13

Sechzig Tage waren vergangen. Man hatte das Boot auf dicken Bambusrollen über die Ebene transportiert. Der Tag des Stapellaufs brach an. Die war etwa dreizehn Meter lang. Sie lief am Bug spitz zu und war mit einer großen Plattform ausgerüstet, die als Deck diente. Sie besaß ein Bugspriet mit einem Ballonsegel, einen einzelnen Mast mit Segeln aus gewebten Bambusblättern und wurde mit einer Ruderfinne gesteuert, da es sich erwiesen hatte, daß der Bau eines Steuerrades mit ihrem begrenzten Wissen und dem Mangel an geeignetem Material unmöglich war. Das einzige, aus dem sie hatten Seile herstellen können, war das Gras gewesen, aber es war jetzt schon absehbar, daß sie in Kürze durch gegerbtes Leder, das man aus der Haut größerer Fische gewinnen konnte, ersetzt werden würden. Ein Einbaum, den Kazz aus einem Baumstamm herausgearbeitet hatte, war auf dem Vordeck befestigt.

Bevor sie das Boot allerdings zu Wasser lassen konnten, gab es einige Schwierigkeiten mit Kazz. Er war jetzt in der Lage, einige Dinge in Englisch auszudrücken, und beherrschte auch schon mehrere Brocken Arabisch, Baluchi, Suaheli und Italienisch, das Burton ihm beigebracht hatte.

»Brauchen wir noch… Wie ihr nennen?… Wallah!… Wie heißen Wort?…

Jemand töten, bevor bringen Boot in Wasser… Du weißt… MERDE… Wie heißen Wort, Burton-naq… Mir sagen, Burton-naq… Wort… Wort… Mensch töten, daß Gott… KABBURQANAQRUEBEMSS… Wassergott… machen Boot nicht sinken… Gott nicht wütend… Wir nicht ertrinken… und Gott uns nicht fressen.«

»Ein Opfer?« fragte Burton.

»Viel blutiger Dankeschön, Burton-naq«, sagte Kazz. »Opfer! Kehle schneiden durch… Blut schmieren an Boot… auf Holz… Dann Wassergott uns verschonen…«

»Das werden wir nicht tun«, sagte Burton.

Kazz schien das zwar nicht ganz recht zu sein, aber schließlich willigte er dann doch ein, an Bord zu gehen. Er machte allerdings ein ziemlich beunruhigtes Gesicht und schien jeden Moment auf den Ausbruch des göttlichen Zorns zu warten, aber als Burton ihm erklärte, daß dies hier nicht die Erde sei — was er auch an den fremdartigen Himmelskörpern erkennen könne — und die irdischen Götter hier keinerlei Macht besäßen, hellte sich seine Miene nach und nach auf. Er lächelte sogar schüchtern, wandte aber dennoch seinen Blick nicht von der Wasseroberfläche ab. Irgendwie schien er immer noch darauf zu warten, daß die Fluten sich teilten und aus den Tiefen das grünbärtige Gesicht mit den Fischaugen des Wassergottes Kabburqanaqruebemss auftauchte, um sie zu verschlingen.

An diesem Morgen wimmelte es auf der Ebene in der Nähe des Bootes von Menschen. Offenbar hatte sich hier alles versammelt, was im Umkreis von mehreren Kilometern lebte, denn der Stapellauf eines Schiffes gehörte zweifellos zu den ungewöhnlichen Ereignissen des neuen Lebens und stellte somit für die Menschen eine willkommene Abwechslung im täglichen Einerlei dar. Man rief den Bootsbauern Boshaftigkeiten zu, riß Witze und lachte.

Obwohl einige der Kommentare reichlich bissig klangen, verlor niemand seinen guten Humor. Bevor das Boot auf den Rollen ins Wasser geschoben wurde, erklomm Burton die „Brücke“ und hob die Hand, um anzuzeigen, daß er Ruhe wünschte. Das Geschwätz der Menge verstummte, und er sagte auf Italienisch: »Freunde und Bewohner des Tals im Verheißenen Land! Wir werden euch in wenigen Minuten verlassen…«

»Wenn das Boot seinen Stapellauf übersteht«, murmelte Frigate leise.

»… um den Fluß hinaufzusegeln, gegen den Wind und die Strömung. Wir werden diesen schweren Weg auf uns nehmen, weil die kompliziertesten Routen stets die größte Belohnung für die Entdecker aufzuweisen hatten, wenn man den Worten der Moralisten auf Erden Glauben schenken kann. Und ihr wißt jetzt, wie viel man denen glauben konnte!«

Gelächter. Die fanatischen Gläubigen warfen Burton finstere Blicke zu.

»Wie einige von euch vielleicht wissen, führte ich auf der Erde einst eine Expedition ins finsterste Afrika, um die Quellen des Nil zu finden. Ich habe sie zwar nicht entdeckt, aber ich bin ihnen ziemlich nahe gekommen.

Ausgestochen hat mich damals ein Mann namens John Hanning Speke. Sollte ich ihm während meiner diesmaligen Reise flußaufwärts begegnen, werde ich wissen, wie ich mit ihm fertig werde…«

»Herrgott!« sagte Frigate. »Wollen Sie, daß er sich ein zweites Mal aus lauter Scham und Gewissensbissen das Leben nimmt?«

»… aber Tatsache ist«, fuhr Burton fort, »daß dieser Fluß hier viel, viel größer ist als der Nil, der, wie ihr wißt oder vielleicht auch nicht wißt, der längste Fluß der Erde war, auch wenn die Amerikaner nicht müde werden zu behaupten, daß ihr Mississippi-Missouri-Komplex noch mehr aufzuweisen hätte.

Einige von euch werden sich fragen, warum wir diese Fahrt unternehmen; warum wir uns auf eine Reise zu einem Ziel begeben, von dem wir nicht einmal wissen, ob es überhaupt existiert. Ich will euch sagen, daß wir unsere Segel deswegen setzen, weil wir wissen, daß das Unbekannte existiert, und es unser Bestreben ist, es zu Bekanntem zu machen. Das ist alles! Weil hier — im Gegensatz zu unseren frustrierenden Erfahrungen auf der Erde — das Geld nicht die Welt regiert und es keiner Finanzierung bedarf, eine solche Expedition auszurüsten. Ebenso wenig bedarf es zahlloser Eingaben, des Ausfüllens von Formularen, des Bettelns um Audienzen bei einflußreichen Persönlichkeiten oder des Katzbuckelns vor miesen kleinen Beamten oder irgendwelchen verknöcherten Bürokraten, um die Erlaubnis zu erhalten, diesen Fluß zu befahren. Es gibt keine nationalen Grenzen…«

»… jedenfalls jetzt noch nicht«, murmelte Frigate.

»… keine Paßformalitäten und keine Amtsärsche, die man bestechen muß.

Alles, was wir zu tun hatten, um eine Lizenz zu bekommen, war, dieses Boot zu bauen. Und so beginnen wir unsere Fahrt ohne irgendwelche Auflagen oder den Erlaubnisschein selbstgerechter Fürsten oder ihrer Vertreter. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind wir frei! Frei! Und deswegen entbieten wir euch allen unser Adieu, weil wir auf Wiedersehen nicht sagen wollen…«

»… was er sowieso niemals täte«, murmelte Frigate.

»… weil es nicht unmöglich ist, daß wir erst in tausend Jahren zu euch zurückkehren! So sage ich Adieu zu euch, ebenso wie meine Mannschaft. Wir danken euch für eure Hilfe, die ihr uns beim Bootsbau erwiesen habt. Hiermit übergebe ich meinen Posten als Konsul Ihrer Britischen Majestät in Triest demjenigen, der bereit ist, ihn an meiner Stelle anzunehmen, und erkläre mich selbst zum freien Bürger der Flußwelt! Ich werde niemandem einen Tribut zollen, niemandem etwas schuldig sein und meine Treue nur mir selbst erweisen!«

Frigate sang:

»Tu nur, was deine Männlichkeit gebietet,

erwart’ von niemanden Applaus,

im Leben nimm dir, was sich bietet,

such dir das Dasein selber aus.«

Burton warf dem Amerikaner einen kurzen Blick zu, unterbrach jedoch seine Rede nicht. Was Frigate gesungen hatte, war ein Zitat aus seinem Buch Der Kasidah des Haji Al-Yazdi. Es war nicht das erste Mal, daß Frigate etwas aus Burtons Werk zitierte, und obwohl Burton das, was der Amerikaner von sich gab, manchmal recht irritierend fand, war er doch nicht in der Lage, sich über jemanden, der seine Bücher so gut kannte, allzu sehr aufzuregen.

Ein paar Minuten später, nachdem die Menge das Boot mit einem gewaltigen Hauruck in den Fluß befördert hatte und die Menschen jubelnd am Ufer standen, zitierte Frigate Burton erneut. Er schaute auf mindestens eintausend gutaussehende junge Leute mit bronzener Haut, die Büstenhalter, Turbane und Kilts trugen, die farbenprächtig im Wind flatterten, und sagte:

»Ah! Der Tag ist hell, die Sonne scheint, es glänzt die See, wir sind vereint.

Wir liefen herum und spielten im Wind, am Ufer des Flusses; ich war noch ein Kind.«

Das Boot glitt über das Wasser, der Wind bauschte die Segel. Burton brüllte Befehle. Die kämpfte gegen die Strömung an, die Segel flappten unschlüssig.

Burton bediente die Ruderpinne, das Boot schwang die Nase herum, dann lagen sie richtig. Die hob und senkte sich, fuhr gegen die Wellen an, während der Bug das Wasser zischend zerteilte. Die Sonne schien, und es war warm, eine leichte Brise kühlte die heißen Gesichter. Alle an Bord fühlten sich glücklich und gleichzeitig ein wenig betrübt, als das heimatliche Gestade sich immer weiter von ihnen entfernte und die Gesichter der Menschen allmählich zu unkenntlichen Flecken wurden. Sie besaßen weder Karten noch andere Unterlagen, die in der Lage gewesen wären, ihnen ihren Kurs zu weisen; es war, als würde die Welt mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, von neuem erschaffen.

An diesem Abend, kurz nachdem sie zum ersten Mal wieder angelegt hatten, geschah etwas, das Burton einigermaßen verwunderte. Kazz hatte gerade das Boot verlassen, um sich unter eine Gruppe neugieriger Menschen zu mischen, als er von größter Aufregung erfaßt wurde. Er begann in seiner Sprache unverständliche Töne auszustoßen und sich eines Mannes, der in der Nähe stand, zu bemächtigen. Der Mann entwischte ihm und tauchte blitzschnell in der Menge unter.

Als Burton Kazz fragte, was der Grund seines rätselhaften Verhaltens sei, erwiderte dieser: »Er hatte kein… äh… Wie heißt es? Kein… kein…« Er deutete auf seine Stirn und zeichnete eine Reihe von unverständlichen Symbolen in die Luft. Burton, der damit beschäftigt war, seinem seltsamen Gebaren zu folgen, wurde plötzlich durch Alice abgelenkt, die einen klagenden Ruf ausstieß und auf einen Mann zurannte. Wie sich herausstellte, glaubte sie einen ihrer im Ersten Weltkrieg gefallenen Söhne wiedererkannt zu haben. Es kam zu einigen Verwicklungen. Alice stellte schließlich fest, daß ihr ein Irrtum unterlaufen war, aber bis dahin war Burton bereits mit anderen Dingen beschäftigt und hatte Kazz aus den Augen verloren. Der Frühmensch kam nicht wieder auf das ihn beschäftigende Thema zu sprechen, und so vergaß Burton es. Aber er würde sich daran erinnern.


Genau vierhundertfünfzehn Tage später hatten sie eine Strecke zurückgelegt, die einer Anzahl von 24.900 Gralsteinen entsprach. Mithin hatten sie während dieser Zeit — die gelegentlich dadurch unterbrochen worden war, daß man zu den Essenszeiten anlegte und die Grale in die dafür vorgesehenen Vertiefungen steckte, die Nächte vor Anker liegend verbrachte oder auch ganze Tage damit verbummelte, mit Leuten zu reden, die einem unterwegs begegneten — siebenundsechzigtausend Kilometer zurückgelegt. Auf die Erde bezogen bedeutete das, daß man eine Strecke hinter sich gebracht hatte, die länger war als der anderthalbfache Erdumfang. Nicht einmal der Mississippi-Missouri-Komplex mit dem Nil, dem Kongo, dem Amazonas, dem Jangtse, der Wolga, dem Amur, dem Hwang, der Lena und dem Sambesi zusammen wies die Strecke auf, die man auf diesem Fluß bewältigt hatte. Und immer noch führte er weiter und weiter, machte hie und da einen Knick, nur um sich noch in weitere Fernen dahinzuziehen. Und zu beiden Seiten erstreckte sich die bekannte Ebene, an die sich das baumbestandene Hügelgebiet anschloß, das am Fuße mächtiger, sich auftürmender Berge, die weder passierbar noch durchquerbar waren, endete.

Ab und zu verengte sich die Ebene sosehr, daß die Berge bis an das Wasser heranreichten. Dann verbreiterte sich der Fluß wieder und wurde zu einem See, der manchmal sieben, neun oder gar zehn Kilometer breit war. Es kam auch vor, daß die Berge zu beiden Seiten ihn dermaßen einengten, daß die sich durch einen felsigen Canyon kämpfte, während gefährliche Wirbel und Strömungen der Besatzung allerhand zu schaffen machte und sich über ihnen das Blau des Himmels verfinsterte und die zu beiden Seiten aufragenden schwarzen Wälle sie zu erdrücken schienen.

Und überall stießen sie auf Menschen. Ob bei Tag oder bei Nacht, überall wimmelte es an den Uferzonen von Männern, Frauen und Kindern, die die Ebene bevölkerten oder sich in die Hügel zurückgezogen hatten.

Schließlich fanden sie heraus, daß immer wieder eine Regelmäßigkeit auftauchte. Die Menschheit waren in der Umgebung des Flusses nach einem groben Muster — was die Chronologie ihrer Existenz auf der Erde sowie ihre nationale Abstammung anging — wiedererweckt worden. Nachdem das Boot ein Gebiet passiert hatte, in dem sich vorzugsweise im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts gestorbene Slowenen, Italiener und Österreicher aufhielten, waren sie in Zonen vorgerückt, die von Ungarn, Norwegern, Finnen, Griechen, Albanern und Iren bevölkert waren. Ab und zu war man auch auf Gebiete gestoßen, in denen Menschen aus anderen Zeiten und Landschaften lebten. Eins davon — es war etwa dreißig Kilometer lang gewesen — befand sich im Besitz australischer Ureinwohner, die zu ihren Lebzeiten auf der Erde noch nie einen Europäer zu Gesicht bekommen hatten. Eine andere — etwa hundertfünfzig Kilometer lange — Zone war von Tochariern besiedelt worden, einem Volksstamm, dem auch Loghu angehörte und der sich zu Beginn der Zeitrechnung in einem Gebiet aufgehalten hatte, das man später Chinesisch-Turkestan nannte. Dieses Volk stellte die am weitesten östlich lebende, auf indo-europäischen Wurzeln fußende Gemeinschaft einer frühzeitlichen Epoche dar. Ihre Kultur hatte eine Weile geblüht und war dann unter dem Ansturm von Barbaren und den Schwierigkeiten, die aus der wüstenhaften Umwelt erwuchsen, zusammengebrochen.

Obwohl die Forschungsergebnisse Burtons natürlich nur sporadisch erfolgten, hatte er doch herausgefunden, daß jedes Gebiet in der Regel eine zu sechzig Prozent homogene Bevölkerungsstruktur aufwies, was Nationalität und Herkunft aus einer bestimmten Zeitepoche anbetraf. Dreißig Prozent der jeweiligen Zonenbewohner gehörten entweder anderen Völkern an oder stammten aus einer unterschiedlichen Zeit. Der Rest war ein buntes Gemisch aus Angehörigen verschiedener Nationalitäten oder Epochen.

Während die Männer alle beschnitten wiedergeboren worden waren, wiesen die Frauen ausnahmslos den Zustand der Jungfräulichkeit auf, der sich allerdings beim größten Teil nicht über die erste Nacht hinaus erhalten hatte.

Allerdings hatte man bisher weder eine schwangere Frau gesehen noch von einer gehört. Wer immer für ihr Hiersein verantwortlich war, mußte sie sterilisiert haben, und das mit gutem Grund. Wäre die Menschheit in der Lage gewesen, sich zu vermehren, das Flußtal wäre innerhalb eines einzigen Jahrhunderts übervölkert gewesen.

Zunächst hatte man angenommen, daß es außer den Menschen keinerlei tierisches Leben auf diesem Planeten gab. Doch bald war allgemein bekannt, daß es viele verschiedene Arten von Würmern gab, die bei Nacht aus dem Erdreich gekrochen kamen. Und was den Fluß anbetraf: Er enthielt mindestens Hunderte verschiedene Arten Fisch, angefangen von Geschöpfen, die nicht länger waren als zwölf Zentimeter, bis hinauf zu dem als »Flußdrachen« bekannten, walähnlichen Monstrum, das auf dem Grund des Flusses, dreihundert Meter unter dem Wasserspiegel, hauste. Frigate war der Ansicht, daß die Fische den Fluß aus gutem Grund bevölkerten: Sie seien dafür da, ihn sauberzuhalten. Einige der Würmer schienen ähnliche Aufgaben zu haben: Sie fraßen Abfälle, Kot und die Leichen. Andere hingegen nahmen die gleiche Funktion wahr wie ihre Vettern auf der Erde.

Gwenafra begann größer zu werden. Wie alle anderen Kinder wuchs auch sie heran. Innerhalb von zwölf Jahren würde es im Flußtal kein Kind und keinen Halbwüchsigen mehr geben, wenn die Bedingungen die gleichen blieben.

Burton, der über diesen Punkt nachdachte, fragte plötzlich Alice: »Dieser Reverend Dodgson, Ihr Freund von damals, der nur kleine Mädchen liebte — für ihn wird das über kurz oder lang bestimmt zu einer frustrierenden Situation werden, nicht wahr?«

»Dodgson war keiner von diesen Perversen«, erwiderte Frigate. »Aber ich frage mich dennoch, was mit all denen geschehen wird, die ihre sexuelle Erfüllung wirklich nur an Kindern finden. Was werden sie tun, wenn einfach keine mehr da sind? Und was tun jene, die sich vorzugsweise mit Tieren abgeben? Ich bedauere übrigens auch, daß es hier keine Tiere gibt, wissen Sie? Ich habe Katzen und Hunde immer gern gehabt, sogar Bären und Elefanten; na, eben die meisten Tiere außer den Affen, die mir zu menschenähnlich sind.

Andererseits freut es mich, daß sie nicht hier sind. So kann man sie wenigstens nicht mißbrauchen. Niemand wird ihnen Schmerzen zufügen. Und sie werden weder verhungern noch verdursten, weil irgendein gedankenloses menschliches Wesen sie einfach vergißt. Jetzt nicht mehr.«

Er tätschelte Gwenafras bereits auf zwanzig Zentimeter angewachsenes blondes Haar.

»Die gleichen Gefühle habe ich auch stets all diesen hilflosen und mißbrauchten Kleinen entgegengebracht.«

»Welch eine Welt ist das, auf der es keine Kinder gibt?« fragte Alice. »Und ebenso keine Tiere? Ob Mißbrauch oder Tierquälerei, man kann sie auch nicht mehr streicheln und liebhaben.«

»So bildet eine Sache auf dieser Welt das Gleichgewicht zu einer anderen«, führte Burton aus. »Man kann keine Liebe ohne Haß haben, keine Freundlichkeit ohne Niedertracht, keinen Frieden ohne Krieg. Auf jeden Fall haben wir auf diese Dinge keinen Einfluß. Die unsichtbaren Herren dieser Welt haben entschieden, daß wir weder über Tiere verfügen noch daß unsere Frauen jemals Kinder gebären werden. Und so sei es.«


Der Morgen des vierhundertsechzehnten Tages ihrer Reise unterschied sich in nichts vom vorhergehenden. Die Sonne erhob sich über die Berggipfel zu ihrer Linken. Der Gegenwind betrug etwa einundzwanzig Kilometer in der Stunde — wie immer. Mit der Sonne stieg auch die Temperatur, die am Nachmittag gegen zwei Uhr dreißig Grad erreichen würde. Die bewegte sich auf einem Zickzackkurs vorwärts, während Burton auf der „Brücke“ stand und mit beiden Händen die Ruderpinne bediente. Der Wind und die Sonnenstrahlen huschten über sein bereits tiefgebräuntes Gesicht. Er trug einen scharlachrot und schwarz karierten Kilt, der ihm fast bis zu den Knien reichte, und um den Hals eine Kette, die er sich aus den Wirbelknochen eines Hornfisches gebastelt hatte. Hornfische erreichten in der Regel eine Länge von zwei Metern, und man hatte ihnen diesen Namen verliehen, weil sie auf der Stirn spitze Auswüchse trugen, die an ein Einhorn erinnerten und etwa fünfzehn Zentimeter lang wurden. Sie lebten dreißig Meter unter dem Wasserspiegel und waren gemeinhin schwer zu fangen. Aber ihre Wirbelknochen eigneten sich fabelhaft zur Herstellung von Halsketten. Aus der Fischhaut machte man feste Sandalen, Waffen oder Schilde, wenn man sie nicht zur Verwendung von starken Tauen oder Gürteln benutzte. Das Fleisch dieser Fische hatte einen köstlichen Geschmack, aber das Wichtigste, was sie ihnen lieferten, stellte das Horn dar: Aus ihm machte man entweder Speerspitzen, Messerklingen oder mit hölzernen Handgriffen versehene Stiletts.

In Burtons unmittelbarer Nähe, eingehüllt in die Blase eines Fisches, lag ein Bogen. Er war aus einem gebogenen Knochen gemacht, der den Kieferbogen des walähnlichen Drachenfisches bildete. Versehen mit einer Darmsaite des gleichen Fisches stellte er eine Waffe von ungeheurer Durchschlagskraft dar, und nur ein sehr starker Mann konnte ihn bedienen. Burton hatte dem vorherigen Besitzer des Bogens nicht weniger als vierzig Zigaretten, zehn Zigarren und einen ganzen Liter Whisky dafür geboten. Aber der Mann hatte abgelehnt. Schließlich hatte Burton — zusammen mit Kazz — das herrliche Stück gestohlen — oder eingetauscht, denn er hatte sich zumindest verpflichtet gefühlt, dafür seinen Eibenholzbogen zurückzulassen.

Mittlerweile war er allerdings zu dem Schluß gelangt, daß er sich wegen dieses Diebstahls keine Gedanken zu machen brauchte, denn der vorherige Besitzer hatte mehrfach damit geprahlt, durch einen Mord in den Besitz der Waffe gelangt zu sein. Und einen Dieb und Mörder zu bestehlen stellte in Burtons Augen kein Verbrechen dar. Dennoch bekam er gelegentlich, wenn er sein Gewissen befragte — was nicht allzuoft der Fall war, wie er zugeben mußte —, ein ungutes Gefühl, wenn er daran zurückdachte.

Burton steuerte die sicher durch eine enge Stelle. Nach etwa vier bis fünf Kilometern weitete sich der Fluß zu einem fünf Kilometer breiten See aus.

Auf der anderen Seite wurde er wieder enger. Er war jetzt kaum noch achthundert Meter breit und bahnte sich seinen Weg durch die hochaufragenden Felswände eines Canyons.

Es würde einige Schwierigkeiten wegen der Wirbel und Strömungen geben, weil die Möglichkeiten eines Ausweichens in einer Enge wie dieser begrenzt waren.

Dennoch machte Burton sich keine Sorgen: Er hatte Wasserstraßen wie diese bereits Dutzende von Malen durchfahren, ohne daß etwas Bemerkenswertes geschehen war. Dennoch erschien jede Durchfahrt dieser Art wie eine Neugeburt des Bootes. Es war, als würden die Wasser es aus irgend etwas herausspülen, und ebenso bestand bei jeder dieser Passagen die Möglichkeit, ein Abenteuer zu erleben, einer Offenbarung teilhaftig zu werden.

Sie glitten an einem Gralstein vorüber, der sich nicht mehr als sechs Meter von ihnen entfernt befand. Auf der Ebene zu ihrer Rechten, die kaum mehr als siebenhundert Meter breit war, hielten sich viele Menschen auf, die ihnen etwas zuschrien, winkten, drohend die Fäuste hoben oder Obszönitäten herüberbrüllten. Dennoch schienen die Leute ihnen nicht feindselig gesinnt zu sein; andere Völker benutzten eben andere Formen der Begrüßung. Der hier lebende Stamm bestand aus kleinen, dunkelhäutigen, schwarzhaarigen und zerbrechlich aussehenden Menschen, deren Sprache laut Ruachs Ansicht einem Volk zugeschrieben werden mußte, das möglicherweise protohamitisch-semitische Wurzeln hatte. Auf der Erde hatte es irgendwo in Nordafrika oder Mesopotamien gelebt, in einer Zeit, in der diese Landschaften noch weitaus fruchtbarer gewesen waren. Zwar trugen sie ebenfalls Kilts, aber die Frauen liefen barbusig herum und benutzten die Büstenhalter entweder als Halsschmuck oder als Kopftücher. Sie bevölkerten das ganze rechte Ufer auf einer Länge von sechzig Gralsteinen, was neunzig Kilometern gleichkam. Vor ihnen hatte sich eine Zone befunden, deren Einwohner Ceylonesen des zehnten Jahrhunderts gewesen waren. Aber auch diese waren keine homogene Gruppe gewesen. Auf dem einhundertzwanzig Kilometer langen Uferstreifen hielt sich noch eine Minorität präkolumbianischer Mayas auf.

»Dieser zeitliche Schmelztiegel«, hatte Frigate über die dermaßen verstreut lebenden Völker gesagt, »stellt das größte anthropologische und sozialwissenschaftliche Unternehmen dar, das je gestartet wurde.«

Seine Feststellung traf zu, denn in der Tat hatte es den Anschein, als habe man alle je existierenden Völker der Erde hier zusammengebracht, damit sie etwas voneinander lernten. Und es gab tatsächlich einige Fälle, wo es sich anfangs ratlos gegenüberstehende Gruppen geschafft hatten, in einem relativ guten Einvernehmen zusammenzuleben. Natürlich gab es auch Fälle, wo man sich weiterhin die Köpfe einschlug und alles tat, um den Gegner auszurotten und seine Überlebenden zu versklaven.

Eine Zeitlang war nach dem Erwachen die Anarchie die gebräuchlichste Herrschaftsform gewesen. Die Menschen hatten sich in kleinen Gruppen zusammengeschlossen, waren auf Entdeckungsreisen gegangen und deswegen beieinandergeblieben, um sich gegenseitig vor Außenstehenden zu schützen.

Aber dann waren nach und nach die Führergestalten an die Macht zurückgedrängt, während sich in ihrem Dunstkreis die ersten willigen Untertanen versammelten, die ohne einen Führer nicht auszukommen glaubten.

Viel öfter kam es allerdings vor, daß ausgeprägte Führernaturen dazu übergingen, sich ein ihnen genehmes Volk zu erwählen.

Eines der politischen Systeme hatte man mit der Bezeichnung „Gralsklavenschaft“ versehen. In ihm gebot eine dominierende Gruppe über eine größere Anzahl schwächerer Gefangener, denen man gerade soviel Nahrung zubilligte, um zu verhindern, daß sie verhungerten, weil mit ihrem Tod auch die ihnen gehörenden Grale aufgehört hätten zu funktionieren. Aber alles andere — Zigaretten, Zigarren, Marihuana, Traumgummi, Alkohol und die gelegentlichen Leckerbissen — nahm man ihnen weg.

Mindestens dreißigmal, wenn die sich einem am Ufer gelegenen Gralstein genähert hatte, war man mit solchen Sklavenkolonien aneinandergeraten. Jetzt war man vor diesen Leuten auf der Hut, und es kam des öfteren vor, daß an solche Landstriche anrainende Gruppen die Besatzung des Bootes vor einer Weiterreise warnten. Zwanzigmal hatten Sklavenhaltergruppen der vom Ufer aus Boote entgegengeschickt, und daß es Burton und seinen Leuten gelungen war, sie ausnahmslos abzuschütteln, war mehr als einmal ein reiner Glücksfall gewesen. Fünfmal hatten sie sich allerdings auch gezwungen gesehen, das Boot zu wenden und wieder flußabwärts zu segeln. Natürlich war die den Verfolgern auf diese Weise immer ohne Schwierigkeiten entkommen, zumal diese noch eine gewisse Scheu zeigten, die Grenzen ihrer eigenen Domäne zu überschreiten. In diesen Fällen hatte man stets die Nacht abwarten müssen, um sich an den Sklavenkolonien vorbeizuschmuggeln.

Auch die Bewohner dieses Gebietes waren, nachdem sie herausgefunden hatten, daß das Auftauchen der Fremden nichts Böses bedeutete, äußerst zuvorkommend. Ein aus dem achtzehnten Jahrhundert stammender Moskowiter warnte Burton allerdings davor, weiterzureisen, da es auf der anderen Seite des Flusses mehrere Sklavenhaltergruppen gäbe. Allerdings wußte der Mann nichts Genaues; auch hier reichte das Gebirge bis an das Wasser heran und schnitt die Menschen von ihren Nachbarn ab. Es seien aber bereits mehrere Boote durch die Enge gefahren. Die meisten von ihnen seien niemals zurückgekehrt. Forscher, denen die Flucht aus diesen Gebieten gelungen wäre, hätten ausnahmslos von schrecklichen Zuständen berichtet, die auf der anderen Seite der Enge herrschten.

Man belud daraufhin die mit Bambusschößlingen, getrocknetem Fisch und anderen Dingen, da man damit rechnete, über eine Zeitperiode von wenigstens vierzehn Tagen von jedem Gralstein abgeschnitten zu sein.

Es würde noch eine halbe Stunde dauern, bis man in die Enge eindrang. Burton richtete seine Aufmerksamkeit auf den vor ihnen liegenden Wasserweg und schaute der Besatzung zu, die sich auf dem Vordeck verteilt hatte und irgendwelchen Beschäftigungen nachging. Manche lagen einfach nur faul in der Sonne und genossen die leichte Brise, die ihre Körper umschmeichelte.

John de Greystock befestigte die dünnen Gräten eines Hornfisches an den Enden seiner Pfeile. In einer Welt, in der keine Vögel existierten — und es somit auch keine Federn gab —, boten sie einen günstigen Ersatz. Greystock — oder Lord Greystoke, wie Burton ihn aus einem etwas amüsierten Gefühl heraus zu nennen pflegte — hatte sich als guter Mann entpuppt, wenn es zu Kämpfen kam oder harte Arbeit zu tun war. Er war ein interessanter Unterhalter, hatte eine Menge von unanständigen Geschichten auf Lager und steckte voller Anekdoten über die Gascogne, die Frauen oder seinen ehemaligen König Edward.

Natürlich war er auch die beste Informationsquelle über seine Zeit, die man sich nur wünschen konnte. Aber er konnte ebenso dickköpfig und in gewissen Dingen auch engstirnig sein. An Sauberkeit schien es ihm auch nicht sonderlich zu liegen. Er behauptete zwar, in seinem früheren Dasein ausgesprochen fromm gewesen zu sein — was möglicherweise der Wahrheit entsprach; würde er sonst dem Gefolge des Patriarchen von Jerusalem angehört haben? —, aber nun, nachdem sich sein Glaube als Luftblase erwiesen hatte, gehörten Priester zu den beliebtesten Objekten seines Hasses. Nichts machte ihm mehr Spaß, als Priester, die ihm über den Weg liefen, mit seinem Hohn und Spott zu reizen — in der Hoffnung, daß sie ihn angreifen würden. Manche, die dies taten, waren danach dem Tod näher als dem Leben. Zwar hatte Burton versucht, dies zu unterbinden (allerdings in sanftem Tonfall; denn wer einem Greystock gegenüber ausfällig wurde, tat das besser nur, wenn er auch bereit war, auf Leben und Tod mit ihm zu kämpfen), aber alles, was er ihm vermitteln konnte, war, daß man sich als Gast in einem fremden Land benahm, wie es sich für Gäste geziemte — zumal wenn die Gastgeber ihnen zahlenmäßig überlegen waren. De Greystock gab Burton in dieser Beziehung recht, aber er konnte es sich dennoch nicht verkneifen, jedem Betbruder zumindest einige bissige Bemerkungen an den Kopf zu werfen. Glücklicherweise hielten sie sich nicht oft in Gebieten auf, wo es christliche Priester gab, und die meisten von ihnen gaben sich ohnehin nicht als solche zu erkennen.

Neben dem Briten stand dessen derzeitige Frau. Sie war 1637 als Mary Rutherford geboren worden und 1674 als Lady Warwickshire gestorben. Auch sie war Engländerin, stammte aber aus einer Zeit dreihundert Jahre nach De Greystocks Leben, weswegen es ständig zu heftigen Differenzen in ihrem Handeln und wegen des Benehmens kam. Burton rechnete damit, daß die beiden nicht mehr allzu lange zusammenbleiben würden.

Kazz hatte sich auf dem Deck ausgestreckt. Sein Kopf lag auf dem Schoß Fatimas, einer türkischen Frau, die der Neandertaler vierzig Tage zuvor während einer Essenspause an einem Gralstein kennen gelernt hatte. Fatima war, wie Frigate es ausdrückte, »geil auf Haare«, und das schien in der Tat die einzige Erklärung dafür zu sein, daß die ehemalige Frau eines Bäckers aus Ankara — die dem siebzehnten Jahrhundert entstammte — mit einer ungewöhnlichen Besessenheit an Kazz hing. Obwohl sie nahezu alles an ihm aufregend fand, war es doch Kazz’ Haar, das sie in wahre Ekstase versetzte.

Das verwunderte nicht nur die anderen, sondern auch Kazz selbst. Während der ganzen langen Schiffsreise hatte er nicht ein einziges Mal eine Frau seiner Spezies gesehen, obwohl er davon gehört hatte, daß es einige geben sollte.

Die meisten Frauen hielten sich — seines tierhaften Äußeren und der starken Behaarung wegen — von ihm fern. Bevor er auf Fatima gestoßen war, war es ihm nicht gelungen, eine ständige Gefährtin zu finden.

Der kleine Lev Ruach lehnte sich gegen die Bugreling und bastelte aus der Haut eines Hornfisches eine Schleuder. Neben ihm auf dem Boden stand ein kleiner Beutel, der etwa dreißig ausgewählte Steine enthielt, die er an ihrem letzten Haltepunkte gesammelt hatte. Er unterhielt sich mit Esther Rodriguez, deren weiße Zähne blitzten, während sie ununterbrochen redete.

Esther hatte Tanya ersetzt, die Lev, noch bevor die erneut aufgebrochen war, unter dem Pantoffel gehabt hatte. Obwohl Tanya eine hübsche und respektgebietende kleine Frau gewesen war, hatte sie dennoch nicht damit aufhören können, Lev nach ihren Maßstäben zu erziehen. Nachdem Lev herausgefunden hatte, daß sie bereits ihren Vater, einen Onkel, zwei Brüder und ebenso ihre beiden Ehemänner nach ihrem Gusto zu formen pflegte, konnte er sich den Konsequenzen nicht mehr widersetzen. Ihre laute Stimme, die keinerlei Rücksicht darauf nahm, ob gerade jemand in der Nähe war, wenn sie dem armen Lev ihre Ansichten aufdrängte, war überall zu hören gewesen.

Schließlich hatte Lev eines Tages, als die zum Auslaufen bereit war, einen Riesensprung an Bord gemacht, sich umgedreht und gesagt: »Lebewohl, Tanya.

Ich kann es einfach nicht mehr länger mit einer Großschnauze aus der Bronx aushalten. Such dir einen anderen, möglichst einen, der in deinem Sinne perfekt ist.«

Tanya hatte geschluckt, war blaß geworden, und dann ging ihre Stimme in einem hohen Kreischen über. Sie hatte noch gekeift, als die bereits munter flußaufwärts fuhr und längst außer Hörweite war. Die Mannschaft hatte gelacht und Lev gratuliert, der lediglich traurig lächelte. Zwei Wochen später war er dann in einem Gebiet, in dem sich vorwiegend Libyer aufhielten, auf Esther, eine dem fünfzehnten Jahrhundert entstammende sephardische Jüdin gestoßen.

»Warum versuchst du dein Glück nicht mal mit einer Nichtjüdin?« hatte Frigate ihn gefragt.

Lev zuckte die mageren Schultern. »Das habe ich schon. Aber früher oder später gerät man immer wieder in einen Riesenkrach hinein, und sie verlieren ihre gute Erziehung und nennen einen Judenlümmel. Nicht daß das jüdische Frauen nicht auch täten, aber bei denen macht mir das eben weniger aus.«

»Paß auf, mein Freund«, sagte Frigate. »An den Ufern dieses Flusses leben Milliarden von Nichtjuden, die nie im Leben etwas von einem Juden gehört haben. Die können dich nicht beleidigen. Du solltest da wirklich mal dein Glück versuchen.«

»Ich bin nun mal vernarrt in die Gemeinheiten, die ich kenne.«

»Du willst sagen, du bist geradezu erpicht drauf«, erwiderte Frigate.

Manchmal fragte sich Burton, warum Ruach überhaupt bei ihnen auf dem Boot blieb. Er hatte nie wieder eine Anspielung auf sein Buch Der Jude, der Zigeuner und der Islam gemacht, obwohl er Burton ein paar Mal nach gewissen anderen Aspekten seiner Vergangenheit fragte. Er war nicht übertrieben freundlich, aber auch nicht direkt reserviert. Trotz seiner kleinen Gestalt war Ruach ein wertvoller Mitstreiter, besonders in Kampftechniken wie Judo, Karate und Jukado, wovon er auch Burton ein paar Tricks beibringen konnte.

Seine Traurigkeit, die ihn umgab wie eine Nebelwolke und nicht einmal von ihm wich, wenn er lachte oder liebte — wie Tanya behauptet hatte —, rührte von Narben her, die tief in seinen Geist eingeprägt waren. Und diese waren Erinnerungen an die Konzentrationslager der Faschisten. Tanya hatte einmal behauptet, Lev sei bereits traurig geboren worden; in ihm vereinigten sich alle Sorgen seiner babylonischen Vorfahren.

Monat war ein anderer trauriger Fall, auch wenn er seinen Gemütszustand dann und wann überspielen konnte. Ihn beschäftigte in der Hauptsache die Frage nach dem Verbleiben der dreißig anderen männlichen und weiblichen Besatzungsmitglieder seines Raumschiffes, die der Mob gelyncht hatte. Er rechnete sich keine große Chance aus, einen von ihnen zu finden. An diesem Fluß lebten schätzungsweise fünfunddreißig oder sechsunddreißig Milliarden Menschen — und aus ihren Reihen dreißig bestimmte Gestalten herauszufinden, war nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf.

Alice Hargreaves saß ebenfalls auf dem Vordeck. Sie tauchte nur gelegentlich auf, und zwar immer dann, wenn das Boot dem Ufer nahe genug kam, daß man an Land individuelle Gesichter ausmachen konnte. Sie suchte nach Reginald, ihrem Ehemann, ihren drei Söhnen und nach ihren Eltern und Geschwistern. Für Burton war es klar, daß sie, sobald sie auf einen der Gesuchten stieß, das Boot verlassen würde. Zwar hatte er sie deswegen noch nicht angesprochen, aber allein der Gedanke daran erzeugte Schmerzen in seiner Brust. Einerseits wünschte er sich, daß sie ging. Andererseits aber wieder auch nicht.

Möglicherweise würde Alice — befand sie sich erst einmal außerhalb seines Blickfeldes — auch aus seinem Bewußtsein verschwinden. Burton wußte, daß dies unvermeidlich war, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen. Die Gefühle, die er Alice gegenüber hegte, waren die gleichen, die er einst seiner persischen Geliebten entgegengebracht hatte. Sie zu verlieren, bedeutete den Neubeginn einer lebenslangen Folter seines Gemüts.

Trotzdem hatte er Alice bisher nicht gesagt, was er für sie empfand. Sicher, sie hatten miteinander geredet und gescherzt. Die Beziehung zwischen ihnen hatte sich zu einem gewissen Grad sogar gelockert, aber das galt nur solange, wie sie sich in der Gesellschaft der anderen befanden. Sobald sie allein waren, versteifte sich ihre Haltung mit Regelmäßigkeit.

Seit jener ersten Nacht hatte sie sich geweigert, jemals wieder von dem Traumgummi zu kosten. Burton selbst hatte es in dieser Zeit dreimal genommen, später dann damit aufgehört, seinen Anteil gehortet und gegen andere Dinge eingetauscht. Beim letzten Mal, als er es genommen hatte — vor einer erhofften, ekstatischen Liebesnacht mit Wilfreda —, war er in einem irren Alptraum gelandet, der große Ähnlichkeit mit den Fiebervisionen aufwies, denen er während seiner Expedition zum Tanganjikasee erlegen war.

Speke war in diesem Alptraum aufgetaucht, und Burton hatte ihn getötet. Aber Speke war während einer Jagd umgekommen. Jedermann hätte seinen Tod — wäre er nicht als Unfall deklariert worden — für einen Selbstmord gehalten. Das Gewissen hatte Speke keine Ruhe gelassen. Der Betrug an Burton hatte dazu geführt, daß er sich selbst nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. Aber in seinem Alptraum hatte Burton Speke in dem Moment erwürgt, als dieser sich über ihn beugte und fragte, wie er sich fühle. Im gleichen Moment, in dem die Vision verschwand, hatte er Spekes tote Lippen geküßt.

Загрузка...