16

Am nächsten Tag, kurz nach dem Frühstück, tauchten mehrere Wachen auf und suchten nach Burton und Frigate. Targoff warf Burton einen seltsamen Blick zu, und Burton glaubte zu wissen, was der Israeli jetzt dachte. Aber sie hatten keine andere Wahl, als zu Görings „Palast“ hinüberzumarschieren. Er erwartete sie in einem großen, hölzernen Sessel und rauchte eine Pfeife.

Nachdem er ihnen gestattet hatte, sich zu setzen, bot er ihnen Zigarren und Wein an.

»Ab und zu«, sagte Göring, »habe ich das Verlangen, mich gemütlich hinzusetzen und ein wenig mit Leuten zu plaudern, die nicht zu meinen Kollegen gehören. Vielleicht liegt es daran, daß meine Kameraden nicht sonderlich helle sind. Besonders gefällt es mir, mich mit Leuten zu unterhalten, die lebten, nachdem ich starb. Aber auch Berühmtheiten anderer Zeiten interessieren mich. Ich habe schon interessante Typen beider Kategorien getroffen.«

»Viele Ihrer israelischen Gefangenen lebten nach Ihnen«, sagte Frigate.

»Ach, die Juden!« Göring schwenkte abschätzig seine Pfeife. »Das ist ja eben das Ärgerliche. Sie kennen mich viel zu gut. Sie sind mürrisch, wenn ich mit ihnen spreche, und zu viele haben versucht, mich umzubringen, als daß ich mich unter ihnen noch sicher fühlen könnte. Nicht etwa, daß ich etwas gegen sie hätte. Ich liebe nur bestimmte Juden nicht und hatte unter ihnen sogar einige Freunde…«

Burton schoß das Blut ins Gesicht.

Göring saugte an seiner Pfeife und fuhr fort: »Der Führer war ein großer Mann, aber manchmal handelte er geradezu idiotisch. Zum Beispiel als er gegen die Juden vorging. Mir selbst war das eigentlich völlig egal. Aber in Deutschland herrschte damals eben eine antijüdische Stimmung, und ein Mann, der Karriere machen wollte, hatte sich dem Zeitgeist anzupassen. Aber genug davon. Selbst hier kann man ihnen nicht aus dem Wege gehen.«

Er redete noch einiges belangloses Zeug und fragte Frigate dann, wie es nach dem Krieg einigen seiner Kollegen ergangen sei. Auch wie Deutschland sich weiterentwickelt hatte, schien ihn zu interessieren.

»Hättet ihr Amerikaner auch nur eine Prise gesunden Menschenverstandes gehabt, wäret ihr mit uns zusammen gegen die Russen gezogen. Mit uns zusammen wäre es ein leichtes gewesen, diese Bolschewiken zu zerschmettern.«

Frigate antwortete nicht. Göring ging dann dazu über, eine Reihe »lustiger«, zumeist jedoch obszöner Geschichten zu erzählen, und fragte Burton schließlich über das seltsame Erlebnis aus, das dieser gehabt hatte, bevor er am Fluß wieder zu sich gekommen war.

Burton war überrascht. Hatte Göring durch Kazz von diesem sonderbaren Erlebnis erfahren? Oder gab es etwa einen Spitzel unter den Sklaven?

Er berichtete schließlich — ohne irgendwelche Details auszulassen —, was ihm von dem Augenblick an zugestoßen war, in dem er in einem fantastischen Nichts aufgewacht und die Menschen wie auf einem unsichtbaren Grill aufgereiht gesehen hatte. Auch die seltsamen Wesen in ihrem fliegenden Boot ließ er nicht aus.

»Der Extraterrestrier Monat hat über diese Geschöpfe eine Theorie aufgestellt, derzufolge sie die Menschheit bereits seit dem Anfang ihrer Geschichte, seit zwei Millionen Jahren, ununterbrochen beobachten. Diesen Überwesen muß es gelungen sein, die Zellfrequenz jedes Menschen, der je auf der Erde lebte, aufzuzeichnen. Das hört sich natürlich fantastisch an, aber die Tatsache, daß wir uns alle in neuen Körpern an den Ufern dieses Flusses wiederfanden, klingt nicht weniger haarsträubend. Entweder hat man die Aufzeichnungen angefertigt, als alle Menschen noch lebten, oder die Überwesen sind in der Lage, sich die Vibrationen der Vergangenheit nutzbar zu machen, etwa wie wir auf der Erde das Licht von Sternen sehen konnten, die Tausende von Jahren zuvor existiert hatten. Monat schwört allerdings auf die erste Theorie, da er nicht an die Möglichkeiten der Zeitreise glaubt; nicht einmal in begrenztem Umfang. Die Überwesen haben ihre Aufzeichnungen schließlich wieder ›abgespielt‹ und die Informationen in Materie verwandelt.

Auch dieser Planet wurde für uns neu geformt. Er stellt allem Anschein nach eine riesengroße Flußwelt dar, und während unserer Fahrt flußaufwärts haben wir zahlreiche Gespräche mit Leuten geführt, die keinerlei Zweifel daran erweckten, daß sie von überallher aus den verschiedensten Gebieten der Erde kamen. Eine Gruppe stammte von der nördlichen Hemisphäre, eine andere aus dem tiefsten Süden. Wenn man alle unsere Erkenntnisse zusammensetzt, ergeben sie das Bild einer Welt, die hauptsächlich aus einem sich in Zickzacklinien dahinziehenden Flußtal besteht. Wir sprachen mit einer Menge von Leuten, die auf dieser Welt bereits ein zweites Mal gestorben waren — durch Unfälle oder Gewalteinwirkung. Anschließend waren sie in völlig anderen Gebieten wieder zu sich gekommen. Monat ist der Ansicht, daß auch wir Wiedererweckten irgendeiner Kontrolle unterliegen. Und wenn einer von uns stirbt, wird seine Aufzeichnung automatisch wieder in einen Energie-Materie-Konverter gespeist, der sich möglicherweise unter der Oberfläche dieses Planeten befindet. Sein Körper wird im Moment des Todes erneut reproduziert, vielleicht sogar in der gleichen Kammer, von der ich soeben berichtete. Sie werden dort restauriert, wenn es nötig sein sollte, und anschließend zerstört. Ihre Aufzeichnungen können dann erneut ausgestrahlt werden, durchlaufen ein Energie-Materie-System, das möglicherweise den heißen Kern dieser Welt als Energiequelle anzapft, und läßt sie in der Nähe der Gralsteine neu entstehen. Ich habe keine Ahnung, warum sie bei der zweiten Wiedererweckung stets in anderen Gebieten auftauchen, und ich weiß ebenfalls nicht, wieso sie hinterher alle haarlos sind und den Männern das Barthaar nicht mehr wächst, sie außerdem beschnitten sind und die Frauen erneut ihre Jungfräulichkeit besitzen. Mir ist nicht einmal klar, warum wir überhaupt wiedererweckt werden. Welche Ziele verfolgt man damit? Wer immer dafür verantwortlich ist, er ist noch nicht aufgetaucht, um es uns zu erzählen.«

»Tatsache ist«, sagte Frigate, »daß wir nicht mehr dieselben Leute sind, die wir auf der Erde waren. Ich starb. Burton starb. Sie starben ebenfalls, Hermann Göring. Jedermann starb. Und wir KÖNNEN nicht wieder ins Leben zurückgerufen werden!«

Göring saugte geräuschvoll an seiner Pfeife, starrte Frigate an und meinte: »Warum nicht? Lebe ich nicht wieder? Wollen Sie das etwa abstreiten?«

»Ja — ich streite es ab, in einem gewissen Sinn. sie leben. Aber Sie sind nicht der Hermann Göring, der im Marienbad-Hospital im bayerischen Rosenheim am 12. Januar 1893 geboren wurde. Sie sind nicht der Hermann Göring, dessen Pate ein zum Christentum konvertierter Jude namens Dr. Hermann Eppenstein war. Sie sind nicht der Göring, der von Richthofen nach dessen Tod überflügelte und seine Flieger sogar dann noch ausschickte, als die Alliierten den Krieg bereits gewonnen hatten. Sie sind weder der Reichsmarschall Hitlerdeutschlands noch der Flüchtling, den Leutnant Jerome N. Shapiro festnahm. Eppenstein und Shapiro, ha! Und Sie sind ebenfalls nicht der Hermann Göring, der eine Giftkapsel verschluckte, als man ihn als Kriegsverbrecher in Nürnberg vor Gericht stellte!«

Göring stopfte seine Pfeife mit frischem Tabak und sagte in versöhnlichem Ton: »Sie wissen wirklich eine ganze Menge über mich. Ich sollte mich beinahe geschmeichelt fühlen. Zumindest hat man mich nicht vergessen.«

»Im Grunde hat man das doch«, erwiderte Frigate. »Im nachhinein erinnerte man sich Ihrer lediglich als eines uniformversessenen Clowns, eines Versagers und eines Speichelleckers.«

Burton war überrascht. Er hätte sich niemals träumen lassen, daß der Amerikaner angesichts der Tatsache, daß Göring hier der Herr über Leben und Tod war, sich zu solchen Bemerkungen hinreißen lassen könnte. Aber möglicherweise legte er es nur darauf an, umgebracht zu werden.

Es war allerdings auch nicht auszuschließen, daß er Görings Neugier erwecken wollte.

Göring sagte: »Erklären Sie mir das genauer. Sagen Sie nichts über meinen Ruf. Jeder Mann von Wichtigkeit muß erwarten, daß die hirnlosen Massen ihn stets falsch einschätzen. Erklären Sie mir, wieso ich nicht derselbe Mann bin wie auf der Erde.«

Frigate lächelte leicht und erwiderte: »Sie sind das Produkt der Aufzeichnung eines Energie-Materie-Konverters. Sie verfügen über alle Erinnerungen des toten Hermann Görings, und jede Zelle Ihres Körpers ist ein Duplikat der seinen. Sie sind ihm in allem gleich. Also GLAUBEN Sie, Göring zu sein. Aber Sie sind es nicht! Sie sind ein Abziehbild, und das ist alles!

Der echte Hermann Göring besteht aus nichts anderem als Molekülen, die das Erdreich, die Luft, die Pflanzen absorbiert haben, die wiederum menschlichen Körpern oder Tieren zugeführt werden, schließlich wieder als Exkremente ausgeschieden werden — und so weiter. Sie, wie Sie hier vor mir stehen, sind ebenso wenig das Original, wie eine Schallplatte oder eine Bandaufzeichnung eine echte Stimme sind, die von den Vibrationen eines Mundes stammen, aber mit elektronischen Mitteln aufgezeichnet und wieder abgespielt werden.«

Da Burton bereits 1888 in Paris einen der von Edison konstruierten Phonographen gesehen hatte, verstand er, was Frigate meinte. Dennoch empfand er die Ausführungen seines Freundes als beleidigend.

Görings weitaufgerissene Augen und sein sich rötendes Gesicht deuteten ebenfalls darauf hin, daß Frigates Behauptung ihn in seinem Innersten getroffen hatten. Er räusperte sich und sagte dann: »Und aus welchen Gründen sollten diese Überwesen sich der Mühe unterziehen, lediglich Duplikate herzustellen?«

»Ich weiß es nicht.« Frigate zuckte die Achseln.

Göring wuchtete sich aus dem Sessel hoch und richtete anklagend das Mundstück seiner Pfeife auf den Amerikaner. »Du lügst!« schrie er auf deutsch. »Du lügst, du Schweinehund!«

Frigate zog, als erwarte er Prügel, den Kopf ein. Dann entgegnete er: »Was ich sage, stimmt. Natürlich brauchen Sie meinen Worten keinerlei Glauben zu schenken. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, was Sie jetzt fühlen. Auch ich WEIß, daß ich Peter Jairus Frigate bin, daß ich 1918 geboren wurde und 2008 starb. Aber ich glaube ebenfalls daran — die Logik läßt gar keinen anderen Schluß zu —, daß ich lediglich ein Geschöpf bin, das die ERINNERUNGEN dieses Frigate, der in Wahrheit niemals von den Toten auferstanden ist, besitzt. Ich bin in gewisser Weise ein Sohn dieses Frigate, obwohl ich weder von seinem Fleisch noch von seinem Blut bin. Aber ich bin von seinem Geist. Aber ich bin nicht der Mann, der von einer Frau auf einer verlorenen Welt namens Erde geboren wurde. Ich stelle das Produkt einer Wissenschaft und einer Maschine dar. Wenn es nicht…«

Göring sagte: »Wenn es nicht was?«

»Wenn es nicht eine Entität gibt, die sich im menschlichen Körper aufhält, die in Wirklichkeit das menschliche Wesen ist. Ich meine damit etwas, das das Individuum erst ausmacht und auch dann nicht zu existieren aufhört, wenn man den Körper des Menschen zerstört. Etwas, das man nach der Zerstörung eines menschlichen Körpers dazu bringen könnte, in einen neuen hineinzuschlüpfen und über alle Informationen zu verfügen, die der Originalkörper besaß. Auf diese Weise würde das originale Individuum erneut leben und stellte mithin kein Duplikat dar.«

Burton sagte entsetzt: »Um Gottes willen, Peter! Spielst du etwa auf die Seele an?«

Frigate nickte. »Irgend etwas, das der Seele entspricht. Irgend etwas, das Primitive gefühlsmäßig erfassen und ›Seele‹ nennen.«

Göring brüllte vor Lachen. Burton war nahe daran, es ebenfalls zu tun, aber er hatte nicht die Absicht, Göring in moralischer oder intellektueller Hinsicht zu unterstützen.

Nachdem Göring sich von seinem Lachanfall erholt hatte, sagte er: »Selbst hier, in einer Welt, die einwandfrei das Resultat einer Wissenschaft darstellt, können die Supernaturalisten mit ihren Versuchen einfach nicht aufhören. Nun, genug davon.

Kehren wir zu einigen praktischeren und dringenderen Dingen zurück. Ich möchte wissen, ob Sie inzwischen Ihre Entscheidung noch einmal überprüft haben. Sind Sie bereit, für mich zu arbeiten?«

Burton sah ihn kurz an und erwiderte: »Ich habe nicht die Absicht, einem Mann zu dienen, der Frauen vergewaltigt. Des weiteren respektiere ich die Israelis. Ich ziehe es vor, mit ihnen zusammen Sklave zu sein. Ich schämte mich, in Ihrer Gegenwart frei zu sein.«

Göring sah ihn finster an und sagte mit rauer Stimme: »Na schön. Ich hätte es mir denken können. Aber ich hoffte… Nun, ich habe einigen Ärger mit dem Römer. Wenn er es schafft, seinen Kurs durchzusetzen, werden Sie recht schnell bemerken, daß ich Ihnen gegenüber noch ziemlich gnädig verfahren bin. Sie kennen ihn noch nicht. Die Sklaven haben es nur meinen Einsprüchen zu verdanken, daß er sich nicht jede Nacht einen von ihnen holt und zu seinem Privatvergnügen massakriert.«

Gegen Mittag kehrten Burton und Frigate zu ihren Arbeitsplätzen in den Hügeln zurück. Es war ihnen nicht möglich, mit Targoff oder einem der anderen Sklaven zu reden, da es ihre unterschiedlichen Tätigkeiten verhinderten, miteinander in Kontakt zu kommen. Um den prügelbesessenen Wärtern keine Chance zu geben, vermieden sie es, ganz offen zu Targoff hinüberzugehen.

Am Abend führte man sie in die Umzäunung zurück, wo Burton den anderen berichtete, was am Morgen geschehen war.

»Wie ich Targoff kenne, wird er sich weigern, unsere Geschichte zu glauben.

Er wird uns für Spione halten. Und selbst wenn er sich seiner Sache nicht hundertprozentig sicher sein sollte, wird er das Risiko nicht eingehen. Es wird Ärger geben. Schade, daß das passieren mußte. Unser Fluchtplan für diese Nacht muß auf jeden Fall verschoben werden.«

Zunächst geschah nichts Besonderes. Die Israelis zogen sich von Burton und Frigate, als diese sich ihnen näherten und mit ihnen zu reden versuchten, allerdings zurück. Die Sterne tauchten am Himmel auf und überfluteten das Lager innerhalb der Umzäunung mit einem Lichtschein, der dem des Mondes auf der Erde in keiner Weise nachstand.

Die Gefangenen verschwanden in den Baracken, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Obwohl jeder einzelne von ihnen müde war, gelang es keinem zu schlafen. Die Spannung war so groß, daß die Wachen sie durch die Hüttenwände hindurch hätten spüren müssen. Aber sie marschierten weiterhin in ihren Laufgängen, unterhielten sich und warfen ab und zu einen Blick in das unter ihnen liegende Gehege.

»Bevor es nicht regnet, wird Targoff nichts unternehmen«, sagte Burton. Er gab einige Befehle. Frigate sollte die erste Wache übernehmen, Spruce die zweite, er selbst die dritte. Er legte sich auf seinen Strohsack, ignorierte das Gemurmel der Stimmen und die Schritte derjenigen, die auf und ab gingen, und schlief sofort ein.

Als Spruce ihn berührte, hatte Burton den Eindruck, die Augen eben erst geschlossen zu haben. Rasch stand er auf, gähnte und reckte sich. Die anderen waren bereits alle wach. Innerhalb weniger Minuten erschienen die ersten Wolken am Himmel. Sie verschluckten das Sternenlicht. Zehn Minuten später rollte der Donner, und über den Bergen zuckten die ersten Blitze.

Bald wurden sie heller. In ihrem Schein konnte Burton erkennen, daß die Wachen sich in den überdachten Türmen der Umzäunung untergestellt hatten und sich zusätzlich mit ihren Turbanen vor dem Regen schützten.

Schnell eilte er von seiner Baracke zu nächsten. Targoff stand am Eingang.

Burton baute sich vor ihm auf und fragte: »Gilt der Plan noch immer?«

»Du solltest es besser wissen«, versetzte Targoff wütend. Ein plötzlicher Blitz zeigte Burton sein verzerrtes Gesicht. »Du Judas!«

Er machte einen Schritt nach vorn, und ein gutes Dutzend Männer folgte ihm.

Burton wartete nicht ab; er griff an. Im gleichen Moment, in dem er sich nach vorne warf, hörte er ein seltsames Geräusch. Er hielt inne, und auch Targoff warf einen Blick hinaus. Ein erneuter Blitz erhellte die Umgebung so stark, daß sie unterhalb der Umzäunung einen Wächter liegen sehen konnten.

Er lag mit dem Gesicht nach unten im Schmutz.

Als Burton sich umwandte, ließ Targoff die Fäuste sinken und sagte: »Was geht da vor, Burton?«

»Warte«, erwiderte der Engländer. Er hatte zwar ebenso wenig Ahnung von dem, was sich dort abspielte, wie der Israeli, aber alles Unerwartete konnte ihnen jetzt nur zum Vorteil gereichen.

Die Helligkeit eines Blitzes beleuchtete plötzlich die quadratische Gestalt Kazz’, der über die hölzerne Galerie der Umzäunung lief. Eine große Steinaxt schwingend, stürmte er auf eine Gruppe von Wächtern zu, die sich jetzt genau in dem Winkel der Umzäunung aufhielten, an dem zwei der Palisadenwände zusammentrafen. Wieder ein Blitz. Die Wächter versuchten zu flüchten.

Dunkelheit. Als es erneut helle wurde, lag einer von ihnen am Boden; die letzten beiden rannten den Gang in verschiedenen Richtungen davon.

Eine Ansammlung von Männern auf der anderen Seite der Umzäunung deutete jetzt darauf hin, daß das Wachpersonal endlich begriff, was sich hier abspielte. Schreiend rannten sie mit erhobenen Speeren den Gang entlang.

Kazz, der sie völlig ignorierte, kletterte eine Bambusleiter in die Umzäunung hinab und zog dabei ein Bündel Lanzen hinter sich her. Im Licht des nächsten Blitzes konnte man erkennen, wie er sich erneut einem Rudel von Bewachern entgegenwarf.

Burton schnappte sich eine der Lanzen und kletterte die Leiter hinauf. Die anderen folgten ihm auf dem Fuße. Auch die Israelis ließen es sich nicht nehmen, Rache zu üben. Der Kampf war blutig, aber kurz. Als die Wachtposten entweder verwundet oder tot am Boden lagen, blieben nur noch die in den Wachttürmen übrig. Jemand brachte Leitern. Man stellte sie auf und lehnte sie gegen das Tor. Binnen weniger Sekunden hatten die ersten Männer die Palisadenwand überklettert, sprangen auf der anderen Seite hinab und öffneten das Tor. Zum ersten Mal hatte Burton wieder eine Chance, mit Kazz zu sprechen.

»Ich hatte schon angenommen, du hättest uns verkauft.«

»Nein. Nicht ich, Kazz«, erwiderte Kazz vorwurfsvoll. »Du weißt, ich lieben dich, Burton-naq. Du bist mein Freund, mein Häuptling. Ich nur gegangen zu Feinde über, weil wollte gute Gelegenheit abwarten. Ich mich wundern, warum du nicht das gleiche tun. Du kein Dummkopf.«

»Du bist auch keiner«, erwiderte Burton. »Aber ich konnte es einfach nicht über mich bringen, die Sklaven zu töten.«

Ein Blitzstrahl zeigte, daß Kazz die Achseln zuckte. Er sagte: »Mir nicht weh tun. Ich sie nicht kennen. Und Göring sagen, daß sie sowieso sterben.«

»Es war gut, daß du dir ausgerechnet diese Nacht aussuchtest, um uns zu retten«, sagte Burton, ohne Kazz darüber zu informieren, warum. Er wollte ihn nicht verwirren. Außerdem gab es im Moment wichtigere Dinge zu erledigen.

»Nacht heute ist gute Nacht«, sagte Kazz. »Große Schlacht wird bald sein. Tullius und Göring beide betrunken und streiten. Sie kämpfen; ihre Männer kämpfen. In Zeit, wo sie einander töten, Eindringlinge kommen. Braune Männer von anderes Ufer… Wie ihr sie nennen? Onondagas, ja. Ihre Boote kamen kurz vor Regen. Sie kommen und stehlen Sklaven. Vielleicht wollen auch nur kämpfen. So ich dachte, Nacht gut für Plan für befreien mein Freund Burton-naq.«

So plötzlich, wie er gekommen war, versiegte der Regen wieder. Aus der Ferne drangen Schreie zu ihnen herüber. Sie schienen aus der Richtung des Flußufers zu kommen. Überall erklang dröhnender Trommelschlag. Zu Targoff gewandt sagte Burton: »Wenn wir fliehen wollen, sollten wir es schnell tun.

Aber wir können sie auch angreifen.«

»Ich habe vor, diese Ungeheuer, die uns versklavten, auszurotten«, erwiderte Targoff grimmig. »Zudem gibt es in der Nähe noch andere Umzäunungen. Ich habe bereits Männer ausgesandt, um die Tore zu öffnen. Die meisten sind zu weit entfernt, als daß wir sie schnell erreichen könnten, denn sie liegen kilometerweit auseinander.«

Inzwischen war die Baracke der Freiwache gestürmt worden. Die Sklaven bewaffneten sich und machten sich auf, den Kampfgeräuschen entgegenzuziehen.

Burtons Gruppe marschierte auf der rechten Flanke. Man hatte noch keine siebenhundert Meter zurückgelegt, als man auf die ersten Toten und Verwundeten stieß. Es waren ebenso Weiße wie Onondagas.

Trotz des heftigen Regengusses war irgendwo ein Feuer ausgebrochen. Im Schein der immer heller lodernden Flammen entdeckte Burton, daß es sich um das Langhaus handelte. In seinem Schatten kämpften mehrere Gestalten. Die geflohenen Gefangenen rannten über die Ebene, was unter den Kämpfenden beim Langhaus zu einer Panik führte. Ein Teil von ihnen brach aus und rannte davon. Sogleich heftete sich ein Sklaventrupp jubelnd an seine Fersen.

»Da ist Göring«, sagte Frigate. »Sein Fett wird ihm jedenfalls nicht dabei dienlich sein, zu entkommen, soviel steht mal fest.«

Burton konnte den dicken Deutschen erkennen, der seinen Beinen offenbar das Letzte abverlangte. Dennoch vergrößerte sich der Abstand zwischen ihm und seinen fliehenden Leuten immer mehr. »Ich möchte nicht, daß die Indianer die Ehre, ihn getötet zu haben, für sich beanspruchen«, sagte Burton. »Wir schulden es Alice einfach, ihn uns zu schnappen.«

Da Campbells große Gestalt die der anderen um mehrere Köpfe überragte, gab er für Burtons Speer ein geradezu ideales Ziel ab. Für den Schotten schien die Lanze aus dem Nichts zu kommen. Er versuchte sich im letzten Moment zur Seite zu werfen, aber es war zu spät. Die Spitze drang zwischen Brust und rechter Schulter ein, und er stürzte zu Boden. Einen Moment später versuchte er wieder aufzustehen, aber Burton schlug ihn nieder.

Campbell rollte die Augen, von seinen Lippen tropfte Blut. Er deutete auf eine weitere Wunde, ein tiefes Loch unterhalb der Rippen. »Du… deine Frau… Wilfreda… hat das getan«, röchelte er. »Aber ich habe sie umgebracht, diese Hündin…«

Burton wollte ihn danach fragen, wo sich Alice aufhielt, aber Kazz, der wütende Schreie in seiner unverständlichen Sprache ausstieß, hob die Keule und ließ sie auf den Schädel des Schotten niedersausen. Burton nahm seinen Speer auf und lief hinter ihm her. »Laß Göring in Frieden!« schrie er.

»Überlaß ihn mir!«

Kazz hörte ihn nicht, da er im gleichen Moment in einen Kampf mit zwei Indianern verwickelt wurde. Burton sah Alice plötzlich an sich vorbeilaufen, streckte einen Arm aus, erwischte sie und wirbelte sie herum. Sie schrie auf und wehrte sich. Burton brüllte sie an. Plötzlich erkannte sie ihn, brach in seinen Armen zusammen und weinte. Unter anderen Umständen hätte Burton alles dafür getan, sie zu trösten. Jetzt aber bekam er plötzlich Angst, Göring könne ihm entwischen. Er ließ Alice stehen, rannte auf den Deutschen zu und warf seinen Speer. Der Schaft knallte gegen Görings Kopf. Er schrie auf, blieb stehen, hielt sich den Schädel und warf einen Blick auf die Waffe.

Dann war Burton über ihm. Sie stürzten zusammen auf den Boden, rollten hin und her und versuchten sich gegenseitig zu erwürgen.

Irgend etwas traf plötzlich Burtons Hinterkopf. Er war wie gelähmt und lockerte unbewußt seinen Griff. Sofort warf Göring ihn zur Seite und tastete nach dem Speer. Mit der erbeuteten Waffe in der Hand machte er kehrt und kam auf Burton zu, der immer noch bewegungsunfähig am Boden hockte.

Burton versuchte aufzustehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Sie schienen aus Gummi zu sein, und um ihn herum drehte sich alles. Ehe Göring ihn erreichte, tauchte plötzlich Alice auf und stellte ihm ein Bein. Göring taumelte und fiel hin. Erst in diesem Augenblick wurde Burton sich wieder seiner Umwelt bewußt. Er warf sich zur Seite und landete genau auf Görings Körper. Erneut verkrallten sie sich ineinander und rollten über den Boden.

Göring erwischte Burton an der Kehle und drückte zu. In diesem Moment glitt etwas an Burtons Schulter vorbei, ritzte ihm die Haut auf und traf Görings Hals. Die Klinge eines Steinmessers. Burton stand auf, zog die nächstbeste Lanze aus der Erde und rammte sie mit aller Kraft in den fetten Leib des Mannes. Göring versuchte sich aufzusetzen, aber er fiel röchelnd zurück und starb. Alice kauerte sich zu Boden und weinte.


Erst im Morgengrauen war die Schlacht beendet. Die befreiten Sklaven erlösten diejenigen aus ihrer Gefangenschaft, die noch in ihren Pferchen saßen. Die Krieger, die Tullius und Göring befehligt hatten, waren fast ganz aufgerieben. Die Indianer, die allem Anschein nach lediglich herübergekommen waren, um Sklaven zu rauben und sich somit in den Besitz ihrer Grale zu bringen, zogen sich zurück, kletterten in ihre Boote und verschwanden zum anderen Ufer. Niemand sah einen Grund dafür, sie zu verfolgen.

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