler repräsentierten, den ich unterstützt hatte. Und in dessen Auftrag ich so viele Verbrechen beging.«

»Sie geben zu, Verbrechen begangen zu haben?« fragte Burton. »Diese Feststellung unterscheidet sich allerdings stark von dem, was Sie früher behaupteten. Früher sagten Sie, daß alle Ihre Taten zu begründen wären und daß gewisse Kreise Sie hereinge…«

Burton stoppte seinen Redefluß in dem Moment, in dem er bemerkte, daß er vom Thema abschweifte. »Daß Ihnen das Gewissen zu schaffen machen soll, ist fast unglaublich. Aber vielleicht erklärt das die Verwirrung der Puritaner, weshalb man ihnen zusätzlich zu der Nahrung in den Gralen Alkohol, Tabak, Marihuana und Traumgummi anbietet. Beim Traumgummi scheint es sich zumindest für diejenigen um ein gefährliches Geschenk zu handeln, die tölpelhaft genug sind, es zu verwenden.«

Er trat näher an Göring heran. Die Augen des Deutschen waren halb geschlossen. Sein Unterkiefer hing herunter.

»Sie sind über meine Identität informiert, Göring. Aber ich reise aus guten Gründen unter einem falschen Namen. Erinnern Sie sich an Spruce, einen Ihrer Sklaven? Nach Ihrem Tod wurde er aus Zufall als einer derjenigen entlarvt, die für unsere Wiedererweckung verantwortlich sind. Wir nennen diese Leute, weil wir noch keine passendere Bezeichnung für sie gefunden haben, die ›Ethiker‹. Göring, hören Sie mir überhaupt zu?«

Göring nickte.

»Bevor wir herausbekamen, was uns interessierte, brachte dieser Spruce sich selbst um. Später drangen einige seiner Leute in unser Gebiet ein und betäubten — möglicherweise unter Zuhilfenahme eines Gases — die gesamte Bevölkerung. Ihr Plan war, mich zu ihrem Hauptquartier — wir wissen nicht, wo es liegt — zu verschleppen. Aber sie fanden mich nicht, denn ich befand mich zu dieser Zeit auf einer Reise. Als ich zurückkam und feststellte, daß sie hinter mir her waren, floh ich. Ich bin seit diesem Tag unterwegs. Hören Sie mir zu, Göring?«

Burton versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Göring sagte: »Au!« Er taumelte ein paar Schritte zurück und hielt sich die schmerzende Wange.

Seine Augen waren weit aufgerissen, und er verzog unwillig das Gesicht.

»Natürlich habe ich Ihnen zugehört«, knurrte er wütend. »Ich hielt es nur nicht für notwendig, darauf eine Antwort zu geben. Nichts ist notwendig, gar nichts. Ich will nichts anderes, als sanft dahinfließen; weg von hier und weg von…«

»Halten Sie den Mund und hören Sie zu!« sagte Burton. »Die Ethiker haben überall ihre Spione sitzen, die nach mir Ausschau halten. Ich kann es mir nicht leisten, Sie leben zu lassen, ist Ihnen das klar? Ich kann Ihnen nicht trauen. Selbst wenn Sie ein Freund wären, wäre mir das nicht möglich — denn Sie sind ein Gummikauer!«

Göring kicherte, taumelte auf Burton zu und versuchte ihm die Arme um den Hals zu legen. Es gelang ihm nicht. Burton stieß ihn so fest zurück, daß er zurückfiel und gegen den Tisch prallte. Lediglich ein schnelles Zugreifen seiner Hände verhinderte, daß Göring auf dem Boden landete.

»Es ist alles sehr amüsant«, sagte Göring. »An dem Tag, an dem ich hier ankam, fragte mich nämlich ein Mann, ob ich Sie kennen würde. Er beschrieb Sie ziemlich genau und nannte auch Ihren Namen. Ich berichtete ihm, daß ich Sie gut kennen würde — zu gut sogar — und daß es meine Hoffnung sei, Ihnen niemals wieder über den Weg zu laufen; nicht einmal dann, wenn ich über genügend Macht verfügte. Der Mann sagte, ich solle ihn informieren, wenn ich Sie wiedersähe, und daß er es mir gut vergelten würde.«

Burton verlor nicht die geringste Zeit. Er sprang auf Göring zu und packte ihn mit beiden Händen. Göring winselte vor Angst.

»Was haben Sie vor?« keuchte er. »Wollen Sie mich ein zweites Mal umbringen?«

»Nicht, wenn Sie mir den Namen des Mannes nennen, der Sie über mich ausgefragt hat. Wenn Sie es nicht tun…«

»Dann töten Sie mich doch!« sagte Göring laut. »Glauben Sie, das macht mir was aus? Ich werde irgendwo an einem anderen Ort wieder aufwachen und ein neues Leben beginnen. Tausend Kilometer von hier entfernt, außerhalb Ihrer Reichweite…«

Burton deutete auf das kleine Bambuskästchen, das neben Görings Schlafgelegenheit stand. Der Geruch, den es ausströmte, hatte ihm schon beim Eintritt in die Hütte verraten, daß Göring darin seinen Gummivorrat aufbewahrte.

»Aber Sie würden ohne dieses Kästchen dort aufwachen«, sagte er zynisch.

»Und wie ich Sie kenne, wäre es Ihnen unmöglich, innerhalb kurzer Zeit erneut einen solchen Vorrat zusammenzuraffen.«

»Verdammt sollen Sie sein!« fluchte Göring. Er versuchte allen Ernstes, sich loszureißen und auf das Kästchen zu stürzen.

»Seinen Namen!« verlangte Burton hart. »Oder ich nehme das Kästchen und werfe es in den Fluß!«

»Agneau. Roger Agneau. Er schläft in einer Hütte neben dem Rundhaus.«

»Wir reden später noch miteinander«, sagte Burton und versetzte Göring einen gezielten Handkantenschlag in den Nacken.

Als er sich umwandte, sah er einen Mann von draußen auf die Hütte zukriechen. Plötzlich erhob er sich und tauchte unter. Burton eilte hinter ihm her und fand sich eine Minute später zwischen riesigen Eichen und Pinien wieder. Der Unbekannte verschwand im hüfthohen Gras.

Burton verlangsamte seinen Schritt etwas und sah in der Finsternis einen hellen Punkt — den Rücken des Flüchtlings. Sofort nahm er die Verfolgung wieder auf. Hoffentlich tötete der Ethiker sich nicht, ehe er seiner habhaft werden und mittels Hypnose einige Fragen stellen konnte. Aber bevor Burton seinen Plan ausführen konnte, mußte er den Ethiker zuerst einmal haben.

Möglicherweise war der Mann gerade dabei, mittels irgendeines in seinen Körper transplantierten Gerätes mit seinen Kollegen in Verbindung zu treten.

Wenn ihm das gelungen war, würden sie bald mit ihren Flugmaschinen auftauchen und Burton jagen, was gleichbedeutend mit seinem Ende war.

Burton blieb stehen. Er hatte den Flüchtling plötzlich aus den Augen verloren. Alles, was ihm jetzt noch zu tun übrig blieb, war Alice und die anderen zu wecken und schleunigst das Weite zu suchen. Vielleicht konnten sie sich dieses Mal in die Berge zurückziehen und dort für eine Weile untertauchen.

Aber zuerst würde er zu Agneaus Hütte hinübergehen. Es bestand zwar keine sonderlich große Chance, daß er den Mann dort antreffen würde, aber nachsehen kostete ja nichts.

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